Als hell aufleuchtender Planet hat die Venus neben dem Mond bereits in der Antike die Aufmerksamkeit der Beobachter auf sich gezogen, wobei ihre Größe, verglichen mit der Erscheinungsform des Mondes, einen naturgemäßen Ausdruck in dem nahe liegenden Bild von Vater und Tochter fand.

Der Autor konnte ermitteln, dass das frühe minoische Religionskonzept vornehmlich auf die kultische Verehrung der mit den Himmelskörpern identifizierten Gottheiten ausgerichtet war und dass es sich bei dem sagenhaften König Minos und seiner Tochter Ariadne, deren Namensentlehnungen bereits einen astralen Hintergrund besitzen und dem alten Orient entstammen, um Personifikationen von Mond und Venus gehandelt hat. Er weist in diesem Zusammenhang nach, dass die sogenannte minoische Doppelaxt nicht, wie bisher von der Forschung angenommen, ein Tötungsinstrument im Kult, sondern ein für den kultischen Gebrauch notwendiges Ritualsymbol gewesen ist, welches dem Naturschauspiel einer Sonnenfinsternis nachgeformt war.

Im Mittelpunkt dieses Kultes stand die minoische Göttin Ariadne (Aphrodite, Venus), deren Beistand bei der Überwindung nur in der Vorstellung existierender negativer Auswirkungen einer solchen Finsternis auf das Gemeinwesen erbeten wurde. Der Beitrag der Göttin wird in der griechischen Erzählung von Minos, Ariadne, Theseus und dem Minotauros, die dem minoischen Ritual nachgebildet ist, in mythischer Form aufgegriffen und glorifiziert.

Giuseppe di Cornelio, Jahrgang 1952, studierte Rechtswissenschaften und hat erst nach langjähriger Tätigkeit als Rechtsanwalt das Studium der Klassischen Archäologie, Ägyptologie und der Alten Geschichte aufgenommen.

Er lebt seit Anfang 2013 als freier Autor in Köln.

Meiner lieben Frau Hiltrud, die mir jederzeit

hilfreich und beratend zur Seite stand.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Als besonders hell aufleuchtender Planet konnte die Venus nicht umhin, bereits in der Antike die Aufmerksamkeit der Beobachter auf sich zu lenken. Als Kind des babylonischen Mondgottes Sin nahm sie zunächst unter dem Namen Inanna in der Entwicklung der Babylonischen Götterverehrung eine bedeutsame Stellung ein und wurde, ebenso wie die griechische Aphrodite, mit dem Venusplaneten identifiziert.

Mit Anwachsung ihrer Popularität scheinen ihr schon frühzeitig einige Züge übertragen worden zu sein, welche ursprünglich dem Mondgott Sin zugeschrieben waren.

Ihr periodisches Erscheinen als Morgen- und Abendstern legte einen Vergleich mit den Phasen des Mondes nahe. Venus diente den Menschen, ebenso wie der Mond, als Führungspersönlichkeit, was dazu führte, dass der Mond und seine anfängliche Bedeutung gegenüber Venus eine verhältnismäßig untergeordnete Rolle zugewiesen erhielt. Es wird angenommen, dass die vornehmliche Verehrung des Mondgottes und seine Bedeutung eher eine Erscheinung aus einer früheren Periode der babylonischen Religion ist.

Im kretischen Kulturbereich erscheint Venus als Tochter des sagenhaften Königs Minos unter dem Namen Ariadne und wird in der Forschung teilweise als ´babylonische Aphrodite` bezeichnet.

In der Erzählung von Minos, Ariadne, Theseus und dem Minotauros, haben die nach Kreta einwandernden Griechen ein dort vorgefundenes minoisches Ritual aufgegriffen, nach ihren Vorstellungen abgewandelt und die im Mittelpunkt des minoischen Kultes stehende Göttin Ariadne als Unterstützerin des griechischen Helden Theseus in ihre Erzählung mit einbezogen. Ariadne wurde von den Griechen auf Kreta auch unter der Bezeichnung Aridela verehrt, was soviel heißt wie “die hell Leuchtende“. Bereits der Name lässt eine Beziehung zum Venusstern vermuten. Aridela (Ariadne) gewann auch auf dem griechischen Festland an Bedeutung und wurde dort mit der Göttin Aphrodite identifiziert.

