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Informationen zum Buch

Die Nachricht vom Tod ihres Vaters trifft Carla Hunter schwer und dann erfährt sie auch noch, dass ihr Vater ein Spross der schwerreichen Winzerdynastie Stenmark im südaustralischen Barossa Valley war. Vor vielen Jahren wurde er aus der Familie verstoßen und hat nie wieder davon geredet. Als Cara nun mit ihrem kleinen Sohn in Barossa Valley auftaucht, schlägt ihr Hass und Ablehnung entgegen. Doch Carla kämpft für ihr Erbe, ihr Recht – und für die Liebe ihres Lebens...

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Lynne Wilding

Im Tal der
roten Sonne

Australien-Saga

Aus dem Englischen
von Marion Gieseke

Inhaltsübersicht

Über Lynne Wilding

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Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Das Barossa Valley

Danksagung

Impressum

1

Neuseeland 1993

 

Rolfe Kruger stand auf der Veranda seines Hauses, seine morgendliche Tasse Kaffee in der Hand, während sich der Nebel über den Weinreben langsam lichtete. Seine Nasenflügel dehnten sich merklich beim Einatmen. Die Luft war kühl und roch nach Erde, ein Zeichen dafür, dass der Herbst auf der Südinsel bevorstand. Rolfes hellblaue Augen, von deren Rändern viele kleine Fältchen ausgingen, begutachteten die Reben. Es gab bereits Anzeichen, dass der Wechsel der Jahreszeit kurz bevorstand. Die Blätter kräuselten sich und wurden gelb, ehe sie einen rotbraunen oder hellbraunen Farbton annahmen, danach abfielen und sich mit der Erde vermischten.

Rolfe kratzte seinen kurz geschnittenen Bart, eine gleichmäßige Mischung aus grauen und gelblichbraunen Stoppeln, und lächelte zufrieden. Der Jahrgangswein war da, die Trauben waren geerntet und zerstampft und über eintausend Flaschen Valley View Chardonnay und fünfhundert Flaschen Rotwein abgefüllt worden. Dies war eine zwanzigprozentige Steigerung im Vergleich zur Ernte des Vorjahres. Jetzt konnte er es ein wenig langsamer angehen lassen und sich um die zahlreichen, nicht ganz so wichtigen Angelegenheiten im Zusammenhang mit dem Grundstück kümmern, Instandsetzungsarbeiten, die er schon monatelang aufgeschoben hatte.

Unbewusst fuhr er mit der linken Hand über seine Brust, wo er ein beklemmendes Gefühl verspürte. Diese verdammten Verdauungsstörungen. Es war sein eigener Fehler. Er hätte nicht so viel von der deutschen Wurst essen sollen, die er im Delikatessengeschäft in der Stadt gekauft hatte. Seit seiner Kindheit war er süchtig nach dieser Delikatesse. Kaum wahrnehmbar schüttelte er den Kopf. Es war besser, nicht an die Vergangenheit zu denken, die mit so viel Schmerz und Leid verbunden war. Er trank seinen Kaffee aus und stellte den Becher auf den Boden. Dann krempelte er die Ärmel seines ausgeblichenen karierten Hemdes auf und stieg die Stufen hinunter, bis er die Weinreben in der ersten Reihe erreichte. In einer geraden Linie erstreckten sich die Reben etwa fünfundvierzig Meter weit in westliche Richtung.

Er schritt an den Weinstöcken entlang und, wie er es seit fünfunddreißig Jahren getan hatte, bückte er sich, richtete sich wieder auf und streckte sich. Er entfernte die abgestorbenen Stiele und schnitt die unteren Ranken mit der Gartenschere zurück, um das Wachstum zu beschleunigen.

Als er das Ende der dritten Reihe erreicht hatte, blickte er auf, um den Stand der Sonne zu prüfen. Es war mitten am Morgen. Er blinzelte zweimal und war erstaunt darüber, wie langsam er war. Dann zuckte er gelassen die Schultern. Er war schließlich nicht mehr der Jüngste und nicht so rege wie Peter Cruzio, der auf Teilzeitbasis mit ihm zusammenarbeitete, oder Angelique Dupayne. Angie, die Frau, die er liebte, konnte genauso hart anpacken wie die Männer. Er hätte es allerdings lieber gesehen, wenn sich die talentierte Winzerin in der Weinkellerei aufhalten und sich um die Weiterverarbeitung der Trauben und um die Veredelung des Saftes kümmern würde. Die Weinherstellung war heutzutage eine Wissenschaft für sich und etwas völlig anderes als in früheren Zeiten.

In den vergangenen Wochen hatte er sich an die Qualen gewöhnt, und eine Zeit lang gelang es ihm, den dumpfen Schmerz, der von seiner Schulter aus in den linken Arm zog, zu ignorieren und ihn als Rheuma, ein weiteres Zeichen dafür, dass er alt wurde, abzutun. Dann spürte er einen stechenden Schmerz im Rücken, und er stöhnte auf und umklammerte seine Brust. Rolfes erster Gedanke war Nie wieder deutsche Wurst, sie war viel zu fett. Dann spürte er einen zweiten, noch stärkeren Schmerz, und er fiel auf die Knie. Sein linker Arm war plötzlich unbrauchbar geworden – was für eine grausame Vorstellung.

Das Atmen fiel ihm schwer. Es war, als würde ein schweres Gewicht gegen seine Brust drücken. Einen Augenblick lang senkte er den Kopf und nahm den Schmerz hin. Dann dachte er an seine Tochter und seinen Enkel und an all die Dinge, die er noch erledigen wollte. Sein Kiefer verspannte sich, und sein Kopf hob sich ruckartig. Er kämpfte um jeden Zentimeter Luft, um seine Lungen zu füllen gegen diesen quälenden, zermürbenden Schmerz, der immer stärker wurde. Er wusste, dass er aufstehen und zum Haus zurückgehen musste, damit er Hilfe bekam…

Er sah alles nur noch verschwommen, dann wieder klar, dann wieder verschwommen. Sein rechter Arm zuckte nach oben an den Pfosten, der das Spalier abstützte. Er versuchte, sich daran festzuhalten und sich hochzuziehen. Seine Finger umklammerten den Draht, die Blätter, die Ranken. Schweißperlen traten auf sein Gesicht und tropften von seiner Stirn. Das Salz brannte ihm in den Augen.

Dann schwanden seine Kräfte, als hätte die Erde sie aus seinem Körper herausgesaugt. Er ließ sich auf den Boden fallen und legte sich auf die Seite, wo er sich wie ein Fötus zusammenrollte. Er hatte unglaubliche Schmerzen. Seine Brust hob sich kaum noch, und sein Atem wurde zunehmend flacher. Er hatte nicht mehr die Kraft, sich zu bewegen. Rolfe verlor das Bewusstsein, war aber innerhalb von wenigen Minuten wieder da. Er öffnete die Augen und starrte in den Himmel über ihm. Sein Blick schweifte zu seinen kostbaren Trauben hinüber. Dünne Weinranken schienen sich auf ihn zuzubewegen und sich schützend um ihn zu legen. Der Schmerz kam wieder, ließ nach, kam zurück. Sein Körper wurde immer schwächer und gab schließlich nach.

