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Informationen zum Buch

Die junge, erfolgreiche Architektin Francey Spinetti erhält die Chance ihres Lebens: einer der wohlhabendsten Männer Australiens, der gutaussehende Geschäftsmann CJ Ambrose bietet ihr in seinem riesigen Geschäftsimperium im Norden Queenslands einen Job an. CJ und Francey verstehen sich auf Anhieb und die Arbeit stellt sich als Glücksgriff heraus, was die Ambrose-Familie mit Misstrauen beobachtet. Als Francey dann noch Sergeant Steve Parrish kennenlernt scheint auch in der Liebe das Glück perfekt. Doch ihre junge Beziehung ist von Anfang an Intrigen und Missverständnissen ausgesetzt. Als dann auch noch ein Mord geschieht, spitzt sich die Lage dramatisch zu. Und Steve und Francey müssen einmal mehr um ihr Glück kämpfen...

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Lynne Wilding

Das Herz
der roten Erde

Roman

Deutsch von Uta Hege

Inhaltsübersicht

Über Lynne Wilding

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Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Epilog

Impressum

Prolog

Der Reiter saß aufrecht auf dem Rücken eines dunkelbraunen Pferdes und blickte abwartend von der westlichen Hügelkette in das frühmorgendliche Dunkel. Zum Schutz vor der Kälte hatte er den Kragen seiner Jacke hochgeschlagen, und der wettergegerbte, breitkrempige Hut saß ihm so tief wie möglich in der Stirn.

Unten im Tal bewegten sich die Rinder, und ihr sanftes Muhen mischte sich mit den Weckrufen einer Schar weißer Kakadus. Links des schlammigen Wasserlochs grasten zwei graue Kängurus, und rechts davon rührte ein dunkelhäutiger Viehtreiber in der Glut, die vom Feuer des Vorabends übrig war. Nach einer Weile stieg ein dünner Rauchfaden gen Himmel, wo er im ersten Dämmerlicht verflog. Ein zweiter Mann in einer lohbraunen Lederhose, einem karierten Hemd und einem roten Halstuch löste die Fußfessel von seinem Pferd und legte ihm den Sattel auf den Rücken, um mit dem Viehtrieb zu beginnen, solange man die Temperaturen noch ertrug.

Bisher lief alles genau nach Zeitplan, überlegte Richard Ambrose, während er seinem Pferd das Zaumzeug über die Ohren streifte. Ginge es so weiter, wären sie auf alle Fälle pünktlich mit der Herde dort, wo sie auf den Road Train geladen werden sollte, und hätten im Anschluss einen ganzen Tag und eine ganze Nacht, um sich von der Anstrengung des Viehtriebs zu erholen.

Oben auf der Kuppe verfolgte der Reiter, wie die Sonne langsam hinter der östlichen Hügelkette aufging. Strahlen goldenen Lichts stahlen sich wie ausgestreckte Finger über die felsigen Ausläufer der Berge, die teilweise über einen Meter hohen Termitenhügel, die struppigen Spinifexgräser und tauchten die Erde in ein lebloses, fahles Rot. Das Land behielte diese Farbe, bis der ersehnte Regen käme, der leider nicht jedes Jahr kam. Dann würde die Umgebung auf wundersame Weise für kurze Zeit von einem leuchtend grünen Teppich überzogen, der mit unzähligen, farbenfrohen Wildblumen gesprenkelt war.

Richard, ein großer Mann, dem das Haar bis in die Augen fiel, kehrte ans Feuer zurück und hockte sich dort auf die Fersen. Billy Wontow, der Viehhüter von den Aborigines, reichte ihm einen Becher mit dampfend heißem Tee und eine dicke, über dem offenen Feuer geröstete, großzügig mit Himbeermarmelade bestrichene Scheibe Brot.

Während Richard in das Brot biss und den Happen mit einem Schluck des kochend heißen schwarzen Tees hinunterspülte, dachte er darüber nach, dass sich sein Vater freuen würde, weil es ihnen gelungen war, die über hundertfünfzig Rinder zusammenzutreiben. Er biss noch mal in seinen Toast. Ihr Lebensmittelvorrat war bis auf das absolut Notwendige geschrumpft. Trotzdem würde es auf alle Fälle reichen, um Mount Isa zu erreichen, ohne dass sie allzu großer Hunger überkam.

Kopfschüttelnd dachte er an seine Tante Shellie. Sie wusste, wie ein Fresspaket auszusehen hatte – aber wie sagte sie doch immer und hob dabei, um ihre Worte noch zu unterstreichen, mahnend einen Finger: Man teilte sich das Essen trotzdem besser ein. Wenn sie alles zu schnell hinunterschlangen, war es ihre eigene Schuld. Das hatte Richard in den vier Jahren, seit er Rinder auf Murrundi Downs zusammentrieb, nur ein einziges Mal getan. Zwei Tage nur mit ungesüßtem schwarzem Tee hatten ihn gelehrt, dass es immer besser war, wenn man den Verstand und nicht den Bauch regieren ließ.

Mit wegen des morgendlichen Dämmerns und des Rauchs zusammengekniffenen Augen blickte er auf Billy. Der Aborigine war in der Lage, selbst im Busch immer genug Essen aufzutreiben, nur dass einiges davon für Richard einfach ungenießbar war.

»Was gäbe ich nicht alles für ein anständiges Frühstück. Würstchen, Eier, Schinken. Frisch gebrühter Kaffee«, meinte er mit wehmütiger Stimme.

»Sicher, Boss. Warten Sie, bis wir erst in der Stadt sind. Dann genehmigen wir uns ein riesengroßes, saftiges Rumpsteak, Spiegeleier und Pommes frites.«

»Halt bloß die Klappe, du gemeiner Kerl.«

Grinsend trank Billy einen Schluck von seinem Tee. Er wusste, dass der junge Boss genauso gerne aß wie sein alter Herr CJ.

Hoch oben auf dem Hügel stellte der Reiter sich in die Steigbügel des Pferdes, weil er auf diese Weise über die Mulgabüsche, die ihm zum Teil die Sicht versperrten, einen besseren Ausblick auf das Lager und die Viehherde hatte. Inzwischen waren alle Tiere aufgestanden und trotteten gemächlich in Richtung des Wasserlochs. Er legte seine Hand, die in einem Handschuh steckte, um den Griff eines Gewehrs, zog es aus dem ledernen Futteral, hielt es Richtung Himmel und stützte den Knauf auf seinem linken Oberschenkel ab. Dann legte er den Zeigefinger auf den Abzug. Und drückte langsam ab.

Wie ein lauter Donner durchbrach der Schuss die morgendliche Stille.

Der Rückschlag drückte das Gewehr schmerzhaft in das Bein des Reiters, und das Pferd fing unruhig an zu tänzeln, bis der Reiter durch kurzes Rucken an den Zügeln und verstärkten Druck in seine Flanken wieder die Kontrolle über das Tier bekam. Er betätigte das Schloss, und die leere Hülse fiel heraus.

