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Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe

Text-Copyright © 2017 Roman Mysteries Ltd

Originaltitel: The Roman Quest – Death in the Arena

Die Originalausgabe ist 2017 im Verlag Hodder and Stoughton, Großbritannien, erschienen.

© 2020 arsEdition GmbH, Friedrichstraße 9, 80801 München

Alle Rechte vorbehalten

Text: Caroline Lawrence

Cover: Maximilian Meinzold

Landkarte: Richard Russell Lawrence

Übersetzung: A. M. Grünewald

ISBN eBook 978-3-8458-3831-1

ISBN Printausgabe 978-3-8458-3548-8

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Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Vorwort

I

Kapitel eins

LUCUS

Kapitel zwei

CASUS

Kapitel drei

PISTILLUM

Kapitel vier

MUS

Kapitel fünf

SCIRPI

Kapitel sechs

FELES

Kapitel sieben

AVIS

Kapitel acht

VENEFICIUM

Kapitel neun

BENEFICIARII

Kapitel zehn

LEGATIO

Kapitel elf

RECUSATIO

Kapitel zwölf

CONVULSIO

Kapitel dreizehn

CARRUCA

II

Kapitel vierzehn

PANTOMIMUS

Kapitel fünfzehn

LINGUA

Kapitel sechzehn

GREX

Kapitel siebzehn

RIVUS

Kapitel achtzehn

PHILOSOPHUS

Kapitel neunzehn

VIROCONIUM

Kapitel zwanzig

BESTIAE

Kapitel einundzwanzig

LUPUS

Kapitel zweiundzwanzig

DAMA

Kapitel dreiundzwanzig

URSA

Kapitel vierundzwanzig

SEGOSA

Kapitel fünfundzwanzig

DEVA

Kapitel sechsundzwanzig

DEFECTIO

Kapitel siebenundzwanzig

CHRISTIANUS

Kapitel achtundzwanzig

ARENA

Kapitel neunundzwanzig

CONFESSIO

Kapitel dreißig

TEMO

Kapitel einunddreißig

SAL

Kapitel zweiunddreißig

MAMUCIUM

Kapitel dreiunddreißig

IUDAEUS

Kapitel vierunddreißig

PHILOTIMIA

Kapitel fünfunddreißig

URTICAE

Kapitel sechsunddreißig

RES ILLICITAE

Kapitel siebenunddreißig

EBORACUM

Kapitel achtunddreißig

ADVENTUS

Kapitel neununddreißig

VINUM

Kapitel vierzig

FABULA

Kapitel einundvierzig

SALTATIO

III

Kapitel zweiundvierzig

FEBRIS

Kapitel dreiundvierzig

CAMULODUNUM

Kapitel vierundvierzig

DIVINATIO

Kapitel fünfundvierzig

BASILICA

Kapitel sechsundvierzig

SCAENA

Kapitel siebenundvierzig

CIRCUS

Kapitel achtundvierzig

SACRIFICIUM

Kapitel neunundvierzig

SPECTACULUM

Kapitel fünfzig

POLYSPASTON

Kapitel einundfünfzig

MONTANUS

Kapitel zweiundfünfzig

META

Kapitel dreiundfünfzig

MULSUM

Kapitel vierundfünfzig

BAPTISMA

Kapitel fünfundfünfzig

DISCIPULA

WAS DIE LATEINISCHEN KAPITELÜBERSCHRIFTEN BEDEUTEN

Die Autorin

Weitere Titel

Für Emma Stringfellow und Dean Paton, die mir einen ganzen Tag lang das römische Chester gezeigt haben, und für Amanda Hart, die inspirierende Direktorin des Corinium-Museums in Cirencester

Salve! (Hallo!)

Willkommen zum dritten römischen Abenteuer. Diese Geschichte spielt in der römischen Provinz Britannien im Sommer des Jahres 96 nach Christus, während der Herrschaft von Kaiser Domitian.

Keine der Begebenheiten, die hier erzählt werden, haben tatsächlich so stattgefunden, aber einige der Orte gibt es wirklich. Die Überreste aus der römischen Zeit und einzelne Ruinen könnt ihr immer noch besuchen, zum Beispiel in Corinium (Cirencester), Viroconium (Wroxeter), Deva (Chester), Mamucium (Manchester), Eboracum (York) und Camulodunum (Colchester).

Die Kapitelüberschriften sind lateinisch und beziehen sich immer auf etwas, das im Kapitel vorkommt. Versucht doch mal herauszufinden, was die Worte bedeuten, und schlagt dann am Ende des Buches nach, um zu sehen, ob ihr richtiggelegen habt.

Vale! (Lebt wohl!)

Caroline

I

Kapitel eins

LuCuS

In der Nacht, in der seine Schwester Ursula von der uralten Eiche fiel, in deren Krone sie mit einer goldenen Sichel Misteln schnitt, wurde Juba klar, dass er sie aus der Schule der Druiden fortbringen musste.

Es war an einem späten Abend Ende Juni, und Juba kehrte gerade aus Lactodurum, der nächstgelegenen Stadt, zurück, wo er Einkäufe erledigt hatte. Als er mit den zwei weißen Ponys, die vor seinen Streitwagen gespannt waren, auf den Weg einbog, der in den geheimen Hain namens Eichenwald führte, drangen Gesänge an sein Ohr. Juba brachte sein Gespann zum Stehen und sprang vom Wagen.