Mit zitternder Hand griff er nach einem Stiel, dessen dünne Ranken sich um seinen Zeigefinger wickelten. Sein Lächeln verwandelte sich in eine Grimasse, während ein weiterer scharfer Schmerz durch seine Brust fuhr und seinen ganzen Körper erbeben ließ, bevor er erschlaffte. Seine Lider flatterten und schlossen sich, und während der Schmerz langsam nachließ, atmete er aus und stieß einen leichten, gedehnten Seufzer aus…

 

Angie Dupaynes tränenüberströmtes Gesicht spiegelte ihre Gefühle wider, als sie die Nummer in das Tastentelefon tippte. Niemals hätte sie damit gerechnet, einen solchen Anruf tätigen zu müssen.

»Carla?« Sie wartete darauf, dass sich die Frau am anderen Ende der Leitung meldete. »Hier ist Angie.«

»Hallo, Angie. Was ist los?«, sagte die Stimme herzlich. »Macht Dad dich wieder verrückt?«

»Mmh, nicht ganz. Scheiße, Carla, es ist nicht einfach, es dir zu sagen, deshalb sage ich es geradeheraus. Es geht um deinen Dad. Rolfe ist…«

Im Wohnzimmer ihres großen Hauses in Christchurch schüttelte Carla heftig mit dem Kopf, in dem sich alles zu drehen begann. Angies Tonfall reichte aus, um ihr zu signalisieren, dass die Nachricht alles andere als positiv war. »Nein!«

»Es tut mir leid. Er ist…«, Angie gelang es kaum, das Wort herauszubringen, »tot. Peter hat ihn zwischen den Rebstöcken gefunden. Wir haben sofort einen Krankenwagen gerufen. Die Sanitäter haben auf der Fahrt zum Krankenhaus versucht, ihn wiederzubeleben, aber Rolfe…«

Carla hörte, wie Angies Stimme sich in ein Flüstern verwandelte, während sie um Fassung rang.

»Der Notarzt sagte, es war ein schwerer Herzinfarkt, und dass er… schnell gestorben ist.«

Carla Hunter sackte gegen die Wand. Sowohl ihr Herz als auch ihr Verstand weigerten sich, diese Worte zu akzeptieren. Doch nicht ihr Vater! Nicht ihr starker, gesunder Vater, der ganz allein in der Nähe von Marlborough, im Nordosten der Südinsel von Neuseeland, ein kleines, einigermaßen erfolgreiches Weingut besaß und dafür gelebt und davon geträumt hatte, Trauben anzubauen und Wein herzustellen, als wäre es eine Religion für ihn. Er war immer so voller Energie gewesen. Sie konnte sich absolut nicht vorstellen, dass er jetzt ganz ruhig dalag und sich nicht mehr bewegte. O Gott

»Bist du noch da, Carla? Bist du okay?«

Carla wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Sie spürte, wie sich ihre Kehle zusammenschnürte, aber sie hatte keine Zeit, schlappzumachen und sich die Augen auszuweinen. Hinten im Hof spielte ihr Sohn Sam mit seinem heiß geliebten Rugbyball. Sie musste ihre Gefühle kontrollieren und überlegen, wie sie es ihm beibringen sollte… und was sie noch alles erledigen musste.

»Nein. Ich bin nicht okay, Angie«, antwortete Carla. »Ich… ich versuche zu überlegen.«

Ihr Kopf war völlig leer. Sie war wie benommen. Ihr Vater war tot. Der einzige Mensch, der ihr sehr viel bedeutete – mit Ausnahme von Sam, ihrer Mutter und Angie –, hatte sie verlassen. Jetzt war sie wirklich… alleine. Mit tränenüberfüllten Augen starrte sie auf den Stapel Hefte, die Hausaufgaben ihrer Zeichenklasse, die sie gerade korrigierte.

»Ich weiß, es ist ein furchtbarer Schock, und wir hier oben versuchen ebenfalls, damit fertig zu werden«, sagte Angie besorgt. »Was… es gibt jetzt einige Dinge, um die du, hm, wir alle uns kümmern müssen.«

»Ich weiß.« Carla stieß einen tiefen Seufzer aus und fuhr sich abwesend mit der Hand durchs Haar. »Ich komme sofort zu dir. Ich kümmere mich um den Flug, und dann lass ich dich wissen, wann ich lande.« Wie auf Autopilot gestellt, sprang ihr Gehirn wieder an. Flugzeug. Beerdigungsvorbereitungen. Geld – nicht gerade etwas, von dem sie eine Menge hatte. Sie stöhnte. »Danke für alles. Ich weiß, dass es auch für dich schwer ist, Angie. Himmel«, ihr war klar, welch enges Verhältnis Angie und ihr Vater gehabt hatten, »wie schaffst du das bloß?«

Am anderen Ende der Leitung herrschte kurzes Schweigen, dann hörte sie einen Seufzer. »Irgendwie.«

»Ich ruf dich zurück, sobald ich mehr weiß.« Carla beendete das Gespräch und legte die Hand über ihren Mund. O Dad, warum ausgerechnet du und warum jetzt…?

Ihr Leben war langsam wieder zur Normalität zurückgekehrt. Gerade erst war sie über den Tod ihres Mannes einigermaßen hinweggekommen. Und jetzt ein weiterer Todesfall. Wie sollte sie ihrem Sohn erklären, dass sein geliebter Großvater tot war? Ihre Unterlippe begann zu zittern, und ihr Körper bebte, eine Reaktion auf diese unfassbare Nachricht. Dad war tot…

Sie lehnte den Kopf an die Wand, schloss die Augen, und unter ihren geschlossenen Lidern tauchte das Bild ihres Vaters auf. Für sie war Rolfe Kruger kerngesund und unverwüstlich gewesen. Vor zwei Monaten war er erst sechsundfünfzig geworden, nach heutigen Maßstäben absolut kein Alter. Es war schwer, zu begreifen und zu akzeptieren, was geschehen war, aber sie wusste, dass sie es tun musste, schon allein Sams wegen. Mehr als je zuvor brauchte ihr kleiner Sohn jetzt ihre Stärke. Und außerdem musste sie ihr Schuldgefühl ablegen, dass sie ihren Vater in den letzten Jahren nicht so oft besucht hatte, wie sie es eigentlich hätte tun sollen. Doch sie hatte es sich einfach nicht leisten können – zeitmäßig wegen der Schule nicht und auch nicht finanziell.

