Zur Kritik der deutschen Intelligenz

(1919)

Den Führern
der moralischen Revolution
gewidmet


»Man muß gar mächtig Achtung haben
auf die neue Bewegung der jetzigen Welt.
Die alten Anschläge werden es ganz und
gar nicht mehr tun, denn es ist eitel
Schaum, wie der Prophet saget.«

Thomas Münzer (1525)

Vorwort

Wenn man will, ist der Sinn dieses Buches, daß es die während des vierjährigen Krieges gegen die Regierungen der Mittelmächte erhobene Schuldfrage systematisch ausdehnt auf die Ideologie der Klassen und Kasten, die diese Regierungen möglich machten und stützten. Die deutsche Staatsidee hat den deutschen Gedanken vernichtet. Die deutsche Staatsidee ist es, die ich mit diesem Buch treffen will. Um sie in all ihrer Macht und volkswidrigen Tradition darzutun, mußte ich sie historisch entwickeln und Gesichtspunkte aufstellen für die Kritik ihrer hervorragendsten Repräsentanten.

Die Frage nach den Gründen unserer Isolation beschäftigte mich vorzüglich seit Herbst 1914. Ich bemühte mich, die Prinzipien ausfindig zu machen, mit denen das Deutschtum der ganzen Welt sich entgegensetzte. Es ist wohl möglich, daß mein Bestreben, noch die letzten und heimlichsten Schlupfwinkel dieser Isolation aufzudecken, bis zur Härte und Bitterkeit ging; doch lag es mir fern, ein Pamphlet zu schreiben.

Es ist meine feste Überzeugung, daß der Sturz der preußisch-deutschen Willkürherrschaft, wie ihn Präsident Wilson in seiner berühmten Rede auf Mount Vernon postulierte, nicht genügen wird, die Welt vor einem ferneren deutschen Attentat – das ja nicht nur in kriegerischen Aktionen zu bestehen braucht – zu schützen. Es ist für den in Aussicht genommenen Völkerbund von der höchsten Wichtigkeit, sich die historische Stärke der vereitelten deutschen Intrige, die moralische Erschöpfung eines Volkes, das tausend Jahre unter der furchtbarsten Theokratie gelitten hat, vor Augen zu halten, wenn Heil und Versöhnung wirklich erfolgen und auch garantiert sein sollen.

Um die deutsche Denkart in ihrem ganzen Relief hervortreten zu lassen, suchte ich das Gegenbild aufzustellen, das kein anderes sein konnte, als ein konsequent christliches, wie es im Bewußtsein führender europäischer Geister seit hundert Jahren zu einer universalen Renaissance strebt. Und da ich den religiösen Despotismus für das Grab des deutschen Gedankens hielt, versuchte ich, das neue Ideal außerhalb des Staates und der historischen Kirche in einer neuen Internationale der religiösen Intelligenz zu begründen. Es kennzeichnet die Freiheit, daß sie so wenig verwirklicht werden kann, wie Gott zu verwirklichen ist. Es gibt keinen Gott außer in der Freiheit, wie es keine Freiheit gibt außer in Gott.

Bern, 24. Dezember 1918.

Hugo Ball

Einleitung

1

Jemand hat die Deutschen das protestierende Volk genannt, Ohne daß doch ersichtlich sei, wofür sie protestierten; und obwohl Dostojewskij ein Russe war, glaubte er keineswegs an eine mystische deutsche Sendung, die sich irgendwann im Laufe der Jahrhunderte einmal offenbaren werde. Ein anderer aber, der sich sein Leben lang bemüht hatte, den Deutschen Tiefe, Tragik und Sinn zu substituieren, Friedrich Nietzsche, verlor zuletzt die Geduld und rief (in »Ecce homo«) aus: »Alle großen Kulturverbrechen von vier Jahrhunderten haben sie auf dem Gewissen!« Und er versuchte nachzuweisen, wie die Deutschen an allen entscheidenden Wendepunkten der europäischen Geschichte aus Feigheit vor der Realität, aus einer bei ihnen Instinkt gewordenen Unwahrhaftigkeit, aus »Idealismus« Europa um die Ernte und den Sinn gebracht hätten.

Sie protestierten, sie erfanden jene »sittliche Weltordnung«, von der sie behaupten, daß sie von ihnen bewahrt und gerettet werden müsse; sie nannten sich das auserwählte, das Gottesvolk, ohne doch sagen zu können, weshalb sie es seien; sie verdrehten die Werte, suchten ihren Stolz im Widerspruch und spielten einen Heroismus aus, vor dessen hochtrabender und auf Schrauben ruhender Pose die übrige Welt in Gelächter ausbrach. Sie rühmten alle ihre Schwächen, ja ihre Laster und Verbrechen als Vorzüge und Tugenden und travestierten damit die Moralität der andern, denen sie sich überlegen fühlten. Sie fanden nie die freundliche, höfliche Einstellung zu den Dingen, sie identifizierten sich nicht mit den eigenen Gedanken. Jedes Rütteln an ihrer gewundenen Steifheit nahmen sie als Herausforderung, als eine persönliche Beleidigung. Sie verstanden es nie, sich verführen zu lassen, Werbungen zu erwidern. Finster und verschlossen blieben sie aufgerichtet als eine drohende Konstruktion. Enthusiasmus und Liebe beantworteten sie mit Polizeimaßnahmen und Rüstungsfieber. Das Memento mori des Mittelalters und die daher rührende Gewissenspathologie hatten es ihnen angetan. Als die geborenen Schwarzseher wandelten sie; die schwärzesten Mönche haben sie hervorgebracht: jenen Berthold, der das Schießpulver erfand, und jenen Martin, Knecht Gottes, der das frohmütige Kuschen einführte und die Pedanterie eines darüber keineswegs völlig beruhigten Gewissens. Nie verliebte man sich in andere Nationen, stets fühlte man sich als Richter, Rächer und Vormund. Sie mißtrauten aus Prinzip, denn man kann nicht wissen, was einem passiert; die Welt ist bösartig, ausschweifend, räuberisch. Es ist angebracht, stets die Stirne zu runzeln, mit geladenem Revolver zu gehen, stechende Blicke um sich zu werfen, die Brust in Positur zu halten und mit verbissenen Nußknackerkiefern den Muskel spielen zu lassen. Ein Barockvolk kat' exochen, Kopf und Körper ein Hirn- und ein Muskelkrampf; ein drohendes Drahtgespenst mit Allongeperücke, jedoch keine Menschheit. Nie traten epochale Entspannungen ein.

