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Die junge britische Schauspielerin Vanessa Forsythe lässt ihr altes und glamouröses Leben in London hinter sich und zieht mit ihrem frisch gebackenen Ehemann Bren Selby auf seine abgelegene Rinderfarm Amaroo im Westen Australiens. Noch ahnt sie nichts von den vielen Schwierigkeiten, die ihr junges Glück bedrohen. Nicht nur die Hitze, der rote Staub und die Einsamkeit machen ihr zu schaffen, sondern vor allem die Abneigung von Brens Familie. Aber mit dem Mut einer Löwin kämpft Vanessa um ihre Zukunft auf Amaroo. Doch dann droht ein schreckliches Familiengeheimnis alles zu zerstören, was Vanessa sich so verzweifelt aufgebaut hat ...

Wird sie in der Ferne Australiens wirklich ihr Glück finden oder war alles ein schrecklicher Fehler?

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Lynne Wilding

Pfad deiner Träume

Roman

Deutsch von Uta Hege

Inhaltsübersicht

Über Lynne Wilding

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Kapitel 1

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Kapitel 4

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Kapitel 8

Kapitel 9

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Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

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Kapitel 15

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Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Impressum

1

Kerri Spanos stand in der Seitenkulisse des Theatre Royal und verfolgte, wie sich das Publikum beim vierten Vorhang von seinen Plätzen erhob. Die Leute klatschten, pfiffen und stampften enthusiastisch mit den Füßen.

Ein selbstzufriedenes Lächeln erhellte ihre griechisch-englischen Züge, während sie das Ensemble, das Noel Cowards Hochzeitsreise dargeboten hatte, beobachtete. Sie standen mitten auf der Bühne und wurden vom Rampenlicht erhellt. Kerris Lächeln wurde noch breiter und verriet eindeutig Triumph, denn es war ein gewisses Risiko gewesen, dass sie mit ihrem Star hierher nach »Down under« gekommen war. Vanessa Forsythe jedoch, eine englische Bühnenschauspielerin mit außergewöhnlichem Talent, war ein eindeutiger Erfolg. Mmmm, und was noch besser war, der Nervenzusammenbruch, vor dem ihre berühmte Klientin und gleichzeitige Freundin vor dreizehn Wochen gestanden hatte, schien abgewendet zu sein.

Kerri wartete, bis der Vorhang zum letzten Mal gefallen und die Bühnenbeleuchtung gedämpft war, bevor sie hinter die Bühne und zu Vanessas Garderobe ging. Auf dem Weg spürte sie deutlich, dass alle – von den Hauptdarstellern bis hin zum Portier – eine Mischung aus Melancholie und Erleichterung empfanden, weil die Produktion nun abgeschlossen war… Das war nach der letzten Aufführung eines Stücks normal.

Alles in allem, dachte sie, als sie an Komparsen und Bühnenarbeitern vorbeischlenderte, hatte sich die Erfahrung für Vanessa eindeutig gelohnt. In England war Vanessa Forsythe dank einer beeindruckenden Reihe von Bühnenauftritten und ihrem ersten Ausflug in die Filmwelt – einem spanischen Drama, das zwei Jahre zuvor bei den Filmfestspielen in Cannes die Zustimmung der Kritiker gefunden hatte – ein bekannter Name. Jetzt könnten sie mit der beruhigenden Gewissheit wieder nach Hause fliegen, dass Vanessa sogar das Publikum in Sydney nachhaltig beeindruckt hatte und endlich damit ein internationaler Star war.

Nach Hause. Zurück in die Geschäftigkeit von London, zu den hohen Lebenshaltungskosten und dem berüchtigt unfreundlichen Wetter – so vollkommen anders, als es hier im sonnig hellen, lässigen, extravertierten Sydney war. Auch wenn sie sich auf den Flug nicht gerade freute, ging es Gott sei Dank endlich zurück. London, ihre Familie, ihr Büro hatten ihr gefehlt. Ein wehmütiges Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie sich ihr Heimweh eingestand. Sydney war eine nette Stadt, die Leute waren freundlich, doch als eine der besten Agentinnen im Entertainment-Business lebte sie für die Aufregung, die mit dem Aushandeln von Verträgen, dem Besänftigen reizbarer Klienten und der Entdeckung neuer Talente verbunden war. Es war allerdings notwendig gewesen, dass sie Vanessas Hand hielt und ihr Beistand leistete, bis die »Krise« halbwegs überwunden war. In den vergangenen zwölf Wochen war sie zweimal zwischen England und Australien hin- und hergeflogen, weil sie hatte sichergehen wollen, dass Vanessa emotional nicht völlig aus dem Gleichgewicht geriet.

Sie klopfte an die Tür von Vanessas Garderobe, drückte die Klinke herunter und betrat den Raum.

»Vanny, Schätzchen«, hallte der makellose Akzent, den sich Kerri im Verlauf der Jahre mühsam angeeignet hatte, durch den kartonartigen, fensterlosen Raum. »Sie haben dich geliebt. Du bist derart in die Rolle der Amanda eingetaucht, dass dein Gastspiel ein echter Triumph geworden ist.«

Ihre scharfen, durchdringenden schwarzen Augen wanderten über ihre Klientin, die mehrere Zentimeter größer als sie selber war. Mit dem Wort »geschmeidig« wurde Vanessas Figur treffender beschrieben als einfach mit »gertenschlank«. Mit ihrer olivfarbenen Haut, ihren großen braunen Augen – Erbe ihres spanischen Großvaters mütterlicherseits –, ihrem eindrucksvollen Gesicht und ihrem honigblonden Haar war die Schauspielerin der Traum jedes Agenten. Vor allem, da Vanessa Forsythe wirklich talentiert und dabei im Gegensatz zu vielen anderen talentierten Künstlern völlig ohne Starallüren war.

»Ja, es ist ziemlich gut gelaufen«, kam Vanessas vorsichtige Antwort. Vor der Entfernung des Make-ups verteilte sie großzügig Creme in ihrem Gesicht.

»Ziemlich gut?« Kerri lachte über diese Untertreibung. »Die Leute waren völlig aus dem Häuschen. Nicht einmal den Kritikern fiel zu deinen diversen Vorstellungen irgendetwas Negatives ein.«

Vanessa wandte sich ihrer Agentin zu. »Na ja, wir beide wissen, dass das reines Glück gewesen ist. Bei meiner Ankunft hier in Sydney war ich das reinste Häufchen Elend…«

»Das stimmt«, räumte Kerri unumwunden ein, fügte jedoch umgehend hinzu: »Aber du bist eben durch und durch ein Profi. Du hast dich auf die Bühne gestellt und deinen Job erledigt. Jetzt kannst du an David denken und sogar von ihm reden, ohne sofort in Tränen auszubrechen, wie es noch im September der Fall gewesen ist!«

Vanessa zog die Brauen in die Höhe. »Danke, dass du mich daran erinnerst.« Sie zog ein paar Papiertücher aus der vor ihr stehenden Schachtel und wischte sich das Make-up aus dem Gesicht.