Sie ließ sich auf ihren Schreibtischstuhl fallen, nahm den Kugelschreiber in die Hand und fing an, eine Liste mit den Dingen zu erstellen, die sie zu erledigen hatte…

 

Das Wetter passte genau zur Beerdigung von Rolfe Kruger. Es war ein grauer Tag, und der Regen prasselte auf die Trauergäste nieder, die sich auf dem Friedhof von Marlborough versammelt hatten. Die letzte Ruhestätte der Stadt wurde vom Pfarrer und den Gemeindemitgliedern gut gepflegt. Das Gras um die Gräber herum war ordentlich geschnitten, ebenso wie die Rosensträucher und die anderen dort stehenden Büsche. Man hatte dafür gesorgt, dass die Grabsteine, wie es im Laufe der Zeit geschah, nicht schief, sondern wie Wachposten in Reih und Glied standen – schweigende, von Flechten überzogene Zeugen für diejenigen, die einst gelebt, geliebt und gelacht hatten und dann verstorben waren.

Angie Dupayne und Carla, die neben ihr stand, hatten die Hände ineinander verflochten, um sich gegenseitig zu stützen. Angie beobachtete insgeheim die vielen stummen Trauernden unter den aufgespannten Schirmen. Obwohl Rolfe ein ziemlich abgeschiedenes Leben geführt hatte, war er im Tal und dem blühenden Weinanbaugebiet hochangesehen, und viele Menschen waren gekommen, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Darauf wäre er bestimmt stolz gewesen.

Ihre Beziehung war mehr gewesen als das übliche Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Verhältnis. Angie hatte sich auf seine Anzeige, in der er eine Winzerin gesucht hatte, gemeldet, und er hatte sie angestellt. Allerdings war er nicht nur von ihren jahrelangen Erfahrungen, die sie in der Weinindustrie in Europa gesammelt hatte, sehr beeindruckt gewesen. In den fünf Jahren, in denen sie für Rolfe gearbeitet hatte, war seine Tochter Carla für Angie wie eine Tochter geworden. Sie war froh darüber, dass sich Carla so gut mit ihr verstand.

Ihr Blick blieb eine Sekunde bei einem der Trauernden, Claude Webster, hängen. Claude war erpicht darauf, die Valley-View-Weinkellerei zu kaufen, weil sie an sein Grundstück grenzte. Er hatte Rolfe schon vor einiger Zeit ein Angebot gemacht, aber ihr Chef, der später ihr Liebhaber und Lebensgefährte wurde, hatte kein Interesse am Verkauf – der Weinanbau war sein Leben. Carla wiederum würde ebenfalls nicht verkaufen wollen. Vielleicht würde sie die Zügel in die Hand nehmen und das Weingut leiten, obwohl sie nur flüchtige Kenntnisse von der Weinherstellung hatte. Carlas Mutter, Gina, hatte Neuseeland verlassen, als Carla zehn Jahre alt gewesen war, und er war allein mit Carla in die Nähe von Marlborough gezogen. Weil Rolfe sein Weingut jedoch nur ungerne verließ, hatte er Carla, nachdem sie geheiratet hatte und an der Ostküste der Südinsel in Christchurch lebte, nicht mehr als zweimal pro Jahr gesehen.

Ihr Blick fiel auf einen gedrungenen, glatzköpfigen Mann – Tom Abernathy, Rolfes Anwalt. Überraschenderweise waren die beiden, obwohl sie ein ungleiches Paar waren, Freunde gewesen, hauptsächlich weil Tom sich für einen Weinkenner hielt. Die beiden hatten sich oft in der Weinkellerei getroffen, um den Wein zu probieren und über die Vorzüge der verschiedenen Jahrgangsweine zu diskutieren. Tom hatte Carla und Angie bereits darüber informiert, dass er Rolfes Testament verlesen würde, sobald sich die Trauergäste nach der traditionellen Tee- und Sandwichzeremonie verabschiedet hatten.

Carla schwankte ein wenig, als der Pastor in monotonem Tonfall die Grabrede hielt. Angie hielt Carlas Hand fest und drückte sie. Die Grabrede war der schlimmste Teil der Beerdigung, weil damit die unwiederbringliche Tatsache verbunden war, dass der geliebte Mensch nicht mehr unter ihnen weilte.

Die arme Carla. Vor etwas mehr als zwei Jahren hatte sie bereits ihren Mann beerdigen müssen. Derek, von Beruf Seemann in der Handelsmarine, war bei einem Schiffsunglück ums Leben gekommen. Sie hatten eine glückliche Ehe geführt, wenn man bedachte, dass er einen Großteil der Zeit nicht zu Hause war. Der Schmerz über seinen Tod hätte sie beinahe zerrissen. Wenn es nicht Sam gegeben hätte… Und jetzt ihr Vater! Da Carlas Mutter in ihrem Geburtsland Italien lebte und von ihrer temperamentvollen Großfamilie nach wie vor vereinnahmt wurde, waren Carla und Sam jetzt ganz alleine. Glücklicherweise hatte ihre Freundin eine Menge Mut. Carla hatte viel Schlimmes überlebt und würde auch dies überleben, dessen war Angie sich sicher. Sie hoffte nur, dass sie ebenfalls irgendwann über den Tod ihres Geliebten hinwegkommen würde. Das würde nicht einfach sein. Aber sie war entschlossen, Carla mit ihrem ganzen Wissen zu helfen, egal was sie mit dem Weingut anstellen würde. Das war das Mindeste, was sie tun konnte. Sie war es Rolfe und seinem Glauben an ihre Fähigkeiten als Winzerin schuldig.

Während der Pastor weiter sprach, betrachteten Angies graue Augen ihre Freundin. Angie war fast fünfzehn Jahre älter als Carla, aber Carla sah noch nicht aus wie siebenundzwanzig – trotz all der Schicksalsschläge, die sie erlitten hatte. Sie hatte rotgoldenes Haar, und ihre Locken bildeten einen hübschen Rahmen für ihr ovales Gesicht, das aufgrund des kantigen Unterkiefers, der ähnlich geformt war wie der von Rolfe, außergewöhnlich wirkte. Angie konnte nicht sagen, dass ihre Freundin in landläufigem Sinne hübsch war, aber sie hatte etwas enorm Apartes und Anziehendes an sich. In ihren dunkelblauen Augen lag eine gewisse Empfindsamkeit, und die Form ihrer Lippen ließ auf ein leidenschaftliches Temperament schließen. Carla war vollbusig und nicht so jungenhaft mager wie Angie. Die Sommersprossen auf Carlas Wangen und ihrer geraden Nase verliehen ihr ein keckes, weniger strenges Aussehen. Angie zog sie regelmäßig damit auf, dass sie nicht gerade ein geeignetes Lehrerinnengesicht habe.