Es war schon fast Mitternacht, trotzdem konnte er vier Gestalten erkennen, die unter dem alten Baum standen, der Eichenwald seinen Namen gegeben hatte. Sie hielten einen weißen Umhang zwischen sich gespannt, schauten in die Höhe und sangen: »Aus der Luft zu uns, doch nicht zur Erde, send uns deine Gabe, oh Göttin.«

Juba schauderte. In einer mondhellen Nacht wie dieser kam ihm Britannien tatsächlich vor wie das Ende der Welt. Es war schwer vorstellbar, dass er und Ursula und ihr älterer Bruder Fronto noch vor weniger als einem Jahr in einer prachtvollen Villa in Rom gelebt hatten, nur einen Steinwurf vom Palast des Kaisers entfernt.

Er spannte die beiden Ponys ab und führte sie in das von Fackeln erleuchtete Zelt, das außerdem noch als Stall für zwei schwarze Ponys und zwei Ochsen diente. Striegeln und füttern konnte er die Ponys später immer noch, erst einmal wollte er herausfinden, in welch seltsamen Ritus die Druidenschüler vertieft waren.

»Tut mir leid, dass ich so spät dran bin«, rief er, als er aus dem Zelt trat. »Eins der Räder ist abgefallen und ich musste erst einmal einen Schmied finden.«

Die zwei Jungen und die beiden Mädchen unterbrachen ihren Gesang und wandten sich ihm zu. Als Juba näher kam, konnte er im eigentümlich lilafarbenen Licht der hellen Nacht ihre Gesichter erkennen. Im Gegensatz zu ihm waren sie allesamt Britannier mit heller Haut.

»Wo ist meine Schwester?«, fragte er.

»Oben in den höchsten Ästen«, erwiderte der Junge mit dem dunkelroten Haar. »Sie schneidet Mistelzweige nach altem Brauch.« Obwohl er noch keine vierzehn Jahre alt war, hatte Prasutus sich vorübergehend zum Lehrer ernannt.

Juba runzelte die Stirn. Gegen die Philosophie der Druiden von einem friedlichen Leben im Einklang mit der Natur hatte er nichts einzuwenden. Jede Art von Magie aber machte ihn misstrauisch. Nicht nur war Zauberei im Römischen Reich verboten, sie galt auch als gefährlich.

Juba hörte seine Schwester von weit oben rufen: »Warum habt ihr aufgehört zu singen?«

»Dein Bruder ist zurück!« Ein hübsches Mädchen mit kupferfarbenem Haar lachte. »Das bedeutet Ärger!«

Bouda hatte sich in Londinium mit ihnen angefreundet. Sie war die Nachfahrin einer Kriegerkönigin namens Boudicca. Sie war nicht hier, um sich zur Druidin ausbilden zu lassen, sie versuchte bloß, im Verborgenen zu überleben. Genau wie Juba und Ursula versteckte sie sich vor Männern, die nichts Gutes mit ihr im Sinn hatten.

Juba legte die Hände wie einen Trichter um den Mund. »Ursula! Warum, bei Jupiter, schneidest du mitten in der Nacht Mistelzweige?«

»Die Zweige müssen mit einer goldenen Sichel geschnitten werden, solange der Druidenmond scheint!«

»Was ist denn ein Druidenmond?« Juba schaute die anderen an.

Die silberblonde Bircha deutete nach oben. »Das ist ein Druidenmond«, sagte sie. »Siehst du nicht? Er sieht aus wie der große Buchstabe D.«

»Ja, kann sein.«

»Daran erkennst du, dass der Mond sechs Tage alt ist!«, sagte Birchas älterer Bruder Bolianus. Er hatte braunes Haar, das so fluffig war wie ein Gefieder, und eine Nase, die aussah wie der Schnabel eines Falken. »Das D steht für Druiden.«

»Die Mistelzweige dürfen auf keinen Fall den Boden berühren«, erklärte Prasutus. »Deswegen spannen wir den Umhang.«

Wie aufs Stichwort segelte ein einzelner Mistelzweig von der finsteren Baumkrone herab und landete auf dem ausgebreiteten Mantel.

»Aus der Luft zu uns, doch nicht zur Erde, schick uns deine Gabe, oh Göttin«, sang Bircha. Sie streckte ihre rechte Hand aus, hob behutsam den Zweig auf und legte ihn sorgsam in einen Korb auf dem Boden. »Das macht acht!«, rief sie zu Ursula hinauf. »Du musst nur noch einen weiteren schneiden.«

Juba schaute Prasutus mit gerunzelter Stirn an. »Ist das für einen deiner Zaubertränke?« Einige Monate zuvor hatte Ursula einen Trank getrunken, mit dem sie die Stimme der Bäume hören konnte. Juba wusste, er hätte der Sache damals schon ein Ende bereiten sollen.

»Ja«, erwiderte Prasutus. »Durch diesen Trank wird sie von der Ebene der Blätter zu der des Fells aufsteigen und schließlich zur Feder werden. Wenn es so weit ist, wird sie in der Lage sein zu fliegen!« Seine dunkelblauen Augen funkelten im Mondschein.