»Also, Schätzchen, was ziehst du zu der Party an?«, fragte Kerri, trat vor den transportablen Schrank, in dem mehrere in Plastikhüllen verpackte Kleidungsstücke hingen, und sah sie nacheinander durch. »Das blaue, bodenlange Kleid? Nein. Vielleicht den cremefarbenen Anzug?«

»Eigentlich hatte ich gar nicht die Absicht, auf die Party zu gehen.«

»Oh doch«, befahl Kerri ihr entschieden und wandte sich ihr zu. »Neben den anderen Schauspielern, der Crew und den Geldgebern werden auch mehrere Top-Journalisten auf der Party sein. Denk dran, die Show ist erst vorbei, wenn du morgen Abend im Flugzeug zurück nach London sitzt.«

Fast dreißig Sekunden verstrichen, bevor Vanessa seufzte und verkündete: »Also gut, ich gehe auf die Party, aber« – sie atmete tief durch – »ich fliege morgen nicht mit dir zurück.« Obgleich sie weiter in den Spiegel starrte, beobachtete sie Kerri aus den Augenwinkeln, um zu sehen, wie diese auf ihre Erklärung reagierte.

»Wie bitte?« Kerri stemmte die Hände in ihre vollen Hüften. Da sie nicht besonders groß und eine ebenso begeisterte Esserin wie Köchin war, hatte die Fünf und vierzigjährige eine eher üppige Figur. »Was soll das heißen, Vanny? Natürlich kommst du mit. Wir fliegen morgen zusammen nach Hause.«

Vanessa schüttelte den Kopf. »Ich habe heute Morgen bei der Fluggesellschaft angerufen und meinen Rückflug umgebucht.«

»Würdest du mir das eventuell erklären?« Kerri fiel es schwer, ihre Enttäuschung zu verbergen. Was ging nur in Vanessa vor? War dies vielleicht irgendeine verspätete Reaktion auf den Tod ihres Verlobten, David Benedict? Sie hatte gedacht, ihr Schützling und ihre gleichzeitige Freundin hätte langsam die schlimmste Trauer überstanden und wäre zu einer Rückkehr nach London bereit, aber… ihre Verwirrung hatte sich offensichtlich doch noch nicht völlig gelegt.

»Bitte sei nicht sauer, Kerri, ich brauche einfach etwas Zeit für mich.« Vanessa begann, die Rolle zu lösen, zu der ihr langes Haar frisiert gewesen war, und bürstete es, bis es duftig links und rechts ihres herzförmigen Gesichts auf ihre Schultern hing. »Die Zeit hier in Sydney hat mir gut gefallen, aber wenn ich schon mal hier bin, will ich die Gelegenheit nutzen, um noch etwas mehr von Australien zu sehen. Die Proben zur Glasmenagerie fangen erst in drei Wochen an, und die freie Zeit bis dahin möchte ich hier verbringen.«

»Das kann doch nicht dein Ernst sein. Ganz alleine?« Kerri sah sie mit ihren dunklen Augen nachdenklich an. »Verstehe. Du willst Zeit für dich. In Ordnung.« Ihr barscher Ton verriet, wie ärgerlich sie war. »Komm mit nach Hause und fahr für ein paar Wochen nach Bourton on the Water. Dein kleines Häuschen in den Cotswolds hast du doch immer so geliebt.«

»Jetzt nicht mehr.« Vanessas eigentlich volle Lippen bildeten einen schmalen Strich. »David und ich haben viel Zeit dort miteinander verbracht. Ich will nicht in das Häuschen fahren.« Ihre Stimme begann, verräterisch zu beben. »Ich möchte nirgends hin, wo mich alles an ihn oder an uns erinnert. Ich ziehe sogar in Erwägung, aus meiner Wohnung am Belgrave Square irgendwo anders hinzuziehen.«

Auf die Bemerkung über den Auszug aus dem Londoner Apartment ging Kerri gar nicht ein. »Dann fahr irgendwo anders hin. Nach Cannes oder an die Costa del Sol.«

»Nein, ich fliege nach Kakadu.«

»Kakadu.« Kerri musterte sie verblüfft. »Wo und was in aller Welt ist Kakadu?«

Vanessas makellose Zähne blitzten, als sie zögernd grinste und ihrer Agentin beinahe amüsiert erklärte: »Das ist oben im Norden, südöstlich von Darwin. Kerri, Australien ist ein riesengroßes, wunderschönes Land, das sagt einfach jeder. Dort oben gibt es Höhlenmalereien der Aborigines, Krokodile, unzählige Vogelarten und alles Mögliche andere zu sehen. Es ist einzigartig und vollkommen anders als Europa, und ich möchte vor meinem nächsten Engagement nur ein kleines bisschen davon sehen.« Etwas ungeduldig fügte sie hinzu: »Was ist daran so schlimm?«

»Ich schätze, nichts«, gab Kerri zu, auch wenn sie an den Worten beinahe erstickte. »Aber warum hast du mir das nicht eher gesagt?«

»Weil ich wusste, wie du reagieren würdest. Ich wusste, du würdest versuchen, mir die Sache auszureden.«

Kerri schnalzte mit der Zunge, als sie daran dachte, wie berechenbar sie anscheinend war. »Dann willst du also wie eine ganz gewöhnliche Touristin durch die Gegend ziehen?«

»Ja.« Vanessa grinste ihre Agentin gewinnend an. »Das ist eine Rolle, die mir sicher sehr gefällt.«

Kerris leises Knurren machte deutlich, was sie von dieser Sache hielt. Vanessas Stimme hatte geradezu vergnügt geklungen, und sie bemerkte eine Entschlossenheit in ihrem Gesichtsausdruck, die sie in den letzten Monaten vermisst hatte. Sie schüttelte ihren dunklen Schöpf. »Ich kann dir also die Sache nicht mehr ausreden, oder?«

Kerri war sich der Tatsache bewusst, dass ihre Frage fatalistisch klang. Sie beide kannten sich viel zu gut. Rhoda Forsythe, eine Gelegenheitsschauspielerin, die zur Aufbesserung ihrer Einkünfte aus den gelegentlichen Auftritten als Produktwerberin in Supermärkten gearbeitet hatte, hatte sie mit ihrer extrem schlanken, siebzehnjährigen Enkelin bekannt gemacht. Diese schwärmte nach Beendigung der Schule von einer Schauspielkarriere. In den folgenden elf Jahren hatten sie nicht nur beruflich, sondern auch persönlich eine innige Beziehung zueinander aufgebaut. Im Verlauf der Zeit hatte Kerri gelernt, wann sie Einfluss auf Vanessa nehmen konnte und wann nicht. Und dies, dachte sie düster, war anscheinend einer der Momente, in denen jedes Reden vergeblich war.

