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Über das Buch

Für einen Moment war es ganz still. Dann donnerte es so heftig, als würde etwas die Welt in zwei Teile schlagen.

Und in dem Haus mit dem Garten und der Wendeltreppe entfaltete ein herzloser Herzenswunsch eine ungeheure Macht.

Eine Macht, die alles veränderte.

Anouks kleine Schwester ist wie vom Erdboden verschluckt – und es ist einzig und allein Anouks Schuld. Nun bleibt nur ein magisches Spiel. Schafft sie es, den dunklen Prinzen darin zu schlagen, erhält Anouk ihre Schwester zurück. Gewinnt der dunkle Prinz, verliert Anouk sie für immer. Mit jedem Zug muss sie Mitgefühl, Mut und Weisheit beweisen. Doch der dunkle Prinz ist ihr stets einen Schritt voraus - und stellt Anouk schließlich vor eine unmögliche Wahl …

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image INHALT

Ein herzloser Herzenswunsch

Pan

Der erste Zug

An der falschen Stelle

Wurzeln und Wasser

Die Eulen

Ein unmöglicher Friede

Wachsen

Der zweite Zug

Ein neues Mannschaftsmitglied

Der erkältete Sturmzüchter

Heldenhafte Taten

Der dritte Zug

Zwei Prinzen

Piratenfrau

Der vierte Zug

Sie

Das Ende

Schönere Worte

EIN HERZLOSER HERZENSWUNSCH

Der Tag vor Anouks Geburtstag duftete nach Zimt. Nach Zimtschnecken, um genau zu sein. Für die Fast-Dreizehnjährige gehörte dieser Duft zu ihrem besonderen Tag wie Kerzen, Kuchen und Geschenke. Und Herzklopfen. Sie konnte nicht sagen, weshalb es ausgerechnet dieses Jahr besonders stark war. Doch auch wenn sie eigentlich kein Kind mehr war, fühlte sich Anouk an dem Freitag vor ihrem Geburtstag, an dem der Zimtduft bereits seit dem frühen Morgen verheißungsvoll durch das Haus strich, so aufgeregt, als sei sie wieder fünf Jahre alt. Sie kannte bereits die wichtigsten Geschenke, die sie bekommen würde (ein neues Smartphone und Kopfhörer), und trotzdem gab sie sich dem Gefühl der Ungewissheit hin, als wäre sie insgeheim nicht ganz sicher, was morgen früh in den Paketen sein würde. Sie glaubte bereits, das bunte Papier unter den Fingern zu fühlen, das sie wie immer aufreißen würde, während ihre Mutter sie ermahnte, bitte aufzupassen, damit man das Papier noch einmal verwenden könnte.

Anouks Schultag schlich nur so dahin, aber nicht einmal der Mathematikunterricht (5. und 6. Stunde!) konnte ihr die Vorfreude auf ihren Geburtstag nehmen. Alles schien einfach perfekt. Der Apriltag schenkte ihr auf dem Heimweg einen so strahlendblauen Himmel, dass es beinahe wehtat, ihn anzusehen. Die Luft trug die Aussicht auf einen wunderschönen Frühling in sich, und Anouk war so guter Laune, dass sie schon anfing, sich Gedanken über ihren Herzenswunsch zu machen, ehe ihr Haus auch nur zu sehen war.

Der Herzenswunsch war Anouk fast noch wichtiger als der Zimtduft. An jedem Geburtstag überlegte sie ihn sich. Es war der Wunsch, der am tiefsten in ihrem Herzen verborgen war und der in kein Päckchen gepackt und mit keiner noch so hübschen Schleife umwickelt werden konnte. Und jedes Jahr, seit sie schreiben konnte, notierte sie ihn. Manchmal kam sie sich töricht deswegen vor und hatte es auch nie jemandem verraten (nicht einmal ihrer Mutter oder ihrem Vater). Doch der Herzenswunsch gehörte einfach zu ihrem Geburtstag dazu. Anouk war sicher, dass diese Wünsche mächtig waren. Sie glaubte fest daran, dass sie sich alle irgendwann einmal erfüllten. Sie mussten ehrlich und aufrichtig sein. Dann konnte sie nichts aufhalten. Gut, auf das Pferd wartete sie bis heute, aber das konnte sich noch ändern (hoffentlich). Hingegen waren ihre Eltern tatsächlich vergangenes Jahr mit ihr in den Urlaub geflogen. Nach vielen sommerlichen Autofahrten an die Nordsee war es Anouks Traum, eben ihr Herzenswunsch, gewesen, einmal im Leben zu fliegen. So viele Jahre (wenigstens zwei) hatte sie es herbeigesehnt, die Wolken von oben zu sehen. Und sie waren bis nach Amerika geflogen.

Der Flug war nicht der einzige Herzenswunsch gewesen, der sich erfüllt hatte. Das Haus mit dem Garten und der Wendeltreppe, das nun am Ende des Hagebuttenwegs in Sichtweite kam, hatte sie als Achtjährige über alles herbeigesehnt und diesen Wunsch mit krakeliger Schrift gewissenhaft notiert. Was aber, dachte sie bei sich, was aber könnte es wohl diesmal sein?

Sie schloss die Haustür auf und blieb einen Moment im Eingang stehen. Der Duft der Korvapuusti, der finnischen Zimtschnecken, hüllte sie ein. Das Rezept konnte Anouk auswendig aufsagen, genau wie ihre Mutter. Das Klappern in der Küche deutete darauf hin, dass Anouks Mutter gerade eifrig dabei war, die Schnecken und Anouks Geburtstagskuchen zu backen. Und … ein Schrei erfüllte das Haus mit der Wendeltreppe und dem großen Garten. Der Moment der Vorfreude bekam einen Sprung wie ein Spiegel, der zu Boden gefallen war. Anouk sah den gewundenen Treppenaufgang entlang in den ersten Stock.