2

Was man die deutsche Mentalität nennt, hat sich berüchtigt gemacht und ist trauriges Zeugnis der Prinzipien- und Herzlosigkeit, des Mangels an Logik und Präzision, vor allem aber an instinktiver Moral. 1914: kaum eine offizielle Persönlichkeit, die sich nicht kompromittierte. Pastoren und Dichter, Staatsleute und Gelehrte wetteiferten, einen möglichst niedrigen Begriff von der Nation zu verbreiten. Eine Vermengung von Interesse und Wert, von Befehl und Idee trat zutage, die Potsdam mit Weimar und Weimar mit Potsdam in rührender Hysterie zu entschuldigen suchte. Das ewig Papierene wurde Ereignis. Dreiundneunzig Intellektuelle bewiesen durch ein bombastisches Manifest, daß sie als Intellektuelle nicht mehr zu zählen sind. Die »Hannele«-Dichter kamen an den Tag und in die Hetzpresse. »So wie des Deutschen Vogel, der Aar, hoch über allem Getier dieser Erde schwebt, so soll der Deutsche sich erhaben fühlen über alles Gevölk, das ihn umgibt und das er unter sich in grenzenloser Tiefe erblickt.« 1 Mentalitätler aller Gaue bemühten sich, der Weltlage gerecht zu werden. Leider, die Weltlage bekam ihnen schlecht. Nur mit verrenkten Knochen und verdrehten Augen standen sie auf vom Prokrustesbett. Philistin- und Papierexistenzen gingen zu Dutzenden auf in Rauch und grotesker Spirale. Ich will hier nicht mit Zitaten aufwarten, die jedermann im Notizbuch trägt. Es ist nicht die Zeit mehr, die Zeit auszuschneiden. Wir wissen Bescheid. Es ist an der Zeit, Konsequenzen zu ziehen. Wen überrascht es noch, daß die Pastoren dem Blutrausch verfielen? Tanzten sie nicht von je um die Golgathastätten, auf denen die Menschheit geopfert wurde? Wen überrascht es noch, daß der deutsche Gelehrte in seinem Dünkel und Größenwahn sich gedrungen fühlte, auch dort zu votieren, wo er nichts mehr verstand? Wenn man über die Balkanvölker zu sagen weiß, daß dort vor Zeiten Poseidon als Hengst und Bacchus als Bock spazierten 2: löst man damit die serbische Frage?

Dies Buch handelt von der deutschen Intelligenz, nicht von der deutschen Schildbürgerei. Es kann mir nicht daran gelegen sein, alle Entgleisungen, Überhebungen und Lächerlichkeiten meiner Landsleute aufzuzählen. Gewiß, deren Charakterologie wäre ein dankbares Thema. Auch die All- und Eintäglichkeit hat ihren geistigen Kontrapunkt. Karl Kraus, der apokalyptische Feind der »Journaille« hat ihn bewältigt 3. Man lese, ist man Österreicher oder Deutscher, seine Werke, lache, weine oder schäme sich. Ich fühle in meinem Thema keinerlei Anlaß, mich lustig zu machen. Die Ironie der Ereignisse erfordert dringlichere und produktivere Methoden als das Pamphlet. Uns ist die Aufgabe gestellt, zu untersuchen, ob der deutsche Geist auf Befreiung oder aufs Gegenteil drang. Die Methoden zu zeigen, die er befolgte, und die Resultate, die zu verzeichnen sind.

3

Der deutsche Geist, die deutsche Intelligenz: unter Franzosen und selbst unter Deutschen wird man lächeln. Gibt es das? Ist es kein Widerspruch in adjecto? Und doch gilt es, hier ernst zu bleiben. Was ist die Intelligenz eines Landes? Die geistige Elite, jene seltenen und wenigen Menschen, die ihre Erlebnisse und deren Resultate kommunizieren zum Zweck einer höheren Vernunft. Jene geistige Gesellschaft oder Partei, deren höhere Vernünftigkeit sie veranlaßt, ihre Kenntnisse, Gedanken und Erfahrungen dem Volksganzen zuzuwenden, aus dem sie kommen; jene intellektuelle Verzweigung, die in ihren bewußtesten und höchsten Vertretern nach geheimen umfassenden Gedanken lebt und handelt; in aller Öffentlichkeit der Presse, der Straße oder des Parlaments sich dokumentiert und der Menschheit Ziele setzt, Wege zeigt, Hindernisse hinwegräumt in Voraussicht des Tages, da alle vernünftigen Wesen nach dem Worte des Origines in einem Gesetze vereinigt werden.

Was unterscheidet die große Menge des Landes von seiner Intelligenz? Der Mangel an Überzeugung, an Sachlichkeit, an historisch bedingten Zielen und wohl an Verantwortung. Vor allem aber der Ausschluß aus jener gütigen Konspiration der Geister, die ich die Kirche der Intelligenz nennen möchte, jener Gemeinschaft der Auserwählten, die zugleich Freiheit und Heiligung in sich tragen; die den Kanon der Menschheit und Menschlichkeit aufrechterhalten und über Jahrhunderte weg zwischen Schimären, Tierleibern, Fratzen und Höllenspuk das Urbild des Schöpfers wahren.

Die Mentalität der Menge: das ist eine Summe von Ziel- und Ratlosigkeit, von Verzweiflung und kleiner Courage, von Opportunismus und Weichlichkeit, von verkappter Sentimentalität und überhobener Arroganz. Die Mentalität der Menge: das ist ihr schlechtes Gewissen, das sind ihre Fälscher und Wortverdreher, ihre »jahraus jahrein galoppierenden Federn« und Denunzianten, ihre Spitzel und Rabulisten, ihre Großmäuler, Demagogen und Faselhänse. Ein heilloses Konzert! Eine Orgie seltsamer Verzerrung! Wehe dem Land, wo solche Mentalität den Geist überschreit, aber dreimal wehe dem Land, wo sie allein nur herrscht und sich selbst für den Geist hält. Verhärtung, Zerrissenheit, Korruption verhindern das Maß und die Norm; Tobsucht und Wut sind Trumpf. Solch Land ist verloren und weiß es nicht.

4

Eine der wichtigsten Aufgaben der Intelligenz ist es, den Blick der Nation dorthin zu lenken, wo die großen Ideen herkommen; Raum zu schaffen für diese Ideen und dem Lauf der Geschichte mit tausend offenen Sinnen knapp auf den Fersen zu folgen. Die Geister, die Deutschland zu bilden versprachen, jene Musiker der Kriterien und Maßstäbe, die in Philosophien wie in Partituren zu lesen verstanden, sind nicht Legion. Sie fanden ihre Aufgabe erschwert. Sie fanden sich von Anfang an in einer Umgebung, die ihre Aufgabe nicht stützte, sondern ihr höhnisch und kraß widersprach, ja sie unmöglich machte. Die Idee des Imperium Romanum, die das ganze Mittelalter erfüllte, Verbindung und Widerstreit zwischen Kaiser und Papst, ließ Deutschland als Vormacht der Welt erscheinen. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation und die Heraldik gotischer Kaiser prägten dem Volk ein Bewußtsein ein, das im Waffenklirren, im Richteramt, im Henken, Zerschmettern und in der Gewalt einen Gottesdienst und die Mission sah. Kein entscheidendes nationales Erlebnis hat diese Meinung hinweggefegt: weder die Reformation, noch die große Französische Revolution. Deutschland empfindet noch heute sich als den »Genius des Krieges« und zugleich als »moralisches Herz« der Welt 4, und war doch und blieb so lange grobknochiger Henker, betrunkener Vasall, hartmäuliger Landsknecht der Päpste. Damals redeten Priester ihm ein, kleines Gehirn sei Soldatentugend. Jenes egozentrische Delirium voll Arroganz und Bramabarsierens, das in den Schriften der Treitschke und Chamberlain auferstand – in den Kaisern des Mittelalters fand es sein erstes Symbol.