»Nein, Kerri, das kannst du nicht«, erwiderte denn auch Vanessa, fügte jedoch umgehend hinzu: »Aber denk bitte nicht, ich wäre dir nicht dankbar für alles, was du für mich getan hast. Du hast mein Leben und meinen Verstand gerettet, indem du mich hierher nach Sydney gebracht hast. Ohne deine Hilfe hätte ich den Tod von David sicher noch immer nicht verwunden. Ich bin dir also wirklich dankbar, aber ich möchte unbedingt vor meiner Rückkehr noch einen Teil des Outback sehen.«

Kerri zuckte gutmütig mit ihren breiten Schultern. »Ich bin darüber zwar nicht gerade glücklich, aber… meinetwegen. Tu, was du nicht lassen kannst.«

 

Vanessa Forsythe gähnte, streckte sich und zog den Reißverschluss des knöchellangen, mit Spagettiträgern versehenen zimtfarbenen Satinkleids auf. Während sie es zu Boden gleiten ließ, schielte sie auf die Uhr auf ihrem Nachttisch: 3 Uhr 14. Wenig elegant riss sie erneut den Mund zu einem herzhaften Gähnen auf und sah sich in dem aus einer winzigen Küche und einem Wohn- und Schlafzimmer bestehenden kleinen Apartment um, das in den letzten beiden Monaten ihr Heim gewesen war. Sie rieb sich die müden Augen und stieß angesichts des allgemeinen Durcheinanders einen leisen Seufzer aus. Wie hatte sie es nur geschafft, genug Kleider, Souvenirs und anderen Kleinkram zu erstehen, dass sie für den Rückflug einen zusätzlichen Koffer brauchen würde, überlegte sie. Es würde sicher ewig dauern, bis sie mit dem Packen fertig war!

Lächelnd dachte sie daran, dass sie mehrmals stundenlang mit ihrer Agentin durch die Läden und Geschäfte in der Stadt gelaufen war. Kerri war der festen Überzeugung, dass ein ausgedehnter Einkaufsbummel ein unfehlbares Mittel gegen beinahe alle Frauenleiden war, und vielleicht war ja tatsächlich etwas an dieser These dran! Während eines eintägigen Besuchs in Melbourne hatten sie tatsächlich bis zur Erschöpfung eingekauft. Und als Kerri abermals aus London eingeflogen war, hatten sie auch während ihrer zweitägigen Reise an die Goldküste kaum etwas anderes getan.

Sie streifte das schlabbrige, überlange T-Shirt über, in dem sie stets schlief. Was hätte sie ohne Kerri bloß gemacht? Wahrscheinlich wäre sie in einem Morast der Depression versunken. Hätte tatsächlich einen Nervenzusammenbruch erlebt.

Sie stellte den Wecker auf halb neun. Um ausschlafen zu können, hatte sie am nächsten Tag zu viel zu tun. Sie streckte sich auf der Matratze aus, versuchte einzuschlafen und blinzelte erneut zur Uhr. 3 Uhr 28. Verdammt. Sie war hundemüde. Doch nachdem der letzte Vorhang gefallen war, sie die Party pflichtbewusst absolviert hatte und nun dem bevorstehenden Urlaub am so genannten Top End von Australien entgegenfieberte, war sie total überdreht. Vor ihrem Abflug aus London hatte sie die ihr vom Arzt verschriebenen Schlaftabletten abgesetzt und wollte sie aus Angst, abhängig zu werden, nicht plötzlich wieder nehmen. Es musste ihr genügen, dass sie ihr geholfen hatten, bis der schmerzhafteste Teil ihrer Trauer überwunden gewesen war.

Noch vor dreizehn Wochen hatte sie gedacht, der Schmerz und das Verlustgefühl ließen niemals nach. Unbewusst sog sie ihre Unterlippe zwischen ihre Zähne, als unvermittelt die Erinnerung an David sowie an das Trauma in ihr aufstieg, das ihr Leben und ihre Pläne völlig verändert hatte, und von dem sie wochenlang – egal ob sie wach gewesen war oder geschlafen hatte – gnadenlos gepeinigt worden war.

 

Der Abend des 12. Juli 1988 war einer der regenreichsten Sommerabende gewesen, seit es Wetteraufzeichnungen gab. Vanessa konnte sich daran erinnern, dass sie diese Meldung im Radio gehört hatte, bevor das von ihr bestellte Taxi, von dem sie sich auf die Party in Soho hatte bringen lassen wollen, vorgefahren war. Sie hatte einen langen schwarzen Ledermantel von der Garderobe genommen und sich, während sie ihn angezogen hatte, schlecht gelaunt gefragt, weshalb sie ihre Wohnung an einem derart schauerlichen Abend überhaupt verließ. Nun, sie tat es für Melody Sharp, eine Freundin aus der Kindheit. Sie waren zusammen im selben Sozialwohnungsblock in Brixton aufgewachsen, hatten miteinander gespielt, gemeinsam Dummheiten begangen, doch auch den Schulabschluss geschafft und waren nach wie vor befreundet, auch wenn man sich aufgrund der verschiedenen Berufe nur noch selten sah. Melody, die einen erfolgreichen Nachtclub am Soho Square betrieb, gab, weil sie ihren dreißigsten Geburtstag im großen Stil begehen wollte, eine ausschweifende Party. Nur Melody – und eventuell noch Kerri und David – konnte sie bewegen, dass sie an einem derart elendigen Abend ihr Heim verließ.

Sandy, ihr Jack-Russell-Terrier, hatte unglücklich geheult. An stürmischen Abenden blieb er nicht gern allein. Sie hatte ihn auf den Arm genommen, seinen kleinen Körper an ihr Gesicht geschmiegt und ihm tröstend zugeflüstert: »Es wird nicht lange dauern, Sandy. Versprochen.« Dann hatte sie ihn auf ihr Bett gesetzt, sich von ihm die Hand ablecken lassen, sich ihr Abendtäschchen geschnappt und sich auf den Weg gemacht.

Während das Taxi mit dem Wetter und dem Verkehr gekämpft hatte, hatte sie sich in Gedanken David zugewandt. Ihr Verlobter war drei Wochen fort gewesen, und sie hatte ihn wie wahnsinnig vermisst. Der gute, dynamische David. Mit seinen neununddreißig Jahren hatte er sich in der hart umkämpften internationalen Finanzwelt einen ausgezeichneten Namen gemacht. Obwohl er beinahe aussah wie ein Filmstar und eine einnehmende Persönlichkeit und exzellente Ausbildung (Eton, Oxford und sogar einen Abschluss in Wirtschaftswissenschaften in Harvard) aufzuweisen hatte, hatte man ihn in gewissen Londoner Kreisen als wohlhabenden, ewigen Junggesellen angesehen. Bis er und Vanessa sich begegnet waren, sich ineinander verliebt und zur Überraschung vieler Leute – einschließlich einiger Journalisten – ihre Verlobung bekannt gegeben hatten. Er hatte in dem Ruf gestanden, dass er resistent gegen die Ehe war, doch das war jetzt vorbei.