Die griechische Erzählung von Minos, Ariadne, Theseus und dem Minotauros wird in der modernen Forschung fälschlich mit der Vorstellung von einem ´Labyrinth` auf der Insel Kreta verbunden, in welchem der Minotauros gelebt habe. Dieser war der Erzählung nach Spross aus einer sexuellen Verbindung der Parsiphae, der Ehefrau des Minos, mit einem Stier. Minos, über die Geburt und seine treulose Gattin sehr verärgert, habe den Minotauros, eine dämonische Erscheinung zwischen Mensch und Tier, in ein eigens für diesen hergerichtetes ´Labyrinth` sperren lassen. In den verschlungenen Gängen des Labyrinthes sei das Ungeheuer vom griechischen Helden Theseus getötet worden, nachdem Ariadne ihm zuvor den Weg mit einer Fackel ausgeleuchtet und zudem mit einem Faden ausgestattet habe, mit dessen Hilfe er den ´Irrgarten` sicher habe verlassen können.

Diese Erzählung wird insbesondere von der christlichen Tradition herangezogen, um die Schwierigkeit einer Rückkehr des Menschen aus der Unterwelt deutlich zu machen. Das ´Labyrinth` wird dort mit der Hölle und der Minotauros mit dem Teufel assoziiert.

Der Verfasser zeigt auf, dass der griechischen Erzählung ein minoischer Kult zugrunde liegt, der weder mit den philosophischen Zuschreibungen in der modernen Forschung, noch mit den über die Jahrhunderte gepflegten Vorstellungen christlicher Religionen von Hölle und Teufel etwas zu tun hat. Der minoische Kult und die hierauf beruhende griechische Erzählung, basieren auf einem vom Himmel abgelesenen, astronomischen Ereignis, welches durch die griechische Mythologisierung verzerrt und unkenntlich gemacht worden ist.

Bei seinem Vorhaben, die minoischen Religionsvorstellungen zumindest in Teilbereichen zu erhellen, hat der Verfasser herausgefunden, dass im Rahmen des minoischen Kultes die Anfertigung einer symbolischen Nachbildung des Himmelsereignisses vorgeschrieben war. Vor einem solchen Bildnis wurden in den kretischen Kulthöhlen und später auf dem Palasthof von Knossos von den minoischen Priesterkönigen oder dessen Stellvertretern Beschwörungsformeln gesprochen und Opfergaben dargebracht. Der Kult ist in regelmäßigen Abständen wiederholt und die für das Ritual gefertigten Symbole für die Himmelserscheinung nach Gebrauch in die hintersten Winkel der Kulthöhlen verbracht worden, wo sie letztlich von den Ausgräbern entdeckt wurden. Der Verfasser weist anhand dieses Symbols nach, dass Ariadne (Istar, Aphrodite, Venus) in ihrer astralen Erscheinungsform und Wesenheit im Mittelpunkt des minoischen Kultes gestanden hat und dieser daher entgegen der Ansicht der Forschung nach den hierfür festgesetzten Kriterien als Astralkult anzusehen ist.

Bei seinen Erkenntnissen war ihm ein Hinweis aus einem unversehrten etruskischen Grab behilflich, auf welches er zufällig anlässlich einer Campingtour durch die Toskana in der Nähe eines an einer Landstrasse gelegenen Rastplatzes gestoßen ist. Mit einer Taschenlampe ausgestattet, suchte der Verfasser nach Einbruch der Dämmerung den Fundort nochmals auf. Nachdem er die zuvor wahrgenommene Bodenöffnung dürftig von Überwachsungen, Moos und Geäst befreit hatte, konnte er mittels des Leuchtkegels seiner Lampe einen Blick ins Innere der bisher unversehrten Grabstätte werfen. Wegen eines eingeschränkten Blickwinkels war nur ein Teilbereich des Grabinneren einsehbar.