Als ein zweiter Schuss die Luft zerriss, gerieten die Rinder in Panik und stürmten los.

»Scheiße!« Richard Ambrose warf seinen Teebecher ins Feuer und stürzte zu seinem Pferd. »Das sind bestimmt Touristen auf der Jagd nach Schweinen oder Kängurus. Verdammte Idioten!« Er schnappte sich die Zügel und schwang sich in den Sattel. »Billy«, brüllte er, »ich werde versuchen, sie beim Wasserloch zum Umdrehen zu bewegen. Reite du nach links und guck, ob du die Tiere dazu bringst, langsamer zu werden.«

Richard riss einmal heftig am Zügel, trieb dem Pferd die Fersen in die Seiten und galoppierte los.

Sein Herz fing an zu rasen, als er das wilde Durcheinander der aus Brahmans und Texas Shorthorns gekreuzten Rinder sah, die von seinem Vater der harten Bedingungen im Norden wegen gezielt gezüchtet worden waren. Ihre verdrehten Augen zeigten deutlich, welche Hysterie unter den dicht aneinander gedrängt davonstürmenden Tieren infolge der Schüsse ausgebrochen war.

Richard wusste aus Erfahrung, dass er sie wahrscheinlich nicht daran hindern könnte, den Tümpel zu durchqueren. Wenn er und Billy sie nicht schnell unter Kontrolle brächten, liefen sie in alle Richtungen davon und hielten frühestens nach ein paar Kilometern wieder an. Dann könnten sie sie garantiert nicht mehr rechtzeitig zusammentreiben, um den Road Train noch zu erreichen, dachte er erbost. Er griff nach seiner Peitsche, rollte sie auseinander, ohne dabei langsamer zu werden, und schwang sie, während er aus Leibeskräften brüllte, mit einer flüssigen Bewegung durch die Luft. Es müsste ihm gelingen, den Tieren seinen Willen aufzuzwingen und sie zur Umkehr zu bewegen. Doch…

… abermals krachte ein Schuss.

Der Reiter fluchte, als die Kugel nicht besonders weit von ihm entfernt in einem Eukalyptusbaum stecken blieb.

Richard hatte nicht mal Zeit zum Fluchen. Ein Drittel der Herde änderte abermals die Richtung. Wolken trockenen, roten Staubs stiegen ihm in Mund und Nase, und er zog schnell sein Tuch vor das Gesicht. Seine blauen Augen blickten suchend über die Rinder hinweg, doch aufgrund des Höllenlärms, den die Tiere machten, und des noch immer herumwirbelnden Staubs war Billy weder zu hören noch zu sehen. Doch er hatte Vertrauen zu dem Aborigine. Billy wusste, was zu tun war, er kannte seinen Job.

Eins der verschreckten Tiere löste sich von der Herde, und ein halbes Dutzend Rinder stürmten ihm blindlings hinterher. Richard riss sein Pferd herum und spürte, wie unter ihm der Sattel leicht ins Rutschen kam.

Da er aus dem Gleichgewicht geriet, packte Richard die Mähne seines Tieres und krallte sich verzweifelt darin fest, während er versuchte, nicht von seinem Rücken zu rutschen. Aus dem Augenwinkel sah er, dass der Leitbulle gesenkten Kopfes seitlich auf ihn zugeschossen kam, ehe er dem Pferd die Hörner in die Flanken stieß. Wieder verlor Richard die Balance und stürzte in den Staub. Das Letzte, was er mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen sah, waren die schaumtriefenden Mäuler, die panisch verdrehten Augen und die fliegenden, staubverkrusteten Hufe der tonnenschweren Rinder, denen auszuweichen ihm völlig unmöglich war.

Oben auf dem Hügel steckte der Reiter das Gewehr zurück ins Futteral und blickte durch ein starkes Fernglas, bis das leuchtend rote Halstuch nicht mehr zu sehen war.

Ein zufriedenes Lächeln umspielte seine trockenen Lippen, er wendete sein Pferd und ließ das Szenario der Zerstörung hinter sich zurück.

 

Am 3. März 1996 wurde Richard Michael Ambrose, fünfundzwanzig Jahre alt und Erbe von CJ Ambroses beachtlichem Vermögen, neben seiner Mutter Brenda de Witt-Ambrose in der auf der Rinderfarm Murrundi Downs gelegenen Familiengrabstätte beigesetzt.

CJ stand trockenen Auges und mit gestrafften Schultern abseits von den anderen vor dem offenen Grab. Über zweihundert Gäste waren zu der Beerdigung gekommen, denn Michael war der Sohn des Mannes gewesen, von dem überall in Queensland, nicht immer voller Zuneigung, behauptet wurde, er hätte ein goldenes Händchen. Dieses Etikett haftete ihm bereits seit Jahren an, weil ihm jedes Vorhaben, das er in Angriff nahm, Geld einbrachte – jede Menge Geld.

Auch nach der Beerdigung während des im Garten des modernen Farmhauses stattfindenden Leichenschmauses ließen die Menschen ihn in Ruhe. CJ, der es barbarisch fand, dass man sich nach der Bestattung eines geliebten Menschen beherrscht und freundlich unter die Gäste mischen sollte, zog sich in sein Büro zurück und verriegelte die Tür. Er wusste, dass Shellie, seine Schwester, Natalie, die Tochter aus der ersten Ehe seiner Frau, und seine rechte Hand Les Westcott ihn würdevoll vertraten. Außerdem trauerte sowieso höchstens die Hälfte der Leute, die erschienen waren, wirklich um seinen toten Sohn. Viele hatten sich allein aus dem Grund blicken lassen, weil sie meinten, dass es sich gehörte und weil sie die Hoffnung hegten, dass es Eindruck auf ihn machte, wenn er sie hier sah.

Er ließ sich schwerfällig in seinen Ledersessel sinken und versuchte wie in jedem wachen Augenblick, seit er von Richards Tod erfahren hatte, das Ganze zu verstehen. Ein verdammter Unfall hatte den Menschen getötet, den er mehr geliebt hatte als sein eigenes Leben. Bei diesem Gedanken umspielte ein verbittertes Grinsen seinen Mund.

Einige seiner so genannten Freunde und Geschäftspartner hielten ihn für unfähig, irgendjemanden zu lieben. Sie sahen ihn so, wie sie ihn sehen wollten. Als einen Mann, der ohne jede Gnade jeden vernichtete oder zumindest überrumpelte, der mit seinen Plänen oder Geschäftsvorhaben nicht einverstanden war. Richard aber hatte er, auch wenn er es nicht immer hatte zeigen können, bedingungslos geliebt. Sein Sohn war für ihn wie ein Sonnenstrahl gewesen, er hatte für ihn immer all das verkörpert, was es in einer verrückten, manchmal inakzeptablen Welt an Positivem gab.