Während sich das Taxi durch die überfluteten Straßen gequält hatte, hatte Vanessa lächelnd mit ihrem Verlobungsring gespielt. David und sie waren unbeschreiblich glücklich, und sie würden – das sagten alle – sicher ein perfektes Ehepaar. Ihre Ehe würde ebenso lebendig und erfüllt, wie die von ihren Eltern, Rosa und Edward Forsythe, es gewesen war. Die Gedanken an die Eltern riefen allerdings leichte Trauer in ihr wach. Nachdem sie mit zwölf Jahren verwaist war, hatte Rhoda, ihre Großmutter, sich ihrer angenommen. Doch auch sie war im letzten Jahr gestorben und konnte die Freude über ihre Hochzeit nicht mehr mit ihr teilen.

Rumpelnd hatte das Taxi vor dem Nachtclub Halt gemacht. The Spot, das hieß »der Fleck«, war ein blödsinniger Name für ein solches Etablissement. Vanessa hatte ihrer Freundin von Anfang an erklärt, dass er besser zu einer Reinigung gepasst hätte als zu einem eleganten Club. Vanessa hatte den Fahrer bezahlt und gewartet, bis Geoffrey, der Türsteher und Rausschmeißer des Spot, mit einem großen Schirm gekommen war, damit sie trocken ins Foyer des Nachtclubs gelangte.

In dem im Stil der 30er gehaltenen Lokal hatte bereits Hochbetrieb geherrscht, und die achtköpfige Band hatte ihr Möglichstes getan, damit niemand ohne Gehörschaden nach Hause kam. Dichter, künstlicher Nebel hatte zirka einen halben Meter unter der Decke des Hauptraumes geschwebt, und unzählige Leute hatten getanzt, gegessen oder die kostenlosen Getränke in sich hineingekippt.

Außerdem hatte ihr nicht verborgen bleiben können, dass sich einige der Gäste fragwürdigen, illegalen Vergnügungen hingegeben hatten. Wie die meisten anderen »normalen Besucher« hatte sie den Drogenkonsum dieser Menschen einfach ignoriert. Wenn man das nämlich nicht konnte, blieb einem nichts anderes übrig, als sofort wieder zu gehen.

Sie hätte problemlos die ganze Nacht damit verbringen können, sich unerkannt im Halbdunkel des Raums nach den unzähligen anderen berühmten Gästen umzusehen, doch hatte Melody sie schon nach kurzer Zeit entdeckt, laut juchzend begrüßt und durch das Gedränge an die Bar gezerrt.

Um Mitternacht hatte Vanessa endgültig genug von der Party gehabt. Diese Art von Festen war schlichtweg nicht nach ihrem Geschmack. Es war zu laut, zu schrill, zu voll, weshalb sie, ohne sich von Melody zu verabschieden, heimlich hinausgeschlüpft war. Draußen angekommen, hatte sie die feuchte, klare Nachtluft tief in ihre Lungen eingesogen und daraufgewartet, dass Geoffrey einem Taxi winkte, damit es sie nach Hause fuhr.

Sie hatte daheim sein wollen, wenn David endlich kam. Sicher wäre er bald von dem Besuch bei seinen Freunden in Dorset zurück. Aufgrund zweier Geschäftsreisen ins Ausland sowie einer halb geschäftlichen, halb privaten Fahrt nach Dorset hatte sie ihn seit drei Wochen nicht gesehen, und sie hatte ihm zeigen wollen, wie sehr sie ihn während dieser Zeit vermisst hatte. Vielleicht würde sie eine Spur aus Rosenblüten von der Tür ihres Apartments bis zum Bett legen, im Sektkühler eine Flasche Champagner – natürlich Dom Perignon – zwei Gläser auf dem Nachttisch und sie selbst in dem kurzen pelzgesäumten, schwarzen Spitzenzweiteiler, der Davids Geschenk zu ihrem achtundzwanzigsten Geburtstag im letzten Monat gewesen war. Das würde ihm doch bestimmt gefallen.

Als sie die Schlafzimmertür geöffnet hatte, war Sandy, dessen Wimmern bereits in den Flur gedrungen war, zitternd aus seinem Versteck unter dem Bett hervorgekrochen. Sie hatte ihn auf den Arm genommen, sich auf das Bett gesetzt und ihn so eng an ihre Brust gedrückt, dass ihm ein leises Jaulen entfahren war. Sie hatte ihren Griff gelockert und ihn so lange gestreichelt, bis er ruhig geworden war.

Erst als das Telefon auf ihrem Nachttisch schrill geläutet hatte, war sie aus ihren süßen Träumen von ihrem Wiedersehen mit David aufgeschreckt. Während sie nach dem Hörer gegriffen hatte, hatte sie auf die Uhr gespäht: 0 Uhr 40. Großer Gott, wer rief um diese Uhrzeit an?

»David?«, hatte sie erwartungsvoll gefragt.

»Ich bin es, Lloyd. Ich versuche schon seit Stunden, dich zu erreichen.«

Davids älterer Bruder hatte eine Vorliebe für Whiskey, und ab und zu, wenn er zu viel getrunken hatte, wollte er mit seinem Bruder in Erinnerungen an die guten alten Zeiten schwelgen. In jener Nacht jedoch… in jener Nacht hatte er keineswegs geklungen, als hätte er getrunken.

»Was ist los, Lloyd?«, hatte sie deshalb alarmiert gefragt.

Nach kurzem Schweigen hatte er gemurmelt: »Hmmm, Vanessa. Es ist wegen… David. Er hatte einen… Unfall.«

Vanessa war eiskalt geworden, geschockt hatte sie Sandy fallen lassen und hatte alle Kraft aufbieten müssen, damit nicht auch der Hörer ihrer Hand entglitt. »Ein Unfall«, hatte sie tonlos wiederholt. Ihre Kehle war wie zugeschnürt gewesen, und sie hatte die Frage, die sie hatte stellen wollen, nicht herausgebracht.

Lloyds nächste Worte hatten ihr die Anstrengung erspart.

»Er war heute Morgen mit den Coopers auf der Jagd. Du weißt doch, was für einen Spaß ihm die Fuchsjagd macht. Beim Sprung über eine Hecke ist er vom Pferd gestürzt. Dieser verdammte Narr.«

»Wie«, sie hatte so tief wie möglich Luft geholt, »schwer ist er verletzt?«

»Die Ärzte sind sich noch nicht sicher. Erst wurde er ins örtliche Krankenhaus gebracht, aber inzwischen wurde er hierher nach London transportiert. Er, wir sind jetzt im Guy’s Hospital. Er ist immer noch bewusstlos. Die vorläufigen Untersuchungen deuten auf einen Schädelbruch, innere Blutungen und einen Beinbruch hin. Während wir beide miteinander reden, wird noch ein Test, ich glaube, ein CT, mit ihm gemacht.«

»Was ist ein CT?«, hatte Vanessa ihn gefragt.