»Es ist bald vorüber«, flüsterte Angie beruhigend in Carlas Ohr. Sie lächelte, als Carla dankbar nickte und schaute dann auf den kleinen rothaarigen Sam hinunter, der mit seinen fünf Jahren nicht so recht wusste, was hier passierte, außer dass er von der Traurigkeit, die überall um ihn herum herrschte, angesteckt wurde. Er sah in seinem Anzug mit der langen Hose sehr erwachsen aus und stand kurz davor, in Tränen auszubrechen. Jedoch bemühte er sich, ein starker Mann zu sein, wie sein Großvater es von ihm erwartet hätte. Daher vergoss er keine Träne.

Wie es für die Südinsel typisch ist, ging der Regen in einen feinen Nieselregen mit kurzen Unterbrechungen über, als die Beerdigungszeremonie sich dem Ende zuneigte. Danach stiegen alle Anwesenden in ihre Autos und fuhren zur anschließenden Beerdigungsfeier.

 

»Sind jetzt alle weg?«, fragte Peter Cruzio, Rolfes Angestellter, der gerade die Küche aufräumte, Angie, die mit einem weiteren Tablett schmutziger Teller und Teetassen hereinkam.

»Fast alle. Webster ist noch da. Er möchte unbedingt noch mit Carla reden, aber sie hat ihm zu verstehen gegeben – und wir beide wissen, dass ein einziger Blick von ihr ausreicht –, dass ›ein Gespräch über das Weingut‹ zu diesem Zeitpunkt völlig unangemessen ist. Das wird Claude jedoch nicht davon abhalten, das Thema anzuschneiden, wenn er meint, dass er daraus einen Vorteil ziehen kann. Der Mann ist ja nicht unbedingt für sein Taktgefühl bekannt.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, für Webster zu arbeiten«, knurrte Peter und schüttelte den Kopf. »Die Erntehelfer sagen, dass er hundsgemein und verdammt brutal ist.«

»Vielleicht kommt es gar nicht so weit. Ich habe schon mit Carla über die finanzielle Lage des Weinguts, Rolfes Überziehungskredit und die Absatzmöglichkeiten für den Wein, den wir soeben geerntet haben, gesprochen. Das Geld könnte eine Zeit lang knapp werden, aber ich hoffe ebenso wie du, dass sie sich dazu entschließt, das Weingut zu behalten.« Sie machte sich daran, das Geschirr abzuwaschen. »Bleibst du noch so lange, bis das Testament verlesen wird?«

»Tom hat mich darum gebeten, als Zeuge sozusagen. Glaub aber bloß nicht, dass Rolfe mir irgendetwas vererbt hat.« Sein kantiges Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. »Ich werde den Kerl wirklich vermissen. Er war zwar ziemlich wortkarg, aber was soll’s? Er hat sich zu Tode geschuftet und jede Minute darauf verwendet, das Weingut aufzubauen. Nach Angaben seines Arztes hat seine Pumpe zum Schluss nicht mehr mitgemacht.«

»Ich weiß. Wir werden ihn alle sehr vermissen«, sagte Angie leise. Peter hatte Recht. Rolfe hatte seine Zeit nicht mit überflüssigem Geschwätz verbracht, selbst dann nicht, wenn er in geselliger Runde war. Seine Gespräche drehten sich einzig und allein um die Reben, die bevorstehende Weinlese und seine künftigen Pläne für Valley View. Außerdem hatte er selten über sein Leben in Australien gesprochen und niemals über seine Kindheit. Daher vermutete sie, dass er irgendein Trauma gehabt haben musste, das er in sein Unterbewusstsein verbannt hatte. Sie wusste jedoch einige persönliche Dinge über ihn – über sein Leben in Italien, wie er Gina begegnet war und sie geheiratet hatte und wie sie nach Neuseeland gezogen waren. Sie war sicher, dass selbst Carla nur wenig über Rolfes Kindheit wusste, weil er sich standhaft geweigert hatte, über die Vergangenheit zu reden.

Carla steckte den Kopf durch die Küchentür. Sie warf Peter und Angie ein schiefes Lächeln zu. »Wenn ihr fertig seid, würde Tom gerne das Testament verlesen. Er meinte, es sei besser, es hier zu tun, damit wir nicht alle in sein Büro kommen müssen.«

»Ich bin gleich so weit«, sagte Angie. Sie spülte sich den Schaum von den Händen und trocknete sie an einem sauberen Geschirrtuch ab. Um Carlas Augen hatten sich Sorgenfalten gebildet, und sie bemühte sich tapfer, die Haltung zu bewahren. Rolfes Tochter gelang es zwar, sich nach außen hin unter Kontrolle zu halten, aber in Wirklichkeit stand sie kurz davor umzukippen.

Tom, Peter, Angie und Carla saßen um den Esszimmertisch. Sam, der an alldem nicht interessiert war, war mit seinem Meccano-Baukasten beschäftigt, den er so liebte und den Rolfe ihm geschenkt hatte.

Tom saß am Kopfende des rechteckiges Tisches. Er fuhr mit der linken Hand über seine Glatze und strich die wenigen Haarsträhnen, die ihm noch geblieben waren, nach hinten, während seine Rechte einen Ordner und andere Dokumente aus einem Attachekoffer nahm und sie auf den Tisch legte.

»Ein trauriger Anlass«, begann er. Dann räusperte er sich und setzte seine Brille auf. »Rolfe und ich waren gute Freunde, und ich werde ihn sehr vermissen, wie wir alle. Und weil wir ihn alle gut kannten, wissen wir, dass er gut organisiert war. Er hat ein einfaches Testament hinterlassen, das vor einem Jahr erneuert wurde, damit daraus klar ersichtlich ist, wer was bekommt.

Da es sich um ein formelles Dokument handelt, bin ich gesetzlich verpflichtet, es ganz vorzulesen. Daher sollten irgendwelche Fragen in diesem Zusammenhang erst nach der Verlesung gestellt werden.«

Carla blinzelte heftig, um die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten. Nicht jetzt. Später kannst du dir die Augen ausheulen, aber zunächst einmal musst du dies durchstehen, redete sie sich gut zu. Das Testament legte unerbittlich Zeugnis davon ab, dass ein geliebter Mensch gestorben war und diese Welt für immer verlassen hatte. Als Derek gestorben war, hatte sie all das schon einmal durchlitten. Nicht, dass ihr verstorbener Mann viel zu vererben gehabt hätte. Außer einigen sentimentalen, wertlosen Schmuckgegenständen, dem Schmuck seiner Mutter und einigen Aktien, die treuhänderisch verwaltet wurden und Sam zustanden, hatte er nichts hinterlassen. Mit der kleinen Pension, die sie aus Dereks Versicherungspolice erhielt, und ihrem Gehalt als Lehrerin kamen sie und Sam gerade mal so über die Runden. Ihr Blick wanderte zu ihrem Sohn, der unbesorgt mit seinem Baukasten spielte. Er war hochkonzentriert, während er Schrauben und Bolzen zusammenbrachte und sie mit dem kindgerechten Schraubenschlüssel befestigte.