Ein Gefühl der Leere machte sich in ihm breit, als er daran dachte, dass er sich an eine Welt gewöhnen müsste, in der es seinen Jungen nicht mehr gab. Richard war auf dem besten Weg gewesen, das komplexe, ausgedehnte Firmenimperium zu verstehen, das in gerade einmal sechsundzwanzig Jahren von CJ im hohen Norden geschaffen worden war. Er hätte die Fähigkeit besessen, in seine Fußstapfen zu treten. Zugegeben, er war nicht perfekt gewesen, hatte nicht denselben Killerinstinkt wie er selbst gehabt, aber er war ein guter Sohn gewesen. Intelligent, arbeitseifrig, wissbegierig. Und sie hatten sich verstanden. Sie hatten sich wirklich gut verstanden. Was sich von ihm und seiner Adoptivtochter auch nach all den Jahren des Zusammenlebens nicht behaupten ließ. Irgendwas an Natalie rief auch nach all der Zeit noch ein leichtes Unbehagen in ihm wach.

Er blickte sich mit blauen Augen, die ein wenig heller, doch genauso leuchtend wie die von Richard waren, in seinem Arbeitszimmer um und atmete tief ein. Der Raum, sein ganz persönliches Refugium, war erfüllt von einem angenehmen Duft. Einer Mischung aus Möbelpolitur, Zigarrenrauch und dem leichten Mief der unzähligen dicken, intellektuellen Bücher, die man in den Regalen stehen sah. Nicht, dass er auch nur eins davon jemals gelesen hätte. Er packte lieber zu, schloss Verträge ab, verdiente Geld. Doch jeder, der mit ihm Geschäfte machte, war beeindruckt, wenn er all die schlauen Bücher sah.

Seine Schwester hatte sämtliche Fotos seines Sohnes aus dem Raum entfernt. Zur Hölle mit dem Weib. Immer mischte sie sich in alles ein. Wahrscheinlich dachte sie, sie mache es ihm leichter. Doch er würde ihr sagen, dass sie die Bilder an ihre Plätze zurückstellen sollte, obwohl er sicher wusste, dass es schmerzlich für ihn wäre, sie sich anzusehen. Gleichzeitig jedoch riefe der Schmerz um seinen Jungen nicht nur ein Bewusstsein seiner eigenen Lebendigkeit in seinem Innern wach, sondern betäubte die Gefühle des Verlusts und der Verzweiflung, denen er nach Richards Tod anheim gefallen war. Gütiger Himmel, er durfte nicht zulassen, dass die anderen Menschen etwas davon merkten. Dann würden sie denken, dass er am Ende war, und würden ganz bestimmt versuchen, ihn bei Geschäften über den Tisch zu ziehen.

Mit einem abgrundtiefen Seufzer lehnte sich CJ zurück und saß dann vollkommen still. Wenn er sich nicht bewegte, hielte er den Schmerz vielleicht ein wenig besser aus. Einen Schmerz, der durch seine Muskeln, seine Adern in sein Herz und sein Gehirn zu fließen schien.

Richard. Er schrie lautlos seinen Namen. Leere. Weg. Für immer. Wie ein Mantra gingen diese Worte ihm durch den Kopf.

Er schloss die Augen und gab sich den Erinnerungen hin. Der Erinnerung an Richard in verschiedenen Stadien der Kindheit und der Jugend sowie der an seine verstorbene Gattin Brenda, die drei Jahre zuvor von ihnen gegangen war. Eine einzelne Träne rann ihm über das faltige Gesicht. Am besten trauerte er jetzt. Solange er alleine war.

Als CJ die Augen wieder aufschlug, hatte sich die abendliche Dunkelheit über den Raum gesenkt. Es herrschte vollkommen Stille, die Gäste waren also endlich fort. Er streckte einen Arm aus, schaltete die Schreibtischlampe an, und ihr Licht fiel auf das bunte Foto des größten, von ihm vor sechsundzwanzig Jahren in Coober Pedy gefundenen Opals. ›Du kleine Schönheit‹ stand auf einem Messingschild unter dem Bild. Er starrte auf den unregelmäßig geformten Edelstein, der so dick war wie der kleine Finger eines Mannes, und plötzlich wanderten seine Gedanken in die Vergangenheit zurück. An einen völlig anderen Ort, in eine völlig andere Zeit, in der sein Sohn noch nicht einmal gezeugt gewesen war. Zu Mary… dem einzigen Menschen, von dem er je gehofft hatte, er könne ihn vergessen.

Plötzlich aber brach der Schutzwall, den er im Lauf der Jahre um die Bilder und die Schuldgefühle hatte errichten können, wie ein Kartenhaus zusammen.

Die Erinnerung an ein Paar braune Augen war selbst nach all der Zeit noch schmerzlich frisch. An ein Paar braune Augen, vor allem aber daran, was für ein Schwein er doch gewesen war.

1

Seit seinem sechsten Lebensjahr kannten alle CJ. Ambrose als CJ.

An seinem ersten Tag in der Schule im Outback in Longreach war er von dem Schultyrannen Reggie Dent mit der Feststellung herausgefordert worden, einen dämlicheren Namen als Cyril Jedediah hätte er noch nie gehört, und er würde Cyril dafür einfach eine ordentliche Abreibung verpassen, dass er diesen Namen trug. Unglücklicherweise hatte Reggie, der zwei Jahre älter als Cyril war, eines nicht bedacht. Dass nämlich Cyril selbst den Namen, mit dem seine Eltern ihn geschlagen hatte, mindestens genauso hasste, und dass ihm instinktiv bewusst gewesen war, dass er sich, wenn er an der Schule jemals Frieden finden wollte, den Respekt der anderen dadurch verdienen musste, dass er sich der Herausforderung stellte.

Was Reggie ebenfalls nicht hatte ahnen können, war, dass Cyril bereits damals ein äußerst aufbrausender kleiner Kerl war, und dass mit ihm, wenn man ihn reizte, nicht gut Kirschen essen war.

Die ungleichen Gegner hatten sich sofort im Anschluss an den Unterricht noch auf dem Schulhof duelliert. Reggie, der mindestens sechs Kilo schwerer und einen Kopf größer als Cyril gewesen war, hatte seinen Heimweg mit einem blauen Auge und blutiger Lippe angetreten, Cyril hatte öffentlich erklärt, von nun an heiße er CJ, und da er auch im Anschluss an diese erste Schlägerei seinem Ruf als gnadenloser Raufbold gerecht geworden war, hatte niemals wieder jemand die Frage nach seinen richtigen Vornamen gestellt. Im Erwachsenenalter hatten manche Leute verwundert die Brauen wegen der Verkürzung seines Namens auf die bloßen Initialen hochgezogen, sich jedoch angesichts des wenig verheißungsvollen Blitzens seiner blauen Augen eine Nachfrage erspart.