Die Geister, die Deutschland zu bilden versprachen, kamen sehr spät. Italien, Spanien, Frankreich hatten längst eine reiche Kultur. Deutschland war ungebrochen ein krüdes Barbarenvolk, dem Trunke ergeben, verroht und verblödet durch Kreuzzüge und endlosen Waffendienst, versklavt und verhärtet durch Junker und Pfaffen. Shakespeares Komödien schildern den Deutschen als einen Rüpel und Trunkenbold. Léon Bloy zitiert für die historische deutsche Verrohung und Korruption sogar Luther 5. Die große Bewegung der Aufklärung brach hier nicht durch. Die Vox humana der Nachbarländer fand nur den spärlichsten Nachklang. Heute noch fehlt uns das Menschheitsgewissen. Heute noch schwanken die Geister und schwankt die Nation im Widerspruch zwischen Kulturbegriffen. Religiöse, moralische, ästhetische und politische Nenner wurden zur Geltung gebracht, doch keinem gelang es, die Einheit zu schaffen und alle bekämpften sich. Noch in unseren Tagen versuchte das kaiserlich-päpstliche Universalreich neu aufzuerstehen, und nur die Kriegsschuld, zu der das Übergewicht einer gewalttätig-verschlagenen Kaste führte, verspricht, die gefährlichen Atavismen hinwegzuräumen. Die Einordnung Deutschlands in eine Liga der europäischen Völker ist eine unabweisbare Forderung. Mit stürmischem Nachdruck muß sie erhoben werden. Wozu die Nation selbst zu träge und ihre Geister nicht stark genug waren: die Isolation zu sprengen, in die sich Deutschland drohend und eigensinnig begab: heute müssen die Nachbarvölker erzwingen, daß der veraltete Unfug des Waffenspektakels für alle Zeiten beseitigt werde.

Die Einreihung Deutschlands! Hier zeigt sich endlich die Einheitsidee, die Heiligung, Größe und Demut verbürgt. Das deutsche Volk soll die Augen öffnen. Sein Vorteil wird sein, daß es mit Schmerzen, Unglück und Opfern geschlagen wird. So wird es die Kraft in sich finden, zu fallen und aufzuerstehen. Wir verlangen die Demokratie. Der politische Geist ist der ordnende Geist. Keine Phrasen und Umschweife sollen mehr gelten. Deutschland ist schuldig und muß seine Schuld bekennen, soll sich der Aufbau Europas vollziehen. Die Proklamation neuer Menschen- und Nationalitätenrechte beendet den Krieg. Nicht mehr um Metaphysik – es handelt sich um die Erde und wie man sie einrichten soll, um zusammen leben zu können. In den Köpfen der Staatsmänner, wenn sie auch nicht das letzte Wort haben werden, lebt schon der Grundriß, auf dem sich das neue Gebäude der Menschheit erheben soll. Was bisher Fragment war und nur in wenigen Köpfen utopischen Ausdruck fand, wird gebunden werden und sich organisch entfalten. Mit Tod, Bankerott und Verderben rückt für Deutschland das erste politische Freiheitserlebnis umfassenden Sinnes heran, seit die christliche Korporationsidee Europa verloren ging. Sind aber erst die Wände gefallen, die heute das deutsche Volk noch im Getto halten, hat die Nation erst in einem elementaren Ausbruch von Enthusiasmus die Ketten zerrissen, die heute noch ihre Menschlichkeit lähmen, so werden sich auch die Geister finden, die ihr den Weg zeigen zu jenen Großtaten der Menschheit, mit denen man heute in Deutschland prahlt, ohne zu wissen, worin sie bestehen. Dann wird sich das Maß ergeben des Wissens, worin man stolz sein darf und wo man sich schämen muß.

5

Man sieht: hier wird verneint, daß es eine deutsche Intelligenz schon gab, ja geben konnte. Es gab Fragmente, Ansätze, Versuche, aber keine Durchdringung und Aufhellung der Nation. Auch Deutschland hatte seine großen Männer. Aber der Widerspruch, in dem sie zur Gesamtheit standen und jene mit sich selbst unzufriedene Selbstzufriedenheit, die das Volk charakterisiert, verwandelte in diesen Männern die Liebe zu Haß, die Freude in Verzweiflung. Von Banausentum, Intrigen und Pedanterie eingekreist, sahen sie ihre besten Entwürfe verkümmern. Von keiner begeisternden Welle getragen, wurde ihr Schaffen ihnen zur Qual, ihr Leben zum Leidensweg, und wenn sie die Aussichtslosigkeit erkannten, war es zu spät.

Thomas Münzer Archifanatikus: eine ganze Hierarchie des Leidens trug er in sich. Er ist verschollen in diesem Volk, sein Name ist kaum bekannt. Hölderlin klagt: »Barbaren von alters her, durch Fleiß und Wissenschaft und selbst durch Religion barbarischer geworden, tief unfähig jeden göttlichen Gefühls, verdorben bis ins Mark zum Glück der heiligen Grazien, in jedem Grad der Übertreibung und der Ärmlichkeit beleidigend für jede gut geartete Seele, dumpf und harmonienlos wie die Scherben eines weggeworfenen Gefäßes: – das, mein Bellarmin, waren meine Tröster.« 6 Von Goethe kam jenes resignierte Wort: »Wir Deutschen sind von gestern. Wir haben zwar seit einem Jahrhundert ganz tüchtig kultiviert; allein es können noch ein paar Jahrhunderte hingehen, ehe bei unseren Landsleuten soviel Geist und höhere Kultur eindringe und allgemein werde, daß man von ihnen wird sagen können, es sei lange her, daß sie Barbaren gewesen.« 7 Von Goethe jener verzweifelte Spruch, das sauve qui peut, das er achselzuckend der geistigen Partei seiner Zeit zurief:

»Eines schickt sich nicht für alle,
Jeder sehe, wie er's treibe,
Jeder sehe, wo er bleibe,
Und wer steht, daß er nicht falle.«