»Fliegen? Wie soll sie denn fliegen können?«

»Der Trank löst ihre Seele, sodass sie sich in einen Vogel versetzen und durch dessen Augen sehen kann.«

Juba klappte die Kinnlade herunter. »Was?«

Wie sein römischer Vater folgte Juba der Philosophie der Stoiker, die lehrte, dass man das beste Leben erlangte, wenn man extreme Gefühle unterdrückte, insbesondere Wut. In diesem Augenblick fiel ihm das allerdings ziemlich schwer, also atmete er erst einmal tief ein.

»Ursula verfügt über ganz besondere Gaben«, erklärte Prasutus weiter. »Die Ebene der Blätter hat sie gleich beim ersten Versuch erreicht. Nun muss sie es zum Fell schaffen, indem sie eine Maus oder ein anderes kleines Säugetier bewohnt. Danach kann sie zur Feder werden.«

Juba funkelte ihn zornig an. »Wie kannst du sie das tun lassen? Ich dachte, Druiden glauben daran, dass die menschliche Seele göttlich und unsterblich ist, genau wie wir Stoiker!«

»Ist ja auch so!«

»Wie kannst du dann mit dem Gedanken spielen, jemandes Seele in eine Maus zu versetzen? Was, wenn ihre Seele in dem Tier stecken bleibt?« Juba wurde, ohne es zu wollen, immer lauter. Er atmete noch einmal tief durch, um sich zu beruhigen.

»Aber Juba«, kam Ursulas Stimme von weit oben. »Das ist das Risiko wert, wenn ich dann tatsächlich fliegen kann! Singt weiter!«, befahl sie den anderen. »Einen Zweig muss ich noch schneiden.«

»Aus der Luft zu uns, doch nicht zur Erde, schick uns deine Gabe, oh Göttin«, stimmten ihre Freunde an.

Der letzte Zweig fiel auf den Umhang und Bircha legte ihn in den Korb.

»Schick uns deine Gabe, oh Göttin«, kam ein krächzendes Echo von einem der Zweige. Es war Loquax, Ursulas sprechender Vogel.

Dann hörte Juba das unheilvolle Knacken eines Astes und im nächsten Augenblick schrie seine Schwester.

Ursula flog.

Aber ohne die Macht der Federn.

Kapitel zwei

CAsUs

Als Ursula aus den höchsten Ästen der hohen Eiche fiel, schien sich die Zeit zu dehnen wie Schafwolle, die man von einer Spindel zieht.

Sie sah Bilder ihres Lebens vor ihrem geistigen Auge, wie Fresken an einer Wand.

Die ältesten Bilder kamen zuerst.

Sie sah, wie ihre hellhäutige Mutter am Webstuhl arbeitete und ihr dunkelhäutiger Vater Edelsteine auf einem Stück Seide ausbreitete.

Sie sah sich an der Hand ihres alten Türsklaven Cardo auf die mit Kopfsteinen gepflasterte Straße hinaustapsen, bis zu einem sprudelnden Brunnen. Es war das erste Mal gewesen, dass ihr bewusst geworden war, dass es eine Welt außerhalb ihres riesigen römischen Stadthauses gab.

Sie sah die Gesichter ihrer älteren Brüder Juba und Fronto, die zu ihr aufschauen mussten, weil sie, wie immer, auf irgendetwas hinaufgeklettert war. Sie sah, wie der schwarze Vogel, dem sie später den Namen Loquax gegeben hatte, mit gebrochenem Flügel im Rosenhof herumflatterte. Und die großen Augen im Gesicht ihrer kleinen Schwester Dora, die damals noch ein Baby gewesen war.

Andere Bilder, die an der Mauer ihres Bewusstseins vorbeihuschten, waren weniger angenehm.

Die Flucht aus ihrem Stadthaus um Mitternacht. Das Auflesen eines verlassenen Kätzchens. Wie sie durch die Nekropolis von Ostia gestürmt war, mit ihrer kleinen Schwester auf dem Arm, dem Baby, das sie nie wieder an sich drücken würde. Sie sah das Leinensegel des Schiffes, das sie aus Italien fortbringen sollte, fort von einem Leben, das sie für selbstverständlich gehalten hatte.

Sie sah Castor, den wunderschönen jüdischen Jungen, dem das Handelsschiff Centaurus gehörte. Er hatte ihr Kätzchen davor bewahrt, über Bord gespült zu werden, und später – Wochen später – hatte er ihr gesagt, dass sie der mutigste Mensch sei, dem er je begegnet war. Sie erinnerte sich daran, wie sie sich in diesem Augenblick in ihn verliebt hatte, auch wenn sie gerade einmal neun Jahre alt gewesen war und er noch keine vierzehn.

Sie sah all das, was sie vom obersten Mast aus erblickt hatte, auf dem sie den Großteil der sechswöchigen Seereise verbracht hatte, sah die Weite und die Wellen.

Dann war da der beängstigende Sturm und später der erste Blick, den sie auf die weißen Klippen von Britannien erhaschen konnte.