Die Familie Ambrose hatte über drei Generationen hinweg eigenes Land im nördlichen Queensland bewirtschaftet, bis Anfang der fünfziger Jahre CJs Großvater Percy Ambrose Bankrott gegangen war. Eine fürchterliche Dürre hatte der Familie alles genommen, und der Verlust von Amba Downs sowie das harte Leben, das darauf gefolgt war, hatten CJs sanftmütige Mutter Rachel frühzeitig ins Grab gebracht. Ihr Mann Neville war von Stadt zu Stadt und Farm zu Farm gezogen, hatte sich, wo immer es ihm möglich war, als Viehhüter verdingt und war aufgrund des ruhelosen Lebens, das er führte, bereits nach ein paar Jahren allen als Nev, der Wanderer, bekannt. Seine Kinder Shellie und CJ hatte er bei der Arbeitssuche immer mitgeschleppt.

CJ, ein schlaksiger dreizehnjähriger Junge, der fast eher reiten als laufen gelernt hatte, hatte nichts gegen das harte halbnomadische Leben einzuwenden gehabt. Was er jedoch nie verwunden hatte, war der Verlust des eigenen Landes. Eines Tages hätte er Amba Downs geerbt, und auch wenn er es nie zeigte, machte es ihn wütend, dass sein Großvater und Vater auf die Dürre nicht besser vorbereitet gewesen waren – schließlich suchten immer einmal wieder Dürreperioden das australische Outback heim.

Als hochintelligenter Junge, ohne jedoch die für das Lernen aus Büchern erforderliche Geduld, hatte CJ bereitwillig die Schule mit vierzehn verlassen und selbst sein Glück gesucht. Er hatte oben am Golf Krokodile und wilde Büffel geschossen, auf einer Plantage südlich von Cairns Zuckerrohr geschnitten und bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr als Viehtreiber das gesamte nördliche Queensland kennen gelernt.

Die Jahre des Arbeitens und Reisens hatten ihn eins gelehrt. Wenn er das Land, das er so liebte, wiederhaben und eine eigene Farm dort gründen wollte, brauchte er jede Menge Geld. Geld für ein angemessen großes Grundstück, Geld für ein Haus und Geld für eine Herde.

Deshalb hatte er die Sorge um den kranken Vater seiner Schwester überlassen, war nach Broken Hills gegangen, um dort zu lernen, wie man schürfte, und hatte sich dann als Goldsucher erst in Richtung Lyell und dann nach Kalgoorlie aufgemacht.

Seine Ersparnisse waren zwar stetig angewachsen, für die Erfüllung seines Traums vom eigenen Land mit einer Herde allerbester Rinder jedoch nicht schnell genug, und deshalb hatten ihn, kurz vor seinem dreißigsten Geburtstag, die Opalminen in Coober Pedy angelockt.

 

Anfangs suchten er und Mickey Edgars, sie hatten sich in einer Goldmine in Kalgoorlie kennen gelernt, die Gesteinshaufen entlang des Coober nach Edelsteinen ab, die andere übersehen hatten. Mickey hatte mal an der Lightning Ridge Opale ausgegraben, und er hatte dem lernwilligen CJ innerhalb von kurzer Zeit alles beigebracht, was er darüber wusste. Seit ihrer ersten Begegnung hatte sich zwischen den beiden Männern trotz ihres gegensätzlichen Naturells und Äußeren eine unkomplizierte Freundschaft angebahnt. Aus irgendeinem Grund hatte sich diese Freundschaft während ihrer Arbeit auf den Goldfeldern in »Kai« und jetzt auf den Opalfeldern in Coober Pedy, die mit ein wenig Glück großen und vor allem schnellen Reichtum für sie beide versprach, immer mehr vertieft.

Eines Samstagabends liefen sie aus dem behelfsmäßigen Lager, das sie am Rand der Grabungsstätten aufgeschlagen hatten, in Richtung Stadt. Vielleicht träfen sie dort nach ein, zwei Bier ja auf zwei ungebundene, willige junge Frauen.

Doch die trafen sie nicht. Stattdessen schloss CJ sich einer Pokerrunde an, hatte dort die Karten seines Lebens und strich neben achtzehnhundert Dollar Bargeld einen rostigen VW-Bus und die Rechte an einer Opalmine westlich von Coober Pedy ein.

»Die Schürflizenz nützt dir ja doch nichts«, klärte der Zigarre rauchende Spieler, der sie verloren hatte, CJ verdrossen auf.

»Und warum nicht?«, wollte Mickey von ihm wissen. Er war ein kleiner Mann, ehemaliger Jockey und ehemaliger Soldat, machte die fehlende Größe jedoch häufig durch kampflustiges Selbstbewusstsein wett. Er hatte dunkle Haare, leicht schräg stehende graue Augen, wenig bemerkenswerte Züge, bestach aber durch seine offene, direkte Art. Er mochte keine Menschen, die Kinder schlecht behandelten oder die nicht verlieren konnten, wie der Kerl, mit dem er gerade sprach.

»Die Opale, die es dort mal gab, wurden längst gefunden. Das weiß jeder. Aber«, fügte der Kartenspieler so leise, dass nur wenige ihn hören konnten, hinzu, »wenn du willst, kaufe ich dir die Lizenz für zweihundert Dollar wieder ab.«

»Hör nicht auf ihn, Kumpel. Bei Opalen kann man nie wissen. Da unten könnte noch ein Vermögen liegen«, widersprach ein graubärtiger Gräber. »Das kommt immer wieder vor. Jemand schürft eine Zeit lang an einer bestimmten Stelle und lässt die Lizenz auslaufen, weil er nichts findet. Dann kommt ein anderer Typ, fängt an zu graben und taucht mit guten Steinen wieder auf.«

»Ja. Nur wenn du dich an die Arbeit machst, findest du heraus, ob sie sich lohnt«, stimmte ihm ein anderer zu.

CJ hörte sich sämtliche Kommentare an. Er war ein vierschrötiger, breitschultriger Kerl mit leicht gelockten, in die Stirn fallenden Haaren, und mit seiner im Verlauf von allzu vielen Schlägereien zweimal gebrochenen Nase und einem zertrümmerten linken Wangenknochen alles andere als attraktiv. Irgendetwas an ihm zog die Blicke anderer Menschen jedoch magisch an. Eine gewisse Präsenz, eine natürliche Autorität. Mit seinen dreißig Jahren besaß er eine Härte, die zeigte, dass sein Leben ganz bestimmt nicht immer leicht gewesen war. Und während er die schwere Kindheit hinter sich zurückgelassen hatte, hatte er sich dieselbe Aura wie die anderen harten Kerle hier in Coober Pedy zugelegt. Sein stolz erhobenes Haupt und der Ausdruck seiner kühlen blauen Augen machten deutlich, dass es ihm egal war, wenn die Leute ihn nicht mochten. Hauptsache, er genoss ihren Respekt.

Das höchste Ziel in seinem Leben, das er selbst im Scherz als seine wunderbare Obsession bezeichnete, war, großen Reichtum anzuhäufen – wenn möglich legal –, damit seine Familie glücklich war.