Der Verfasser hat sich aus verschiedenen Gründen, nicht zuletzt wegen der schlechten Erfahrungen anderer Archäologen, von denen er zuvor erfahren hatte, dazu entschlossen, über die Lage des Grabes, seine Koordinaten, sowie über die vorgefundenen geologischen Verhältnisse, keine Angaben zu machen. Eine Freilegung mag anderen Generationen von Archäologen Vorbehalten bleiben. Die auf diese Entdeckung zurückzuführenden Erkenntnisse und eine sich hiernach bildende grundsätzliche Sichtweise, hat ihn bei seinen weiteren Untersuchungen begleitet und in die komfortable Lage versetzt, die minoische Religion, welche uns nach Ansicht der Forschung lediglich “eine Fülle von Denkmälern überliefert hat“, in Bezug auf Teile ihrer Kultformen, Riten und Symbole erneut zu beleuchten.

Der Verfasser weist bereits an dieser Stelle mögliche Anwürfe zurück, er sei mit Ergebnissen, „welche zu erlangen hunderte tüchtige Archäologen, Historiker und Epigraphiker ihr gesamtes Forscherleben geweiht“ hätten1, achtlos umgegangen. Vielmehr war er auf die Arbeiten und Visionen des britischen Archäologen und Ausgräbers von Knossos, Arthur Evans, angewiesen und konnte insbesondere auf das Schrift- und Gedankengut eines breiten wissenschaftlichen Umfeldes zurückgreifen, wofür er allen Autoren zu besonderem Dank verpflichtet ist. Darüber hinaus haben die freigelegten Ruinen des Palastes von Knossos, die Erforschung der minoischen Höhlenheiligtümer, sowie die von den Archäologen hierbei ermittelten Daten und Artefakte, dem Verfasser dabei geholfen, die in diesem und im zweiten Band behandelten minoischen Kultsymbole in den ihnen zukommenden religiösen Kontext einzustellen.

Abbildung 1: Sir Arthur Evans während der Grabung zu Knossos

1. Geheimnisvolle Schriftzeichen

Sir Arthur Evans (Abb.1), dem Ausgräber des Palastes von Knossos, ging es im Gegensatz zu Heinrich Schliemann, dem Entdecker von Troja, nicht darum, nachzuweisen, dass den Schilderungen des Dichters Homer in seinen Epen geschichtliche Tatsachen zugrunde liegen. Vielmehr waren es mit geheimnisvollen Schriftzeichen versehene Siegelsteine, die Evans an verschiedenen Orten der Ägäis erworben hatte und deren Entzifferung sein Hauptinteresse galt.2 (Abb.2)

Abbildung 2: Hieroglyphen-Siegel, Knossos (Galopetres)

Als Evans in Athen einen Händler, der ihm weitere Siegelsteine angeboten hatte, nach dem Fundort der Steine fragte, wies dieser in Richtung Kreta, eine Insel die Evans zeitlebens in ihren Bann gezogen und ihn nicht mehr losgelassen hat.3

Zu jener Zeit erkannte Evans noch nicht, dass der Hinweis des Händlers ihn zur Schlüsselfigur einer der faszinierendsten archäologischen Entdeckung machen würde, die je einem Menschen geglückt ist. Inzwischen war es Evans gelungen, aufgrund erworbener weiterer kretischer Siegelsteine eine Liste von mehr als fünfzig Schriftzeichen anzulegen.

Lange bevor auch nur ein Spaten in das Erdreich Kretas eindrang, begann er mit den Arbeiten an einem Buch, dessen Titel “Kretische Bildschriftzeichen“ und “Die Schrift vor den Phönikern“ lautete.4 Evans hatte erkannt, dass die Sprache, deren Bilder sich auf den Siegeln befand, bereits seit mehreren Jahrtausenden nicht mehr gesprochen worden war. Während seiner Suche nach frühen Hinweisen, stieß er auf einen Bericht, wonach ein Spartanerkönig bei der Aufnahme eines alten Grabens in der Nähe von Theben eine Bronzetafel mit Bildzeichen gefunden haben soll. Weil niemand diese Schriftzeichen zu lesen vermochte, so heißt es dort, habe der König einen Abdruck dieser Zeichen nach Ägypten versandt. Auch die in schriftlichen Dingen versierten Priester des Pharao konnten die geheimnisvollen Zeichen nicht entziffern.5 Ebenso blieb auch Evans, was er damals nicht ahnen konnte, die Entzifferung dieser Zeichen zeitlebens versagt.