Sie sah den finsteren und überfüllten Innenraum der Taverne in Londinium mit seinem schiefen Boden. Die Soldaten, die sie bei Sonnenaufgang aufgegriffen und zu einer freundlichen römischen Dame namens Flavia Gemina geführt hatten, die zu ihrer Gönnerin und Beschützerin geworden war.

Ursula sah ihren reichen und gut aussehenden Onkel in seiner palastartigen Villa an der Südküste Britanniens. Sie sah das Dutzend Kinder, alle mit hellem Haar und alle an den Hälsen angekettet in einem engen Raum in ebendieser Villa. Sie sah ihre gemeinsame Flucht in die Freiheit durch die Marschen von Fishbrook.

Die Freude auf den Gesichtern der Eltern, als sie mit den Kindern auf einer feinen, von Ochsen gezogenen Carruca in das Belger-Dorf am sanften Hügel gefahren waren.

Jetzt aber kamen die Bilder schneller und schneller, als würden sie von einzelnen Blitzen erhellt.

Das Hüten der Gänse.

Das Melken einer Ziege.

Die Geburt eines Lämmchens.

Das Mahlen von Getreide.

Der Dorfbarde, angestrahlt vom flackernden Herdfeuer.

Fronto, der sich mit pitschnasser Kleidung aus einem Bach aufrappelte.

Juba, der den Dorfbewohnern Latein beibrachte.

Eine Gestalt mit Kapuze in einem Streitwagen, die die Arme nach ihr ausstreckte, um sie von einer Wiese zu verschleppen.

Druidenschüler, die mit verschränkten Beinen unter einer uralten Eiche saßen.

Bouda, die in einem Streitwagen stand und eine Rede vor britannischen Kriegern hielt, die ihre Körper bunt bemalt hatten.

Ein Mann, der in einem dunklen Wald bei lebendigem Leib verbrannte.

Und schließlich Castors eineiiger Zwilling Rabenflügel, der in Britannien aufgezogen worden war und den weißen Umhang eines Druiden trug.

Das war das Letzte, was sie sah: ein weißer Umhang, der ihr rasend schnell entgegenkam.

Kapitel drei

PiSTilluM

»Zieht den Umhang ganz straff!«, rief Juba und packte selbst ein Ende des Stoffes. Alle fünf traten einen Schritt zurück, und das in letzter Sekunde. Der Umhang war fest gespannt, aber seine Schwester traf mit solch einer Wucht auf, dass er doch nach unten gerissen wurde und sie mit einem dumpfen Schlag auf dem Erdboden aufkam.

»Ursula!« Juba kniete sich neben sie und griff nach ihrer Hand. »Geht es dir gut?«

Einen entsetzlichen Augenblick lang lag sie ganz still da.

Dann schnappte sie nach Luft und ihre Augenlider begannen zu flattern.

»Den Göttern sei Dank!«, keuchte Juba und ging auf Prasutus los. »Wie konntest du das erlauben? Du kannst sie doch nicht den zweiten Schritt vor dem ersten tun lassen. Genau aus diesem Grund hasse ich diese ganze Druiden-Magie!«

Prasutus antwortete nicht. Im tiefen Violett des nächtlichen Lichts sah sein Gesicht sehr blass aus. Juba fiel auf, dass er die Hand seiner Schwester hielt.

»Miaaa!« Ein kleines Kätzchen huschte zwischen ihnen hindurch und rieb sich laut schnurrend an Ursulas Wange.

Plötzlich schlug Ursula die Augen auf. »Mia!«

»Sie ist hier bei dir.« Prasutus drückte ihre Hand. »Sie ist ebenfalls vom Baum gefallen, aber sie ist auf ihren Pfoten gelandet.«

Juba nahm die andere Hand seiner Schwester. »Ursula, geht es dir gut?«

Ursula blinzelte zu ihm auf. »Rabenflügel?«

»Nein, ich bin’s, Juba. Rabenflügel hat uns letzten Monat verlassen. Erinnerst du dich? Er hat seinen Druidennamen abgelegt und nennt sich jetzt Rabe.«

»Das weiß ich.« Angestrengt setzte Ursula sich auf und alle halfen ihr dabei. Sie streichelte Mia, die sich immer noch an ihr rieb. »Ich meinte, ist er zurück?«

»Noch nicht.«

»Der Mistelzweig!«, rief Ursula plötzlich. »Ist mit dem Mistelzweig alles in Ordnung?«

»Ja.« Bircha hielt den Korb hoch. »Ich habe alle neun Zweige. Keiner hat den Boden berührt.«

Juba schüttelte den Kopf. »Mir gefällt das nicht, Ursula. Druiden-Magie ist nicht nur verboten, sie ist auch gefährlich!«

»Sie ist nicht gefährlich!« Ursula schob sich eine schwarze Locke aus den Augen. »Und hier im geheimen Hain wird uns auch niemand finden.«

»Sie ist gefährlich!«, legte Juba nach. »Misteln sind giftig.«

Seine Schwester versuchte aufzustehen, knickte aber gleich wieder ein. Juba und Prasutus fingen sie auf und halfen ihr auf die Füße.

