Angela und Karlheinz Steinmüller

Andymon

Eine Weltraum-Utopie

Angela und Karlheinz Steinmüller

Werke in Einzelausgaben. Band 2

Herausgegeben von Erik Simon

Impressum

Angela und Karlheinz Steinmüller: Andymon. Eine Weltraum-Utopie

(Werke in Einzelausgaben. Band 2)

Herausgegeben von Erik Simon

Vignette von Thomas Hofmann

© 1982, 2004 Angela und Karlheinz Steinmüller (für den Roman »Andymon«)

© 1986, 1993 Erik Simon (für die »Hymne des Planeten Andymon«)

© 2004, 2018 Angela und Karlheinz Steinmüller (für »Die Schiffsgeborenen« und das Nachwort)

© 2015 Karlheinz Steinmüller (für »Andymon und die Langfristperspektiven der Menschheit«)

© 2018 Thomas Hofmann (für die Vignette)

© dieser Ausgabe 2020 by Memoranda Verlag 

Alle Rechte vorbehalten

Redaktion der Neufassung: Erik Simon

Korrektur: Sara Riffel

Gestaltung: Hardy Kettlitz & s.BENeš [www.benswerk.wordpress.com]

E-Book-Erstellung: Hardy Kettlitz

Memoranda Verlag

Hardy Kettlitz

Ilsenhof 12

12053 Berlin

www.memoranda.eu

ISBN: 978-3-948616-04-5  (Buchausgabe)

ISBN: 978-3-948616-05-2 (E-Book)


Inhalt

ANDYMON – Eine Weltraum-Utopie

Teil I: Das Schiff

Teil II: Andymon

Teil III: Und mehr als Andymon

ANHANG

Die Schiffsgeborenen

Hymne des Planeten Andymon

Andymon und die Langfristperspektiven der Menschheit

»Dieser Satz hat das Buch gerettet.«

ANDYMON –
Eine Weltraum-Utopie

Teil I: Das Schiff

Woher?

Es gibt eine Reihe von Fragen, die sich der Mensch wieder und wieder stellt. Das war schon auf einem Planeten mit Namen Erde so, der für uns kaum mehr bedeutet als eine phantastische kosmische Sage. Und das wird so sein bis in alle Zukunft unseres Planeten Andymon, über der genau wie über der irdischen Vergangenheit der Schleier der Zeit liegt.

Ich bin früh auf diese Fragen gestoßen, fast noch als Kind. Ich hatte die Bücher für mich entdeckt, und ich las viel und je nach Stimmung leichtverständliche Wissenschaft, viel Geschichte, er­­fundene Abenteuer, aber auch Lyrik. Und eines dieser Gedichte, dessen Wortlaut in der toten Sprache der Inka ich nicht kenne, fragte: Woher komme ich? Was bin ich? Wohin gehe ich?

Es schien, als ob ich die bohrenden Verse des längst zu Staub zerfallenen Dichters beantworten könnte: Du kamst aus dem Schoß deiner Mutter – soviel wußte ich damals schon, daß die Menschen der Erde Mütter hatten – in dem untergegangenen Reiche der Inka auf dem von uns nie gesehenen Planeten Erde; du warst ein Mensch, ein Homo sapiens, gemäß der Einordnung in die Syste­matik des Lebenden; und du bist eines gewaltsamen Todes gestorben, als bärtige Barbaren all das zerstörten, was dir als Kultur galt. So einfach erschien es mir, die Fragen des indianischen Dichters zu beantworten.

So einfach … Doch: Woher komme ich? Was bin ich? Wohin gehe ich?

Kann ich die letzte Frage beantworten, solange mir die Umstände meines Todes ungewiß sind? Darf ich die zweite Frage mit einem sachlichen »Homo sapiens«, einem einfachen »Ich bin ein Mensch« beantworten, da doch mit uns eine neue kosmische Gattung geboren wurde? Genügt es, das Woher mit dem technischen Satz zu erhellen: Ich wurde an Bord eines Raumschiffs ohne Namen vom Inkubationssystem 2 erzeugt, als sich die Große Reise ihrem Ende näherte? Muß ich hinzufügen, daß ich Verschmelzungsprodukt des Spermiums eines mir unbekannten menschlichen Vaters und der Eizelle einer mir unbekannten menschlichen Mutter bin und daher in mir trage, was die biologische Evolution auf der Erde in Jahr­millionen ansammelte?

Ich bin nicht sicher, ob ich die Fragen des indianischen Dichters, dessen Existenz im Dunkel liegt, raumzeitlich beantworten soll. Sind sie nicht nur Ausdruck des Fremdseins in einer Welt, die dem Menschen bald feindlich, bald freundlich gegenübersteht und die er sich mit Taten und Begriffen aneignen will? Doch wie könnte ich fremd sein in einer Welt, die ich selbst mitschuf? Ich muß wohl glauben, daß aus diesen Fragen die Offenheit der Welt, die Unendlichkeit von Raum und Zeit zu mir sprechen.

Ramma

Dieses Gesicht, diese Augen, die mir stets freundlich zulächelten, die weichen sanften Züge, selbst die dichten Brauen und die eher breit zu nennende Nase, das schwarze, wellige Haar, mit dem ich so oft spielte – ich kann sie nie vergessen, Ramma, meine Ramma. Sie ist das erste Wesen, dessen ich mich entsinnen kann. Keine meiner Erinnerungen reicht weiter zurück. Wie sollte es auch anders sein. Dem erwachenden Bewußtsein eines entstehenden Menschen sind die Anfangsphasen seiner Entwicklung verschlossen. Vom Inkubator erfuhr ich erst Jahre später.

Denke ich zurück, so liebe ich Ramma noch heute, empfinde noch heute einen Anflug jener warmen Geborgenheit, die meine früheste Kindheit bestimmte und so sorgenfrei machte. Dabei war Ramma nichts als ein ausgeklügelter Betrug, falsch bis auf die ­metallenen Knochen, bloßer Trick und Imitation. Jeder ihrer Gesichtszüge, jede ihrer Bewegungen war so ausgedacht und entworfen, daß sie mir die nicht vorhandene menschliche Mutter vorgaukelten. Jedes ihrer Worte des Trostes und Mitgefühls bei meinen kindlichen Wehwehchen war nichts als Vorspiegelung, raffinierte Lüge einem Wesen gegenüber, das unfähig sein mußte, sie zu durchschauen. Das Werk eines Teams von Kinderpsychologen, Kybernetikern, Designern war vor allem in dieser Beziehung perfekt. – Und doch denke ich mit Liebe an Ramma zurück.

Ist es falsch, daß ich jetzt noch so viel Gefühl, so viele Gedanken auf ein technisches System verschwende, auf meine Robotamme? Ich weiß es nicht. Und wenn sich hinter ihrem mütterlichen Antlitz auch hochintegrierte Nanoelektronik verbarg und wenn ich auch aus synthetischen Brüsten trank und, eingelullt von künstlicher Wärme und einem leisen imitierten Herzschlag, einschlief, es war nun einmal meine Ramma.