Das Interesse an der Entschlüsselung der Bildschriftzeichen war für ihn Motivation und Anlass, im Jahre 1894 mit drei Maultieren und einem Maultiertreiber erstmals eine Insel zu erforschen, von der nicht einmal die damaligen Bewohner wussten, dass sich von hier aus einst eine Kultur über das ägäische Meer hinaus auf das gesamte Abendland ausgebreitet hat.

Ebenso wie Schliemann wird Evans nicht umhin gekommen sein, zumindest zweitrangig die Epen Homers als wertvolle Geschichtsquelle zu betrachten und diese bei seinen Untersuchungen heranzuziehen.

Abbildung 3: Karte der Insel Kreta in der M. Min. I und II Zeit

„Kreta“, so heißt es dort, „ ist ein Land im dunkel wogenden Meere, fruchtbar und anmutsvoll und rings umflossen. Es wohnen dort unzählige Menschen, und ihre Städte sind neunzig. Ihrer Könige Stadt ist Knossos, wo Minos geherrscht hat.“6 (Abb.3)

Diese Verse Homers mögen Evans veranlasst haben, in einem Aufsatz aus dem Jahre 1896 die bronzezeitliche Kultur der Insel “minoisch“ und das Volk, welches ehemals die Insel bewohnte, nach seinem König Minos “Minoer“ zu nennen.7 Homers Hinweis, nebst einem gewissen Maß an Spürsinn und Intuition, waren möglicherweise der Grund dafür, dass Evans bereits frühzeitig wusste, wo er zu gegebener Zeit den Spaten anzusetzen hatte. Eine generationsübergreifende Überlieferung hatte den Namen der Stelle bewahrt, wo einst das sagenumwobene Knossos, die Stadt des Minos und des legendären Minotauros gelegen haben musste.

Bereits im Jahre 1889 hatte sich Schliemann auf Kreta um eine Grabungserlaubnis bemüht. Es gelang ihm nach vorangegangenen schwierigen Verhandlungen mit den damaligen türkischen Machthabern jedoch nicht, sich mit dem Eigentümer des Grabungsgeländes über einen Kaufpreis zu einigen. Evans gab diesbezüglich später in einem Beitrag in Anspielung auf die zweifelhaften Grabungsmethoden Schliemanns in Troja unumwunden zu erkennen, dass er keineswegs bedauere, dass Schliemann seinerzeit in Knossos nicht gegraben habe, da dessen “summarische Methode“ nicht geeignet gewesen wäre, die Aufgaben in Knossos angemessen zu bewältigen.8

Evans selbst scheiterte hinsichtlich einer Grabungserlaubnis am Widerstand der türkischen Behörden, was ihn dazu veranlasste, das Grabungsgelände, wo er das verschüttete Knossos vermutete, zunächst zu einem Viertel zu kaufen.9 Auf diese Weise hatte er sich die Option gesichert, den Rest des Geländes zu einem späteren Zeitpunkt zu erwerben. Darüber hinaus berechtigte ihn diese Maßnahme nach osmanischem Gesetz, gegen ebensolche Bemühungen eines anderen Ausgräbers Einspruch zu erheben.

Als Evans im Jahre 1894 nach England zurückkehrte, war sein Anspruch auf die Erforschung des Grabungsgeländes juristisch abgesichert.10 Evans war neben der Versagung der Grabungserlaubnis durch die türkischen Behörden auch deshalb zum Kauf des Grabungsgeländes veranlasst worden, weil er erfahren hatte, dass auf dem Gelände schon einige Fundstücke zu Tage gefördert worden waren. Bereits im Jahre 1877 hatte ein spanischer Konsul Probegrabungen vornehmen lassen und einige Fundamentreste freigelegt. Im Rahmen dieser Grabung wurden Reste von Fresken, Keramik und auch ein Goldring gefunden, so dass Evans nicht länger warten wollte, seinerseits dort mit Grabungen zu beginnen. Er erhoffte sich, auf dem erworbenen Gelände Hinweise auf die ihm bereits bekannten und teilweise in seinen Besitz gelangten Siegelbilder zu finden und möglicherweise den Schlüssel für die Entzifferung der geheimnisvollen Bildzeichen zu entdecken.