Behauptet hat er sich, verstellt in diesem Volk. Magister sezierten ihn, Philologen wie Blutegel setzten sich an. Popularität aber erlangte er noch heute nicht. In seinen wichtigsten und sublimsten Entscheidungen stieß er auf Harthörigkeit, blieb er ein Mißverständnis und Wunder 8. Heinrich Heine floh entsetzt nach Paris. Die Goncourts behaupteten, daß er mit zwei anderen Nichtparisern die Quintessenz des Pariser Geistes darstellte; in Deutschland aber wird er noch heute malträtiert 9. Friedrich Nietzsche hat den Deutschen die schlimmsten Dinge nachgesagt, die man einer Nation nachsagen kann; er fand: »Die Deutschen sind in die Geschichte der Erkenntnis mit lauter zweideutigen Namen eingeschrieben, sie haben immer nur unbewußte Falschmünzer hervorgebracht.« 10 »Psychologie«, fährt er fort, »ist beinahe der Maßstab der Reinlichkeit oder Unreinlichkeit einer Rasse. Und wenn man nicht einmal reinlich ist, wie sollte man Tiefe haben? Man kommt beim Deutschen, beinahe wie beim Weibe, niemals auf den Grund, er hat keinen; das ist alles. Aber damit ist man noch nicht einmal flach. Das, was in Deutschland ›tief‹ heißt, ist genau die Instinkt-Unsauberkeit gegen sich, von der ich eben rede: man will über sich nicht im klaren sein.« Und doch hatte auch er begonnen voller Hoffnung auf eine geistige Einheit, auf ein heroisch deutsches Ideal, das der Hort alles höheren Europäertums werden könne 11. Die Nation zwang ihn zum Ressentiment, zur Germanophobie. Am Ende seiner Laufbahn bedauerte er, nicht französisch geschrieben zu haben und wollte als Pole gestorben sein. Man lese jene erschütternde, kurz vor seinem Zusammenbruch geschriebene Abrechnung mit der deutschen Mentalität, »Ecce homo«, um zu ermessen, wie hier ein deliziöser und hochgespannter Wille an der historischen Mesquinerie, der platten Denkwirtschaft und faulen Gemütlichkeit seiner Nation sich gescheitert fühlte. Man vernehme auch Schopenhauers Testament, das also lautet: »Sollte ich unvermutet sterben und man in Verlegenheit kommen, was mein politisches Testament sei, so sage ich, daß ich mich schäme, ein Deutscher zu sein und mich darin auch mit all den wahrhaft Großen, die unter dies Volk verschlagen wurden, eins weiß.«

Ich habe die besten Namen der Nation genannt, und man kann nahezu an der Heftigkeit ihrer Verzweiflung die Höhe ihrer ursprünglichen Intention ermessen. Sie fühlten sich auf verlorenem Posten, und je später sie es einsahen, desto blutiger lehnten sie die Gemeinschaft ab. Man könnte versucht sein, Heinrich Mann zuzustimmen, der als Motto über seinen durch den Krieg abgebrochenen Roman »Der Untertan« die tristen Worte schrieb: »Dies Volk ist hoffnungslos.« Wenn sich die stärksten und menschlichsten Geister gegen ihr Volk erklärten: Was bleibt zu tun? In Böotien baut man Kartoffeln, Tragödien schreibt man in Athen.

Wo fand sich in Deutschland jene vergötternde Begeisterung, jene Zärtlichkeit, mit der französische Geister Frankreich Notre Dame und La douce France nannten 12? Charles Maurras schlug vor, Frankreich als Göttin zu verehren und Léon Bloy, einer der heftigsten Pamphletisten, die Frankreich erlebte, noch er fühlte das Recht zu schreiben: »La France est tellement le premier des peuples que tous les autres, quels qu'ils soient, doivent s'estimer honorablement partagés quand ils sont admis à manger le pain de ses chiens.« 13 In keinem andern Volk hat der esprit religieux solche Höhen und Tiefen erreicht wie im Frankreich der letzten fünfzig Jahre. Die Kirche der Intelligenz: hier wurde ihr Grundstein gelegt. Geister wie Renan, Baudelaire, Erneste Hello, Barbey d'Aurevilly, Léon Bloy, Charles Péguy haben wie in einer Vorahnung furchtbarer und verworrener Jahrhunderte den limbus patrum geschaffen, der den gott- und geistlosen Animalismus unserer Zeit richtet und die trostlose nationalistische Verflachung eines Journalisten- und Diplomatenzeitalters belächelt. Als Kirchenväter des kommenden Europa zogen sie die letzten, sublimsten, sakramentalen Konsequenzen aus Mittelalter und Christentum, wurden sie Angelpunkt und Maß einer neuen Welt. Das Gewissen nicht nur Frankreichs sprach in ihren Schriften, die eine Apologie immer wieder desselben Themas sind: pietas et paupertas sancta. »Unsere Gegner von damals«, schrieb Charles Péguy, »führten die Sprache der Staatsräson, die Sprache des zeitlichen Wohls eines Volkes und einer Rasse. Wir Franzosen, getragen von einer tief christlichen Bewegung, von einem revolutionären und in seiner Gesamtheit doch traditionellen Gedanken der Verchristlichung, erreichten die Höhe der Passion in der Sorge um das ewige Heil unseres Volkes. Wir wollten nicht, daß Frankreich im Zustande der Todsünde dastehe.« Und Romain Rolland, der diesem Worte ein unerbittlicher Wächter hätte bleiben sollen, statt zwischen seiner Märtyrernation und einem infernalischen Deutschland samaritanische Vermittlungsversuche zu unternehmen, Romain Rolland fügt hinzu: »Vernehmet einen Heroen des französischen Gewissens, Schriftsteller, die ihr über dem Gewissen Deutschlands zu wachen habt.« 14

Wo fand man in Deutschland jenen Geist der Freiheit, der das Gewissen des russischen Volkes seit 1825 in heftigen Wehen geschüttelt hat? Jenes kraftvolle Bewußtsein künftiger Größe, das in weniger als hundert Jahren ein durch seine Sprache und Einrichtungen tief vom europäischen Leben getrenntes Volk an die Spitze des verwirrt und erstaunt nach Osten aufschauenden Europa sehen will trotz Bolschewikentum und jüdischem Revancheterror? Wo fand sich in Deutschland jener phantastische Opfermut, der in der Geschichte der russischen Revolution seit hundert Jahren Großtaten wie Sterne aufblühen und in den Gefängnissen, Festungen und Füsiladen Sibiriens lautlos und glühend versinken ließ? Jener Mut zur Fronde, jener Fanatismus geistiger Interessen und Kommunionen, jener praktische Ernst und jene Versatilität der politischen Methode, die Rußland zur Großmacht der Freiheit erheben? Von den Dekabristen Pestel, Muravjew und Rylejew angefangen bis zu europäischen Geistern wie Herzen, Bakunin und Ogarjow; von Konspiratoren wie Tschernischewskij, Serno-Solovjewitsch und Netschajew bis zu Krapotkin, Tolstoi und Lenin: welche Unsumme politischer Energie, nationalen Gewissens und bis zum Wahnsinn gehender Hingabe an die Idee der Geringsten und der Verlorensten unter den Menschen! Hat das deutsche Volk jede Besinnung verloren? Fühlt es sich wirklich nur noch berufen, alles Große zu vernichten und zu bekämpfen, statt in Scheu und Demut die Waffen wegzuwerfen und die Hände auszustrecken?