Ist es nicht gleich, daß ein ausgeklügeltes Programm all ihre Handlungen bestimmte? Daß genetisch determinierte Schlüssel­reize berücksichtigt wurden und entwicklungspsychologische Gesetze? Ich liebte Ramma, denn sie war es, die mir zulächelte, mich in ihren unermüdlichen Armen wiegte, mir zärtliche Worte zu­flüsterte. Sie, die Maschine, die komplexe kybernetische Struktur, die Gefühle weder empfangen noch erwidern kann, sie allein hat mein Fühlen erweckt und in den ersten Jahren geleitet. Ohne Ramma wäre ich kein menschliches Wesen geworden, ein wildes Tier nur, ein menschenähnlicher Automat.

Ramma – so paradox es scheint: Ein Roboter erzog mich zum Menschen. Und so haben die Rührung und die Dankbarkeit, mit denen ich an sie zurückdenke, ihre Berechtigung.

Geschwister

Alfa war die Erstgeborene. Zwei Monate früher als mich hatten die Inkubatoren sie in unsere stahlummantelte Welt gesetzt. Und eines Tages müssen uns unsere Rammas zusammengebracht haben, eines Tages, an den ich mich nicht entsinnen kann, so weit liegt er zurück im Dunkel meiner Kindheit. Kein Bild taucht in mir auf, das mich allein mit der dunklen Alfa zeigt in den zehn Wochen, bevor Gamma unsere Gespielin wurde. Und ich bin mir nicht einmal sicher, ob die Erinnerungen an die Zeit des Spielens zu dritt echt sind oder ob es sich nicht nur um das nachträgliche Ausmalen wahrscheinlicher Situationen handelt. Aber das ist unwichtig. Ich sehe, wie sich die winzige Gamma auf Alfas Rücken festklammert und wie ich beide eifersüchtig umkreise.

Lange Jahre – die zeitlosen, halbvergessenen Jahre der frühen Kindheit – blieb Alfa in meinen Augen die Große, die Starke, die Überlegene. Sie war kräftig gebaut, zudem die Ewigkeit von achtundsechzig Tagen älter, die ich nie einzuholen vermochte. Gamma hingegen zeichnete eine unter uns einzigartige Zierlichkeit aus. Kein Wunder, daß Alfa mit ihr »Ramma und Gamma« spielte und den Bruder, den sie weder richtig auf dem Rücken tragen noch bemuttern konnte, überging. Neidisch beobachtete ich ihr Spiel, versuchte, mich dazwischenzudrängen oder ahmte sie nach, indem ich die beiden einzig bekannten Rollen, die des Babys und die der Ramma, annahm. Manchmal stritt ich mich mit Alfa um Gamma. Allein sie wußte ihren Willen meist durchzusetzen, und ich blieb Zuschauer bei diesem Spiel, zumindest in meiner echten oder falschen Erinnerung.

Etwa als Delth in unseren Kreis trat, entdeckte ich, daß Ramma nicht Ramma war, oder vielmehr, daß es Ramma und Ramma und Ramma gab: Sie konnten nebeneinander stehen. Das verwirrte mich sehr. Und in der ersten Verwirrung hatte ich sogar Mühe, meine, die einzig richtige Ramma herauszufinden. Erst ihre so vertraute, beseligende Stimme gab mir die Sicherheit zurück.

Heute weiß ich natürlich, daß sich um jedes Kind eine spezielle Robotamme kümmerte, damals aber erschütterte diese Entdeckung meine Welt. Ich mußte unterscheiden lernen, und die Grammatik von mein, dein und sein bekam einen tiefen, ungeheuerlichen Sinn.

Wir nannten uns Geschwister. Wie alle Wörter kam auch dieses von den Rammas, wurde uns gelehrt, ohne daß wir es bemerkten. Viel, viel später erst begriff ich, daß dieses Wort auch eine andere, biologische Bedeutung besitzen kann. »Blut ist dicker als Wasser«, sagt man auf der Erde. Eine Halbwahrheit. Die Hautfarbe meiner Geschwister ist verschieden wie Tag und Nacht, und doch stehen wir uns durch die gemeinsame Kindheit noch heute so nahe, wie es gemeinsame Gene allein nie hätten bewirken können.

Wir nannten uns Geschwister, wuchsen und bekamen Zuwachs. Nach Delth kam Ilona, auf Zeth folgten Eta und Teth, während die Monate vergingen. Oft mußte eine Ramma einschreiten, wenn wir größeren Geschwister zu rabiat mit den kleineren umgingen. Die Schelte, die ich gesenkten Hauptes empfing, weil ich Eta hatte fallen lassen, kann ich nicht vergessen. Noch heute fasse ich Kinder nur sehr sacht an, betrachte sie als etwas unendlich Zerbrechliches.

Wir spielten mit weichen Bauklötzen aller Farben, rauften uns um Bälle, wurden gebadet und planschten. Und wir beschmierten mit süßen Buntstiften alles, was uns in den Weg oder in den Sinn kam. Besonders gern haben wir Ilona angemalt, sie war als Kind weißblond und hatte eine entsprechend zarte helle Haut, auf der die Farben wunderbar zur Geltung kamen. Ilona lag nichts daran, von uns verziert zu werden. Alle Beteuerungen, sie werde dadurch schöner, halfen nichts. Sie schrie jämmerlich nach ihrer Ramma, wenn wir sie endlich überwältigt hatten und festhielten. Aber manchmal, insgeheim, bemalte sie sich selbst.

Neben den Geschwistern und Rammas gab es noch ein Wesen in meiner kindlichen Welt, das eher ihnen ähnelte als den toten Dingen wie Stöcken oder Schachteln – meinen Teddy. Er lauschte geduldig meinen langen Erzählungen, verweigerte kein Spiel, ertrug gehorsam, was immer ich mir ausdachte, und liebte mich auch nach der gründlichsten Untersuchung noch. Zweimal zerlegte ich meinen Teddy, schnitt sein braunes Fell auf, zerrte die Wolle heraus und suchte nach der »Stimme«, einem Kästchen, das auf Druck oder Drehung ein bescheidenes Brummen hervorbrachte. Beide Male stellte Ramma meinen Teddy wieder her, kurieren nannte sie das und erklärte mir die Leiden eines geschundenen Teddys. Nur Delths Teddy wurde öfter repariert.

Der Mensch ist so eingerichtet, daß sich in der Erinnerung das Verhältnis von Leid und Freude verschiebt. Ich weiß sicher, daß ich als Kind manches Mal geweint habe, schon vor Zorn und um meinem Willen Ausdruck zu verleihen. Und doch erscheint mir die Zeit im Kreise der widerborstigen Geschwister und der folgsamen Spielzeuge in einem freundlichen Licht.

Naturpark

Die Halle mit einer Wiese, in die uns die Rammas eine Zeitlang gebracht hatten, hatte ich noch bereitwillig als einen neuen Raum akzeptiert, doch als wir später in den Naturpark geführt wurden, schien mir das Herz stillzustehen. Die Wiese konnte ich schnell überqueren, hinter Büschen und Bäumen gab es eine Wand, und die Decke war stets zu sehen, die Größe des Naturparks aber erschreckte mich. In meiner kindlichen Vorstellung war er schlicht unendlich. Die Wände fehlten! Hinter jedem Baum standen weitere, hinter der Wiese kam ein See, und hinter dem See waren erneut Wiesen und Bäume und dann die grauen Flecken, die Felsen hießen. So ging das weiter und weiter und höher hinauf.