Sie wurde nie müde, ihn zu beobachten – wenn er spielte, Fernsehen schaute, schlief. Nach Dereks Tod, der sie für einige Zeit total aus der Bahn geworfen hatte, war das Kind ihre Rettung gewesen. Sam hatte ihr einen festen Halt gegeben und etwas, worauf sie ihre Energie richten konnte. Auch jetzt würde er ihre Rettung sein. Irgendwie würden sie beide daran wachsen und ihre Trauer überwinden. Sie riss sich aus ihrer Versunkenheit und versuchte, sich auf Toms Worte zu konzentrieren, der gerade angefangen hatte, das Testament zu verlesen…

»… ist das Testament von Rolfe Wilfred Kruger, der bei klarem Verstand seiner einzigen Tochter Carla Janine Hunter das folgende Grundstück vererbt…«

Das Weingut. Natürlich, damit hatte sie gerechnet…

»Außerdem vermache ich meiner Tochter ein Landgut, das unter dem Namen Krugerhoff-Weingut bekannt ist, nämlich die Grundstücke Nummer vier, fünf und sechs über zirka sechzehn Hektar, die im Barossa Valley in Südaustralien liegen, wie auf der beigefügten Eigentumsurkunde aufgeführt.«

»Was…?« Carla riss die Augen auf. Sie starrte zunächst Tom an, dann Angie, die mit den Schultern zuckte und geheimnisvoll lächelte, als hätte sie es schon die ganze Zeit über gewusst.

Tom hob die Hand. »Carla, ich möchte erst zu Ende lesen, dann werde ich es dir erklären.« .

Das Testament schloss mit Vermächtnissen an Angie und, zu dessen Überraschung, einem kleinen Vermächtnis an Peter Cruzio.

»Und was hat es mit dieser Barossa-Sache auf sich? Das verstehe ich nicht…« Carla schüttelte den Kopf und legte die Stirn in Falten. Ihr Vater hatte Grundbesitz in Australien? Wieso? Warum…? Er hatte nie darüber gesprochen, sich nie etwas anmerken lassen. Alles, was sie über das Barossa Valley wusste, war, dass es das Weinanbaugebiet überhaupt im ganzen Land war und dass ihr Vater dort aufgewachsen war, bevor er nach Italien gezogen war.

Tom schüttelte den Kopf und seufzte: »Ich habe Rolfe vorgeschlagen, dass er es dir selber sagt, aber er bestand darauf, dass du es erst nach seinem… seinem Tod erfahren solltest…« Er bemerkte den Ausdruck auf Carlas Gesicht und fuhr rasch fort: »Dein Vater war Australier, das weißt du doch, oder? Sein richtiger Name war nicht Kruger, er hat ihn durch einseitige Rechtserklärung im Jahr neunzehnhundertdreiundsechzig ändern lassen. Sein richtiger Name lautete Stenmark.«

»Stenmark«, unterbrach Peter, und seine Stimme war etwas höher als sonst. »Sind das die Stenmarks, die Rhein-Schloss-Stenmarks?«

»Richtig, Rolfe ist, ich meine, war Carl Stenmarks jüngerer Sohn«, erklärte Tom.

Carla blinzelte verblüfft. »Wer sind diese Stenmarks?«

»Die größten Weinbauern im Barossa Valley«, erklärte Peter, der einige Jahre in Südaustralien verbracht hatte und dort alles über den Anbau von Wein gelernt hatte.

Carla kniff die Augen zusammen. »Das heißt… das heißt, dass dieser Carl mein Großvater ist?« Mein Gott. Carl. Carla. Sie war nach ihm benannt worden und hatte es nie gewusst! Verletzt durch das Schweigen ihres Vaters, die verpassten Möglichkeiten, ihre Familie kennen zu lernen, wandte sie sich ab, um die aufkommenden Tränen zu verbergen. Sie hatte einen Großvater und wahrscheinlich noch andere Verwandte, von denen sie nie etwas gewusst hatte, weil… ihr Vater das nicht gewollt hatte. Innerlich kochte sie vor Wut. »Warum hat Dad mir nie etwas davon erzählt? Hat meine Mutter davon gewusst?«

Tom wirkte ein wenig verlegen. »Soweit ich weiß, hatte Gina keine Ahnung. Rolfe sagte, es habe einen, hm, Familienstreit gegeben, und daraufhin hätte ihn sein Vater enterbt. Es ist eine lange Geschichte… und…« Er langte in seinen Attachekoffer und nahm ein längliches Buch mit einem schwarzen Einband daraus hervor, das er über den Tisch in Carlas Richtung schob. »Rolfe wollte, dass du sein – sein Tagebuch haben solltest. Er hat es vor langer Zeit geschrieben. Er hat mir gesagt, dass dort alles drinsteht.«

»Wo genau liegt denn das Grundstück im Barossa Valley?«, fragte Angie, ganz Geschäftsfrau.

»Ich glaube, in der Nähe der Gemeinde Nuriootpa. Dort gibt es einen kleinen Fluss namens Greenock Creek, der zweimal dort hindurchfließt. Das Grundstück liegt etwas abseits des Sturt Highway und in der Nähe von Seppelts’ Weingut.«

»Es muss mehr als vierzig Weinkellereien im Barossa Valley geben. Dieser Krugerhoff – das Land alleine ist bestimmt ein Vermögen wert«, sagte Peter ehrfurchtsvoll.

»Hier sind die Eigentumsurkunde und eine Beschreibung der Gebäude.« Tom reichte Carla einen Plastikumschlag. »Auf Bitte deines Vaters habe ich mich vor drei Monaten mit einem Immobilienmakler dort in Verbindung gesetzt. Er hat den Ort überprüft. Die Gebäude stehen noch, aber viele müssen repariert werden, weil sich über dreißig Jahre fast niemand mehr darum gekümmert hat, und«, er wühlte erneut in seinem Koffer und zog ein Blatt Papier hervor, »merkwürdigerweise wurde mir dieses Blatt zwei Tage nach Rolfes Tod zugefaxt. Ein Angebot von einer Firma im Barossa Valley, falls du verkaufen willst. Nach Aussage des Immobilienmaklers, mit dem ich in Kontakt stehe, ist es ein faires Angebot.«

In Carlas Kopf drehte sich alles. Eigentum im Barossa, Kaufangebote. Außer den Bardolinos in Italien hatte sie noch andere Verwandte. Es war einfach zu viel für sie, besonders wenn sie bedachte, dass ihr Vater erst vor etwa zwei Stunden zu Grabe getragen worden war.

»Darf ich?« Angie sah Carla fragend an, weil sie das Angebot sehen wollte.