Bisher war er dabei ziemlich weit gekommen. Auf einem seiner zahlreichen Besuche in Townsville, wo sein Vater und seine Schwester Shellie seit ihrer Hochzeit mit einem Geschäftsmann namens Peter Kirkby lebten, hatte er eine junge Witwe, Brenda de Witt, kennen gelernt. Brenda war ein Einzelkind, und ihr Vater, Miles de Witt, besaß unzählige Zuckerrohrplantagen zwischen Nambour und Cairns sowie ein paar Geschäftshäuser in Brisbane. Darüber, dass sich seine Tochter Hals über Kopf in den draufgängerischen, eigensinnigen Ambrose verliebt hatte, war er nicht unbedingt erfreut. Er hielt CJ für einen Opportunisten, der es auf Brendas Vermögen abgesehen hatte, und das Wissen, dass dieser Verdacht nicht gänzlich unbegründet war, hatte CJ in seinem Stolz verletzt. Deshalb hatte er die Absicht, seinem zukünftigen Schwiegervater zu beweisen, dass er auf sein Geld nicht angewiesen war.

CJ hatte Brenda davon überzeugt, dass sie nicht eher heiraten sollten, als bis er selbst vermögend wäre, schließlich hatten sie sich darauf verständigt, dass er ein bis höchstens zwei Jahre Zeit bekommen würde, bis der Grundstein für ihren zukünftigen Wohlstand gelegt war. Also hatte er sich, um den Reichtum anzuhäufen, der ihn bei Miles de Witt in einem besseren Licht erscheinen lassen würde, bereits kurz nach der Verlobung nach Kalgoorlie aufgemacht.

CJ blickte den Zigarre rauchenden Kartenspieler an. Seine blauen Augen konnten die Menschen derart durchdringend ansehen, dass diese sich wünschten, er wendete sich endlich wieder von ihnen ab. »Wenn die Lizenz wertlos ist, weshalb sind Sie dann bereit, gutes Geld dafür zu zahlen?«, fragte er in strengem Ton.

»Oh, vielleicht liegen ja noch ein paar kleine Steine zwischen all dem Dreck herum. Damit hätte sich die Investition für mich gelohnt.«

»Ich gucke mir die Mine erst mal an. Falls ich sie dann verkaufen will, gebe ich Ihnen Bescheid.«

 

Am nächsten Tag schwangen sich CJ und Mickey in den neu erstandenen VW-Bus und fanden die Mine M45 mit Hilfe einer handgemalten Karte, die ihnen von dem bisherigen Besitzer widerwillig gezeichnet worden war. Die Behauptung dieses Typen, dass die Chance sehr gering sei, noch Spuren von Edelopalen dort zu finden, hatte CJ in dem Entschluss noch bestärkt, sich dort selber gründlich umzusehen.

Die Mine war kaum mehr als ein von mehreren Gesteinshaufen umgebenes Loch im Boden. In der Nähe hatte jemand eine Höhle in den Hügel gegraben, die zwar nicht gerade komfortabel, aber durchaus bewohnbar war. Es gab eine Vorderwand aus galvanisiertem Blech mit einer Tür, doch ohne Fenster, und dahinter befand sich ein einzelner großer Raum. Der Boden bestand aus festgestampfter Erde und mindestens die Hälfte der spärlichen Möblierung wirkte selbst gemacht. Es gab einen Gasbrenner, einen gasbetriebenen kleinen Kühlschrank, einen wackeligen Tisch, zwei Stühle und zwei Pritschen, von denen allerdings nur eine mit einer Matratze ausgestattet war. Der Küchenschrank enthielt ein Sammelsurium aus Tellern, Bechern und Töpfen, auf denen eine dünne Staubschicht lag.

Den beiden Männern war bewusst, dass es in der kärglichen Umgebung nur sehr wenig Wasser gab, doch zum Auffangen des Regens – falls jemals Regen fiele – war direkt neben der Höhle ein Tank aus galvanisiertem Eisen aufgestellt. Er war natürlich leer! Sie wussten, dass sie Wasser im Laden kaufen und hierher zur Mine schleppen müssten, doch so ging es allen anderen auch.

Obgleich er von Opalen nicht so viel Ahnung hatte wie von Eisen oder Gold, sagte sein Gefühl CJ, dass er sein Glück versuchen sollte. Auf dem internationalen Markt stieg der Preis für hochwertige australische Opale bereits seit einiger Zeit beständig an; falls er eine anständige Ader fände, wäre er über Nacht ein reicher Mann.

»Die Ausrüstung von diesem Typen ist noch hier. Ich werde es also versuchen.«

»Was, du willst tatsächlich richtig anfangen zu schürfen?« Mickey sah ihn fragend an.

»Warum nicht? Mit dem Gewinn von gestern Abend komme ich problemlos ein paar Monate zurecht. Willst du vielleicht mitmachen, Mickey? Zu zweit kriegen wir viel mehr geschafft, als wenn ich alleine bin.«

»Als gleichberechtigter Partner?«

Mit zusammengekniffenen Augen dachte CJ knapp zwei Sekunden über eine Antwort nach. »Ja, sicher, was denn sonst?«

So kam es, dass unweit der Mine M45 die Ambrose-Edgars’sche Opal-Gewinnungs-Partnerschaft entstand.

 

Die Zusammenarbeit der beiden Männer funktionierte bestens. Sie hatten keinerlei Probleme damit, zehn bis zwölf Stunden täglich mit Graben, Meißeln und Sprengen zu verbringen – immer in der Hoffnung, dass sie früher oder später auf eine der seltenen opalhaltigen Adern stießen. Schutt und Erde karrten sie aus der Mine, durchsuchten sie erneut nach Steinen, die sie vielleicht übersehen hatten, und türmten das wertlose Material pyramidenförmig um die Grabungsstätte herum auf.

CJ und Mickey lasen alle Bücher, die sie über Opalgewinnung in die Hand bekommen konnten, am meisten lernten sie jedoch, indem sie ganz einfach den anderen Schürfern lauschten, wenn sie zusammen um ein Lagerfeuer hockten oder sich im Laden oder in der Kneipe trafen. Langsam, aber sicher lernten sie, den gemeinen vom Edelopal zu unterscheiden, und auch die Benennung der verschiedenen Arten fiel ihnen bald nicht mehr allzu schwer. Ein Buch unterschied siebenundfünfzig Sorten, am wichtigsten und wertvollsten jedoch waren der Girasol, der Crystal-, der Wasser-, der Feuer-, der Matrix-, der Harlequin-, der Milch- sowie der Moosopal.

Zwei Monate, nachdem sie mit der Arbeit angefangen hatten, war ihr geheimes Lager an Feuer-, Milch- und Harlequin-Opalen derart angewachsen, dass sie es sich leisten konnten, ein paar Tage frei zu machen, und so fuhren sie auf der Suche nach Entspannung und ein wenig Unterhaltung wieder in die Stadt.