Schwere Schritte. Ihr Vater, der heute von Zuhause aus arbeitete, kam eilig aus seinem Arbeitszimmer gelaufen. »Ich kümmere mich schon um sie«, rief er. Dabei sah er hinab und erkannte Anouk im Hauseingang stehen. »Oh, guten Tag, Fast-Geburtstagskind«, sagte er ein wenig außer Atem, während er, ohne anzuhalten, auf die offen stehende Schlafzimmertür zueilte. »Maya ist aufgewacht.«

Anouk betrat das Haus, schloss die Tür und stellte ihren Schulrucksack neben die Garderobe. Maya. Ihre kleine Schwester. Seit sechs Monaten nun schon teilte sich Anouk das Haus und die Zeit ihrer Eltern mit ihr. Maya war der Grund, weshalb der Flug, den sich Anouk so sehnsüchtig gewünscht hatte, für lange Zeit der letzte bleiben würde, wie ihr Vater mit Hinweis auf sein dauerstrapaziertes Bankkonto angemerkt hatte. Und sie war auch der Grund, weshalb sich das Leben der nun nicht mehr ganz so kleinen Familie von Grund auf geändert hatte.

Nun, einige dieser Veränderungen waren sehr schön. Das musste Anouk schon zugeben. Ihre Mutter war nun immer zu Hause. Und das zumindest noch ein Jahr lang. Und Maya war ja auch … irgendwie süß. Meistens zumindest. Anouk musste auch das zugeben. Sie roch (fast) so gut wie die Zimtschnecken ihrer Mutter. Und sie im Arm zu halten war schon … besonders. Aber es war Anouk nicht entgangen, dass ein großer Teil der Zeit, die ihre Eltern und auch alle anderen Verwandten sonst für Anouk übrig gehabt hatten, plötzlich Maya gehörte. Jeder wollte Maya sehen. Jeder brachte Maya etwas mit. Jeder freute sich, wenn Maya irgendetwas tat. Selbst ein Glucksen von ihr verzückte alle, als hätten sie noch nie ein Lachen gehört. Manchmal machte dies Anouk wütend. Sie erschrak dann über sich selbst. Und daher gab es (ganz selten) Momente (und dieser hier gehörte dazu), da dachte sich Anouk, wie es wohl wäre, wenn sie wieder alleine mit ihren Eltern sein dürfte. Nur einen Tag lang. So wie früher.

Der Gedanke verflog so schnell, wie er gekommen war, und Anouk ging zu ihrer Mutter in die Küche, die gerade dabei war, Schokolade für ihren Lieblingskuchen zu schmelzen. Anouk setzte sich und kippelte geschickt auf dem Stuhl, während sie ausführlich von ihrem Tag erzählte. Wenn ihre Mutter nicht hinsah, stahl sie eine der kleinen Zimtschnecken und aß sie heimlich auf. Später gab es ein (wie Anouk fand) ziemlich überschaubares Abendessen. Und dann begann das Warten.

Es dauerte ewig, bis das Ende des Tages in Sichtweite kam. Anouk war ganz genau um 0 Uhr und eine Minute geboren worden. Wenn ihr Geburtstag halbwegs günstig lag (aber auch dann, wenn er sehr ungünstig lag) und sie es schaffte, lange genug wach zu bleiben (was überhaupt kein Problem war), feierte sie mit ihren Eltern in ihren Geburtstag hinein. Anouk lag bereits seit einer Stunde auf ihrem Bett und musste kurz eingenickt sein, als sie leise Stimmen hörte.

»Wir sollten sie zudecken. Lass uns morgen ihren Geburtstag feiern.« Das war ihre Mutter.

Anouk spürte die Müdigkeit wie ein bleischweres Gewicht, das sie zurück in ihre Träume ziehen wollte. Doch sie wehrte sich. Das Wort Geburtstag wirkte dabei wie ein ganzes Glas Cola mit Zucker, ach was, wie zwei. »Ich habe nicht geschlafen«, log sie gähnend und musste selbst darüber lachen.

Ihr Vater stellte ein Tablett mit Schokoladenkuchen auf den Boden. Dreizehn Kerzen brannten auf ihm. Und ein kleines Päckchen legte er dazu. Die anderen gab es erst nach dem Aufstehen und dann noch mal einige, wenn die Verwandten kamen. Aber dieses eine durfte Anouk schon jetzt auspacken. Das war auch eine Tradition. So wie die Zimtschnecken.

»Noch fünfzehn Sekunden«, meinte ihre Mutter und sah auf die Armbanduhr an ihrem Handgelenk.

Himmel, dachte Anouk. Eine Uhr. Wer trägt denn noch so etwas?

»Noch zehn«, sagte ihre Mutter und hielt den Blick starr auf die Uhr gerichtet, während sich Anouk aufsetzte. Kerzenschein und Kuchenduft. Es brauchte nicht mehr für einen Moment voller Glück. Gut, das Päckchen mit dem bunten Papier und der Schleife war auch nicht schlecht.

»Noch fünf.« Ihre Mutter und ihr Vater zählten, als gälte es, den Start einer Weltraumrakete anzusagen.

»Drei. Zwei.«

Anouks Herz klopfte im Takt schnell und laut.

»Eins.«

Ein Schrei.

Maya.