Während sie las, formten ihre Lippen ein ›O‹, und sie stieß einen leisen Pfiff aus. »Mein Gott, meinen die das wirklich ernst?« Sie reichte den Brief ihrer Freundin. »Sie bieten dir ein kleines Vermögen an.«

Carlas Augen weiteten sich, als sie die Summe sah, die ein gewisser Luke Michaels von der Michaels Realty Marketing Company ihr anbot. Wenn sie das Grundstück verkaufte, hätte sie keinerlei finanzielle Sorgen mehr. Sie könnte nach Valley View ziehen und den Traum ihres Vaters verwirklichen. Das hatte er sich immer schon von ihr gewünscht. Als Derek noch lebte, war ein solcher Schritt nicht möglich gewesen. Ihr verstorbener Mann hatte kein Interesse an Weinbergen gehabt, und sie waren in Christchurch geblieben, damit Derek in der Nähe seines geliebten Meeres sein konnte. Carla war eine richtige Landratte und hatte Dereks Leidenschaft für das Meer nie verstanden, aber dennoch respektiert.

»Wirst du Krugerhoff verkaufen?«, fragte Peter neugierig.

»Ich werde keine übereilte Entscheidung treffen und alles genau durchdenken. Vielleicht fahre ich sogar ins Barossa, um mir das Ganze einmal anzusehen.«

»Aber warum?«, wollte Tom wissen. In Carlas Blick lag eine eiserne Entschlossenheit. Sie war das Ebenbild ihres Vaters, der den gleichen Gesichtsausdruck hatte, wenn er sich zu etwas entschlossen hatte.

»Du hast mir doch gerade erzählt, dass ich Verwandte dort habe, Tom. Ich würde sie gerne kennenlernen und möchte auch, dass Sam die Möglichkeit dazu hat, egal ob Dad das schwarze Schaf der Familie war. Australien ist wesentlich näher als Italien, und es ist viel preiswerter, dorthin zu fliegen. Aber bevor ich eine Entscheidung treffe, möchte ich das Tagebuch meines Vaters lesen.«

 

Carla zog das extra lange T-Shirt an, das Derek gehört hatte. Auf dem Nachttisch lag das Tagebuch ihres Vaters. Es war umfangreich – über zweihundert Seiten, beschrieben mit der ordentlichen Handschrift ihres Vaters. Einige Sekunden lang war sie versucht, es aufzuschlagen, aber ihr Herz war nicht bei der Sache. Die Ereignisse des Tages hatten sie zu sehr ausgelaugt, um sich auf den Inhalt konzentrieren zu können. Morgen würde sie es als Erstes in Angriff nehmen.

Sie gähnte und blickte zu Sam hinüber, der in dem anderen Bett lag und schlief. Sie nahm ihm den Daumen aus dem Mund, eine Angewohnheit aus Babytagen, und strich ihm das glatte rötliche Haar aus dem Gesicht, bevor sie die Bettdecke über seine Schultern zog. Er schlief stets sehr unruhig und hatte die Angewohnheit, die Decke nachts herunterzuwerfen.

Heute war er trotz all der für ihn unverständlichen Ereignisse sehr brav gewesen. Er hatte ihr sogar beim Auftragen des Essens geholfen und war zu allen höflich gewesen. Er war ein tapferer kleiner Bursche. Ihr Vater wäre stolz auf ihn gewesen. Aber es war neben allem anderen sehr traurig, dass er nun keine einzige männliche Bezugsperson mehr hatte.

»Ich werde für dich kämpfen, Sam, das verspreche ich dir, mein Sohn«, flüsterte Carla. »Eines Tages wirst du das Beste von allem haben und hoffentlich noch viele andere Familienmitglieder, die dich lieben…«

2

Der Morgen dämmerte heran und erhellte das spartanisch möblierte Zimmer, als Carla aufwachte. Sie hatte merkwürdige, beunruhigende Träume gehabt und würde weder Ruhe finden noch in der Lage sein, irgendeine Entscheidung zu treffen, ehe sie nicht das Tagebuch ihres Vaters gelesen hatte. Sie fröstelte, als sie aus dem Bett kletterte, denn die Morgenluft war extrem kühl. Sie zog den Morgenmantel eng um sich und bemerkte, dass Sam noch fest schlief. Sie nahm das Tagebuch und ging auf Zehenspitzen über den polierten Holzboden ins Wohnzimmer.

Ihr Vater und Angie hielten das Haus tipptopp in Ordnung. Es war zweckmäßig eingerichtet und nur mit wenigen Dekorationsstücken geschmückt. Seine einzige Konzession an ›Unordnung‹ war ein kleiner runder Tisch, auf dem mehrere Fotos standen. Zum Beispiel ein Familienfoto – sie gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem Vater. Ein Mitreisender hatte es aufgenommen, als sie in Auckland von Bord des Schiffes gingen, das sie in Italien bestiegen hatten. Neben dem Foto standen ein Hochzeitsfoto von ihr und Derek sowie einige Fotos von Sam in verschiedenen Altersphasen. Dann fiel ihr etwas auf, das vorher für sie nie von Bedeutung gewesen war. Es gab keine Fotos, die vor 1972 aufgenommen worden waren.

Sie nahm das Foto, auf dem ihre dunkelhaarige Mutter abgebildet war, in die Hand. Gina Bardolino-Kruger war ausgesprochen hübsch gewesen, war es vermutlich heute noch. Mit wehmütigem Gesichtsausdruck zeichnete Carla mit dem Nagel ihres Zeigefingers ihre Umrisse nach, denn sie hatte sie seit mehreren Jahren nicht mehr gesehen. Gina war es nie gelungen, sich an das Leben in Neuseeland zu gewöhnen. Sie hatte Verständigungsschwierigkeiten gehabt, obwohl sie sich einigermaßen in Englisch ausdrücken konnte. Klimatische Unterschiede zwischen dem heiteren Norditalien und dem oft eisigen Valley View sowie die allmähliche Entfernung von Rolfe hatten dazu beigetragen, dass sich ihre einstmals fröhliche Mutter im Laufe der Jahre in eine traurige Frau verwandelt hatte, die ständig darüber klagte, dass sie ihr Leben und ihre Familie in Italien vermisste. Mit der Zeit hasste sie ihre Ehe und alles, was damit zusammenhing.

Sie gab Rolfe die alleinige Schuld, liebte aber Carla über alle Maßen.

Als Verkäuferin in einem Modegeschäft für Damen hatte Gina gut verdient und genug gespart, um nach Vicenza in der Nähe von Venedig reisen zu können und dort mit ihrer Tochter einen dreimonatigen Urlaub bei der Familie zu verbringen. Carla konnte sich daran kaum noch erinnern. Gina blieb in Italien und hatte ihre Tochter nur einmal danach in Christchurch besucht – und zwar nach Sams Geburt.