Lloyd, der kein Mediziner war, hatte es ihr so gut es ging erklärt. »Wie es mir vom Arzt beschrieben worden ist, scheint es so was Ähnliches zu sein wie eine Röntgenuntersuchung, nur genauer, weil man dabei Knochen, Organe und Gewebeschäden gleichzeitig erkennt.«

Vanessa hatte sich auf die Lippe beißen müssen, um nicht vollends die Beherrschung zu verlieren, und mit zitternder Stimme gesagt: »Ich komme sofort rüber«, und den langen schwarzen Mantel und das kleine Abendtäschchen von ihrem Bett geschnappt. »Ich bin in zwanzig Minuten da.«

Gott, wie war es möglich, dass sie so normal geklungen hatte, während doch in ihrem Innersten alles zerbrochen war? David – der mit ihrem Leben und ihren Gefühlen derart eng verwoben war – bewusstlos und verletzt! Sie hatte versucht, ihren Gedanken Zügel anzulegen, doch es hatte nichts genützt. Was, wenn… Oh, was, wenn…? Nein. So darfst du nicht denken. Denk weiter positiv. Und fang ja nicht an zu weinen. Schließlich möchtest du nicht, dass er wach wird und als Erstes deine roten Augen sieht. David wird wieder gesund, er muss es einfach werden…

Lloyd und Robyn Benedict hatten sie im Wartesaal der Notaufnahme in Empfang genommen. Ihre Mienen waren angespannt gewesen, Robyn hatte sie mit vom vielen Weinen rot verquollenen Augen angesehen, und Lloyd, der eine ältere, größere Ausgabe von David war und dem für gewöhnlich keine Regung anzusehen war, hatte bleich und hager gewirkt.

Sie hatten Vanessa in den Arm genommen und sich mit ihr in den fast leeren Warteraum gesetzt.

»Wie geht es ihm?«, hatte Vanessa atemlos gefragt.

»Wir haben noch nichts von den Ärzten gehört. Sie sind noch immer bei ihm«, hatte Robyn ihr gedämpft erklärt. »Es ist einfach schrecklich.«

»Hatte er seinen Helm auf?« David war derart stolz auf seine dicht gelockten, blonden Haare, dass ihm der vorgeschriebene Reithelm immer verhasst gewesen war.

»Ich glaube, ja. Allerdings hat Neville mir erklärt, der Kinngurt wäre auf gewesen, weshalb der Helm bei seinem Sturz runtergefallen und er mit dem Kopf auf einem Baumstamm aufgeschlagen ist.« Lloyd hatte sie unglücklich angesehen. »Eine wirklich böse Geschichte. Nev und Prue Cooper sind am Boden zerstört.«

Sie waren am Boden zerstört? Himmel! Es hatte sie alle Mühe gekostet, nicht die Selbstbeherrschung zu verlieren. Irgendwo hinter den Flügeltüren rechts von ihr lag der Mann, den sie liebte, und war schwer verletzt. Sie konnte sich nicht vorstellen, ohne ihn zu leben. Sie hatten so wunderbare Pläne, sie liebten sich so sehr. Gott würde und könnte ihn ihr doch bestimmt nicht nehmen. Er hatte ihr die Eltern genommen und letztes Jahr dazu Gran. War das noch nicht genug? Bitte jetzt nicht auch noch David, hatte sie gefleht.

Zwei Ärzte in weißen Kitteln waren durch die Tür auf die drei Menschen zugekommen, die einander hilfesuchend bei der Hand genommen hatten, und hatten sich an Lloyd gewandt.

»Mr. Benedict?«

Lloyd hatte genickt und die beiden Frauen vorgestellt. »Meine Frau Robyn und Davids Verlobte, Vanessa Forsythe.«

Die Augen des Jüngeren der beiden Ärzte blitzten auf. »Natürlich, Miss Forsythe, ich hätte Sie überall erkannt.«

»Ich bin Dr. Thomas, der Neurologe«, hatte sich der ältere Mann mit dem sorgfältig gestutzten Schnurrbart bekannt gemacht. »Ich habe David untersucht, und inzwischen liegen die Ergebnisse der Untersuchung vor. Das sich ansammelnde Blut übt verstärkten Druck auf das Gehirn aus, und es ist erforderlich, ihn zu operieren, damit dieser Druck verringert wird.« Er hatte Lloyd fragend angesehen. »Ich nehme an, Sie sind sein nächster Verwandter. Ich brauche deshalb Ihre Einwilligung zu dieser Operation.«

Vanessas Kehle war erneut wie zugeschnürt gewesen, irgendwie jedoch hatte sie herausgebracht: »Eine Operation, Doktor? Gibt es keine andere Möglichkeit?«

»Nicht, wenn wir ihn retten wollen, Miss Forsythe«, hatte Dr. Thomas mit beinahe unpersönlicher Offenheit erklärt. »Die Zeit spielt eine wichtige Rolle. Mein Operationsteam kann in einer Stunde anfangen. Je länger wir mit diesem Eingriff warten, umso größer wird das Risiko für den Patienten.«

»Verstehe.« Lloyd hatte Vanessa angesehen. Da sie Davids Verlobte war, hatte er anscheinend ihre Zustimmung gewollt. »Nun?« Seine hochgezogenen Brauen hatte wie zwei Fragezeichen ausgesehen.

Vanessa hatte sich wie aus weiter Ferne sagen hören: »Also gut, wenn keine andere Möglichkeit besteht.«

Der Jüngere der beiden Ärzte hatte sie lächelnd angesehen und Dr. Thomas zugenickt. »Dann werde ich mal die Papiere holen.«

 

Vanessa saß auf ihrem Stuhl und betrachtete David unablässig mit ihren braunen Augen. Sein Kopf war bandagiert, Sonden ragten ihm aus Mund und Nase, er bekam verschiedene Infusionen, und am Kopfende des Bettes waren unzählige elektronische Geräte sowie verschiedene Monitore aufgebaut. Sein rechtes Bein war eingegipst und in eine Art von Flaschenzug gehängt. Die Bildschirme, auf denen Zahlen und Grafiken zu sehen waren und die ständig Geräusche machten, faszinierten sie und machten ihr gleichzeitig eine Heidenangst. Eine nette Schwester hatte ihr die Kurven auf den Bildschirmen erklärt, doch da sie keine medizinischen Kenntnisse besaß und bisher immer kerngesund gewesen war, war sie vom Anblick der Geräte vor allem verängstigt und verwirrt.