Anouks Mutter seufzte und lächelte sie entschuldigend an. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, sagte sie und drückte Anouk einen hastigen Kuss auf die Stirn. Dann lief sie dem anhaltenden Schreien entgegen.

»Deine Schwester will dir eben auch gratulieren«, versuchte sich ihr Vater erfolglos an einem Scherz.

Anouk nickte stumm und seufzte. Musste Maya denn gerade jetzt schreien? In diesem Moment? Anouk besaß doch so wenige Augenblicke, in denen ihre Eltern ihr ganz allein gehörten. So wie früher. Anouk spürte Wut in sich aufsteigen. Es drehte sich doch sowieso ständig alles nur um Maya. Dies aber war der Beginn von Anouks Geburtstag. Wollte ihre Schwester ihr den verderben? Wie ungerecht!

»Herzlichen Glückwunsch«, sagte ihr Vater. »Hier, pack aus.«

Anouk seufzte noch einmal, öffnete die Schleife und riss das Papier vom Päckchen.

Ihr Vater lachte. Er wusste genau, woran Anouk gerade dachte. »Pass bitte auf! Das können wir noch mal verwenden«, benutzte er die Worte, die sonst ihre Mutter gebrauchte.

Ein Lächeln zog über Anouks Gesicht, trotz des Ärgers über Maya. Erwartungsvoll betrachtete sie das Geschenk. Ein Buch. Es besaß einen leuchtend bunten und wunderschön verzierten Einband. Als sie es jedoch durchblätterte, fand sie nur leere Seiten.

»Für besondere Gedanken und schöne Sätze«, sagte ihr Vater.

Ein Notizbuch für ihre eigenen Worte. Das gefiel Anouk. Die Seiten schienen begierig darauf zu warten, gefüllt zu werden. Kein Problem für Anouk. Es gab (abgesehen vom Lesen) im Grunde nichts, was sie mehr liebte als das Schreiben. Geschichten natürlich. Sie dachte sie sich aus und notierte sie. Mal waren die Geschichten nur einige Sätze lang und hörten schon wieder auf, kaum dass sie begonnen hatten. Manchmal aber fanden ihre Erzählungen auch ein Ende (gezeigt hatte sie jedoch noch niemandem jemals eine ihrer Geschichten). Sie kritzelte ständig, wenn ihr eine Idee kam, ein paar Sätze auf Papier. Auf Notizzettel, Briefumschläge, Kassenzettel, es war ganz egal. Und sie bewahrte sie in einem Schuhkarton auf. Aber das hier war besser. Viel besser. »Danke«, sagte sie und unterdrückte ein Gähnen. Die Müdigkeit kam zurück. Sehr schnell.

Ihr Vater schnitt zwei Kuchenstücke ab und gab ihr eines.

Anouk war schon so schläfrig, dass sie es sich nur mit Mühe in den Mund schieben konnte, während ihre Mutter erfolglos versuchte, Maya zu beruhigen.

»Dann schlaf schön«, sagte ihr Vater, nachdem sie beide aufgegessen hatten. »Morgen wird ein ereignisreicher Tag, du Teenager.«

Teenager. Wer verwendete denn so ein Wort? Doch nur Menschen mit Armbanduhren. »Das ist echt peinlich«, kommentierte Anouk die Bemerkung und pustete die Kerzen aus.

Später, nachdem ihr Vater gegangen war, sie sich die Zähne geputzt und Maya sich beruhigt hatte, lag Anouk in ihrem Bett und horchte in ihr Herz. Welchen Wunsch würde sie in diesem Jahr darin finden? Was wünschte sie sich mehr als alles andere? Was ließ sich nicht in Papier einpacken? Der Gedanke nahm so plötzlich in ihrem Kopf Gestalt an, als habe er nur die ganze Zeit darauf gewartet, sich zu zeigen. »Meine Eltern«, wisperte sie leise und schämte sich für die Worte. Aber dann spürte sie wieder die Wut über Maya in sich und ihre Stimme wurde fester und lauter. »Ich will meine Eltern zurück.«

Draußen donnerte es. Komisch, dachte Anouk. Sie hatte den ganzen Tag über keine Wolke am Himmel gesehen. Und es klang auch nicht nach Regen. Nur das Donnern hörte sie.

Und ihren Herzenswunsch, drängend und laut.

Sie stand auf, ging zu ihrem Schreibtisch und nahm das neue Notizbuch. Dann schrieb sie mit einem Bleistift den Wunsch, den sie in sich so deutlich hören konnte wie den Donner, auf die erste Seite.

Ich wünsche mir, dass meine Eltern nur noch mir und nicht mehr Maya gehören.

Für einen Moment war es ganz still. Dann donnerte es so heftig, als würde etwas die Welt in zwei Teile schlagen.

Anouk zuckte zusammen. In dem Moment, in dem sie den Wunsch aufgeschrieben hatte, war die Wut über Maya ganz heiß in Anouk gewesen. Doch mit dem Punkt, den sie auf die Seite gesetzt hatte, war die Wut plötzlich erloschen wie ein heruntergebranntes Feuer und nichts war von ihr geblieben. Nichts als ein äußerst ungutes Gefühl. Nein, dachte sie bei sich. Dieser Herzenswunsch gefiel ihr nicht. Selbst wenn er wahr sein mochte, rein und wahrhaftig, klang er schrecklich. Herzlos. Sie radierte die Worte rasch weg und legte sich wieder in ihr Bett. Sie würde sich besser einen anderen Herzenswunsch überlegen. Später.