In den folgenden Jahren, während Sam heranwuchs, war die Beziehung zwischen Mutter und Tochter aufgrund der großen Entfernung und der Tatsache, dass Gina sich um ihre Familie kümmerte und Carla nach Dereks Tod ihren Beruf als Lehrerin wieder aufgenommen hatte, weiter abgeflaut. Sie riefen sich jedoch zweimal im Monat an, und Carla schrieb ihrer Mutter manchmal einen langen Brief. Carla bedauerte die große Entfernung, die zwischen ihnen lag und die ihr einst sehr zu schaffen gemacht hatte. Aber sie war reif genug, um zu begreifen, warum es geschehen war, obwohl es für Sam schön gewesen wäre, wenn er seine Großmutter mütterlicherseits besser kennengelernt hätte.

Carla legte das Foto beiseite und setzte sich in Rolfes Lieblingssessel, der immer noch an derselben Stelle stand. Von dort konnte er durch das Wohnzimmerfenster auf die Rebstöcke schauen. Während sie sich hinsetzte, knarzte das abgewetzte Leder unter ihrem Gewicht. Sie zog die Beine unter sich, um ihre nackten Füße zu wärmen, öffnete das Tagebuch und… fand auf der ersten Seite eine zusammengefaltete Notiz. Sie faltete sie auseinander und erkannte die Schrift ihres Vaters. In ihrer Kehle bildete sich ein Kloß. Er hatte die Notiz in dem Wissen geschrieben, dass sie sie erst nach seinem Tod lesen würde.

 

Liebe Carla,

verzeih mir, dass ich mich wie ein Feigling benommen habe und dir zu Lebzeiten nichts von meiner Vergangenheit erzählt habe. Die Erinnerung war einfach zu schmerzhaft für mich, und ich hoffe, du wirst das verstehen und mir verzeihen.

In Liebe, dein Dad.

 

Sie faltete die Notiz wieder zusammen, steckte sie in die Tasche ihres Morgenmantels und schaute auf das Datum in der oberen rechten Ecke des Tagebuchs. Dienstag, 3. Januar 1962 … Ihr Vater, der im Februar geboren war, war vierundzwanzig Jahre alt gewesen, als er dem Tagebuch seine Gedanken anvertraut hatte. Bevor sie anfing zu lesen, blätterte sie die Seiten durch, von denen viele Eselsohren und Flecken von Essensresten oder Flüssigkeiten aufwiesen – ein Beweis dafür, dass sie in den letzten dreißig Jahren viele Male durchgeblättert und gelesen worden waren.

Sie begann zu lesen und versuchte sich bildlich vorzustellen, was ihr Vater vor so langer Zeit geschrieben hatte…

 

Im Haus der Stenmarks herrschte eine Menge Trubel. Papa als Haushaltsvorstand hatte die Haushälterin Lilly angewiesen, jedes Zimmer in dem zweistöckigen Haus mit den fünfzehn Zimmern gründlich sauber zu machen und herzurichten, bevor Rolfes älterer Bruder Kurt und dessen deutsche Verlobte, Marta Gronow, ankamen. Greta Michaels, seine ältere Schwester, war in heller Aufregung. Ihr Mann John und ihr dreijähriger Sohn Luke wohnten seit dem Tod ihrer Mutter vor drei Jahren in Stenhaus, und Greta hatte die Rolle der Gastgeberin übernommen. Sie gab sich große Mühe, denn sie wollte, dass alles perfekt war – Papa hatte gesagt, dass es so sein musste. Außerdem wollte sie Marta beeindrucken, die aus einer wohlhabenden deutschen Familie mit Grafen und Gräfinnen stammte.

Lisel Stenmark, die Jüngste der Stenmarks, war zehn Jahre alt und wie üblich sehr altklug. Seit dem Tod der Mutter hatte Papa sie über alle Maßen verwöhnt, und fast immer bekam sie ihren Willen. Da alle mit den Vorbereitungen für Kurts Rückkehr beschäftigt waren, lief sie vor und nach dem Schulunterricht mit verdrossenem Gesicht in der Gegend herum und schmollte, weil alle, einschließlich Papa, zu beschäftigt waren, um ihr die gewohnte Aufmerksamkeit zu schenken, die sie von ihnen verlangte.

Rolfe seinerseits war froh, bei dem ganzen Durcheinander eine berechtigte Ausrede dafür zu haben, dass er den ganzen Tag fort war. Von morgens bis abends kümmerte er sich auf Krugerhoff um die Rebstöcke, die jetzt fast reif waren und voller Weintrauben hingen. Zwei Arbeiter, Otto und Ernst, halfen ihm. Nach der Lese in diesem Sommer würde Rolfe den ersten Jahrgangswein abfüllen, der ein sehr guter zu werden versprach.

Ich weiß, dass Papa sauer auf mich ist, obwohl er versucht, es zu verbergen, dachte Rolfe, während er, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe zu dem kürzlich erstandenen Holden-Versorgungsbetrieb hinunterlief. Papas unzufriedener Gesichtsausdruck heute Morgen beim Frühstück gab ihm eindeutig zu verstehen, dass Rolfe für Rhein-Schloss, das Weingut der Familie, arbeiten sollte, und nicht auf seinem eigenen Weingut. Papas Missfallen und das Bewusstsein, dass er nicht der Sohn war, der Papas Wünsche erfüllte und obendrein zu vielen Themen seine eigenen Ansichten vertrat, waren etwas, mit dem er – ebenso wie sein Vater – sich abfinden musste.

Papa Carl Stenmark war ein Mann der alten Schule. Die Familie hatte Deutschland im späten 19. Jahrhundert verlassen und war nach Australien übergesiedelt. Papa war genauso autokratisch wie Rolfes verstorbener Großvater Wilfred, obwohl Carl die meiste Zeit ein gütiger Tyrann war.

Die Mutter – möge ihre Seele in Frieden ruhen – hatte das Richtige getan und ihrem Sohn 16 Hektar Land vererbt und genug Geld, damit er sein eigenes Weingut erstehen konnte. Eines Tages würde Kurt, der um zwei Jahre ältere Sohn der Familie, sowieso ganz Rhein-Schloss erben. Rolfe wusste das seit seinen Teenagerjahren. Deshalb war es lebenswichtig für ihn, sein eigenes Weingut zu kultivieren und zu entwickeln, um – unter anderem – Papa und Kurt zu beweisen, dass er unabhängig sein konnte und es auch sein würde.

Die Planung des Krugerhoff-Weingutes, das nach dem Mädchennamen seiner Mutter benannt war, war die schwierigste und verantwortungsvollste Aufgabe in seinem Leben gewesen. Obwohl Papa ihn nie gelobt oder irgendein Interesse gezeigt hatte, glaubte Rolfe – wahrscheinlich, weil er es unbedingt wollte –, dass Carl dennoch ein wenig stolz auf ihn war, nachdem er mit enormer Eigeninitiative einiges geschafft hatte. Greta und ihr Mann John lobten ihn sehr für seine Bemühungen. Dies hatte ihm genug Selbstvertrauen gegeben, um weiterzumachen, obwohl er verschiedene Male an seinen eigenen Fähigkeiten gezweifelt hatte. Für diese Rückenstärkung war er Greta und seinem Schwager wirklich dankbar.