6

Freiheit und Heiligung: das sind die beiden Ideen, die heute die Welt bewegen. Nicht jenes Freiheitsbestreben preußischer Fürsten und ungarischer Magnaten, das darin besteht, jede Willkür für sich zu fordern und nicht kontrolliert zu sein. Nicht jene Heiligung, die durch Verschlucken von Hostien, Zitieren von Bibelsprüchen und Glaube an einen gestorbenen Gott der einfachsten Menschenpflicht sich enthoben glaubt; auch jene »Heiligung« nicht, die da sagt: »Es ist die lichteste Eigenart unseres deutschen Denkens, daß wir die Vereinigung mit der Gottheit schon auf Erden vollziehen«, um dann hinzuzufügen: »Wir sind ein Volk von Kriegern. Militarismus ist der zum kriegerischen Geist hinaufgesteigerte heldische Geist. Es ist Potsdam und Weimar in höchster Vereinigung. Es ist ›Faust‹ und ›Zarathustra‹ und Beethoven-Partitur in den Schützengräben.« 15 Oh diese Herren Sombart, wie wenig ahnen sie von der Vereinigung mit der Gottheit!

Freiheit und Heiligung: das heißt Opfer und noch einmal Opfer, Opfer an Gut, und wenn es sein muß, an Blut, aber in einer anderen Sphäre, auf einer anderen Bühne als auf dem wackelnden heutigen Kriegstheater! Als Michael Bakunin nach zehnjähriger Kerkerhaft und Verbannung mit krummem Rücken, ohne Zähne, herzkrank und grau, als Fünfzigjähriger auf dem Friedens- und Freiheitskongresse in Bern erschien, umringten ihn seine Freunde aus den achtundvierziger Jahren, und man bestürmte ihn, die Memoiren seiner Konspirationen und Straßenkämpfe, seiner Todesurteile, Verbannung und Flucht zu schreiben. »II faudrait parler de moi-même!«, sagte er. Er fand, es gäbe wichtigere Dinge zu tun, als von der eigenen Person zu sprechen. Und von Léon Bloy rührt das tief verlorene, vielleicht religiöseste Wort unserer Zeit her: »Qui sait, après tout, si la forme la plus active de l'adoration n'est pas le blasphème par amour, qui serait la prière de l'abandonné?« Versteht man danach, was Freiheit und Heiligung ist?

  1. Werner Sombart, »Händler und Helden«. Patriotische Besinnungen, München 1915, S. 143.
  2. Ulrich Wilamowitz-Möllendorff, »Die Balkanvölker«, »Neue Rundschau«, Berlin, Jan. 1918.
  3. Karl Kraus, Herausgeber der Wiener satirischen Zeitschrift »Die Fackel«.
  4. Das ist Max Schelers »Kriegsphilosophie«; siehe seine katholische Exaltation »Der Genius des Krieges«, Leipzig 1915, und deren Verteidigung »Die Ursachen des Deutschenhasses«, Leipzig 1917.
  5. Léon Bloy, »Jeanne d'Arc et l'Allemagne«, Paris 1915, S. 261. »Aujourd'hui les nôtres sont sept fois plus mauvais, qu'ils ne l'avaient jamais été auparavant. Nous volons, nous mentons, nous trompons, nous mangeons et buvons avec excès et nous adonnons à tous les vices... Nous autres Allemands, nous sommes devenus la risée et la honte de tous les peuples; ils nous tiennent pour des pourceaux ignominieux et obscènes... Si l'on voulait maintenant peindre l'Allemagne, il faudrait la représenter sous les traits d'un truie.«
  6. Friedrich Hölderlin, »Hyperion oder der Eremit in Griechenland«.
  7. Goethe, Gespräche mit Eckermann, 3. Mai 1827. Am 26. März 1827 war als Märtyrer in Wien Beethoven gestorben, völlig verarmt und gebrochen.
  8. Als Prof. Wilhelm Bode 1918 unter dem Titel »Goethe in vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen 1749–1803« eine umfassende Sammlung von Briefen zum Teil berühmtester Freunde Goethes publizierte, ergab sich das Bild einer von pastoraler Zopfigkeit torturierten genialen Persönlichkeit, die mit zunehmendem Alter von anspruchsvoller Ignoranz, frömmelndem Klatsch und dummdreistem Besserwissen immer tiefer bis zu Verzicht, Lähmung und Hoffnungslosigkeit in sich selbst zurückgetrieben wurde. Man stellte deshalb dem Herausgeber auch die Gewissensfrage, ob es wohl angebracht war, diese Briefsammlung der Öffentlichkeit ungekürzt zu übergeben.
  9. Die Kämpfe um ein Denkmal für den Dichter des »Atta Troll« sind noch heute in Deutschland nicht abgeschlossen. Denn die Pamphletliteratur gegen den »Judenjungen« blüht wacker weiter. Man kennt den Versentwurf Richard Dehmels für ein solches Denkmal. Und noch Alfred Kerr konnte zwischen 1910 und 1914 zu einiger Berühmtheit gelangen durch sein Eintreten für ein Heine-Denkmal. In Hamburg wehrte man sich verzweifelt dagegen.
  10. »Ecce homo. Wie man wird, was man ist«, 1888. Der Fall Wagner. Ein Musikantenproblem.
  11. Vgl. Werke, Bd. XI, Nachlaß aus der Zeit von 1875/76: »Ich habe zusammengebunden und gesammelt, was Individuen groß und selbständig macht. Ich sehe, wir sind im Aufsteigen: wir werden der Hort der ganzen Kultur in Kürze sein.«
  12. André Suarès in jenem schönen Kapitel »La plainte de Reims« seines Buches »Nous et Eux«, Paris 1915.
  13. Léon Bloy, »Jeanne d'Arc et l'Allemagne«, S. 14.
  14. Romain Rolland, »Au dessus de la Mêlée«, Paris 1915, S. 17.
  15. Werner Sombart, »Händler und Helden«, S. 84 ff.

Erstes Kapitel

1

Will man den Weg verstehen, auf dem die heute unter dem Schlagwort Pangermanismus vereinigten Tendenzen zu jener furchtbaren Macht gelangten, die alle Welt kennt und verspürt, so muß man zurückgehen bis ins tiefe Mittelalter. In dem mittelalterlichen Kampf um die Suprematie zwischen geistlicher und weltlicher Macht, zwischen einer geistigen Oberleitung durch den Papst und der tobsüchtigen Wildheit barbarischer Könige spielten sich die ersten Entscheidungen europäischer Geschichte ab. Als Otto I. sich im Jahre 962 vom Papste die Kaiserkrone erzwang, entstand das »Heilige Römische Reich Deutscher Nation«. Unter Otto III. gab es bereits einen deutschen Papst, kaum daß es ein deutsches Volk gab. Es folgten die Kreuzzüge, in denen die Päpste der übermütigen Barbarenkraft und den verheerenden Einfällen deutscher Könige nach Italien eine phantastische Ablenkung schufen. Es folgte die Unterwerfung des geschwächten Staates unter die Kirche durch Gregor VII.