Sie, Lloyd und Robyn saßen abwechselnd an Davids Bett auf der Intensivstation des Hospitals. Die Operation war kaum zwölf Stunden her, doch sie hatte das Gefühl, als säße sie seit einer ganzen Woche reglos auf ihrem Platz. Anders als draußen in der Welt schien im Krankenhaus die Zeit im Schneckentempo zu vergehen. Der Rücken tat ihr weh, ihre Augen brannten, weil sie ständig auf die Monitore starrte, und ihr Hirn war ebenso ermattet wie der Rest ihres Körpers, weil sie die Hoffnung hegte, dass David sich durch reine Willenskraft dazu bewegen ließe, dass er von der Operation genas. Sie musste dabei sein, wenn er die Augen aufschlug oder sich, wenn auch nur minimal, bewegte, weil das ihrer Meinung nach ein Zeichen für den Erfolg des Eingriffs war. Selbst wenn die Nachtschwester erklärt hatte, es wäre noch zu früh, um irgendein Zeichen der Besserung an David zu entdecken, weil er noch mindestens zwölf Stunden unter Beruhigungsmitteln stünde, hoffte sie doch auf ein Signal, ein egal wie kleines Signal dafür, dass es Hoffnung gab.

Weitere zwölf Stunden, vierundzwanzig, sechsunddreißig zogen sich endlos in die Länge, ohne dass sein Zustand sich veränderte. Vanessa hörte, wie die Schwestern das Wort »Koma« flüsterten. Dr. Thomas kam in unregelmäßigen Abständen vorbei, baute sich mit ernster, nachdenklicher Miene am Fuß des Bettes auf, äußerte sich jedoch mit keinem Wort zum Zustand des Patienten, weshalb Vanessa annahm, dass er genau wie sie dazu verurteilt war abzuwarten.

Es war schwer, so lange still zu sitzen, ohne dass am Schluss das Hirn ebenso betäubt wie der Körper war. Im ersten Dämmerlicht des fünften Tages trommelten mal wieder dicke Regentropfen gegen das Klinikfenster. Vanessa stand auf, trat vor das Glas und starrte auf die Straße, wo die Menge der dahineilenden Menschen – wahrscheinlich Arbeiter der Frühschicht – unter der wogenden Reihe dunkler Schirme kaum zu erkennen war. Regenmäntel, Trenchcoats, Schals und Jacken waren beinahe ausnahmslos grau, schwarz oder braun. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann zuvor in ihrem Leben sie derart erschöpft gewesen war.

Und mit jeder Stunde, die verrann, bis sie sich abermals zu Tagen dehnte, nahm die Hoffnungslosigkeit von Davids Lage zu. Lange bevor Dr. Thomas etwas sagte, verriet ihr ihr Instinkt, dass das Fehlen irgendeines Zeichens der Besserung das Schlimmste andeutete.

Oh, David. Sie blinzelte die aufsteigenden Tränen entschieden zurück. Was, wenn er plötzlich die Augen aufschlüge und ihre Tränen sähe? Nein, sie musste um seinetwillen stark sein. Wenn er erst wieder wach war, wäre zum Weinen Zeit genug. Vor allem, da es Freudentränen wären, die sie dann vergießen würde, machte sie sich Mut.

Doch während sie am Fenster stand und an glücklichere Zeiten dachte, versank sie in Elend. Sie dachte daran, wie sie sich zum ersten Mal begegnet waren, ausgerechnet bei einem Essen für eine australische Autorin, Colleen McCullogh, das in einem der Säle des Savoy ausgerichtet worden war. Er hatte hinter ihr in der Schlange gestanden, um sich eine Ausgabe des Buches Die Ladies von Missalonghi signieren zu lassen, hatte sich ihr vorgestellt, und sie hatten angefangen, miteinander zu plaudern, bevor sie schließlich von ihm auf einen Kaffee eingeladen worden war. Sie hatte spontan ja gesagt, was der Anfang ihrer glücklichen Beziehung gewesen war.

 

Zu Beginn des sechsten Tages nahm Vanessa allen Mut zusammen und stellte Dr. Thomas die Fragen, denen sie bisher aus Angst ausgewichen war. »Weshalb reagiert er nicht? Was ist mit ihm los?«

Mit gekräuselter Stirn dachte Dr. Thomas über eine Antwort nach. »Wir sind uns nicht sicher, Vanessa. Nach einer Operation wie der, die wir bei David durchführen mussten, fällt das Hirn in eine Art Tiefschlaf. Deshalb liegt er immer noch im Koma. Das kann ein gutes Zeichen sein, es kann heißen, dass das Hirn allmählich heilt.«

Sie starrte ihn an. »Aber Sie glauben nicht, dass das bei ihm der Fall ist, oder? Ich – ich habe die Schwestern Dinge sagen hören wie ›verringerte Hirnaktivität‹ und ›verringerte Reaktion auf Stimuli‹ Außerdem haben Sie ihn an ein Beatmungsgerät angeschlossen.« Die Panik verlieh ihrer Stimme einen ärgerlichen Klang. »Vielleicht bin ich medizinisch nicht bewandert, aber ich bin auch nicht naiv. Ich weiß, dass das ganz sicher keine positiven Zeichen sind.«

Während er darüber nachsann, wie viel er ihr sagen sollte, hielt er dem herausfordernden Blick aus ihren braunen Augen stand. »Nein, das sind sie nicht. Ich fürchte, das Koma hat sich noch vertieft, und…« Er machte eine Pause und strich mit einer Hand über seinen Bart. »Alles, was wir tun können, ist, ihn weiter künstlich am Leben zu erhalten, das heißt, ihn weiter künstlich zu ernähren, künstlich zu beatmen… und gleichzeitig zu hoffen! Wir haben alles medizinisch Mögliche getan…« Er räusperte sich leise und wandte sich, als er ihre entsetzte Miene sah, unbehaglich von ihr ab.

Dann jedoch fing das Herzüberwachungsgerät, wie auf ein makabres Stichwort, plötzlich an zu piepsen, und Vanessas Blick flog Richtung Monitor. Die Grafik wurde ungleichmäßig, hoch, runter, flach, hoch, runter, flach, bis die gerade Linie blieb und das schrille Piepsen nicht mehr abzubrechen schien. Das Geräusch war grauenvoll. Hastig stürzten vier oder fünf Schwestern herbei und standen mit Dr. Thomas um das Bett, und aus dem Lautsprecher im Flur hörte sie die Worte: »Notfall, Notfall, Zimmer zwei drei acht.«

»Schaffen Sie sie raus«, bellte Dr. Thomas die ihm am nächsten stehende Krankenschwester an und nickte in Vanessas Richtung, während er sich schon die Elektroden des Defibrillators in die Hände drücken ließ.

Mutterseelenallein stand Vanessa an die Wand des Korridors gelehnt. Erst starrte sie auf die geschlossene Tür des Zimmers zwei drei acht, betete, dass sie sich endlich wieder öffnen und dass ihr die Schwestern mit erleichterten Gesichtern entgegenkommen würden. Die Sekunden gingen über in Minuten. Fünf Minuten vergingen, die Tür blieb weiterhin geschlossen, und niemand ging hinein oder kam heraus. Eine beängstigende Leere machte sich in ihrem Körper breit, beraubte sie des letzten Restes Energie, und sie hob ihre zitternden Hände vors Gesicht und brach in Tränen aus.