Als Ursula ihren ersten zögerlichen Schritt machte, zuckte sie zusammen. »Ich habe bloß ein paar blaue Flecken«, sagte sie. »Danke, dass ihr mich aufgefangen habt.« Sie wandte ihren Blick dem Korb voller Misteln zu. »Darf ich einen der Zweige haben? Den hübschen da mit den drei Beeren?« Sie nahm den Zweig und humpelte auf eine kleine Rundhütte zu, während die anderen ihr in einigem Abstand folgten.

Juba stieß einen tiefen Seufzer aus. Seine Schwester war die impulsivste und störrischste Person, die er kannte. »Oh Jupiter«, betete er leise, »schenke mir Weisheit.« Dann ging auch er ihr nach.

Als Juba das Rundhaus betrat, hatten sich die anderen bereits im Feuerschein um einen Eichentisch versammelt. Ursula zerrieb etwas in dem kleinen Marmormörser, den sie sonst für den Pfeffer benutzten. Als er näher kam, erkannte Juba, dass Ursula drei Mistelbeeren sowie rotes Moos, getrocknete Pilze und Minzeblätter hineingab.

Sie zerdrückte diese Zutaten zu einer Paste und die Gruppe begann zu singen. Juba staunte darüber, wie seine zehn Jahre alte Schwester alle in ihren Bann gezogen hatte. Während sie Zaubersprüche murmelte und beißend riechende Kräuter zermahlte, sah Ursula im flackernden Feuerschein aus wie eine junge Hexe.

Fasziniert und entsetzt zugleich schaute Juba dabei zu, wie sie einen Löffel Honig aus einem Keramiktopf und zwei Spritzer Essig aus einer rechteckigen blauen Glasflasche zu der Mischung hinzufügte. Dann griff sie nach einem runden Glas voller Luftlöcher.

Sie nahm den Deckel von dem Glas und ein schrilles Quieken drang an Jubas Ohr.

Ursula griff hinein, holte einen kleinen schwarzen Krümel heraus und ließ ihn in ihre Mixtur fallen.

»Ist das Mäusekot?«, stieß Juba aus. »Hast du gerade Mäusekot in deinen Trank getan?«

Ursula nickte und lächelte. »Man muss etwas von dem Tier hineintun, in das man versetzt werden will«, sagte sie. »Es sollte möglichst getrockneter Kot sein, aber den habe ich leider nicht. Die Maus habe ich erst gestern gefangen.«

»Gib noch etwas mehr Wasser hinzu«, riet ihr Prasutus. »Und ich glaube, ein bisschen mehr Beifuß wäre auch gut.«

Ursula nickte stumm, gab Wasser aus einer Kanne in ihr Gefäß und zerbröselte Blätter aus einem kleinen Tontopf darüber.

»Das ist doch Wahnsinn!« Juba wandte sich an den Jungen, der sich zu ihrem Lehrer ernannt hatte. Im Licht des zentralen Feuers nahm Prasutus’ Haar das dunkle Rot von glühendem Eisen an.

»Weißt du überhaupt, was du da tust?«, fragte er ihn. »Braucht man nicht zwanzig Jahre, um die Kunst der Druiden wirklich zu beherrschen? Du bist gerade einmal dreizehn Jahre alt!«

»Ich bin fast vierzehn«, sagte Prasutus. »Und Rabe war dreizehn, als er den Trank zum ersten Mal genommen hat.« Seine Stimme klang stark, doch seine Stirn lag in Falten.

»Rabe ist von Schlangenbart erzogen worden«, erinnerte ihn Bolianus. »Er hat die Künste der Druiden eine lange Zeit studiert.«

»Hat Rabe uns nicht gesagt, dass dieser Zauber gefährlich ist?«, fragte die silberblonde Bircha unsicher.

Juba hob ruckartig den Kopf. »Warum?«

Die Falten auf Prasutus’ Stirn wurden tiefer. »Er ist gefährlich, weil man sich nicht wirklich in das Tier verwandelt. Die Seele zieht bloß in den Körper des Tieres ein. Und wenn das Tier stirbt, solange die Seele in ihm verweilt, findet sie womöglich nie mehr den Weg zurück.«

Bolianus, der Junge mit der Falkennase, nickte. »Erinnert ihr euch an die Geschichte, die Rabe uns erzählt hat? Von dem Mädchen, das zu lange in einem Reh geblieben ist? Ihr Geist kam nicht mehr zurück und sie hat auch später nie wieder gesprochen. Am Ende konnte sie nur noch am Straßenrand sitzen und betteln.«

»Dann, um Jupiters willen, Ursula, trink das nicht!«, rief Juba. »Ich verstehe sowieso nicht, warum du das tust. Eben hättest du dir fast das Genick gebrochen, nur weil du an diese Giftbeeren herankommen wolltest. Dann fügst du noch schauderhaft aussehende Pilze, bitteren Beifuß und Mäusekot hinzu?« Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Das ist Hexerei! Du versuchst, Macht zu gewinnen.«

Ursula hielt beim Mörsern der Blätter inne und schaute ihren Bruder an. Ihre Wangen waren zerkratzt und in ihren seidigen schwarzen Locken hing noch immer ein einzelnes Eichenblatt, aber ihre graugrünen Augen leuchteten beinahe so hell wie das Herdfeuer.