Komisch, dachte sie noch bei sich, während sie sich unter ihre Decke kuschelte. Das Donnern war plötzlich vorüber.

Die Welt war ganz still, als wartete sie gespannt.

Dann begann Anouk zu schlafen.

Und in dem Haus mit dem Garten und der Wendeltreppe entfaltete ein herzloser Herzenswunsch eine ungeheure Macht.

Eine Macht, die alles veränderte.

PAN

Der Morgen an Anouks Geburtstag war … perfekt. Sie wusste nicht, was sie geweckt hatte. Die Aufregung oder das Klappern von unten. Sie blieb im Bett liegen und genoss den Moment, ehe sie die Schritte ihrer Mutter hören und die Tür in ihr Zimmer leise geöffnet werden würde. Dieser ganze Morgen atmete die Vorfreude auf ihren Geburtstag. Dann aber dachte Anouk an die vergangene Nacht und erwartete jeden Moment, dass sich gleich ein neuerlicher Schrei ihrer kleinen Schwester über die wunderschöne Stille legen würde.

Sie lauschte angespannt. Ihr Vater deckte vermutlich gerade den Frühstückstisch, nachdem er bereits Brötchen geholt hatte. Sie hörte ein leises Klirren und ihn selbst fluchen. Vermutlich hatte er eine Tasse fallen lassen. Doch Maya blieb stumm. Brave Maya, dachte Anouk. Sie war so guter Laune, dass sie ihrer kleinen Schwester einfach nicht böse sein konnte. Na ja, eigentlich war es auch gar nicht so schlimm, dass sie da war. Anouk musste sich wohl oder übel an sie gewöhnen. Vermutlich.

Die Tür in ihr Zimmer wurde leise geöffnet.

Ein Lächeln breitete sich über Anouks Gesicht aus. Nun ging es los. Endlich.

Dass etwas nicht stimmte, merkte sie erst, als sie die Kerzen des Geburtstagskranzes ausgepustet, ihre Geschenke (wie erwartet ein Smartphone samt Kopfhörer) ausgepackt und sich an den Frühstückstisch gesetzt hatte. Vom Garten her schien die Sonne fröhlich auf den Esstisch und malte ein helles Muster auf die Platte. Anouk saß wie immer ihrer Mutter gegenüber, ihr Vater an der schmalen Kopfseite. Doch der Laufstall, in den ihre Eltern Maya oft legten und der seinen festen Platz neben Anouks Mutter hatte, fehlte.

»Wo ist sie?«, fragte Anouk und biss in ihr Mohnbrötchen mit selbst gemachtem Paprikakäse.

»Wer?«, fragte ihre Mutter, während sie Anouks Vater einen vorwurfsvollen Blick zuwarf, der heimlich auf sein Smartphone schielte. Handys waren am Tisch verboten.

»Na, Maya«, erwiderte Anouk und griff nach ihrer Kakaotasse.

»Maya?« Ihre Mutter runzelte die Stirn und zog Anouks Vater das Telefon aus der Hand, der sie daraufhin wie ein ertappter Schuljunge ansah.

»Eure Tochter? Hallo?«, meinte Anouk. Sie schüttelte den Kopf. Himmel, waren ihre Eltern über Nacht alt und begriffsstutzig geworden?

»Ich dachte, unsere Tochter heißt Anouk«, sagte ihr Vater und goss sich einen Kaffee ein. »Oder spielen wir jetzt so ein Spiel, bei dem wir alle fremde Namen haben? Aber dafür bist du ein wenig alt, nicht, Teenager?« Er lachte, beugte sich vor und strich Anouk über ihre braunen, langen Haare.

Anouk konnte mit dieser Art Humor wenig anfangen. Sie wollte schon sagen, dass er wieder echt peinlich war. Doch dann besann sie sich eines Besseren. Maya schlief sicher noch. Und ihre Eltern wollten diesen einen Morgen ganz alleine ihr schenken. So wie früher. Eigentlich richtig nett. Als würden sie etwas von dem herzlosen Herzenswunsch der vergangenen Nacht ahnen. Ihn Anouk gewissermaßen von der Stirn ablesen. Sie beschloss mitzuspielen und ihrem Vater sogar (wenigstens dieses eine Mal noch) das Wort Teenager zu vergeben. Also war ihr Wunsch irgendwie ja doch in Erfüllung gegangen. Auch wenn sie sich noch immer ein wenig dafür schämte, dass sie die hässlichen Worte in das schöne Buch geschrieben hatte.

Die Zeit nach dem Frühstück flog nur so dahin. Anouk fütterte ihre Kaninchen, ehe sie sich daran machte, ihr neues Smartphone in Betrieb zu nehmen. Sie hatte noch nicht mal die Hälfte ihrer besten Freundinnen angerufen, als es auch schon an der Tür klingelte. Die Gäste. Gerade hatte Anouk das Smartphone beiseitegelegt, da wurde sie nach unten gerufen. Laute Stimmen erfüllten das Haus. Anouks Großeltern waren stets die Ersten, die kamen. Dem drahtigen, pensionierten Lehrerehepaar sah man nicht an, dass es über 70 Jahre alt war. Anouks Oma trug die gleichen Sommersprossen im Gesicht, die auch Anouks Mutter und sie selbst besaßen.

Anouk hatte gerade ihr Geschenk entgegennehmen können, da klingelten auch schon die finnischen Freunde der Familie, von denen Anouks Mutter vor Jahren das Rezept für die Zimtschnecken erhalten hatte. Flur und Wohnzimmer füllten sich schneller als ein Kaufhaus in der Vorweihnachtszeit und bald saßen alle zusammen und feierten. Es war, mit einem Wort, wunderschön. Genauso hatte es sich Anouk tief in ihrem Herzen gewünscht. Alle waren für sie da. Es fühlte sich einfach gut an, endlich einmal wieder im Mittelpunkt zu stehen. Jeder wollte mit ihr reden und jeder hörte ihr zu.