Während ich dem Lauf eines glitzernden Bachbandes mit den Augen folgte, die bald nicht mehr alle Details zu erkennen vermochten, mußte ich meinen Kopf heben. Wie sollte ich wissen oder begreifen, daß die grünen, grauen, gelben und blauen Farbtupfen über meinem Kopf noch zum Naturpark gehörten? Wie konnte ich eine Vorstellung davon haben, daß ich mich in einem kilometergroßen Zylinder befand, da mir die Begriffe dazu fehlten. Für mich verschwand der Park in der Entfernung einfach in einer Art Nebel, ich sah, und zugleich sah ich nicht.

Die jüngeren Geschwister nahmen den Park, wie er war. Meine Furcht vor der Weite mochte ihnen fremd sein.

Am Abend kroch ich verstört in mein Bett, das wohltuend nahe Wände umgaben. Was ich damals träumte, habe ich bis heute nicht vergessen: Die Wände unseres Zimmers lösten sich in ein waberndes Grün auf, ich befand mich halb schwebend in einem größeren Raum, der mit hohen wogenden Gräsern und gedrungenen ­Büschen der Wiese ähnelte. Und wieder zergingen die Wände, ich driftete unsicher hinaus, konnte aber noch einmal eine Begrenzung wie eine dünne, halb transparente Hülle in der Entfernung er­spähen, dann zerplatzten meine Sinne in ein grenzenloses Nichts, ich trudelte hinaus in eine endlose schwarze Leere, von der ich damals noch nichts wissen konnte.

Ich erwachte und fror. Ich wollte Ramma rufen, aber die Leere verschloß mir den Mund. Ich kroch, bis ich Alfas Bett fand, stieß sie wach und erzählte ihr unter Tränen, daß nirgendwo eine Wand sei. Dann weinte auch sie, und ich beruhigte mich.

Guro

Ich mochte etwa fünf Erdjahre zählen, da saß eines Morgens ein neues Wesen an einem der Felsen. Wir waren es längst gewohnt, ständig neue Tiere kennenzulernen, auch solche, deren Biß uns erkranken ließ oder deren Stich schmerzte und Beulen verursachte. Nur der unermüdlichen Aufmerksamkeit der allgegenwärtigen Rammas war es zu verdanken, daß wir mit dem Schrecken und ein paar Kratzern davonkamen. Doch dieses neue Wesen ähnelte nicht den Vierbeinern oder den Gefiederten, es glich auf eine ­bizarre Weise eher den Rammas und uns.

Zweibeiner sprechen, war die erste Erfahrung, die es uns vermittelte, als wir uns vorsichtig und neugierig näherten. Das Wesen sagte: »Ich heiße Guro. Ab heute werde ich euch alles lehren.«

Ich erwiderte, daß ich Beth heiße, und fragte, ob er mit uns spielen wolle. Guros Lächeln galt uns als Einwilligung.

Noch am selben Tag rief uns Guro am Ufer des Sees zusammen. Mit einem Stock malte er Zeichen in den Sand. »Dies ist für dich, Alfa, und das für dich, Beth.«

Ich versuchte sofort, es nachzuzeichnen. Die anderen wollten nicht zurückstehen, holten sich Stöcke und kritzelten im Sand. Ilona schrie, als wäre sie selbst verletzt, als Eta aus Versehen auf ihr krakelig dürres Epsilon trat und es verwischte. Guro war sofort zur Stelle, tröstete sie und übte mit ihr. Er erklärte uns fast jeden Tag neue Zeichen. Als das Spiel den Reiz der Neuheit verloren hatte, mußte Guro zu jedem Zeichen eine Geschichte erfinden, um unser Interesse wach zu halten.

Gamma meinte Jahre später, daß Guro eine Abkürzung für ­»Genialer Universalroboter« sein müßte, die Erdmenschen erfänden auf diese Art Namen. Beweisen konnte sie es nicht, und Guro verschwieg uns den Ursprung des Namens – auch sein Wissen kannte Grenzen.

Guro hatte viel Arbeit mit uns. Nimmermüde beantwortete er die Fragen der Kleineren, zeigte uns manchen Trick, gab uns Ratschläge für unsere Spiele und später dann Unterricht.

Als mehr Geschwister zu uns in den Naturpark stießen, sagte Guro: »Ihr werdet zu viele, ich muß mich verdoppeln.«

Wir lachten, bis wir sahen, daß im Schatten des Felsens, nur wenige Schritte hinter ihm, ein zweiter Guro stand. Sie glichen einan­der so sehr, daß uns schon bald jegliche Unterscheidung unmöglich wurde. Oft fragten wir einen Guro etwas und rannten gleich darauf abgelenkt davon, in solchen Fällen konnte auch der andere antworten. Wir wunderten uns nicht wenig, waren aber froh, daß es Guro doppelt gab: So konnte er uns mehr erzählen.

Zwei Roboter, die über Funk miteinander und mit dem Schiffs­computer in Kontakt stehen – wie wenig Geheimnis barg Guros Verdopplung in sich. Mit seinem Wissen, den in den Informationsspeichern des Schiffs gesammelten Erfahrungen der Menschheit, war und ist er mir zu jeder Zeit hoch überlegen. Aber seine Genialität und Universalität sind auf die beschränkte Welt des Schiffs zugeschnitten. Heute löst er meine Probleme nicht mehr.

Wandern mit Guro

Von dem Zeitpunkt an, als wir acht Ältesten einen Guro ­bekamen und die Jüngeren einen anderen, begannen wir uns als Gruppe zu betrachten. Auch heute noch, da ich die vielfältigen Familien- und Gemeinschaftsformen der Erdmenschheit kenne, er­­scheint mir es absolut selbstverständlich und natürlich, in einer Achtergruppe Gleichaltriger zu leben. Für die meisten meiner Geschwister sind Gruppenbildung und Anzahl lediglich Ergebnis praktischer Er­wägungen: So läßt sich eine Horde von Kindern am besten bändigen. Gamma freilich sah darin ein Rätsel, das sie zu Spekulationen verleitete. In jedem Punkt hatten die Erbauer des Schiffs perfekt vorgesorgt, also mußten sie auch Gruppengröße und Zusammensetzung berechnet haben, vier Mädchen und vier Jungen, das mußte das Optimum sein, die beste Voraussetzung für den Aufbau einer funktionierenden Gesellschaft, eben kein zusammenge­würfelter Haufen wie auf der Erde … Wie dem auch sei, wir waren acht und hielten zusammen wie Pech und Schwefel.