Inzwischen erhob sich die kretische Bevölkerung gegen die türkischen Besatzer, ein Aufstand, der in der Folgezeit zu einem regelrechten Bürgerkrieg ausartete. Erschütternde Berichte über grausige Blutbäder auf beiden Seiten erreichten Evans, so dass dieser es vorzog, zunächst in England zu bleiben. Erst im März des Jahres 1898 kehrte er nach Kreta zurück, nachdem die einzelnen Inselbezirke dem Protektorat der Großmächte unterstellt worden waren und das Betreten der Insel wieder sicher war.11 Die letzte türkische Truppeneinheit verließ Kreta im November 1898. Es dauerte jedoch noch zwei Jahre, bis der erste Spaten in das Gelände von Knossos eindrang.12

2. Der Palast von Knossos

Schon am zweiten Grabungstag stieß Evans auf ein Gebäude mit Freskenfragmenten.13 Tags darauf kamen von Ruß geschwärzte Mauern zum Vorschein. Anders als bei der ersten Grabung Schliemanns in Troja, stand Evans vom ersten Tag an mit David Hogarth, dem Direktor des Britischen Archäologischen Institutes in Athen, ein Archäologe mit Grabungserfahrung zur Seite.14 Schliemann hatte bei seiner Suche nach dem Schatz des Priamos während seiner Ausgrabungen in Troja aus archäologischer Sicht mehr zerstört, als sinnvolle Erkenntnisse zu Tage gefördert.

Auch auf Kreta hatten Ende des 18. Jahrhunderts mehrere Ausgräber auf der Suche nach Schätzen archäologisch wertvolles Gelände mit wechselndem Erfolg “durchpflügt“. Evans hingegen war vornehmlich an weiteren Siegelinschriften interessiert und erhoffte sich, solche Siegelbildnisse bei der Freilegung des von ihm erworbenen Geländes zu finden. Anders als Schliemann wollte Evans nicht unverzüglich mit Brachialgewalt zum Urboden vorstoßen. Er begann damit, unter Beachtung äußerster Sorgfalt und unter Einbeziehung seinerzeit bekannter wissenschaftlicher Arbeitsmethoden, Schicht für Schicht der vermuteten zahlreichen Besiedlungsschichten abzutragen.15

Schon nach kurzer Zeit stieß Evans auf das, wonach er suchte. Ein von den früheren Bewohnern angelegtes Depot von beschriebenen Täfelchen lieferte den Beweis für ein prähistorisches Bilderschriftsystem. Die geheimnisvollen Zeichen jedoch konnte Evans trotz nachhaltiger Bemühungen nach wie vor nicht entziffern.16

Im Rahmen der zügig vorangehenden Grabungsarbeiten tauchten täglich weitere Mauerreste auf. Nach und nach kam eine unüberschaubare Anordnung von Gängen, Räumen und Höfen zum Vorschein. Im Laufe der Zeit wurden die wirklichen Ausmaße des Palastes sichtbar. Mehrere in Terrassenform angelegte Räume waren durch Treppen miteinander verbunden.17

Mit der Freilegung des Thronsaales konnte Evans einen ersten Erfolg seiner Bemühungen als seriöser Ausgräber feiern. Mit dem Königssitz des sagenhaften Minos, so war er überzeugt, sei ein erster Zugang zu einer bisher verschlossenen Welt aufgetan.18 Am Ende der Grabungssaison konnte Evans einen ersten Gesamtplan des Palastes vorlegen, aus welchem ersichtlich war, dass es sich bei dem Bauwerk einst um einen riesigen Komplex von Höfen, Gängen und Räumen gehandelt hat. (Abb.4)