 

Nach Davids Beerdigung hatte Kerri Spanos sie gerettet.

Sie hatte die Wohnung aufgeräumt, sie mit tröstenden Gesprächen die ersten, schlimmsten Tage überstehen lassen und sie fast eine Woche lang in ihrem Heim beherbergt, weil sie nur auf diese Weise hatte sichergehen können, dass die trauernde Freundin nie alleine war. Sie hatte die Medienvertreter fern gehalten und ihnen die Mitteilung gemacht, dass Vanessa dringend Ruhe brauchte und für Interviews nicht zur Verfügung stand.

Der kurzfristige Vertrag über eine Hauptrolle bei einer Produktion der Hochzeitsreise in Australien war ein Geschenk des Himmels gewesen, dachte sie. Er hatte es Kerri gestattet, Vanessa fortzubringen von den krankhaft neugierigen Journalisten und ihrer Freundin die Gelegenheit geboten, sich auf etwas anderes zu konzentrieren als auf ihr privates Leid.

Dass Vanessa in Sydney nicht nur auf der Bühne hatte Erfolge feiern können, sondern auch privat wieder zu sich gekommen war, hatte Kerri etwas verraten, was sie besser für sich behielt. Vanessa war der festen Überzeugung, dass ihr Herz durch Davids Tod gebrochen worden war. Natürlich war es für sie traumatisch und grauenhaft gewesen. Doch Kerri glaubte, dass die Trauer von Vanessa nicht so tief ging, wie sie selbst dachte.

Weshalb sie zu diesem Schluss kam, war etwas kompliziert. Ihre gute Freundin und Klientin hatte im Verlauf der Jahre einige Beziehungen gehabt. Keine hatte längerfristig funktioniert, und als plötzlich David Benedict erschienen war, hatte sie sich eingeredet, ihr zukünftiges Glück hinge von dieser Heirat ab. Sie hatte offenbar davon geträumt, eine ebenso erfolgreiche Ehe mit ihm führen zu können, wie es die ihrer Eltern gewesen war. Sie hatte fest geglaubt, dass David der von ihr ersehnte Traummann war. Ihre Vanny würde eine Zeit lang trauern, doch sie käme über den Verlust dieses Mannes hinweg. Denn insgeheim war Kerri sicher, dass ein anderer, ganz besonderer Mann vonnöten wäre, um sie zu erwecken. Ja, ein ganz besonderer Mann.

2

Die Rolle der Touristin war genau die Therapie, die Vanessa brauchte. Sie kleidete sich lässig, trug einen großen Schlapphut und eine dunkle Brille zum Schutz vor der gleißend hellen Sonne und sah genau wie alle anderen Insassen des Busses aus, der sie in der Umgebung des Kakadu-Nationalparks von einem Touristenziel zum nächsten fuhr. Allein reisende Männer, die sich der englischen Touristin nähern wollten, fanden bald heraus, dass sie lieber für sich war, doch nahm sie ab und zu gerne an Aktivitäten ihrer Gruppe teil. Beinahe zwei Wochen nicht endenden Sonnenscheins hatten ihre blonden Haare noch weiter ausgebleicht und ihre von Natur bereits olivfarbene Haut auffallend gebräunt. Sie trug einen Rucksack, eine Wasserflasche baumelte an ihrer Hüfte, und sie fand die Shorts, das knapp sitzende Top, die Socken und die Wanderstiefel, die ihr anfangs fremd gewesen waren, inzwischen höchst bequem.

Auf der Rückfahrt nach Darwin am Ende ihrer Tour lehnte sie den Kopf gegen die Lehne ihres Sitzes und überlegte lächelnd, was wohl Kerri und ein paar ihrer Freundinnen aus London sagen würden, könnten sie sie sehen. Sicher würden sie nicht in Begeisterungsstürme ausbrechen, so viel war gewiss.

Als die ersten Passagiere den Reisebus vor ihrem Hotel verließen, drehte sich Fay Whitcombe, eine ehemalige Geschäftsfrau, die in Darwin lebte, zu Vanessa um und fragte: »Ist dies Ihr letzter Tag?«

»Leider, ja. Ich würde gerne noch zwei Wochen oder sogar länger bleiben. Es ist einfach unglaublich, wie schön dieses Land ist. Ich habe jede Minute dieser Tour genossen«, erwiderte Vanessa, die total hingerissen von dieser Reise war.

Zu Beginn des Urlaubs hatte sie nichts weiter als ein prickelndes Gefühl von Abenteuer und die Vorstellung, dass es sicher schön wäre, sich einmal das so genannten Outback anzusehen, gehabt. Sie hatte nicht erwartet, derart davon berührt zu sein. Es widersprach jeglicher Logik, weil sie durch und durch Engländerin war, doch auch wenn es eigenartig war, hatte etwas an diesem Land, vielleicht die unendliche Weite und die Einzigartigkeit, derart an ihr Innerstes gerührt, dass sie wusste, eines Tages käme sie garantiert zurück, um die alten Landschaften genauer zu erforschen und mehr über die Ureinwohner zu erfahren sowie über die Menschen, die in jüngerer Zeit die Gegend kolonisiert hatten, die in der Sprache der hier ansässigen Menschen nur das Top End hieß. Nachdem sie die Wildheit der Umgebung, die Pracht der Sonnenuntergänge – sie waren wirklich einzigartig – und die Isoliertheit dieses Landes hatte erleben können, empfand sie große Bewunderung für alles, was die Aborigines und andere Menschen hier geleistet hatten.

»Ein paar von uns wollen heute Abend noch zusammen etwas trinken und sich den Sonnenuntergang ansehen. Wir treffen uns im Segelclub in Fannie Bay. Würden Sie eventuell gerne mitkommen? Dann könnten wir uns in Ruhe verabschieden.«

Vanessa brauchte nicht lange zu überlegen. »Sehr gern.« Während dieser Reise hatte sie mindestens die Hälfte der Leute namentlich kennen gelernt und fühlte sich in ihrer Gesellschaft wirklich wohl. Kerri würde sicher ausrasten, wenn sie erführe, dass sie ihren Mitreisenden vorgegaukelt hatte, dass sie eine arbeitslose kleine Schauspielanfängerin war. Statt offen zuzugeben, dass sie nicht nur echt gut verdiente, sondern obendrein in Großbritannien und, da sie neben Englisch fließend Spanisch sprach, auch im übrigen Europa eine bekannte Größe war, genoss sie die Anonymität, die ihr garantiert war, solange niemand sie für jemand Besonderen hielt. »Um wie viel Uhr?«

Fay rollte belustigt mit den Augen. »Vor dem Sonnenuntergang.«

Vanessa, der die dumme Frage etwas peinlich war, lachte verlegen auf. »Oh, natürlich, klar.«

Sie sollte anfangen zu packen, weil ihr Flieger schon am nächsten Morgen ging. Doch das war ihr viel zu langweilig und zu vernünftig für den letzten Abend in Australien. Sie könnte und sie würde wieder vernünftig sein, wenn sie zurück in London bei dem braven Sandy war. Das einzige Wesen, das ihr neben Kerri fehlte, war ihr kleiner Hund. Bella Da Mondi, eine Schauspieldebütantin, die Kerri unter ihre Fittiche genommen hatte, hütete zwischenzeitlich das Apartment und den Hund.