Wir, das waren Alfa, die Große und Erstgeborene mit dem ihrer Ansicht nach viel zu großen Mund, zu der man mit jedem Wehwehchen kommen konnte und von der man nie ungetröstet ging; und die zarte Gamma, die beim Nachdenken immer den Zeigefinger an die Nase hob. Zu uns gehörten Delth, der stets der Erste sein wollte, und die flinke, blonde, sommersprossige Ilona. Zeth, Eta und Teth, die drei Jüngsten, hatten noch nicht viel zu sagen, sie suchten noch den Anschluß zu gewinnen und ahmten fleißig nach, was wir ihnen vormachten. Daß wir mit unseren Hautfarben verschiedenen Hauptrassen der Erdmenschheit angehörten, kam uns erst viel später zu Bewußtsein. Warum sollte nicht Alfa schwarz, Gamma hellbraun, Delth weiß sein?

Guro beachtete zwar die damals noch bedeutsamen Altersunterschiede, er versuchte trotzdem, uns allen dasselbe beizubringen, gleich, ob es sich um das kleine Einmaleins oder das Verhalten von Körpern im Wasser handelte. Er erzählte stundenlang, lehrte uns neue Spiele und führte uns auf lange Expeditionen.

»Wir wandern«, sagte er dann und teilte kleine Beutel mit Verpflegung aus. Wir warfen sie uns über die Schulter, und schon ging es los.

Die nähere Umgebung des Eingangs in den Naturpark, der sich an der Flanke eines Hügels hinter Büschen verbarg, hatten wir längst spielend erkundet, ebenso wie das Buschland davor und den kleinen See und ein Stück Laubwald, der das Buschland zur anderen Seite hin begrenzte. Jetzt umrundeten wir den See, überquerten die dahinterliegende Heide und erklommen einen niedrigen bewaldeten Berg. Stundenlang marschierten wir durch Wälder, dichtes Gebüsch und Wiesen, deren Gräser uns überragten.

Überall am Weg gab es Sehenswertes: den Ameisenhügel, eine Igelfamilie oder einen umgestürzten, pilzbewachsenen Baum. Guro erklärte, dann gingen wir weiter. Er nahm keine Rücksicht, wenn wir den Igeln noch ein wenig zuschauen oder rasch quer über eine Lichtung laufen wollten, über der bunte Falter tanzten.

»Heute wollen wir weit gehen«, erinnerte er uns und nahm den Marsch wieder auf. Da mochten wir über unsere müden Füße noch so laut jammern. Endlich erreichten wir einen Sumpf, rasteten und aßen. Fliegen setzten sich auf unsere Brote, Mücken umschwirrten uns und stachen immer häufiger. Dreckig und abgekämpft, wie wir waren, schmeckte uns jeder Bissen.

Dann liefen wir über schwankende Mooshügel und vorbei an verkrüppeltem Gehölz. Ständig mußte uns Guro in den Bereich zurückrufen, wo der unsichere Boden sein Gewicht noch trug. Delth und ich spielten mit der Gefahr. Wir rannten voraus, hopsten über die Erdballen, überhörten Guros Ermahnungen.

Wir wußten, daß Guro ohne Zögern im Sumpf versunken wäre, um uns zu retten, trieben es, uns gegenseitig anstachelnd, immer ärger. Dann glitt mein Fuß ab – das Bein stak sofort bis zum Knie im schwarzen Morast. Der Schreck ging wie ein Frost durch meinen Körper. Ich warf mich zur Seite, strampelte, rutschte ab, zog mich mit den Händen voraus – und wenige Schritte neben mir stak auch Delth bis zur kurzen Hose im Morast.

»Bring das Seil zu unseren beiden Helden, Alfa.« Guro hatte vorgesorgt, wir klammerten uns am Seil fest, er zog mit Roboterstärke und ich stand schnell wieder auf festem Boden.

»Wie verhält man sich in Gefahr, Beth?«

»Umsichtig«, antwortete ich, wie er es uns gelehrt hatte.

Guro nickte.

Trotz allen Warnungen Guros, trotz seinen Ermahnungen und seiner Aufmerksamkeit ging kaum ein Wandertag ohne kleinere oder größere Verletzungen zu Ende. Wie entsetzt schrie Ilona, als eine kleine gelbe Schlange sie biß! Die Spritze, die Guro ihr rasch in den Arm drückte, fand sie dann schon wieder interessant.

Ungern traten wir den Rückweg an, der Sumpf hatte uns noch so viel zu bieten, wir hatten nicht einmal eine Libelle gefangen! Aber Guro ließ nicht mit sich handeln. Der Weg wurde lang und länger. Guro schritt flott aus, und wir wollten uns »bloß mal ein bißchen« ausruhen. Er kannte kein Erbarmen. »Strengt euch ruhig etwas an. In einer Stunde sind wir da.«

»Ich will nicht mehr«, protestierte ich. »Du bist groß und aus Metall, dir macht es nichts aus!« Ich stolperte, lief dann doch weiter.

Erschöpft kamen wir an, stopften das Abendbrot in uns hinein und schliefen sofort ein. Am nächsten Tag wollten wir wieder ­wandern.

Ein Märchen

Guro hat uns viele Märchen erzählt. An eins aber erinnere ich mich nach all diesen Jahren besonders deutlich.

Wir saßen, wie immer etwas unruhig, doch bei den spannenden Passagen ganz Ohr, im Halbrund um Guro. Unsere Finger zerpflückten Gräser oder verflochten Halme. Wir ließen Käfer über die Hände laufen und schauten ins grüne Dickicht, Zentimeter über dem Boden, wo sich manche Ameise mit unmöglich großen Beutestücken abplagte.

»Heute mal von den Ameisen, Guro!« wünschte sich der sonst eher zurückhaltende Zeth. Seine schrägstehenden dunklen Augen leuchteten gespannt.

»Ja, warum sie so gemein beißen«, bekräftigte Ilona, die jedes unbekannte Tier sofort anfassen wollte.

»Aber das wißt ihr doch schon«, sagte Guro, »nicht wahr? Heute werde ich euch das Märchen von den Ameisen erzählen, die einen neuen Bau anlegen. Es waren einmal 283 Ameisen, die hatten sich ihre 1698 Füße schon fast alle wund gelaufen, so lange waren sie gewandert, bepackt mit vielen Taschen und Eßbeuteln. Sie liefen immer in einer schmalen Reihe, vorn die Wegbereiter, die Umwege um zu große Pflanzen und zu hohe Steine fanden, die kleinere Hindernisse zur Seite räumten und jeder Gefahr unter Einsatz von Zangen und Gift mutig Trotz boten. Hinter ihnen kamen die Jäger, die schwärmten oft zur Seite aus und erbeuteten gewaltige Raupen, flinke Hundertfüßler oder auch panzerbewehrte Käfer, die die magere Marschverpflegung ergänzten. Hinter den Jägern liefen die Träger mit Sack und Pack, wie alle Ameisen schwitzten sie nie und schimpften nicht über ihre Last, die mitunter das Sieben­unddreißigkommavierfache ihres Körpergewichts ausmacht. Sie wurden von den Kriegern mit gewaltigen messerscharfen Kiefern beschützt, die die Nachhut bildeten. Zwei Wochen waren sie so gezogen, das ist für Ameisen eine schrecklich lange Zeit.