»Macht bedeutet mir nichts«, sagte sie. »Ich will bloß FLIE-GEN! Und dies ist der erste Schritt.«

Und dann trank sie, zu Jubas Entsetzten, den Trank in wenigen Schlucken aus.

Kapitel vier

MUS

Ursula hatte das Gefühl, ersticken zu müssen, als sie den bitteren Schleim aus Moos, Pilzen, Misteln, Beifuß und Mäusekot hinunterwürgte.

Ihr ganzer Körper zuckte vor Abscheu, als sie den leeren Becher abstellte. Sie durfte nicht daran denken, was sie gerade getrunken hatte, sonst würde sie alles sofort wieder erbrechen. Sie hatte nicht gelogen, als sie Juba gesagt hatte, dass sie unbedingt fliegen wollte. Es war seit jeher einer ihrer sehnlichsten Wünsche. Aber wenn sie ehrlich war, wollte sie ihn auch verwirklichen, um Rabe zu beeindrucken, den sie sogar noch mehr liebte als seinen Zwillingsbruder Castor.

Sie wusste, dass der Trank seine Wirkung bald entfalten würde, also holte Ursula das Glasgefäß mit der Maus und verließ eilig das Rundhaus. Über die vom Mond beschienene Lichtung humpelte sie auf die verlassene Höhle im Hügel zu, in der der Erzdruide Schlangenbart gelebt hatte. Die Höhle war klein, dunkel und hatte eine hölzerne Tür, mit der man sie verschließen konnte. Dort würde sie ihren Geist in die Maus schicken, im sicheren Wissen, dass keinem von ihnen etwas passieren konnte. Sie hatte nämlich ganz bestimmt nicht vor, den Rest ihres Lebens am Straßenrand zu betteln.

Auf halbem Weg blieb sie auf der Wiese stehen und ließ ihren Blick über die nächtlichen Bäume schweifen.

Als sie damals in Britannien angekommen war, hatte sie nicht einmal die Namen dieser Bäume gekannt. Doch nun, Rabe sei Dank, kannte sie nicht nur ihre Namen, sondern auch ihre Stimmen. Der Haselnussbaum hatte eine Nerzstimme: leise und silbergrau. Die der Stechpalme dagegen war so glatt und prickelnd wie ihre Blätter.

Selbst die tausendjährige Eiche in der Mitte des Hains hatte einmal mit einer tiefen, heiseren Stimme zu ihr gesprochen, die ihr durch alle Knochen gedrungen war. Sie hatte bloß ein einziges Wort gesagt: »Ursula.«

Und nun stand sie kurz davor, zu einer neuen Ebene aufzusteigen, auf der sie die Tiere und die Vögel verstehen konnte. Der Gedanke erfüllte Ursula mit tiefer Freude und mit einer noch tieferen Liebe zu dem Jungen, der ihr diese Welt erschlossen hatte: Rabe.

»Mir gefällt das nicht.« Juba tauchte plötzlich neben ihr auf. »Wenn Vater oder Fronto hier wären, würden sie dir das verbieten.«

Sein vom Mond beschienenes Gesicht wurde länger und seine Stimme kam Ursula unnatürlich laut vor. Sie wusste, dass nun die Wirkung des Trankes einsetzte.

Plötzlich tauchte ein kleiner dunkler Schatten hinter einem Stapel Feuerholz auf, huschte über die Lichtung und sprang mit einem Satz zu Ursula hinüber.

»Mia!« Sie lachte, als sich ihr Kätzchen an ihrem wollenen Umhang heraufzog und sich schnurrend auf ihrer linken Schulter zusammenkauerte.

Beinahe ein Jahr war vergangen, seit sie in einer warmen Augustnacht aus Rom geflohen waren. Und auch wenn Mia inzwischen eine ausgewachsene Katze war, ließ sie sich noch immer gern auf der Schulter ihrer Herrin nieder.

Doch Ursulas Seele begann bereits, sich zu lösen, und sie war kurz davor, sie in eine Maus zu senden. Kein guter Zeitpunkt also, um bei ihrem Kätzchen zu sein. Sie nahm das Glas mit der Maus in ihre linke Hand und versuchte, Mia abzuschütteln. Aber das große Kätzchen saß so fest auf ihr wie ein Krebs an einem Schiffsrumpf. Schließlich hob jemand Mia von ihrer Schulter.

»Schnell, beeil dich!« Birchas Stimme schien aus großer Ferne zu kommen. »Ich kümmere mich um Mia. Einer von euch sollte Ursula zu Schlangenbarts Höhle führen.«

»Das mache ich.« Ursula spürte Prasutus’ Hand an ihrer Taille und wie er sie in den schummrigen, warmen Raum hineinführte. Kurz war sie enttäuscht, dass er nicht Rabe war. Oder Castor. Dann aber fiel ihr wieder ein, dass Rabe bereits vor einem Monat aus dem Hain fortgeritten war und sein Zwillingsbruder Castor sich kurze Zeit später aufgemacht hatte, um ihn zu suchen.