Der päpstlich-kaiserliche Universalstaat des Mittelalters leitete eine innige Verbindung der deutschen Völkerschaften mit dem zivilisiertesten Lande der damaligen Welt, Italien, ein, und wenn die gewaltsamen deutschen Könige auch, sobald sie den Segen empfangen hatten, nur Richtschwert und Vollstrecker des römischen Willens geworden waren, so verlieh ihnen diese Weihe noch die »Kulturmission«, Mehrer des Kirchengebiets und Verbreiter des Evangeliums zu sein, und damit jene heraldische Attitüde einer von Reichstrompetern begleiteten theologischen Majestät, der die buntbäurische Phantasie des deutschen Volkes noch heute nicht gewachsen ist. Jahrhunderte lang verbreitete das Schwert der Kaiser den Christenglauben, wie es unter Muhamed den Islam verbreitet hat. Und nicht erst heute, sondern schon zu Gutenbergs Zeiten findet sich in der Presse die optimistische Überzeugung, die deutsche Nation sei von Gott bevorzugt und von der Vorsehung auserwählt 16. Sie war aber nur von den Kardinälen auserwählt und vom Papste bevorzugt. Die deutschen Könige hatten sich ihre Stellung durch Bluttat und Gewalt ertrotzt. Ihre Kulturleistungen blieben weit hinter dem zurück, was gleichzeitig Arabien, Spanien und Italien in Kunst, Literatur und Wissenschaft leisteten.

Noch heute sehen unsere deutschen Schulräte, Geschichtsschreiber und Pädagogen nicht ein, daß keine Veranlassung vorliegt, auf diese Tradition besonders stolz zu sein. Deutschland war keineswegs das »moralische Herz der Welt«, wie Herr Scheler glauben machen will. Die Moralität war in Deutschland, von vereinzelten Mystikern und Troubadouren abgesehen, unausgebildet, abseitig und grob. Das Land war Rüstkammer und Arsenal für die weltlichen Ziele des Papsttums. In solchen Ländern ist wenig Raum für die Ausbildung verfeinerter Sitte. Profoss und Schrecken brachten den Päpsten die Barbarossas, Ottos und Friedrichs. Wen deshalb der Papst zum Kaiser salbte, dem legte er damit die Verpflichtung auf, daß solch »apostolische Majestät« – noch heute trägt der Kaiser von Österreich den Titel – den gewaltigen europäischen Kirchenstaat vergrößere oder verteidige, auf welche Art immer es geschehe.

Das »Heilige Römische Reich Deutscher Nation« wurde von Luther zerstört. Luthers robust gewaltige Persönlichkeit ist geschichtlich nur zu verstehen, wenn man den Kampf zwischen Kaiser und Papst sich vergegenwärtigt. Luther trennte Deutschland von Rom und schuf damit die Voraussetzung für die Unabhängigkeit des heutigen deutschen Feudalismus. Er lieferte den deutschen Fürsten und Reichsherolden wie Treitschke und Chamberlain die Ideologie für jene egozentrische Selbstüberhebung, die sich in den Köpfen alldeutscher Generäle und Subalternpropagandisten zu einem Delirium ausgewachsen hat. Von den Zeiten der Reformation an gelang es den Päpsten nicht mehr, die deutsche Macht unter eine geistige Obhut zu beugen. Luther wurde ein Angelpunkt der Geschichte.

Von Luther an beginnt sich ein neuer Universalstaat vorzubereiten, in dessen Zentrum nicht mehr die ganz klerikale, sondern die ganz profane Gewalt steht. In den großen Bauernkriegen von 1524/25 handelte es sich darum, ob die uralte Feudaltradition Deutschlands gebrochen werden könne oder nicht. Jene deutsche Revolution (wichtiger heute als die Reformen, in denen sie erstickt wurde) mißglückte. Der Feudalismus erhob sich gestärkt. Im Aufkommen der Hohenzollern verjüngte er sich. Das Aufkommen der Hohenzollern brachte den Konkurrenzkampf mit Habsburg, dem letzten Rudiment des mittelalterlichen Systems. Dazumal gingen die geistlichen und weltlichen Methoden der Universalstaats-Politik und -Diplomatie von Wien in die preußischen Kabinette über. Und heute erleben wir, wie derselbe auf die Besitzlosen, das Proletariat, gegründete Universalstaat des Mittelalters von Berlin aus wiederaufzustehen bemüht ist 17.

Jetzt ist es umgekehrt. Das kaiserliche Regime sucht den Papst (und die Freiheitsideologie, die geistige Macht) zu benützen, wie im Mittelalter der Papst den Kaiser ausspielte. Steuerte Habsburg die diplomatischen Methoden bei, so Robespierre die staatlichen und Napoleon die militärischen. Eine satanische Macht regiert heute Deutschland und sucht sich von dort aus die Welt zu unterwerfen. Das Mittel ist Zweck geworden. Die Profanität triumphiert, und eine Entwertung aller Werte findet statt, die niemals ihresgleichen sah.

Als Dante seine Schrift »De monarchia« schrieb, ließ er sich kaum träumen, daß er die Hölle selbst damit begünstigte. Gott ist Werkzeug der Monarchie geworden. Moral und Religion sind der omnipotenten Staatsgewalt untergeordnet. Und die Folge dieser Perversion der Moralbegriffe ist, daß man die teuflischsten Dinge im Namen Gottes verherrlicht, ohne jegliches Gefühl und Gewissen für die Inferiorität dieses Evangeliums der reinen Kraft und Gewalt.

Jede Art Mystik, jede Art Religion, jede Regung des Seelenlebens und der menschlichen Sehnsucht, alles, was dem Menschen heilig ist, wird von diesem System in raffiniertester Weise benützt, um den Menschen zu fassen und gefügig zu machen. An die Stelle des Ablasses ist der Aderlaß getreten. An die Stelle der Ohrenbeichte die Detektivpolizei. Die großen moralischen Werte der Menschheit (Seele, Friede, Vertrauen; Achtung, Freiheit und Glauben) werden nach dem Erfolg berechnet und als Mittel zur Erreichung von Zwecken ausgespielt, die der traditionellen Bedeutung dieser Worte entgegengesetzt sind. Das klerikale Collegium der propaganda fide ist ersetzt von einem journalistischen de propagando bello, und die Freude und der Stolz, mit denen man diesem verwerflichen System dient, geben die Beleuchtung zu einem infernalischen Totentanz, in dem die Reste deutschen Wesens in Verwesung übergehen.