Tag für Tag und auch in der Nacht, immer nur auf den Beinen, niemals gerastet, und nach jedem Tag noch ein Tag … In den zwei Wochen sind sie von dieser Buche dort, den Ameisen­haufen ­darunter kennt Ilona sicher, bis zu einem Baum noch hinter den drei Hügeln gelangt. Ihr braucht natürlich nicht lange, diese Strecke zurückzulegen, aber für Ameisen mit einer Schrittweite von durchschnittlich nur eins Komma zwei Millimeter, da ist es eine ungeheure Entfernung. Und bedenkt, sie trugen eine Last, die mitunter das Siebenunddreißigkommavierfache ihres Kör…«

»Das wissen wir doch schon, Guro!«

»Und warum laufen sie solche schrecklichen Strecken, ich würde …«

»Weitererzählen! Guro, erzähl’ bitte weiter!«

»Ja, ihr habt recht, aber erst muß ich noch Gammas Frage beantworten. Die Ameisen suchten einen geeigneten Standort für ihren neuen Bau, denn im alten war es ihnen zu eng geworden. Deshalb sind sie ausgezogen. Warum sie dann aber gerade bei dem Baum hinter den drei Hügeln hielten, das wußte wahrscheinlich nicht einmal die allererste Ameise. Sie blieb einfach plötzlich stehen, drehte sich um und tastete mit ihren Fühlern der zweiten zu: Alles anhalten, wir sind da. Und die zweite Ameise drehte sich zur dritten um und die dritte zur vierten und so weiter, und die Last­ameisen warfen ihre Taschen und Eßbeutel ab, und die Jäger liefen in Grüppchen in das Gelände, um Raupen zu fangen oder Samenkörner einzusammeln, und die Krieger wetzten ihre messer­scharfen Kiefer und liefen ebenfalls in kleinen Gruppen in das Gelände, um nach möglichen Feinden Ausschau zu halten. Und dann endlich kam auch die 283. Ameise, und die 282. tastete ihr zu: Alles anhalten, wir sind da.

Von diesem Moment an begannen sie, einen neuen Bau zu errichten. Mit Zangen und Beinen wühlten die einen in der weichen Erde und gruben tiefe Gänge und weite Höhlen, andere zernagten Holzstückchen und schleppten sie heran oder fanden Tannen­nadeln und trugen sie herbei. Jede Ameise wußte, was sie zu tun hatte, sie häuften die Baumaterialien übereinander oder reinigten die unterirdischen Gänge, sie jagten nach Nahrhaftem oder vertrieben Feinde. Zum Schluß packten sie ihre Taschen aus: Darin befanden sich die Sporen der Pilze, die sie züchteten. Aus klein­geschnittenen Blättern bereiteten sie tief unter der Erde Beete, sorgten für die richtige Feuchtigkeit und die richtige Temperatur und beschnitten die Pilze, wie es sein muß, wenn sie wachsen sollen. Und als sie zum erstenmal ein Pilzgericht aßen, wußten sie, daß die große Wanderung und der schwere Aufbau eines neuen Ameisenhaufens vorbei waren.

Aber die jungen Ameisen, sie hatten sich inzwischen schon reichlich vermehrt, waren ungeduldig und sagten: Warum sollen wir nur an eurem Bau ein neues Stockwerk aufsetzen, wir gehen lieber selbst auf Wanderschaft. Und sie packten Taschen und Eßbeutel und machten sich auf den Weg.«

Guro schwieg. Nur Zeth fand, daß ein richtiges Märchenende nötig sei. »Und wenn sie nicht gestorben sind, dann wandern sie noch heute.«

»Sie sollen mich aber nicht wieder beißen«, bemerkte Ilona und schüttelte energisch den Kopf.

Erdbilder

Guro erzählte uns viele Geschichten von den Pflanzen und Tieren, die uns umgaben, wie eines auf das andere angewiesen sei und wie die Natur Fehler und Mängel unnachgiebig bestrafe. Doch eines Tages verwunderte er uns mit einem ganz unglaublichen Märchen.

»Heute erzähle ich euch von der Erde.«

»Fein«, fragten wir, »und was ist die Erde?«

»Ein riesengroßer Ball, den ein gewaltiger Naturpark umgibt.«

»Unsinn!« sagte Delth ganz unehrerbietig, und Eta ließ ihr unverkennbares hohes Lachen hören, als hätte Guro gescherzt.

Einen Naturpark im Ball hätte ich vielleicht noch hinnehmen können – aber etwas derart Unmögliches? Ich fragte: »Und was passiert mit den Bäumen und den Seen, wenn die Erde auf den Boden fällt und wegrollt?«

»Es gibt keinen Boden für die Erde«, erwiderte Guro und bestand darauf, daß die Erde kein mißlungenes Märchen sei, sondern so real wie die Welt um uns.

Wie konnten wir das glauben! Es gab nichts außer unseren Kinder­zimmern und den Naturpark, alles andere war Traum oder Einbildung. Doch Guro hatte vorgesorgt. Schon vor Wochen hatte er uns mit einer Kamera vertraut gemacht, einem kleinen Schächtelchen, das ganz ohne Buntstifte und Papier malte, so genau und getreu malte, daß wir fürchteten, es würde die Bäume und Tiere und Felsen auf den Bildern aus dem Naturpark hinwegzaubern. Guro hatte Tage benötigt, um uns die Funktionsweise zu erklären.

Und nun zog er aus seiner Seitentasche Bilder von der Erde hervor, von einem Ball, wie wir noch nie einen gesehen hatten. An diesem Tag zeigten die Fotos nur eine blaue Kugel mit weißen und braunen Flecken, die in einem schwarzen See schwamm. Wir stießen unsere Finger gegen das Bild und fragten wie noch nie.

»Was ist denn das Braune?«

»Das sind Berge.«

»Und was ist das Weiße?«

Und Guro erklärte und erzählte von irdischen Wolken und vom Regen, der unvergleichlich heftiger sein konnte als in unserer kleinen Welt. Tag für Tag brachte er neue Bilder von der rätselhaften Erde – sie paßten nicht zusammen. Wälder und Tiere sollte es auf dem Riesenball Erde geben – na schön. Aber diese merk­würdigen Felsen mit den eckigen Löchern drin? Und wo sollten diese vielen ­Menschen herkommen, die darinnen wohnten? Überhaupt diese Menschen, sie waren weder Guros noch Rammas, aber den Geschwistern ähnelten sie auch nicht sehr. Und doch behauptete Guro, daß sie unseres­gleichen seien. Er ließ uns die verrückten Wörter »Haus« und »Stadt« schreiben und ausrechnen, wie viele Menschen in so einer Stadt lebten – ein Ameisenhaufen, dessen wimmelnde Bewohner uns so beeindruckt hatten, war ein Nichts dagegen.

»Du träumst«, sagte Delth zu Guro mit fester Überzeugung, »oder du hast Fieber wie Eta, als sie so durcheinandergeredet hat.«

Doch Guro bestand darauf, daß er weder träumen noch fiebern könne.