 

Die junge Mary Williams gewöhnte sich allmählich an die Arbeit in der Bar. Anfangs hatten der Lärm und die rauen Umgangsformen der Besucher sie erschreckt. Viele Gäste konnten nur ein paar Brocken Englisch oder sprachen mit seltsamem Akzent, und vor allem die, die nicht mit höflich ruhiger Stimme, sondern heiser brüllend ein Bier bei ihr bestellten, hatten sie in höchstem Maße alarmiert. Sie wusste, dass die Männer brüllen mussten, damit sie sie über das Getöse hinweg überhaupt verstand, nur war sie es ganz einfach nicht gewohnt. Schließlich war dies erst ihre zweite Woche als Bedienung in dem Hotel, der einzigen Beschäftigung, die die Nonnen der Missionsschule für sie gefunden hatten. Sie hatte ein eigenes, kleines Zimmer, wurde im Hotel verköstigt und bekam pro Woche jämmerliche sieben Dollar zweiundfünfzig ausbezahlt.

Wenn man weder trank noch spielte noch Opale kaufen wollte, gab es hier in Coober kaum etwas, wofür man Geld ausgeben konnte, und so legte sie den Großteil ihres kläglichen Verdienstes auf die Seite. Vielleicht könnte sie mit dem Geld ja irgendwann mal Adelaide besuchen. Sie hatte gehört, es wäre eine wundervolle Stadt mit vielen hohen Häusern, prachtvoll gestalteten Kirchen und herrlich grünen, mit bunten Blumenbeeten geschmückten Parks. Bisher kannte sie Adelaide lediglich aus Büchern und sehnte sich danach, sich den Ozean und die Strände eines Tages mit eigenen Augen anzusehen. Es wirkte völlig anders als Coober Pedy, dieser von groben Kerlen bewohnte, trübselige, sonnenverbrannte Ort.

Sie kam frisch von der Missionsschule und hatte keine Ahnung, wie sie reagieren sollte, wenn ein Gast Interesse an ihr zeigte. Die Nonnen hatten sie vor den Männern gewarnt, und zu ihrem Glück waren Gustav Farber, der Hotelbesitzer, und Rita, seine hart arbeitende Frau, ein gottesfürchtiges, grundgütiges Paar. Gus behielt Mary im Auge, wie er es Schwester Magdalena versprochen hatte, und wenn ein junger Heißsporn allzu übermütig wurde, wies er ihn umgehend zurecht.

Mary war eine hoch gewachsene, schlanke, zurückhaltende junge Frau. Sie war bei den Nonnen aufgewachsen und hatte ihre Eltern nie gekannt. Sie wusste, dass ihr Vater weiß und ihre Mutter eine halbe Eingeborene war. Im Alter von neun Monaten hatte sie auf der Schwelle der Missionsschule gelegen, auf einem Zettel hatte der Wunsch gestanden, dass die Schwestern sich ihrer hoffentlich annähmen. Das hatten sie getan, doch an Marys achtzehntem Geburtstag hatten sie, wie es vorgeschrieben war, Arbeit für sie gefunden und sie in die Welt hinausgeschickt.

Am Samstagabend gegen sieben nahm das Treiben in der cremefarben gefliesten Bar mit dem fleckigen Tresen monumentale Ausmaße an. Angefeuert von einer Horde Schürfer, maßen sich zwei Männer an einem Thekenende im Armdrücken, neben dem Seiteneingang warf eine andere Gruppe Pfeile, und circa fünfzehn Zentimeter über ihrer aller Köpfe hing dichter Zigarettenrauch im Raum. Sechs Männer standen mit vollen Gläsern in den Händen in einer Ecke des Schankraumes zusammen und debattierten hitzig über Politik, während eine andere Gruppe über den Wert der in der Nähe von Pilbarra entdeckten Eisenerzvorkommen stritt. Einige der Männer sprachen davon, ihre Minen aufzugeben und nach Westaustralien weiterzuziehen.

Mickey und CJ standen in der offenen Tür der Bar. Mickey erkannte einen Typen aus dem Süden und blieb kurz bei ihm stehen, sodass CJ den Raum allein betrat. Fast sofort trieben ihm der Zigarettenrauch und der Geruch nach abgestandenem Bier Tränen in die Augen. Unter Einsatz seiner Ellenbogen bahnte er sich einen Weg in Richtung Theke und… dann sah er sie.

Ihre Wangen waren vor Anstrengung gerötet, ihr leichtes Sommerkleid klebte an ihr wie eine zweite Haut, und ihr Hals und ihre Arme waren mit glänzendem Schweiß bedeckt. Rabenschwarze Haare fielen in seidig weichen Locken um ein, wie er dachte, engelsgleiches Gesicht. Sie war attraktiv, wenn auch vielleicht nicht im eigentlichen Sinne schön. Ihr Mund war einen Hauch zu breit, ihre Lippen waren einen Deut zu voll und ihre Augen eine Spur zu groß für das schmale, mit einem spitzen Kinn versehene Gesicht. Wer in aller Welt schickte ein so unschuldiges junges Mädchen zum Arbeiten an einen derart rauen Ort? Ihr Anblick war wie die Entdeckung einer Oase in der Wüste oder wie die Freude, die er empfand, wenn er in einer dunklen Nacht eine Sternschnuppe vom Himmel fallen sah. Unerwartet, wunderbar. Absolut fantastisch.

Anders als gewöhnlich hatte CJ nichts dagegen einzuwenden, dass er warten musste, bis er an die Reihe käme, denn auf diese Weise konnte er ihr zusehen, wie sie hinter dem Tresen hin und her lief und die Bestellungen der anderen entgegennahm. Gleichzeitig bemerkte er, dass auch einige der anderen Männer ihr bewundernd hinterher sahen, und plötzlich schnürte ein Gefühl, das er nicht kannte, ihm die Kehle zu. Er versuchte, logisch nachzudenken. Sie war jung, war durchaus hübsch, und vor allem einfach neu. Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, dass der Barbesitzer ihn mit einem Blick bedachte, der eindeutig als warnend zu bezeichnen war. Okay, damit konnte er leben.

»Ja?«

Als sie plötzlich vor ihn trat, sah er sie blinzelnd an. »Hallo, sind Sie neu hier?«

»Ja. Was kann ich Ihnen servieren, Sir?«, fragte Mary mit gequälter Stimme. Diese Frage hörte sie jeden Abend unzählige Male, und da sie es noch immer nicht gewohnt war, zehn Stunden täglich immer nur zu stehen, taten ihr die Beine höllisch weh.

»Ich hätte gern ein Bier, Miss.« Dann wurde ihm klar, dass er auch für Mickey etwas besorgen sollte. »Oder bitte lieber zwei.«

»Ich heiße Mary«, sagte sie mit einem scheuen Lächeln. Etwas an seinen Augen brachte sie dazu, ihm noch einmal ins Gesicht zu blicken. Sie waren so unglaublich blau, dass sie sich zwingen musste, woanders hinzusehen. Auch seine Stimme klang nicht rau und laut wie die vieler anderer Männer, sondern warm und nett.