Irgendwann aber, es dämmerte bereits und die ersten Gäste verabschiedeten sich, kehrte das Gefühl zurück, dass etwas nicht stimmte. Sie hatte Maya die ganze Zeit nicht gesehen.

Auf ihre Frage nach der kleinen Schwester runzelte ihre Mutter die Stirn. »Schon wieder dieser Name«, sagte sie, während sie die Geschirrspülmaschine belud. »Wer ist das?« Sie schaltete die Maschine an. »Eine Freundin von dir? Wenn du für heute jemanden einladen wolltest, hättest du Bescheid sagen sollen.«

Noch ehe die verdutzte Anouk etwas erwidern konnte, ging ihre Mutter auch schon in den Flur und verabschiedete die Großeltern. Der Duft nach Zimt hing noch in der Luft, doch er wurde bereits schwächer. Und Anouk fühlte sich so verwirrt wie noch nie in ihrem Leben. Was sollte dieses Schauspiel ihrer Eltern? Sie konnten doch ruhig damit aufhören.

Anouk ging nach oben und beschloss, einmal nach Maya zu sehen. Wie seltsam, dachte Anouk, als sie auf die Tür zum Schlafzimmer der Eltern zulief. Sie hatte sich so gewünscht, ihre Mutter und ihren Vater alleine für sich zu haben. Und nun vermisste sie ihre kleine Schwester schon nach ein paar Stunden. Bestimmt lag es an diesem seltsamen Spiel ihrer Eltern.

Anouk öffnete die Tür.

Und erstarrte.

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Das konnte es nicht geben. Anouk saß auf ihrem Bett und versuchte zu verstehen, was sie gerade gesehen hatte. Oder besser: was sie gerade nicht gesehen hatte. Das Schlafzimmer ihrer Eltern war ohne den geringsten Hinweis auf ihre Schwester. Kein Babybett. Keine Schachtel mit Schnullern. Kein … irgendwas. Es schien fast … Anouk schlug sich die Hand vor den Mund. Nein, dachte sie, das war verrückt.

Ich wünsche mir, dass meine Eltern nur noch mir und nicht mehr Maya gehören.

Ein Herzenswunsch ging doch nicht einfach sofort in Erfüllung. Wie auch sollte das möglich sein? Anouk sprang von ihrem Bett auf, als hätte sie auf heißen Kohlen gesessen, und begann in ihrem Zimmer umherzulaufen. Aber wo sollte ihre Schwester sein? Sie hätte doch längst gestillt werden müssen. Und Anouks Mutter war den ganzen Tag unten gewesen. Und niemand hatte nach Maya gefragt. Und weshalb sollten auch noch die Möbel fehlen? Und … Anouk stürzte zu ihrem Schreibtisch. Das Buch lag da, wo sie es gestern Nacht hingelegt hatte. Aufgeschlagen auf der ersten Seite. Die ausradierte Schrift war noch zu lesen. Ganz schwach, doch sie schien sich beharrlich zu weigern, endgültig zu verschwinden.

Ich wünsche mir, dass meine Eltern nur noch mir und nicht mehr Maya gehören.

Sie radierte noch einmal über die Buchstaben, doch sie verschwanden einfach nicht. Als würde sich das Papier an sie erinnern. Du hast sie weggewünscht, schoss es Anouk durch den Kopf. Nein, erwiderte sie sich selbst. Das war unmöglich. Und doch … Maya war fort.

Anouk fühlte sich verzweifelt. Ihr Herz schlug so schnell, als wollte es aus ihrer Brust entkommen. Ob vor Angst um ihre Schwester oder vor schlechtem Gewissen konnte sie nicht sagen. Vermutlich trieb beides es an. Nie hätte sie gedacht, dass sie Maya einmal so vermissen würde. Ach was, dass sie so eine Angst um diesen kleinen Quälgeist haben würde. Aber nun fühlte sie die ganze Liebe zu ihr, die verdeckt gewesen war unter der Enttäuschung und der Wut über die Zeit, die ihre Eltern Maya und nicht Anouk geschenkt hatten. Verdeckt unter der brennenden Eifersucht. Was sollte sie tun? Ihren Eltern alles sagen? Nein. Sie erinnerten sich ja nicht mal an die kleine Tochter. Die anderen Familienmitglieder und Freunde schieden aus dem gleichen Grund ebenfalls aus. Die Polizei? Anouk wollte schon ihr Smartphone holen, dann aber überlegte sie es sich anders. Was sollte sie auch sagen? Meine Schwester existiert nicht mehr? Man würde Anouk am Ende noch zu einem Arzt bringen.

Sie schloss die Augen und dachte nach. Irgendetwas musste sie doch tun können. Ein verrückter Einfall nahm plötzlich in ihrem Kopf Gestalt an. Oh ja, das ist wirklich wahnwitzig, sagte sie sich. Doch ihr fiel beim besten Willen nichts anderes ein.

Sie fühlte sich, als sei sie nicht ganz bei Trost, während sie das Buch wieder zur Hand nahm. Die Seite mit dem herzlosen Herzenswunsch aufschlug. Und nach einem Stift griff. Sie brauchte einen neuen Herzenswunsch. Einen, der den von gestern Nacht auslöschte.