Es dauerte seine Zeit, bis wir uns an die Bilder und Geschichten von der Erde gewöhnten. Über ein Jahr lang blieb die Erde unser großes beunruhigendes Geheimnis, das wir der zweiten Gruppe verschwiegen. Selbst Teth, unser jüngster, der zu dieser Zeit gern vor Jota, Kapth und den noch Kleineren angab, hielt über die seltsame Erde den Mund. Er ahnte, daß er auf Unverständnis stoßen würde.

Ich glaube, die meisten von uns trauten Guros Berichten erst, als sie später, kurz vor dem Eintritt ins Erwachsensein, die Totaloskope benutzen konnten und nun selbst das Leben auf der Erde erfuhren und erfühlten. Bilder, Abbilder von der Wirklichkeit allein be­saßen nicht die nötige Überzeugungskraft. Wir sahen und glaubten doch nicht ganz. Als ob das Totaloskop weniger lügen könnte als ein Foto! Als ob wir unseren Gefühlen mehr Vertrauen schenken dürften als unsern Augen! Mit letzter Sicherheit werde ich wohl nie wissen, ob es diese Erde gibt, von der uns Guro erzählt hat.

An jenem Abend jedoch, als wir den blauen Ball im schwarzen Nichts hatten schwimmen sehen, da war ich heilfroh, nicht auf der Erde zu leben, die weder Decke und Wände noch einen Boden hatte.

Delth

Wieviel können doch sechs Monate und ein paar Zentimeter be­­wirken! Delths ganze Kindheit stand unter ihrem Zeichen, und auch meine blieb davon nicht unbeeinflußt. Er wurde ein halbes Jahr zu spät geboren, um der Älteste, der Allererste und damit naturgegeben die wichtigste Person zu sein. Daß ich ihn zudem um einen halben Kopf überragte, war für ihn eine ständige Heraus­forderung. Unablässig setzte Delth alles daran, mich zu übertrumpfen. Alfa, die ihre körperliche Stärke nie voll ausspielte, hatte er bereits bezwungen. Delth scheute keinen Kampf um das reichliche Spielzeug, er verzichtete auf keinen Alleingang durch den Naturpark. Jede Beule, jede Schramme, jeder Stich bewies seinen Mut und half ihm, den Anspruch durchzusetzen, unser Anführer zu sein.

Anfangs durfte ich es noch wagen: »Den Ast erreichst du nie, Delth, dazu bist du zu klein!« zu sagen oder seine großen Ohren mit den Richtmikrofonen Guros zu vergleichen. Es bereitete mir Vergnügen, zu sehen, wie er rot anlief und die Fäuste ballte.

Später kehrte sich das Verhältnis um. »Tja, Delth, du weißt doch: Kurze Beine – kurzer Verstand!« Schon sprang mich Delth an und begann auf mich einzuschlagen. Ich wehrte mich, wir rollten über den steinigen Boden, daß wir blaue Flecke bekamen und uns die Haut an herumliegenden Aststücken aufrissen.

Delths Taktik bestand darin, meinen Kopf und meinen Hals fest und fester zu umklammern. Meist gab ich dann schwitzend und um Atem ringend auf. Wenn ich versuchte, bis zum Äußersten durchzuhalten, bis es mir schwarz wurde vor Augen, griff Guro ein, trennte uns und verkündete: »Delth hat gewonnen!« – Was uns nicht hinderte, Minuten später erneut übereinander herzufallen.

Gefährlich wurde es im See, dort, wohin uns Guro nicht folgen konnte. »Was denn, Beth, dieses Strampeln soll Schwimmen sein?« höhnte Delth eines Tages. »Ich bin bei der Insel, ehe du dreimal Luft geschnappt hast!«

Natürlich nahm ich die Herausforderung an. Ich wußte ja, daß ich schneller schwamm als Delth. Doch dann, als ich ihn auf halber Strecke eingeholt hatte, fiel er mich an, versuchte mich unterzu­tauchen, umklammerte meine Arme. Ich wehrte mich, strampelte und schlug um mich, schwer wie ein Klotz hing er an mir. Wir schluckten beide Wasser, rangen miteinander, bis uns die Kräfte verließen, wir nur noch darum kämpften, den Kopf über Wasser zu behalten. So plötzlich, wie er mich überfallen hatte, ließ Delth von mir ab. Erschöpft schwammen wir auf die Insel zu. Ich hätte noch an ihm vorbeiziehen können … Jedenfalls kam er als erster an. Damit hatte er sein Ziel erreicht: Ich ordnete mich ihm unter.

Mit zehn Jahren war Delth körperlich uns allen überlegen. Außerdem wußte er genau, wie er uns gegeneinander ausspielen konnte. Er erfand immer neue Mutproben, um seinen Anspruch unter Beweis zu stellen. Kein Baum war ihm zu hoch, kein Gebüsch zu dicht, er schonte sich nicht. Und wir eiferten ihm nach. Delth machte uns zu den unumstrittenen Herren des Naturparks, vor denen selbst die rebellischen Schimpansen flohen und denen die Wildschweine aus dem Weg gingen. Zum Glück hatten die irdischen Konstrukteure des Schiffs keine größeren Raubtiere für die Dschungel des Naturparks vorgesehen, sonst wären unsere Abenteuer trotz der Wachsamkeit Guros und versteckter Rammas nicht immer so glimpflich verlaufen. So kamen wir mit Fleischwunden und ab und zu einer Spritze gegen einen Schlangenbiß davon.

Noch hatten wir es nicht gelernt, die Gefahren, in die uns unsere Abenteuer brachten, richtig einzuschätzen. »Nur ich wage es, von diesem Stein hinunterzuspringen!« Delth stand auf einem Felsvorsprung, etwa zehn Meter ging es steil hinab. Zweifelnd sahen wir ihn an. Niemand von uns dachte an einen tödlichen Ausgang dieses Abenteuers – sterben, was ist das? –, dennoch war keinem von uns sieben Geschwistern das sinnlose Wagnis eine schmerzhafte Verletzung wert. Delth schon. Er sprang. – Zu spät. Zwei Rammas waren wie aus dem Nichts aufgetaucht und fingen ihn mit einem Sprungtuch auf. Delth schimpfte auf die beiden Rammas und verteilte, da sie ja keine Hiebe spüren konnten, wahllos Knüffe und Stöße an uns.

An solchen Tagen haßte ich Delth mit jeder Faser meines ­Körpers. Ich versteckte mich vor ihm im Geäst eines Baumes oder in einer unübersichtlichen Felsgruppe. Mit offenen Augen träumte ich verworrene blutige Pläne, ihn in Fallgruben zu locken und zu steinigen oder ihn mit Lianen an einen Baum zu fesseln, bis er Opfer der von mir aufgestörten Termiten wurde. Doch wenn ich ihn Minuten später sah, wußte ich, wie schwach ich war und daß ich ihn nie würde überwältigen können. Mochte ich auch dabei mit den Zähnen knirschen, ich erkannte ihn als unseren Anführer an.

Denke ich heute an Delth, lächle ich über unsere vergangenen Kämpfe und Abenteuer – und ich traure um Delth.