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Wir, die wir dieses System bekämpfen, sind gezwungen, seine Heroen zu revidieren. Mit nationalen Vorurteilen muß aufgeräumt werden wie mit individuellen. Es geht nicht an, daß noch heutzutage ein Sozialist von der Bedeutung Camille Huysmans von Deutschland als der »généreuse Allemagne de Luther« spricht 18. Luthers Deutschland war nichts weniger als generös. August Bebel hat in seinem »Bauernkrieg« ein Bild des damaligen Deutschlands entworfen; das Werk kann nicht nachdrücklich genug empfohlen werden 19. 1517 wurden durch die Tat eines politisch und geistig gleich unvollendeten Mönchs Europa und die christliche Kultureinheit zerrissen, und dieser Luther gilt heute der großdeutschen Feudalpolitik als erster europäischer Exponent ihres »divide et impera« 20. Heute, vier Jahrhunderte später, hieße es Europa nur dürftig zusammenflicken, wollte man den Glauben an die offiziellen Heroen und Propheten bestehen lassen.

Der Ideenstreit um eine neue Menschheit ist entbrannt, und in der Lösung der Menschheitsfrage wird auch die politische beschlossen liegen.

Die mittelalterlichen Probleme sind noch heute nicht ausgetragen. Noch fehlt Europa eine neue Hierarchie, eine Hierarchie von Geistern, fähig und stark genug, jene mittelalterliche geistliche Hierarchie zu ersetzen; eine Rangleiter der Leistungen und Vermögen, sowohl zwischen den Völkern wie zwischen den Individuen; eine unsichtbar abgestufte geistige und moralische Gesellschaft, fähig, wieder die Oberhand zu erlangen über den Satanismus der in rudimentären Einrichtungen und Formeln vereinigten Profanität, die heute ihre entsetzliche Todesorgie feiert. Dann erst wird das Mittelalter überwunden sein.

Uns Deutsche führt die Beteiligung an dieser Aufgabe, der eine Elite hervorragender Männer des letzten Jahrhunderts gedient hat, tief bis ins Mittelalter und in die Zeit Luthers zurück. Die Revision unserer intellektuellen Geschichte soll uns neue Impulse geben, und manches wird fallen müssen, an das wir glaubten und glauben gemacht wurden.

Ein neues Gut und Böse. Neue Gewissenskämpfe. Göttlich und teuflisch nicht mehr klerikales Symbol, doch deshalb beileibe nicht Hohn und Verachtung. Die Aufgabe aber dieser Hierarchie aller gutgesinnten Geister und Werke soll sein: eine Syntax der neuen Gottes- und Menschenrechte. Keine civitas dei ohne eine civitas hominum! Die neue Gemeinschaft soll dienen der Verbreitung eines Reichs aller Menschen, die eines guten Willens sind.

Wenn das Wort von der deutschen Universalität wahr ist, so mögen die Deutschen herauskommen aus ihrem politischen Getto, um zu zeigen, was sie zu sagen haben. Nicht aber mit der Trägheit prügelnder Waffen, sondern mit der Energie klarer Gedanken. Nicht auf das Verantwortungsgefühl gegenüber der Menschheit kommt es an, wie Prinz Max von Baden zu glauben scheint 21, sondern auf die Verantwortung mit und inmitten der Menschheit. Der Übermensch muß dem Mitmenschen weichen. Nicht Leiden schaffen, sondern Leiden beheben. Nur so besteht die Hoffnung, daß das automatisch eingetretene Schicksal einer automatisch gewordenen Welt der Selbstbestimmung des einzelnen und damit der Freiheit weicht.

3

Die konsistorialrätliche deutsche Reichsgeschichtsschreibung hat verhindert, gerade über Luther nachzudenken, und das beweist, wie notwendig es ist. Damals, zu Luthers Zeit, fand jenes Bündnis der deutschen Bourgeoisie mit dem Feudalismus statt, das alle europäischen Revolutionen überdauerte und heute Europa zu knebeln und niederzuwerfen gewillt ist. Luther war dieses Bündnisses Prophet und Herold. Durch seine Stellungnahme im Ablaßstreit hat er die Landstände, Fürsten und Magistrate brüderlich verbunden. Indem er das Gewissen in den Schutz weltlicher Fürsten stellte, half er jenen Staats-Pharisäismus schaffen, für den das Gottesgnadentum, die gottgewollte Abhängigkeit und die Phrase vom »praktischen Christentum« gleicherweise Symbole sind. Durch sein despotisches Auftreten in den Bauernkriegen aber verriet er die Sache des Volkes an den Beamtenstaat.

Die Tat Luthers soll keineswegs verkleinert oder verunglimpft werden. Vom alldeutschen Standpunkt aus muß man sie vergöttern, gewiß. Vom Standpunkt der Demokratie aus muß man sie verwerfen. Wer gegen die heutige Tyrannei protestiert wie Luther vor 400 Jahren als Mönch protestierte, hat das Recht, sich auf ihn zu berufen. Auch soll den Evangelischen nicht ihr Heiliger genommen werden, obgleich dieser Heilige von Heiligen nichts wissen wollte. »Dem Doctor Luther zulieb«, sagt Naumann, »ist das Jesuskindlein geboren worden. Der Papst hatte nur einen Schatten davon.« 22 Sei's drum. Solche Verehrung lassen wir gelten. Jener Luther, der herzinnige Brieflein an seinen Sohn Hänsigen schrieb; der die Bibel übersetzte und die Bannbulle verbrannte, bleibt ewiges Gedächtnis; dem protestantischen Handwerker und Bauern ein Vorbild des guten Familienvaters, wie Josef von Nazareth dem katholischen. Ein anderer Luther aber ist es, den das Wischi-Waschi alldeutschen Geredes und Geschreibes zu Demagogiezwecken ausspielt. Ein anderer Luther, der »aus der Polyphonie heraus den tönenden Weg gebahnt« haben soll, »für ein Volk, das Genies gebären wird« 23.

Nun stehen wir nicht gerade auf dem Standpunkt des Novalis, der da schrieb: »Es waren schöne glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Erdteil bewohnte.« 24 Wir sind keine katholischen Romantiker, Lobredner der Vergangenheit auf Kosten der Zukunft und Gegenwart. Nicht deshalb sind wir Antilutheraner, weil wir mit Theodor Lessing glauben: »Nur solange die große Weltidee des Katholizismus eine gemeinsame Atemluft für Europa schuf, blühte einfältige Schönheit aus nüchternem Alltag.« 25 Nicht einer katholischen Renaissance reden wir das Wort, deren obskure Propaganda »das schöne Werk des Mittelalters« wieder herzustellen hofft oder verzweifelt »durch einen Sieg des geeinigten deutschen und christlich-europäischen Geistes über die abgefallene Welt ringsum«, wie Herr Scheler 26. Wenn wir die Reformation, Luther und den Protestantismus bekämpfen, geschieht es, weil wir in ihnen die Hauptbollwerke einer nationalen Isolation erblicken, die fallen muß, soll die einige Menschheit erstehen. Wir glauben auch nicht, daß es notwendig ist, »der europäischen Entartung Heilmittel aus der Welt der Upanishads und des Buddha« 27 zuzuführen. Das würde, wie die Dinge in Deutschland heute beschaffen sind, nur die Gelehrsamkeit mehren, die Energie aber schwächen. Gedacht und geschrieben ist längst genug. Wir brauchen nur die Essenz zu ziehen aus dem Vorhandenen; denn es gilt von den Deutschen noch heute, was Bakunin 1840 über sie aus Berlin an Herzen schrieb: »Wäre der zehnte Teil ihres reichen geistigen Bewußtseins ins Leben übergegangen, so wären sie herrliche Leute.« 28

Graben wir unsere Bibliotheken aus! Verbrennen wir alles Überflüssige, statt neue »Heilmittel« zu suchen! Ein neuer Gewissensstrom komme über Deutschland. Wiedererwägung nicht nur politischer Fragen, sondern auch der Leistungen und Entscheidungen deutscher Geistesheroen, gemessen an den Forderungen des heutigen Europa.