 

Carla stieß einen Seufzer aus und schaute von dem Tagebuch auf. Zu lesen, was ihr Vater vor so vielen Jahren geschrieben hatte, seine Gedanken über sich selbst und seine Familie kennen zu lernen, war eine merkwürdige Erfahrung. Aus den wenigen Seiten, die sie erst gelesen hatte, war bereits der Mann ersichtlich, der er werden sollte, der Vater, den sie so geliebt hatte. Aber sie wollte sich Zeit lassen und nicht zu flüchtig lesen, um das, was zwischen der Zeilen stand, zu verstehen, seine Gefühle zu begreifen, seine Unsicherheit, die Tatsache, dass er sich vor seinem Vater beweisen wollte, etwas, das er offensichtlich sein Leben lang getan hatte.

Allein die Tatsache, dass sie sich an den Nachnamen ihres Vaters, Stenmark, gewöhnen musste, war ein Abenteuer. Genauso wie die Vorstellung, dass sie in Australien einen Großvater, einen Onkel Kurt, zwei Tanten, Greta und Lisel, und einen Cousin, Luke, hatte. Die Ausdrucksweise ihres Vaters war ein wenig altmodisch, weil er das Tagebuch vor über dreißig Jahren geschrieben hatte, also als junger Mann. Die förmliche Schreibweise, das Gefühl, dass die Stenmarks sich nach wie vor an das hielten, was sie in Deutschland gelernt hatten und was durch spätere Generationen vererbt worden war, ließ sie an etwas denken, was Angie, die im Barossa Valley am College alles über den Weinanbau gelernt hatte, ihr erzählt hatte. Das Tal war zunächst von deutschen Einwanderern besiedelt worden, irgendwann Ende 1840, und bis nach dem Zweiten Weltkrieg hatten einige Familien, die dort lebten, nur wenig oder gar kein Englisch gesprochen.

Ihr Blick fiel erneut auf die ordentliche Handschrift.

 

Gestern Nachmittag, bevor er nach Hause ging, hatte Rolfe an der Hintertür des Cottages gestanden, um einen Blick auf die Rebstöcke zu werfen, was ihm ein gutes Gefühl gab. Die Arbeiten an dem mit Zement verputzten Cottage waren beendet, und es konnte jetzt bezogen werden. Ein paar Möbel waren dort bereits untergebracht – in einem der drei Schlafzimmer standen ein Bett, ein Holztisch und vier Stühle, und ein großer Stuhl stand am Kamin –, falls er sich dazu entschließen sollte, eines Tages von zu Hause auszuziehen. Er musste grinsen, wenn er an Greta dachte, die überall im Haus Schnickschnack und Nippes aufstellen würde, um die Räume wohnlicher zu gestalten.

Es war eine gewaltige Aufgabe gewesen, das Cottage zu bauen und in weniger als drei Jahren ein Weingut anzulegen. Aber jetzt war über die Hälfte der Anbaufläche mit Spalieren versehen worden, und die Reben befanden sich in verschiedenen Stadien des Wachstums. Einige Weinstöcke waren noch nicht reif genug, um Früchte zu tragen, und brauchten noch ein oder zwei Jahre. Aber er war mit dem, was er geleistet hatte, nicht gerade unzufrieden.

Würde Kurt beeindruckt sein, wenn er sah, was sein Bruder geschaffen hatte? In Kurts Briefen an Papa hatte er sich damit gerühmt, dass er an der Universität Heidelberg eine Menge über die Herstellung von Wein gelernt habe. Dort hatte er auch Marta, eine Kunststudentin, kennengelernt, und seiner Meinung nach war sie die ›schönste Frau auf der ganzen Welt‹. In seinen letzten Briefen an Papa hatte er die Frau, die er heiraten wollte, mit Lob überschüttet. Er schrieb, Marta sei ein Ausbund an Tugend und besitze mehr positive Eigenschaften, als Kurt zu Papier bringen könne.

Die schwärmerischen, blumenreichen Sätze seines Bruders brachten Rolfe zum Prusten, aber er wusste, dass Papa hocherfreut war. Sein ältester Sohn heiratete und würde irgendwann den künftigen Erben von Rhein-Schloss zeugen.

Papa war altmodisch in seinem Denken und bestand darauf, dass die Familiengeschäfte stets vom ältesten Sohn auf dessen ältesten Sohn übergehen sollten, wie zuvor in Deutschland. So war es schon seit Jahrhunderten Tradition. Damals hatten die Stenmarks mit anderen Leuten auf engen Weinbergen an der Mosel zusammengelebt, wo der kleinere Fluss in den mächtigen Rhein mündete. Sein Urgroßvater, Fritz Steinmarch, der vierte Sohn von Johann Steinmarch, hatte bereits von Kindheit an gewusst, dass er die Weinstöcke, um die er sich voller Hingabe mit seinen älteren Brüdern kümmerte, nie besitzen würde. Als er erfahren hatte, dass in Australien eine Menge Land zu einem lächerlich niedrigen Preis besiedelt wurde, packte er seine gesamte Habe und einige Ableger von Reben, nahm seine schwangere Frau Gretchen, verabschiedete sich von seiner Familie und fuhr mit dem Schiff in das fremde Land, um dort sein Glück zu suchen.

Das Barossa Valley, das etwa hundert Kilometer von der Kleinstadt Adelaide entfernt war, hatte Fritz’ Erwartungen bei weitem übertroffen. Innerhalb von fünf Jahren hatten er, Gretchen und ihre beiden Kinder Wilfred und Gerda mit dem Anbau von Weintrauben so viel Geld verdient, dass sie das Grundstück kaufen und ihr erstes Steinhaus darauf errichten konnten, aus dem schließlich das erste Weingut von Rhein-Schloss wurde. Rolfe kannte die Familiengeschichte in- und auswendig, da er sie seit seiner Kindheit ständig gehört hatte.

Rolfe lachte erneut in sich hinein. Es geschähe Papa und seinen altmodischen Ansichten recht, wenn Kurt und Marta eine Menge Töchter und keinen Sohn kriegen würden. Aber das war aus historischer Sicht gesehen eher unwahrscheinlich. Den Stenmarks war es, soweit er sich erinnern konnte, im Laufe der Generationen zuverlässig gelungen, mindestens einen männlichen Erben zu zeugen, um das Geschäft und den Namen der Familie weiterzugeben. Ein weiterer Grund für ihn, Krugerhoff auszubauen. Ein kleineres, erfolgreiches Weingut würde seine Zukunft im Valley garantieren, und irgendwann, so Gott wollte, würde er seine eigene Stenmark-Dynastie gründen.

 

Es war Freitag, der Tag, an dem Kurt und Marta erwartet wurden. Alle außer Rolfe waren in Stenhaus – so hieß das Haus der Familie, das Carl für seine Frau Anna Louise vor einigen Jahren errichtet hatte – und warteten auf sie.