Draußen donnerte es wieder, obwohl keine Wolke am Himmel stand. Das Wetter spielte wirklich verrückt, dachte Anouk und schloss erneut die Augen.

Sie horchte tief in sich hinein. Herzenswünsche mussten ehrlich sein. Ganz und gar. Oh, und nie hatte sie einen ehrlicher gemeint als den, den sie nun mit zittriger Hand über die herzlosen Worte schrieb.

Ich wünsche mir, dass Maya zurückkehrt.

Sie zwang sich, die Buchstaben fest genug auf das Papier zu drücken, damit sie alle zusammen die ausradierten verdeckten. Und sie schrieb sie so groß, dass diese nicht mehr zu lesen waren. Mit dem Punkt, den sie setzte, donnerte es so laut, dass Anouk zusammenzuckte.

Und einen Moment später klingelte es an der Tür.

Anouk ließ vor Schreck den Stift fallen. Dann lief sie los. Es war natürlich nur ein Zufall, sagte sie sich, während sie die Wendeltreppe so schnell hinunterrannte, dass ihr ein wenig schwindlig wurde. Maya konnte nicht mal laufen, wie sollte sie da klingeln? Dennoch riss Anouk die Tür auf. Und spürte eine ungeheure Enttäuschung, als sie den Postboten vor sich stehen sah. Sie wunderte sich, dass er so spät noch kam, und nahm das Paket wortlos entgegen, das er ihr reichte. Dann schloss sie ernüchtert die Tür. Ihre Eltern waren beide in der Küche und hatten das Klingeln über das Rattern der Spülmaschine hinweg offenbar nicht gehört. Anouk starrte auf das Paket. Ihr Name stand darauf. Noch ein Geschenk?

So enttäuscht, dass es wehtat, schlich sie in ihr Zimmer, warf das Paket auf ihr Bett und legte sich daneben. Was nur sollte sie tun?

Um sich von den quälenden Gedanken über Mayas unerklärliches Verschwinden abzulenken, griff sie das Paket und öffnete es. Darin lag ein in Geschenkpapier eingeschlagenes zweites Paket. Anouk packte es aus und zog ein altes Spiel hervor. Es sah ziemlich gebraucht aus. Als wäre es viele Jahre lang von vielen Menschen gespielt worden. Wer schenkte ihr denn so etwas? Anouk runzelte die Stirn. Keine Karte. Und auf dem Postpaket fand sie auch keinen Absender.

Sie betrachtete den Karton des Spiels. Er war smaragdgrün (Anouks Lieblingsfarbe), karminrot (mochte sie auch), meerblau (ebenfalls sehr hübsch) und sandgelb (wie ihre Lieblingsjacke). Und darauf stand in verschnörkelter, strahlendgoldener Schrift: Anouks Spiel.

Sie stutzte. Das war ein Spaß, oder? Jemand hatte das Spiel für sie gemacht. Aber dafür war es eigentlich viel zu alt. Anouk öffnete den Karton. In ihm fand sie ein abgegriffenes Brettspiel. Eines von der Art, die ihre Eltern so gerne am Sonntagnachmittag auspackten, wenn es draußen regnete. Das Spielfeld bestand aus vier Teilen in den Farben, die auch der Karton aufwies. Das Grün gehörte zu einem Urwald, das Blau zu einem Meer mit ein paar aufgemalten Inseln. Das Rot zu einem feurigen Gebirge. Und das Gelb zu einer Wüste. Einige Figuren aus Holz waren auch dabei. Sie sahen fast lebensecht aus, wie Miniaturausgaben. Ein Affe. Ein Kamel. Eine Schlange. Ein Geschöpf mit spitzen Ohren. Ein Riese. Und ein Ritter in voller Montur. Sonst war nichts in dem Karton. Doch: Anouk fand noch einen Würfel, auf dem sie die Symbole der verschiedenen Spielfelder erkannte. Auch das Gesicht des Affen war auf ihm zu finden. Und außerdem war da noch ein Feld, das eine Art Arena zeigte. Fast ein wenig wie aus einem Film über die alten Römer. Sie wog ihn in der Hand. Für einige Momente hatte das seltsame Paket sie wirklich von den Sorgen um ihre Schwester abgelenkt. Nun aber konnte sie erneut an nichts anderes denken als an Maya und dies machte Anouk das Herz schwer. Sie fühlte sich hilflos. Schuldig. Und wütend. Als wäre der Würfel der Auslöser von allem, warf sie ihn voller Wucht fort. Er prallte gegen die Zimmertür und blieb mit dem Konterfei des Affen nach oben liegen.

Plötzlich hörte Anouk wieder den Donner.

Und dann schien es, dass die Welt einfror. Anouk sah vor dem Fenster einen Vogel am Himmel, der in der Luft stehen geblieben war. Doch das war nicht das Seltsamste. Noch unbegreiflicher war das Erscheinen des Wesens, das mit einem Mal mitten in Anouks Zimmer stand. Es war einfach da, als hätte es eine unsichtbare Tür durchschritten. Vor Anouk kratzte sich ein Affe am Kopf. Ein Schimpanse, um genau zu sein. Er glich der kleinen Figur in allen Einzelheiten, nur dass dieser hier einen dunklen Anzug trug wie Anouks Vater, wenn er einen Geschäftstermin hatte. Dem Affen steckte außerdem eine Zigarre im Mund, an der er genüsslich zog. Interessiert sah er sich in Anouks Zimmer um.