CJ legte ein paar Münzen auf den Tresen, nahm die beiden Gläser und bahnte sich, wieder unter Einsatz seiner Ellenbogen, einen Weg in eine Ecke, in der er sein Bier genießen konnte und von wo aus es ihm möglich war, Mary weiter bei der Arbeit zuzusehen. Ihr Boss konnte an ihr nichts auszusetzen haben, denn sie war wirklich eifrig.

Erst nach dem zweiten Bier wurde Mickey der Grund für die mangelnde Konzentration seines Freundes bewusst.

»Sie ist wirklich nicht übel, Kumpel.« Er stieß CJ freundschaftlich den Ellenbogen in die Rippen. »Aber du hast jede Menge Konkurrenz. Außer dir sehe ich mindestens vier andere Kerle, die ihr schöne Augen machen.«

CJ zwinkerte ihm zu. »Nur vier! Das ist ja wohl nicht der Rede wert.«

Mickey bedachte ihn mit einem neugierigen Blick: »Und was willst du jetzt machen?«

»Überhaupt nichts.«

»Überhaupt nichts?«

»Ich denke, ich gehe die Sache besser möglichst langsam an. Mary ist die Art von Mädchen, die man besser nicht bedrängt. Wenn ich jetzt bereits versuchen würde, mich an sie heranzumachen, nähme sie die Beine in die Hand und hielte frühestens nach einer Million Kilometer wieder an. Nein, ich glaube, dass man Marys Herz«, grinsend blickte er auf seinen Freund herab, »höchstens im Schritttempo erobern kann. Erst muss ich sie kennen lernen.«

»Und was, wenn einer von den anderen sie schneller kennen lernt?«

»Das wird nicht passieren«, antwortete CJ ihm zuversichtlich. Gut, dass Mickey nichts von Brenda wusste. Aus irgendeinem Grund hatte er ihm von seiner Verlobung mit der Witwe aus Townsville bisher noch nichts erzählt. Umso besser, dachte er. Trotz des rauen Lebens, das er führte, und trotz seiner schillernden Vergangenheit war der gute Mickey ein ziemlich sittenstrenger Kerl. Brenda. In CJ wogten leichte Schuldgefühle auf. Während sie mit ihrer kleinen Tochter Natalie zu Hause saß und geduldig darauf wartete, dass er endlich zurückkam, hatte er es plötzlich auf ein dunkelhäutiges, junges, naives Mädchen abgesehen. Er sollte wissen, dass sich das auf keinen Fall gehörte. Und natürlich war ihm das bewusst, gleichzeitig jedoch zog irgendetwas an Mary ihn geradezu magisch an. Sie war einfach unwiderstehlich.

 

In der nächsten Woche arbeitete er wie ein Besessener in der Mine, rackerte sich täglich zwölf bis sechzehn Stunden in den engen, dunklen Schächten ab. Er war voller Energie, und er wusste auch, warum. Der Gedanke an das junge Mädchen brachte ihn in Schwung, und die Freude auf ein Wiedersehen mit Mary trieb ihn an. Er dachte während jedes wachen Augenblicks an sie, und wenn er nachts erschöpft auf seiner schmalen Pritsche eingeschlafen war, träumte er von ihr.

Am Freitagnachmittag fand sich ein erstes Zeichen dafür, dass ihre Arbeit nicht vergeblich war. CJ nahm ein erstes verheißungsvolles Glimmen in einer Gesteinsschicht wahr, Mickey verteilte mehrere Stangen Dynamit in der Wand des Schachts, sie schaufelten die abgesprengten Brocken in einen unbenutzten Nebenschacht und entdeckten den ersten kostbaren Opal. Die Ader verlief ungefähr zehn Meter unter der Erdoberfläche horizontal entlang der Minenwand.

CJs von der Arbeit rauen Finger folgten der milchig weißen Spur, dann meißelte er vorsichtig daran herum. Dies war der nervenaufreibendste Teil ihres Geschäfts. Wenn man zu fest zuschlug, konnte man den Edelstein zerstören und machte dadurch stundenlange Anstrengung zunichte. Dieses Mal jedoch ging alles gut. Nach gut einstündigem sanftem Klopfen hielt er einen Milchopal in einer durchaus ansehnlichen Größe in der Hand, befeuchtete ihn mit der Zunge und hielt ihn ins Licht der Lampe, die an seinem Helm befestigt war. Wunderbare Farben blitzten auf. Der Stein war wirklich wunderschön.

Insgesamt schlugen sie vier nicht allzu kleine Steine aus der Wand. Die Arbeit dieses Tages hatte sich auf jeden Fall gelohnt.

Mickey wollte weiter machen, CJ aber bestand darauf, den tollen Fund zu feiern, denn er wollte Mary wieder sehen.

Als er jedoch in den Pub kam, konnte er, wie auch schon in der letzten Woche, nur aus der Ferne verfolgen, wie sie hinter dem Tresen hin und her lief, Gläser füllte und Geld entgegennahm. Sie war viel zu beschäftigt, um auch nur harmlos mit ihm zu flirten, falls sie überhaupt wusste, dass es so etwas gab.

Eher zufällig sah er am Sonntagmorgen, wie Mary nach dem Gottesdienst in der unterirdischen katholischen St.-Peterund-Pauls-Kirche die Hutchinson Street herunterkam. Mit ihrem hellblauen, ärmellosen Baumwollkleid, ihren weißen Sandalen, den weißen Netzhandschuhen und dem mit einem Kranz aus Gänseblümchen geschmückten kleinen Strohhut sah sie einfach bezaubernd aus.

Da er es für das Beste hielt, wenn er den Stier gleich bei den Hörnern packte, trat CJ entschlossen auf sie zu und ging so lange schweigend neben ihr her, bis sie den Kopf zur Seite drehte und ihn endlich ansah.

»Hallo. Wir wurden einander noch gar nicht richtig vorgestellt. Ich bin CJ Ambrose.«

»Oh.« Sie konnte sich durchaus an ihn erinnern. Der Mann mit den wunderbaren blauen Augen. Sie wusste, dass er sie am Freitagabend ständig angesehen hatte. Aber das taten einige der anderen Männer auch, und sie hatte inzwischen einiges Talent dafür entwickelt, deren bedeutungsvolle Blicke möglichst zu übersehen.

»Ich heiße Mary Williams«, erwiderte sie höflich. Es wäre sicherlich nicht nett gewesen, hätte sie ihn einfach ignoriert. »Haben Sie gesagt, CJ? Einfach CJ, mehr nicht?«

Er sah sie lächelnd an, denn er wusste, dass dadurch nicht nur sein ebenmäßiges, strahlend weißes Gebiss, sondern auch das kleine Grübchen in seiner Wange vorteilhaft zur Geltung kam. »Genau. Ich werde von allen nur CJ genannt.« Er streckte eine Hand aus. »Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mary Williams.«

Etwas brachte sie dazu, dass sie seine Hand ergriff. Sie war fest und warm, und sie spürte durch den Stoff von ihrem Handschuh die rauen Schwielen an den Innenseiten seiner Finger, die ihr deutlich machten, dass er sich für schwere Arbeit nicht zu schade war.