4

Man hat Luther den ersten großen Durchbrecher des mittelalterlichen Systems genannt, und gewiß mit Recht, wenn man damit das religiöse System meinte. Die 95 Thesen, die Luther an die Schloßkirche zu Wittenberg nagelte, handelten von der »freien Gnade«, und der Ablaßstreit, der daraus entstand, entwickelte sich rapid zum Streit um das Recht des Papstes. »Wenn die Gnade Gottes frei wirkte«, sagte Naumann, 29 »hörte alle Zentralverwaltung der Heiligtümer auf.« Und sie hörte in der Tat auf. Freie Gnade hieß freies Gewissen, hieß über Seligkeit, Recht und Unrecht, Diesseits und Jenseits, von nun an selbständig denken zu dürfen. Freiheit eines Christenmenschen: das bedeutete, daß das bürgerliche Individuum gewillt war, von nun an die Entscheidung über letzte Fragen des Daseins auf sein eigenes Gewissen zu nehmen. Es wäre zu wünschen, daß wir in diesem Punkte noch heut Lutheraner wären.

Das Religionssystem, das Luther durchbrach, war der Kollektivbegriff in Glaubensdingen, war die Zentralverwaltung der Gewissensfragen, nicht nur der Heiligtümer; war der religiöse Militarismus, der Disziplinarkomplex. Der einzelne wagte es, den Gehorsam zu verweigern aus Gründen seines persönlichen Seelenheils. Davon allerdings ist in Naumanns sanftmütiger Schrift nicht die Rede. Die demokratische Gewißheit, mit der Luther auftrat, tritt klar zutage, wenn man das tolle Selbstgefühl achtet, mit dem er zunächst alle Seelenkämpfe, alle metaphysische Sorge um Gedeih und Verderb, und die ganze Last der vielfältigen, haarspalterischen religiösen Probleme seiner Zeit auf die Schultern des einzelnen legte. Die ganze Sündenlast des Jahrhunderts trug nun das Individuum, aber auch aller Seelen Seligkeit leuchtete aus seinen verzückten Augen. »Der Papst«, sagte Luther in den Schmalkaldischen Artikeln, »will nicht lassen glauben, sondern spricht, man solle ihm gehorsam sein; das wollen wir aber nicht tun oder darüber sterben in Gottes Namen.« Wo hat gegen die Zensur und den Belagerungszustand des heutigen Disziplinarsystems jemand solche Worte gewagt? Ist die Propaganda für die Kriegsanleihe so sehr verschieden vom mittelalterlichen Ablaßhandel? Ist ein so großer Unterschied zwischen den Pfaffen des alten und den Professoren des neuen Systems, zwischen Tetzel und Sombart? Herr Naumann mag antworten darauf. Der Unterschied zwischen Gesetz und Evangelio, zwischen der äußeren und der inneren Autorität, den der Luther von 1517 aufstellte – wo ist er geblieben? In Rußland wurde er wiedergeboren, in Deutschland aber ist er nicht mehr zu finden.

Den nötigen Unterschied zwischen Gesetz und Evangelio statuiert zu haben, hat Luther sich selbst gerühmt. Noch 1534: »Ich muß immer solchen Unterschied der zwei Rechte einbleuen und einkäuen, eintreiben und einkeilen, ob's wohl so oft, daß es verdrießlich ist, geschrieben und gesagt worden. Denn der leidige Teufel hört nicht auf, diese zwei Reiche in einander zu kochen und zu brauen. Die weltlichen Herren wollen immer Christum lehren und meistern, wie er seine Kirche und geistlich Regiment soll führen. So wollen die falschen Pfaffen immer lehren und meistern, wie man solle das weltliche Regiment ordnen.« 30 Deutlicher konnte die Trennung zwischen Staat und Kirche nicht formuliert werden, und doch haben wir sie heute noch nicht.

Aber Luther rühmte sich auch, »seit der Apostel Tage habe kein Doctor noch Skribent, kein Theologus noch Jurist, so herrlich und klärlich die Gewissen der weltlichen Stände bestätigt« 31. Als er auftrat, habe niemand etwas von der weltlichen Obrigkeit gewußt, woher sie käme, was ihr Amt und Werk sei und wie sie Gott dienen solle. Und diese letzte Äußerung gibt die Bestätigung, welche furchtbare, dem Mittelalter unbekannte Macht er dem Staate verlieh. Marsilius von Padua und Machiavell hatten dem Staate lange vorher seine eigenen Aufgaben zugewiesen. Die Gelehrten aber hatten die Obrigkeit für etwas Heidnisches, Ungöttliches gehalten, hatten sie als einen für die Seligkeit gefährlichen Stand bezeichnet. Luther als erster nahm, gestützt auf die Bibel, den göttlichen Ursprung nun auch für die staatliche Obrigkeit in Anspruch. Damit war, als die Landesgewalten erst begannen, sich mit den Spolien der Kirche zu bereichern, die staatliche Omnipotenz garantiert: Luther erwies sich nach seinen eigenen Worten als »falschen Pfaffen«, der lehrte und meisterte, »wie man solle das weltlich Regiment ordnen«. Er gab dem Staate eine nie geahnte »Gewissensfreiheit« und Macht, und erklärte doch das Desinteressement des religiösen Individuums an der Ordnung der Staatsaffären. Alle Weltfremdheit deutscher Dichter, Gelehrter und Philosophen hat hier ihren Ursprung. Die verächtliche Geringschätzung, mit der noch heute der feudale deutsche Staatsmann auf die Vertreter der Intelligenz seines Landes herabsieht, die ihn doch überwachen müßten, – auch sie geht auf Luther zurück. Die Naivität eines zweideutigen Doctoren der Theologie lieferte das Volk zu endloser Maßregelung auf Treu und Glauben seinen Junkern, Beamten und Fürsten aus. Und die politisch-soziale Unproduktivität aller deutschen Geistestaten bis auf die heutige Zeit wurde höchste Verpflichtung.

Der Weimarer Kanzler Müller erzählt, Napoleon habe 1813 auf einem Ritt nach Eckardsberge geäußert: »Karl der Fünfte würde klug getan haben, sich an die Spitze der Reformation zu stellen; nach der damaligen Stimmung würde es ihm leicht geworden sein, dadurch zur unumschränkten Herrschaft über ganz Deutschland zu gelangen.« 323334an sich göttliches35