»Wer bist du?« Die drei Worte kosteten Anouk lächerlich viel Mühe. Aber sie war einfach sprachlos (beinahe zumindest). Wie hätte sie auch gelassen bleiben können angesichts des Schimpansen in ihrem Zimmer? Im nächsten Moment kam sie sich töricht vor. Der Affe konnte doch nicht antworten.

Er schien sie erst jetzt zu bemerken. »Dir auch einen schönen Tag«, sagte er sichtlich verstimmt. »Es ist nicht zu glauben, wie unhöflich ich manchmal begrüßt werde.« Er seufzte. »Was soll man auch erwarten. Ich bin ja bloß ein Schimpanse. Wo bin ich hier überhaupt?«

»Das ist mein Zimmer«, antwortete Anouk zu verblüfft, um sich darüber zu wundern, dass ihr unerwarteter Besucher entgegen ihrer Erwartung doch sprechen konnte.

»Und du heißt …?«, fragte der Affe, wobei er jede Silbe betonte, als sei Anouk ein wenig schwer von Begriff.

»Anouk.« Ihre Stimme war zu einem Wispern geworden. Ich spreche mit einem Affen, dachte sie bei sich. Das war unglaublich.

»Na bitte, geht doch«, erwiderte der Schimpanse. Dann streckte er sich zu seiner vollen (wenig beeindruckenden) Größe und räusperte sich. »Mein Name«, sagte er feierlich mit einer so rauen Stimme, als habe er sich erkältet, »ist Pan.«

Pan schien irgendeine Reaktion zu erwarten. Als diese jedoch ausblieb, wedelte er ärgerlich mit seiner Zigarre. »Du bist doch nicht taub, oder?«, fragte er hörbar verschnupft.

Anouk schüttelte den Kopf und zwang eine Frage auf ihre Zunge. »Pan wie Peter Pan?« Sie hätte gerne etwas Schlaueres gefragt, doch angesichts eines rauchenden Schimpansen in ihrem Zimmer war sie arg verwirrt.

»Peter Pan?« Der Affe zog an seiner Zigarre und pustete den Rauch aus seinem Mund wie ein Drache, der sich anschickte, Feuer zu speien. »Wer ist das? Ein Freund von dir?« Ehe Anouk antworten konnte, sprach er bereits weiter. »Nein, Pan wie du und ich. Unsere Gattung, hallo?« Er sah Anouk an, als müsste sie ihm jetzt zustimmen. Da sie ihn jedoch nur wortlos anstarren konnte, fuhr er kopfschüttelnd fort: »Pan troglodytes. Das ist wissenschaftlich für Schimpanse. Du bist auch ein Schimpanse, wenn man es genau nimmt. Genetisch gesehen. Bloß mit ein bisschen wenig Fell.« Er schüttelte erneut den Kopf. Offenbar wunderte er sich über Anouks Wissenslücke.

Genetisch? Troglo… was? Anouk sah ihn noch immer wortlos an. Das war verrückter als ihre verrückteste selbst ausgedachte Geschichte. Sie selbst war verrückt. Ja, oder sie träumte. Vielleicht, dachte sie voll plötzlicher Hoffnung, hatte sie den ganzen Tag nur in ihren Träumen erlebt und wachte gleich auf.

Doch der Affe verschwand nicht. Er blieb vor ihr stehen und sah sie leicht genervt an. Und langsam verblasste Anouks Hoffnung, dass dies nicht echt war.

»Ich bin nicht zum Plaudern gekommen«, meinte er ungeduldig. »Also sag mir einfach, welchen Wunsch du rückgängig machen willst.«

Woher wusste der Affe von ihrem Wunsch? Anouk konnte sich das nicht erklären. Aber alles war geradezu unglaublich und sie beschloss, seine Frage einfach zu beantworten. »Ich wollte meine Eltern für mich alleine«, wisperte sie ganz leise.

»Wo ist das Problem dabei?«, meinte Pan und warf einen Blick in das Buch auf Anouks Schreibtisch, als könnte er die Worte darin spüren. »Geschwister bringen manchmal Ärger. Meistens sogar. Ach, eigentlich immer. Du bist besser ohne sie dran. Deine Eltern nur für dich? Ist ein solider Wunsch.«

»Der Wunsch ist grausam«, entfuhr es Anouk.

»Ich würde sagen, er ist vor allem ehrlich«, erwiderte der Schimpanse. »Schau nicht so erschrocken. Warum müsst ihr Menschen euch eigentlich so oft verstellen? Das ist so unehrlich. Ich sage immer: Sei wie du bist. Selbst der netteste Mensch hat nun einmal eine dunkle Seite. Die meisten verbergen sie tief in sich und wollen sie selbst nicht wahrhaben. Aber manchmal kommt sie eben zum Vorschein.«

Anouk strich sich über den Bauch, als müsste sie nachfühlen, ob dort eine solch dunkle Seite zu finden war. »Ist das der Schimpanse in mir?«

Pan verzog die Lippen zu einem spöttischen Lächeln. »Nein, der Mensch.«

»Aber … aber wie kann es sein, dass der Wunsch einfach in Erfüllung geht? Ich hatte den Wunsch vor dem Einschlafen aufgeschrieben und am Morgen war meine kleine Schwester wirklich verschwunden.« Anouks Stimme war leise, als erstickten Verzweiflung und Reue ihre Worte.