Abbildung 4: Der knossische Palast in M.Min II

Dieser Umstand, so Evans, könnte dazu beigetragen haben, dass die Menschen zur Zeit Homers das auch damals bereits antike Knossos mit seinem labyrinthisch anmutenden Wirrwarr von Ecken und Winkeln mit der Vorstellung von einem Labyrinth verglichen haben. Allerdings, so nahm der Ausgräber an, sei es wahrscheinlicher, dass der Name des sagenumwobenen Labyrinths, für welches er den Palast hielt, von dem Wort ´Labrys`, der Bezeichnung für die kretische Doppelaxt, abzuleiten sei. (Abb. 5 u. 6)19

Abbildung 5: Doppeläxte Arkalochori (a. aus Gold; b aus Silber)

Abbildung 6: Doppeläxte aus Arkalochori

Der labyrinthartig aufgebaute Palast sei gleichsam das Haus der Labrys gewesen. Dies, so Evans, werde auch dadurch sichtbar, dass die Doppelaxt mehrfach in Reliefgestalt an den Palastmauern angebracht gewesen sei.20 (Abb.7)

Abbildung 7: Pfeiler mit Doppelaxtzeichen, Knossos

3. Das Geheimnis der ´heiligen Höhlen`

Bereits sechs Jahre vor Beginn seiner Grabungsarbeiten in Knossos war Evans auf der Suche nach Bildschriftzeichen in die Berge geritten, um eine Höhle aufzusuchen, von der ihm Einheimische erzählt hatten. Diese befand sich in der Nähe eines kleinen Dorfes namens Psychro. (Abb.3) Evans war zu Ohren gekommen, dass diese Höhle, wie viele andere Höhlen auch, von den Minoern als Kultstätte benutzt worden war und erhoffte sich daher, dort ein paar weitere Siegelsteine zu finden. Etwa tausend Meter über dem Meeresspiegel gelegen, zeigten ihm die Hirten einen versteckten Höhleneingang. Evans fand im Eingangsbereich der Höhle einen steinernen Opfertisch, einige Weihegaben und den eigentlichen Grund seines Interesses, nämlich ein paar weitere Siegelsteine.21 Weil große Teile der Höhle eingestürzt waren, konnte Evans eine Erforschung tiefer gelegener Teile der Höhle nicht vornehmen. Ein weiteres Eindringen ohne entsprechendes Grabungsgerät war unmöglich.

Die eigentliche Erforschung des Höhlenheiligtums von Psychro ist dem Archäologen David Hogarth zu verdanken. Als nach eingangs geleisteter fachkundiger Unterstützung seinerseits die Grabungen in Knossos auch ohne ihn vorankamen, begab sich Hogarth mit einigen Arbeitern zum Höhlenheiligtum von Psychro.22 Zwischenzeitlich aufgetauchte Weihegaben aus der Höhle hatten ihn neugierig gemacht. Unter Mitnahme von Brecheisen und Sprengstoff beabsichtigte Hogarth, die Höhle bis in ihre letzten Winkel und Ecken zu erforschen. Er ließ Löcher in die Felswände bohren, platzierte Sprengladungen und erbrach auf diese Weise einen geräumigen Zugang zur Höhle. Nachdem Mitarbeiter zuvor mit ihren Hacken den harten, hohlen Boden aufgeweicht und mit Körben an die Oberfläche getragen hatten, wurde die Erde im Sonnenlicht von weiteren Helfern durchsiebt. Auf diese Weise kamen seltsame Dinge zum Vorschein.23

Neben Scherben, die mit Pflanzen, Vögeln, Fischen und Doppelaxtmotiven bemalt waren, fanden sich dort Messer, Lampen und Schmuckstücke. Nachdem im oberen Teil der Höhle der Erdboden bis auf den Fels gelöst und Gegenstände nicht mehr auszumachen waren, ging Hogarth dazu über, sich den Zugang zu einem tiefer gelegenen Teil der Höhle zu ebnen. Die Beschaffenheit des Zugangs ließ ihn jedoch daran zweifeln, ob dieser Bereich jemals von Menschen betreten worden war.24

In der Tat hatten die Männer keinen sicheren Stand und fischten mit ihren Händen im Morast. Auch Hogarth beteiligte sich an diesen Arbeiten, wobei er, ein gutes Beispiel gebend, seine Arbeiter immer wieder zu motivieren vermochte.