Prasutus stellte eine schwach leuchtende Öllampe auf den Boden der kleinen, in den Hügel gegrabenen Höhle. Dann half er Ursula dabei, sich im Schneidersitz und mit dem Rücken zur irdenen Wand hinzuhocken.

Als er sich zurückgezogen und von außen den hölzernen Riegel vor den Höhleneingang gelegt hatte, fischte Ursula die Maus aus dem Glas und ließ sie vor sich auf dem Lehmboden frei. Im goldenen Schein der Öllampe sah sie, wie die winzige Nase des Geschöpfes zuckte, während es die neue Umgebung erkundete.

Sie starrte die Maus an und richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf sie. Das kleine Wesen hörte auf zu schnuppern und erwiderte Ursulas Starren mit seinen pechschwarzen Augen.

Ursula merkte, wie sich ihre Seele weitete.

Dann wurde ihr schwindlig, und sie spürte, wie sie in das winzige schwarze Starren des Tieres hineinstürzte.

Sie war zur Maus geworden.

Kapitel fünf

SCirPi

Als ihre Seele in die Maus hineinstürzte, wusste Ursula, dass ihr Bruder recht gehabt hatte: Dies war mächtige und gefährliche Hexerei.

Die enge Höhle kam ihr nun vor wie eine riesige unterirdische Halle. Und ihre zuckende Nase war köstlich geschärft. Sie konnte das Olivenöl in der Lampe riechen, Sägespäne, vier verschiedene Arten von Blättern, zwei Arten Schimmel, Leinen, Wolle und den leicht moschusartigen Duft eines riesigen Säugetiers. Nach einem Augenblick wurde ihr klar, dass dieser Geruch von einem Menschen verursacht wurde: von ihr selbst!

Sie konnte ihren menschlichen Körper mit verschränkten Beinen vor sich sitzen sehen. Sie sah die geschlossenen Augen und die einzelnen Locken von schwarzem Haar, die über ihre weichen braunen Wangen fielen.

Auch ihre Sehkraft hatte sich verändert. Alle Farben waren anders, als würde die Welt plötzlich gänzlich aus Metall bestehen.

Sie sah eine silbrige Helligkeit in dem offenen Raum, aber dort, wo der Boden die Höhlenwand berührte, schimmerte es golden. Ein Instinkt verriet ihr, dass dieses dunkle Gold etwas Gutes war und das funkelnde Silber etwas Schlechtes.

Ihre Füße waren wie geschaffen zum Tasten und Fühlen und Klettern. Die Erde summte unter ihren Mäusepfoten.

Dann erreichte sie ein schwacher, aber wundervoller Geruch.

Käse! Irgendwo – gar nicht weit – war Käse.

Der Geruch überdeckte alles andere, drang direkt in ihr tiefstes Inneres und zog und zerrte sie nach links.

Ein winziger Tropfen Urin löste sich unter ihrem Schwanz. Sie hatte einen Schwanz! Der dünne Faden aus Flüssigkeit bildete einen glühenden Pfad auf dem ausgetretenen Lehmboden. Die Farbe ging über Violett hinaus, es war ein Ton, den ihre menschlichen Augen nie zuvor gesehen hatten.

Der verführerische Duft des Käses lockte sie zu einem Gitter aus hölzernen Lamellen. Unmöglich, dort hindurchzukommen, und doch wollte ihr Körper sich den Käse auf der anderen Seite auf keinen Fall entgehen lassen. Irgendwie, auf wundersame Weise, fand sie eine leichte Einbuchtung am Boden neben dem Gitter. Sie schnupperte und presste ihre Nase in die unfassbar enge Lücke. Sie spürte Druck auf der Oberseite ihres Schädels und an ihrem Unterkiefer. Sie ließ es zu, dass ihre inneren Organe nach hinten geschoben wurden und sich noch mehr Urin löste. Ihr Schwanz fühlte sich so groß an wie ein Baum. Mit ihm spürte sie sofort, wenn die Beschaffenheit des Bodens oder der Luft sich änderte.

Dann hatte sie es durch die schmale Lücke geschafft und stand plötzlich draußen in der silbernen Nacht.

Das Heulen einer Eule fuhr wie ein Schock durch ihren Körper. Sie konnte den Umriss eines riesigen runden Bauwerks am Horizont aufragen sehen. Der Käse war dort drin! Allerdings lag zwischen ihr und dem Haus eine gewaltige Freifläche. Sie überquerte sie, so schnell sie nur konnte: Sie lief von Grasbüscheln zu einzelnen Blättern und allem anderen, was ihr kurz Deckung geben konnte. Unvermittelt sah sie sich einer anderen Maus gegenüber. Es war ein Männchen, das offenbar sein Revier verteidigte.

Sie konnte seine Aggression riechen.

Sehen, wie es seine Oberlippe zurückzog.

Sehen, wie es scharfe Zähne offenbarte.

Sehen, wie es sich zum Angriff bereit machte.

Schon in der nächsten Sekunde aber wurde es von einem Schatten fortgerissen und war verschwunden.

Nein. Kein Schatten. Eine Eule!

Mit einem Aufschrei des Entsetzens raste Ursula, die Maus, über die Lichtung und in das große Gebäude hinein.