Verstecken

Es gab Dinge, die mußte uns Guro nicht erklären. Auch das Versteckspiel erfanden wir allein. Wir hatten oft Tiere gefangen, waren ihnen in die Gipfel der Bäume nachgeklettert, durch Teiche und Seen nachgeschwommen, hatten ihnen Fallen gestellt oder aufgelauert. Mochten sie noch so beißen und kratzen, wir wichen vor ihnen nicht zurück, stöberten sie in ihren Schlupflöchern, Nestern und Höhlen auf. Bald kannten wir ihre Waffen und Tricks.

Was lag näher, als sie nachzuahmen? Durch den Wald und das hohe Gras zu jagen, sich hinzuhocken, zu verbergen, den Atem anzuhalten? Dann aufzuspringen, weiter zu rennen, blitzschnell Haken zu schlagen, hinter ein Gebüsch abzutauchen? Eta ent­wickelte eine Vorliebe für die Stachelschweine; sie verkroch sich im Unterholz, daß kein Fleck ihrer schwarzen Haut mehr hervorschaute. Und wehe, wenn wir uns näherten, dann stieß sie mit Ästen nach uns – ihren Stacheln.

Es dauerte seine Zeit, bis wir brauchbare Regeln für das neue Spiel gefunden hatten, wir konnten uns ja nicht alle gleichzeitig verkriechen oder gleichzeitig suchen, und wir mußten unseren Bewegungsraum eingrenzen.

Delth teilte ein. »Du suchst, Beth, und wir schleichen uns weg.«

Die Geschwister zu finden, fiel mir schwer, obwohl ich viele Verstecke selbst ausprobiert hatte. Ein riesiger Naturparkdschungel voller verborgener Kuhlen, verdeckter Baumwipfel, dichten Unterholzes, enger Felsspalten … Delth beschmierte sich gewöhnlich vor dem Spiel mit Schlamm, die bleiche Haut hätte ihn sonst verraten. Einmal suchte ich ihn fast einen ganzen Tag, er befand sich weit außerhalb des normalen Spielgebietes. Unmöglich konnte er sich in der festgesetzten Frist verkrochen haben, wie es die Spielregel forderte.

»Ich habe bis dreihundert gezählt – aber ganz langsam«, gab er zu.

Am liebsten hätte ich ihm mit meinen Fäusten die Regeln eingebleut. Ich schwor mir, ihn am nächsten Tag unbedingt zu besiegen. Ganz lässig und überlegen wollte ich ihm zeigen, wie ich mich vor seiner Nase verstecken konnte, ohne daß er einen Zipfel von mir erspähte.

In dieser Nacht lag ich lange wach und überlegte. Sollte ich auf einen Baum klettern, mich im Blätterdach verbergen, auch auf die Gefahr hin, daß die Schimpansen mich fanden und bissen? Oder mich im weichen Boden einbuddeln? Das hätte zu lange gedauert. Dann kam der Tag heran und mit ihm die rettende Idee. Zu unserem Spielgebiet gehörte ein kleiner schlammiger Tümpel. Ich bastelte ein Atemrohr aus Schilf und tauchte in der warmen, stinkenden Brühe unter. Zuerst ließ es sich ertragen, doch dann saugten sich mehr und mehr Egel an meinem Körper fest. Ich hob den geplagten Kopf wieder über Wasser – Mückenstiche schmerzten weniger – und vollführte einen verkrampften Tanz, um mich von dem Ungeziefer zu befreien.

Plötzlich hörte ich ein verdächtiges Knacken. Delth! Ich glitt wieder in den Schlamm zurück, verhielt mich ganz still, wagte kaum zu atmen. Und wartete. Dutzende von Atemzügen. Es zwackte an meiner Nase, ich erhob mich, vom Schmerz getrieben, alle Vorsicht beiseite lassend. Niemand war da. Wieviel Zeit mochte vergangen sein? Ich wußte es nicht.

Ein Ruf klang in der Ferne: »Na warte, Beth, dich finde ich schon, und wenn du dich bei den Rammas verkrochen hast!«

Ich atmete auf. Stieg sogar ganz aus meinem Tümpel und zerquetschte die blutsaugerischen Würmer. Das gab schöne rote Flecken. –

Ruhig, was war das? Fußgetrappel! Ein Sprung, und die Ungetüme plagten mich wieder. Mit verkniffenen Lippen nuckelte ich am Atemrohr. Bei einer unwillkürlichen Bewegung – das war kein Egel, das war mindestens ein Krebs – kam dreckiges Wasser hinein, ich pustete es frei. Ich hockte so, bis meine Knie zu schlottern begannen, dann streckte ich mich vorsichtig.

»Na, was hab ich dir gesagt, jetzt taucht er auf.« Ilona zeigte triumphierend auf mich. Gamma, Alfa und Zeth lachten lauthals.

Ich stieg aus dem Wasser, riß mir die Blutegel von der Haut und bewarf die Geschwister damit. Und ich beschloß, das nächste Mal Schimpansenbisse vorzuziehen.

Wir warteten den ganzen Tag auf Delth. Er hatte mich weit außerhalb unseres Gebietes gesucht. Und dabei hatte ich noch nicht einmal bis zweihundert zählen müssen. Mein Sieg erfüllte mich mit wildem Stolz. Übermütig und halb scherzhaft lud ich Guro zum Versteckspiel ein. Er lehnte ab und kommentierte seine Entscheidung nur kurz: »Das ist zu einfach für mich.«

Die Geschwister aber ließ meine Idee nicht mehr los: Wir stellen Guro auf die Probe! Jetzt soll er zeigen, was er kann!

Am nächsten Tag suchten wir uns – ganz fachmännisch – die besten Verstecke aus. Ich nahm einen alten hohlen Baumstamm in Beschlag. Am Abend kehrten wir nicht in unsere Räume zurück. Das Licht, eine riesige helle Scheibe, die hinter den »südlichen« Bergen den Boden des Naturparkzylinders bildete, wurde allmählich dunkler. Wir hatten das schon mehrmals beobachtet, aber noch nie mit solcher Ungeduld. In der Dunkelheit würde uns niemand finden. Plötzlich schallte überlaut Guros Stimme über den Naturpark: »Es ist Zeit, kommt.«

Blitzartig stoben wir in unsere Verstecke. Eine Weile später hörte ich es rascheln, ein Kopf schob sich in die Baumhöhlung, in der ich Zuflucht gefunden hatte. Erst an der Stimme erkannte ich Delth. »Bald wird er uns suchen.«

Ich nickte, es war schon ziemlich duster. Delth zwängte sich neben mich, ich protestierte leise, aber energisch. Er bewegte sich vorsichtig, trotzdem versetzte er mir blaue Flecke.

»Alle haben sich zu zweit versteckt«, flüsterte Delth mit heißem Atem, »ich habe bei allen vorbeigeschaut. Soll Guro ruhig kommen, der sieht nicht eine Zehe.«

»Vielleicht verstecken wenigstens wir uns einzeln?« Delth war mir einfach zu zapplig.