Nachdem sie im Rydges Hotel angekommen war, ging sie zuerst die eingegangenen Fax-Mitteilungen durch. Eine war von Kerri, die sich vergewissern wollte, dass Vanessa tatsächlich am nächsten Tag den Flieger nahm. Vanessa runzelte die Stirn, da das Fax in ihren Augen einen gewissen Mangel an Vertrauen in ihre Zuverlässigkeit verriet. Das zweite Fax stammte von einem Makler und besagte, dass es einen Interessenten für ihr Belgrave-Square-Apartment gab.

Hm. Sie wusste nicht mehr so recht, ob sie verkaufen wollte. Anfangs hatte sie gedacht, es wäre ihr unmöglich, weiter dort zu leben, wo sie mit David glücklich gewesen war. Nun aber bereitete ihr der Gedanke, packen und umziehen zu müssen – vor allem angesichts ihres vollen Terminkalenders für das nächste halbe Jahr –, regelrechtes Kopfweh. Drei Monate lang spielte sie die Hauptrolle in der Glasmenagerie, und direkt im Anschluss war sie als Präsentatorin einer Dokumentarserie für den National Graphic über historische Gebäude in England eingeplant. Beides bedeutete jede Menge Arbeit, sodass sie sich, wenn sie gleichzeitig eine neue Wohnung kaufte und umzog, ganz sicher übernahm.

Im Verlauf mehrerer Telefongespräche hatte Kerri sie beinahe davon überzeugt, dass es klüger wäre, wenn sie eine Innendekorateurin anheuerte, die die Erinnerung an David einfach dadurch aus der Wohnung verbannte, dass sie allen Räumen ein völlig neues Aussehen verlieh. Es wäre ein kostspieliges Unternehmen, doch weniger anstrengend als ein kompletter Umzug. Außerdem liebten sie und Sandy diese Wohnung, denn sie lag in der Nähe seines Lieblingsparks.

Nach einer ausgiebigen Dusche stieg Vanessa in eine leichte, lange Freizeithose, ein bis zum Bauchnabel reichendes Top und einfache Sandalen. Hier oben am Top End legte man auch abends auf allzu elegante Kleidung keinen Wert, weil es – vor allem vor Beginn der Regenzeit – nach Einbruch der Dunkelheit noch genauso feucht und heiß war wie während des Tages. Auf der Esplanade winkte sie einem Taxi und fuhr damit zum Club.

 

Der Sonnenuntergang war etwas enttäuschend, denn es gab nicht eine Wolke, die den vollen Rosaton des Himmels hervorgehoben hätte, ehe der rote Feuerball in der glasklaren, spiegelglatten Arafurasee versank. Doch Fay und Barry Whitcombe besaßen ein natürliches Organisationstalent. Sie hatten, damit sich alle unterhalten konnten, ohne sich gegenseitig anzubrüllen, zwei Tische für die Gruppe weit entfernt von der dreiköpfigen Band reserviert. So konnte sich Vanessa mit ihrem Gin Tonic entspannt auf ihrem Stuhl zurücklehnen und mit einem Ohr den Gesprächen der Bekannten lauschen. Gleichzeitig war sie wegen des Ferienendes etwas melancholisch und sann über ihre Zeit hier in Australien nach.

Vor ein paar Monaten, auf dem Flug nach Sydney, hatte sie unglücklich gedacht, die Wochen auf dem fremden Kontinent zögen sich gewiss endlos hin. Doch das Gegenteil war der Fall gewesen. Dafür hatten Kerri und die anderen Schauspieler gesorgt. Es war unmöglich gewesen, ständig deprimiert zu sein, während alle anderen vor Optimismus und guter Laune nur so sprühten. Sie hatte schon in London viele australische Kollegen und Kolleginnen gehabt. Immer aus allem das Beste zu machen und vor Optimismus regelrecht zu strotzen – auch wenn es dafür manchmal keinen Grund zu geben schien – war typisch für diesen Menschenschlag. Ihre Offenheit und Freundlichkeit hatten ihr geholfen, die Trauer langsam abzuschütteln, und die Unterhaltungen mit Trish und mit Tom Reynolds, die bei der Hochzeitsreise die Rollen der Sybil und des Elliot übernommen hatten, hatten ihr Interesse geweckt, mehr von dem Inselkontinent kennen zu lernen.

Sie hatte zu Beginn des Urlaubs keine Vorstellung davon gehabt, was sie erwarten würde. Doch selbst wenn es jeder Logik widersprach, hatte sie in kaum zwei Wochen eine enge Bindung zu dem Land entwickelt, das so völlig anders als ihre Heimat war. Als sie zum ersten Mal die gutturalen Klänge des Didgeridoos vernommen hatte, hatte sie ein Ziehen in der Brust verspürt, als ob das Instrument sie rief.

»Wollen Sie tanzen, Vanessa?«, fragte Peter Kosh, ein kanadischer Rucksacktourist, der ihr gegenüber saß, und schaute sie mit einem breiten Grinsen an.

Vanessa blickte auf die Tanzfläche, auf der sich nur zwei Paare bewegten. Sie und Peter hatten mehrmals im Gagudju Hotel im Herzen des Kakadu-Nationalparks miteinander getanzt, und so stand sie auf und sah ihn lächelnd an. »Klar.«

»Barry«, wandte sich Fay an ihren Mann. »Frag die Band, ob sie The Nutbush spielen kann.« Sie feixte Peter und Vanessa an. »Dazu tanzen Sie beide nämlich absolut hinreißend.«

Vanessa war der Ansicht, dass die kraftraubende Schrittfolge bei diesem Lied eher Konditionstraining als reines Tanzen war und dass man ziemlich fit sein musste, damit man bis zum Ende durchhielt. Glücklicherweise aber hatten all die Wanderungen, das Schwimmen und die Klettertouren, die sie in den letzten beiden Wochen unternommen hatte, ihre Muskeln ebenso gekräftigt wie zwei Stunden pro Tag zu Hause im Fitness-Studio. Außerdem tanzte sie für ihr Leben gerne. Ihre Mutter, Rosa Constancia del Rios-Forsythe, war in ihrer Jugend, bevor sie Vanessas Vater getroffen hatte, Profitänzerin gewesen. Sie hatte ihr viele der Tänze beigebracht, mit denen sie in den Straßen von Madrid aufgewachsen war, und so kam Vanessa problemlos mit allen modernen Tanztechniken zurecht.

Während der Vier-Viertel-Takt des Nutbush