Der Lehmboden war mit Binsen bedeckt, die ihr unter ihren Pfoten groß wie Holzscheite vorkamen. Das Vorwärtskommen fiel ihr schwer, bis sie eine Stelle erreichte, an der die Binsen von menschlichen Füßen platt getreten worden waren. Der fantastisch würzige Duft lockte sie zu einer hölzernen Erhöhung, die auf vier rechteckigen Stämmen ruhte.

Ein Tisch! Der Käse war auf dem Tisch!

Nach nichts hatte sie sich in ihrem Leben so sehr gesehnt wie nach diesem Käse. Nur beim Gedanken daran lief ihr schon das Wasser im Mund zusammen. Ihre rosafarbene Nase zuckte, während der Duft sie voranzog. Sogar ihre Schnurrhaare zitterten.

Schon im nächsten Augenblick kletterte sie an einem der baumstammartigen Tischbeine hinauf und war schließlich am Ziel angelangt. Jetzt bestand sie nur noch aus Zähnen und Zunge und Schlund und dem unsagbar köstlichen Geschmack.

Einige himmlische Augenblicke lang labte sie sich an dem Käse, bis eine plötzliche Angst von ihr Besitz ergriff. Der durchdringende Gestank von Katzenurin erfüllte die Luft.

Sie erstarrte.

Sie hörte, wie sich hinter ihr etwas näherte. Die beinahe lautlosen Pfoten eines gigantischen Raubtiers.

Ganz langsam wandte Ursula sich von dem Käsestück ab und drehte sich um.

Eine zusammengekauerte Katze beobachtete Ursula mit furchtbaren blaugrünen Augen. Ihre Schulterblätter waren aufgestellt und ihr Schwanz zuckte.

Mia hatte nicht mehr die Größe eines kleinen Kätzchens.

Sie hatte die Größe eines Panthers.

Nein – die eines Elefanten!

Es war unmöglich, diesem Raubtier zu entkommen.

Sie war verloren.

Das Kätzchen, für dessen Rettung sie einst ihr Leben riskiert hatte, würde sie jeden Augenblick verschlingen.

Es sei denn …

Ihr fiel ein, was Rabe und Prasutus ihr beigebracht hatten: dass die Magie die Seele loslöste, damit man sie in ein anderes Lebewesen schicken konnte. Wenn die Magie noch stark genug war, konnte sie ihre Seele womöglich in Mia hineinversetzen, bevor sie von ihr gefressen wurde.

Doch so etwas war noch nie gewagt worden.

Nicht einmal Rabe hatte versucht, aus einem Geschöpf in ein anderes überzugehen.

Trotzdem. Sie musste es riskieren.

Sie musste.

Sie nahm all ihre Kraft zusammen, und als das Kätzchen zum Sprung ansetzte, ließ Ursula ihre Seele in Mias Augen hineinstürzen.

Ich muss in sie hinein, war ihr letzter Gedanke im Körper der Maus.

Kapitel sechs

FeLeS

Juba schlief tief und fest. Er träumte von seiner Familie in Rom, als ihn ein Schrei schlagartig hochfahren ließ. Es war ziemlich finster im Rundhaus, aber an dem schwachen Licht, das durch einen schmalen Schlitz im spitz zulaufenden Strohdach fiel, konnte Juba erkennen, dass es draußen bereits dämmerte. Diese britannischen Sommernächte waren die kürzesten, die er jemals erlebt hatte.

Bircha stieß einen weiteren Schrei aus. Selbst im Halbdunkel konnte er ihr silberblondes Haar deutlich erkennen. Sie stand in der Nähe des Tisches und hielt den Wasserkrug in der einen Hand und einen Tonbecher in der anderen. Offenbar hatte sie sich gerade etwas einschenken wollen und war in der Bewegung erstarrt.

»Mia hat eine Maus gefangen!«, rief sie. »Und ich glaube, es ist Ursula!«

Juba rappelte sich auf und blinzelte zum Tisch hinüber.

Er sah Mia hinter Schalen und Tassen auf dem Tisch kauern. Die Katze hatte etwas in den Pfoten.

Juba fluchte leise. Er hatte ein Stück Käse auf dem Tisch liegen lassen, das nur zum Teil in ein Kohlblatt eingewickelt und mit Zwirn zusammengebunden war. Er hätte den Käse an einen Deckenbalken hängen sollen, zusammen mit den anderen Vorräten, aber er hatte vor dem Zubettgehen unbedingt noch einen Bissen davon essen wollen.

»Lass sie los!«, kreischte Bircha und schleuderte ihren Becher auf das Kätzchen.

Der Becher verfehlte Mia, traf die weiß getünchte Lehmwand des Rundhauses und fiel polternd auf den Boden. Völlig gebannt von ihrer Beute, schaute Mia nicht einmal auf.

Juba machte einen vorsichtigen Schritt. Die Katze spielte ganz eindeutig mit etwas. Aber war es wirklich eine Maus?

Das schwache Licht im Rundhaus wurde plötzlich heller, als jemand den Vorhang aus Rehleder über der Tür zur Seite zog und das frühe Morgenlicht ins Innere ließ. Im Augenwinkel sah Juba kupferrotes Haar aufblitzen und wusste, dass es Bouda war.