»Ach was, nicht nötig, der findet den Baum hier nie.«

»Hast du Angst?« fragte ich Delth.

Um uns klangen seltsame, sich langhinziehende Schreie, Geräusche, wie man sie am Tag nicht vernahm. Schwärzeste Finsternis hüllte uns ein. Mir lief eine Gänsehaut den Rücken hinunter – oder waren es Insekten?

»Unsinn!« knirschte Delth barsch. »Ich fürchte mich doch nicht.« Seine Finger gruben sich mir in den Arm.

Obwohl ich jedes andere Geschwister vorgezogen hätte, war auch ich froh, nicht allein zu sein. Um uns schlurfte es, ein schrilles Kreischen war zu hören, dann war es wieder still. Wir hielten die Luft an. Da, ein Schimmer – und plötzlich blendete uns helles Licht.

»Kommt raus«, sagte Guro. Hinter ihm kicherte Eta. Guro hatte uns alle in unglaublich kurzer Zeit eingesammelt.

»Du hast geschummelt«, beschuldigte Delth ihn, »bestimmt hast du geschummelt.«

»Ihr habt sicher großen Hunger«, sagte Guro, wir folgten ihm auf den Fersen, seine Lampe schnitt einen hellen Tunnel in den Urwald.

Damals hatten wir riesigen Respekt vor Guros Leistung. Doch eigentlich hatte Delth recht. Guro wurde durch den Computer des Schiffs stets über jede unserer Bewegungen informiert. Von der Nabe des Naturparkzylinders waren ständig hochempfindliche Geräte auf uns gerichtet, langbrennweitige Infrarotfernrohre und Parabolmikrofone. Und in der Nähe besonders gefährlicher Orte waren zusätzliche Detektoren verborgen. Auf Schritt und Tritt wachten die Automaten über uns. Vor ihnen gab es kein Verstecken.

Das Loch

Was war das für eine Aufregung, als Gamma einen Maulwurf gefangen hatte! Sie rief nach uns, wir rannten herbei, sahen das zappelnde Tierchen in ihren Händen. Wir strichen ihm übers Fell, bestaunten seine kleinen Augen und die kralligen Pfoten. Kaum abgesetzt, grub er sich vor unseren Augen unglaublich flink in den Boden. »Er buddelt sich wieder ein!« Sie griff noch einmal zu, doch es war bereits zu spät.

Was mochte der Maulwurf nur in der Erde suchen? War da vielleicht etwas versteckt? Gammas Arm verschwand bis an die Schulter im Gang des Maulwurfs und sie fand doch nichts. Daß er sich, bloß um Regenwürmer zu futtern, durch die Erde wühlte, vermochten wir Guro nicht so recht zu glauben.

Am nächsten Tag sagte Delth: »Heute spielen wir ein neues Spiel, es heißt Maulwurf.«

Ilona protestierte lautstark, sie wollte mit Zeth auf einem Floß fahren. Doch wir anderen hatten das Interesse an Wind und Wellen und vor allem am langwierigen Bau eines Floßes verloren. Was blieb ihnen übrig, als mit uns Maulwurf zu spielen?

Wir suchten uns eine geeignete Stelle aus und dann ging es los. Jeder hatte sich seinen kleinen Claim abgesteckt. Ich riß das Gras von der Wiese, zerrte mit den Fingern die Grasnarbe aus dem Boden, kratzte die harte Erde auf. Es kam darauf an, schnell das tiefste Loch gegraben zu haben. Gamma gab es bald auf, so schnell wie ich oder Delth kam sie nicht voran, und außerdem hatte sie sich einen Nagel eingerissen.

»Ihr seid ja blöd«, meinte sie, worauf Delth sofort konterte: »Und du bist schlapp!«

»Ihr seid ja blöd«, wiederholte Gamma, »mit den Händen im Dreck rumzuwühlen. Wo wir nicht mal Krallen haben.«

»Spielverderber«, schimpfte Delth und warf Erdklumpen in meine Richtung, weniger um mich zu treffen, als um mein Loch zu verschütten. Ich wandte ihm den Rücken zu, um mein Werk zu schützen. Als mich ein Stein schmerzhaft traf, wurde es mir zu bunt. Wutentbrannt stürzte ich auf Delth los.

»Du bist feige, Delth!« Alfa kam mir unvermutet zu Hilfe. Und Delth lenkte ein.

Wir vereinbarten als Spielregel, die anderen weder zu behindern noch zu stören. Gamma beteiligte sich nicht. Sie stöberte in unseren winzigen Abraumhalden herum, entdeckte schöne Kiesel, erschrak über dicke Regenwürmer, die sie dann aber niedlich fand, und versuchte, uns für die Schätze zu begeistern, die wir ausgruben. Teth gab später auch auf, hoffnungslos abgeschlagen.

Ich arbeitete, daß mir der Schweiß in Strömen über Stirn und Oberkörper floß und meine Finger allmählich taub wurden. Es galt, Delth zu schlagen! Zeth und Ilona gruben später gemeinsam, auch wenn Delth dies für ungültig erklärte. Am Abend, todmüde und hungrig, verglichen wir. Ich hätte gewonnen, wenn nicht soviel Erde von den Rändern der Grube gebröckelt wäre. Beim Ein­schlafen noch griffen meine schmerzenden Hände in die Luft, rissen Löcher in sie.

Am nächsten Morgen bettelten wir Guro um Werkzeug an; Schaufeln kannten wir noch nicht. Er schüttelte nur den Kopf, und obwohl ich wußte, daß sein Gesicht nur zu einem vereinfachten Mienenspiel befähigt war, glaubte ich in ihm lesen zu können: Strengt euch ruhig mal richtig an, baut euch selbst Geräte, ihr Wunderkinder!

Beim Essen, das wir hastig in uns hineinschlangen, sagte Gamma: »Ist doch blöd, wenn jeder für sich allein vor sich hin buddelt. Wenn wir alle zusammen graben, kommen wir viel tiefer – wer weiß, was wir da noch alles finden.«

Guro hatte uns nie von vergrabenen Schätzen erzählt, aber ich war in diesem Moment schon dabei, mir welche vorzustellen – vielleicht gab es ja außer Maulwürfen noch »Bodenfische« oder andere absonderliche Tiere? Mag sein, ich nickte kaum merklich, Alfa schien ebenfalls dafür zu sein, und plötzlich sagte Delth: »Ja, das habe ich mir auch schon überlegt, wir werden zusammen graben und das Geheimnis der Tiefe entdecken.«

Ich lachte; manchmal redete Delth wie Guro.

Nach dem Frühstück steckte Delth das neue Loch ab – zwei Meter im Durchmesser. Ich staunte, doch er sagte: »Zwei müssen drin stehen können.«

Wir bewaffneten uns mit Grabstöcken und begannen im Boden zu wühlen. Bereitwillig räumten Teth, Eta und Zeth die ge­lockerte Erde beiseite. Ich arbeitete mit dem Rücken zu Delth, immer ­häufiger stießen wir zusammen. Er schimpfte, ich murrte, eine Schlägerei stand kurz bevor. Da sagte Alfa: »Eta, sing mal was!«