»Ich werde Sie nach Hause bringen.«

Ihre braunen Augen fingen an zu blitzen. »Ich wohne nur ein Gebäude weiter, in einem Hinterzimmer des Hotels.« Bis dorthin waren es höchstens fünfunddreißig Meter, aber trotzdem freute sie sich darüber, dass er versuchte, ein Gentleman zu sein. CJ hatte das Selbstbewusstsein und den rauen Charme eines Mannes, der jede haben konnte. Weshalb also gab er sich überhaupt mit ihr ab?

»Danke, das wäre nett«, antwortete sie schließlich.

»Haben Sie heute frei?«

»Ich soll helfen, das Mittagessen für die Hotelgäste zu kochen und sie zu bedienen, aber den Rest des Nachmittages habe ich frei.«

»Vielleicht würden Sie ja gerne eine Tasse Tee in dem Cafe unten an der Straße mit mir trinken?« CJ wusste, das man außer im Hotel nur dort etwas zu Essen serviert bekam. Marys Unentschlossenheit war mit Händen greifbar. CJ meinte beinahe, die Warnungen zu hören, die sie von den Nonnen mit auf den Weg bekommen hatte, deshalb ginge er die Sache vielleicht besser noch langsamer an. »Oder vielleicht ein anderes Mal«, wiegelte er deshalb eilig ab. »Vielleicht wäre Ihnen ja der nächste Sonntag lieber.«

Was sollte sie tun? Mutter Magdalena hatte ihr gesagt, sie solle vor den Männern auf der Hut sein. Solle ihnen niemals trauen. Sie hätten in Bezug auf junge Frauen nämlich nur eins im Sinn. Aber er war wirklich nett. Nicht wie ein paar der anderen Männer, die ihr mit Flüsterstimme eindeutige Angebote machten und sie manchmal sogar berührten, wenn Gus in eine andere Richtung sah. »Ja. Nächsten Sonntag wäre schön«, stimmte sie deshalb mit einem Lächeln zu.

 

So fing die Romanze zwischen ihnen beiden an. CJ hofierte Mary mit alteuropäischem Charme. Er pflückte, wenn es geregnet hatte, Wildblumen für sie oder brachte ihr Pralinen, von denen er erklärte, sie müsste sie auf der Stelle essen, denn in der Hitze schmölzen sie andernfalls dahin. Als er hörte, dass sie gerne las, brachte er ihr Bücher – neue und gebrauchte –, die sie in ihrer Freizeit lesen konnte, wenn sie neben dem Radio saß.

Sechseinhalb Tage in der Woche rackerten er und Mickey sich in den Tiefen ihrer Mine ab. Auch wenn sie bisher nicht wirklich reich geworden waren, nährte jeder ihrer Funde die Hoffnung, dass irgendwo in all dem Lehm und der Erde, die sie ständig in den Kleidern, Augen und auch Mündern hatten, ein Vermögen darauf wartete, dass sie es endlich fänden. Eines Tages würde es passieren, davon waren die Männer überzeugt.

Auch wenn Mickey manchmal durchaus waghalsige Sprengmanöver unternahm, besaß er gleichzeitig die für die Grabungen notwendige Geduld. Und CJ hatte den für das stundenlange Schippen, den Abtransport der Erde, die nochmalige Durchsicht und das Abladen des wertlosen Gesteins auf einem Haufen in der Nähe ihrer Mine erforderlichen Elan. Da man unten in der Mine nicht erkennen konnte, ob Tag war oder Nacht, hörte er sehr oft erst zu vorgerückter Stunde mit der Arbeit auf. Sein Traum, die größte und die beste Rinderfarm im nördlichen Queensland zu besitzen, trieb ihn unaufhörlich an. Er hätte das allerschönste Wohnhaus, die allerbesten Tiere, und dann stiege er auch in andere Geschäfte, wie das mit Immobilien, mit Zuckerrohr oder mit Übersee-Investitionen, ein.

Genau das war der Fehler seines Großvaters gewesen. Er hatte immer sämtliche Profite in seine Ländereien investiert, und als die harten Zeiten angebrochen waren – eine der längsten Dürreperioden in den letzten hundert Jahren –, hatte er nichts in der Hinterhand gehabt, weshalb am Schluss die Farm von den Banken übernommen worden war. Zur Hölle mit diesen elendigen Geiern, sie hatten den Untergang zahlreicher Familien herbeigeführt. Nun, seinen würden sie ganz sicher nicht erleben. Mit seinen bloßen Händen, seinem Hirn und seiner Energie würde er ein Imperium errichten, das mächtiger und größer wäre als alles, was es bisher in Queensland gab.

 

»Falls Gus dich hier entdeckt, weiß ich nicht, wem von uns beiden er das Fell als Erstem über die Ohren ziehen wird«, erklärte Mary kichernd, als CJ sie zärtlich in die Arme nahm.

Da sie Angst hatte, dass Gus oder jemand anders sehen könnte, wie CJ den Raum betrat oder verließ, hatte sie ihn bisher nie in ihr Zimmer eingeladen, doch er hatte so lange gebettelt und geschmeichelt, bis sie schwach geworden war. Wie hätte sie ihm auch auf Dauer widerstehen sollen? Schließlich war CJ ein wundervoller Mann. Warm, fürsorglich und rücksichtsvoll zugleich.

Mit seinen leuchtend blauen Augen sah er sich in dem bescheidenen Zimmer um. Der Boden war mit abgetretenem Linoleum ausgelegt, die Wände waren aus ungestrichenem galvanisiertem Eisen, und von der Decke hing eine nackte Glühbirne herab. Neben dem Fenster stand ein alter Schrank mit einem Spiegel, es gab ein schmales Bett, auf dessen Nachttisch eine Leselampe stand, und in einem wackligen Regal hatte Mary ihre wachsende Büchersammlung untergebracht.

»Gus hat heute Abend ziemlich tief ins Glas geschaut, und außerdem liegt, wie du mir erzählt hast, sein Zimmer auf der anderen Seite des Hotels«, erwiderte CJ und fügte, als sie nickte, begütigend hinzu: »Dann haben wir wohl kaum was zu befürchten, außer, dass er vielleicht mit seinem Schnarchen das Dach von dieser Hütte sprengt.«

Mary machte sich von ihm los und zog, obgleich es dadurch drückend heiß im Zimmer wurde, den Vorhang vor dem Fenster zu und stellte, um die warme Luft zumindest etwas umwälzen zu lassen, den Ventilator an, den sie in der Vorwoche erstanden hatte.