»Ah«, machte der Affe und nickte. »Schlechtes Gewissen. Was hast du auch geglaubt?« Pan begann langsam auf und ab zu schreiten wie Anouks Deutschlehrer, wenn er etwas erklärte. »Dass dein Wunsch nicht in Erfüllung geht?« Pan sah sie an, als wäre sie nicht ganz richtig im Kopf. »Es war ein Herzenswunsch. Sonst wäre ich ja nicht hier. Und Herzenswünsche erfüllen sich nun mal, wenn sie ganz und gar ernst gemeint sind. Früher oder später. In deinem Fall wohl früher, was?« Er lachte rau, aber als sie keine Anstalten machte miteinzustimmen, wurde er wieder ernst. »Wie heißt deine Schwester?« Er sah auf die Seite mit dem herzlosen Herzenswunsch und kniff die Augen zusammen. Konnte er ihn entziffern? »Mayo?«

»Maya«, sagte Anouk entschieden und zog Pan das Buch aus den Fingern. Nun, gefährlich schien er nicht zu sein. Bloß ziemlich seltsam.

»Du hast keine Ahnung, oder?«, fragte er und blies den Qualm seiner Zigarre in Anouks Richtung.

»Können Sie bitte aufhören, hier zu rauchen? Das ist ein Kinder… ein Jugend… mein Zimmer. Und nein, ich habe keine Ahnung.« Anouk schaffte es irgendwie, nicht in Tränen auszubrechen. Das Zittern in ihrer Stimme aber entging Pan offenbar nicht.

»Du fühlst dich schuldig. Und nun hast du einen zweiten Herzenswunsch gefunden. Einen, der den ersten, den herzlosen, tilgen soll. Deine helle Seite, die mit der dunklen ringt.« Er ließ die Zigarre in einer Tasche seines Anzugs verschwinden, wo sie weiter vor sich hin qualmte.

»Woher wissen Sie von den Herzenswünschen?«

Pan lachte rau und kratzte sich über das Fell in seinem Gesicht. »Du kannst mich ruhig duzen. Nun, meinst du, du wärst die Erste und Einzige, die Herzenswünsche an ihrem Geburtstag hat? Die Dinger gibt es, seit es Geburtstage gibt. Ich glaube, mindestens seit die Ägypter die Geburtstage ihrer Pharaonen gefeiert haben. Ich will eine Pyramide, damit alle sehen, wie großartig ich bin.« Pan rollte mit den Augen. »Und wenn jemandem auffällt, dass er seinen Herzenswunsch rückgängig machen will, wenn er ihn aus tiefstem Herzen bereut, erhält er das Spiel. Kommt vor. Schlaue Leute wissen von diesen Dingen. Du aber offenbar nicht.«

Anouk schüttelte den Kopf.

»Hast du nicht die Anleitung gelesen?« Pan deutete auf den Deckel des Spiels, der neben dem Spielbrett lag.

Sie bemerkte winzige Buchstaben auf seiner Innenseite. Und schüttelte erneut den Kopf.

»Na, wunderbar, wo hat mich der Regelmacher denn nun wieder hingeschickt?« Der Schimpanse sah Anouk vorwurfsvoll an. »Also gut, ich erkläre es dir. Du hattest nun einmal einen Herzenswunsch. Und es muss ein ziemlich starker gewesen sein, wenn er so schnell in Erfüllung gegangen ist.« Pan schnupperte. »Kuchen. Zimtschnecken. Du hast heute Geburtstag?«

Anouk nickte.

»Und Mayo ist heute verschwunden?«

Anouk nickte wieder. Sie war zu verwirrt, um Pan noch mal zu korrigieren.

»Wie alt bist du geworden?«

Anouk schluckte. Was hatte das Alter mit allem zu tun? »Dreizehn«, flüsterte sie in der Hoffnung, dass die Antwort irgendetwas besser machen konnte.

Pan aber schlug sich eine seiner behaarten Hände erschrocken vor den Mund. »Dreizehn, verflucht. Das ist übel. Wirklich übel.«

»Warum?«, rief Anouk laut und schlug sich nun selbst eine Hand vor den Mund. Sie musste leiser sein. Wie sollte sie ihren Eltern erklären, was Pan hier tat, wenn sie kamen, um nachzusehen, was hier los war?

Pan sah besorgt aus. »Der dreizehnte Geburtstag also. Nun, es ist so übel, weil er wichtig ist. Der Wunsch heute ist so mächtig wie kaum ein anderer. Weil dieser Geburtstag eben wichtig ist. Mit dreizehn bist du kein Kind mehr. Du trägst ab heute einen beträchtlichen Teil der Verantwortung für das, was du tust. Der Herzenswunsch, den du tilgen willst, ist daher sehr mächtig. Das wird ein hartes Stück Arbeit. Das Spiel, das dir bevorsteht, um den Herzenswunsch gegen den anderen zu tauschen, wird schwer. Sehr schwer. Wenn du dich beweist und es gewinnst, geht der neue Wunsch in Erfüllung und du erhältst Mayo zurück. Verlierst du aber, gilt der erste Wunsch weiter und Mayo bleibt für immer fort. Verstehst du?«

Anouk nickte, auch wenn sie im Grunde überhaupt nichts verstand. »Woher weißt du all diese Dinge?«

»Ich bin schlau«, erwiderte der Schimpanse und tippte sich mit einem seiner dunklen Finger gegen die behaarte Stirn. »Nun sag schon. Wie viele Spielfelder hast du abbekommen? Zwei, oder? Mehr als zwei werden es doch hoffentlich nicht sein.« Er schielte auf das Spiel.

Zur Antwort hielt Anouk vier Finger in die Höhe.

»Vier? Verdammte Sch… Das wird hart. Du musst vier Aufgaben meistern. So viele habe ich noch nie erlebt. Aber na gut, es hilft nichts. In jedem Spielfeld erwartet dich eine Aufgabe. Du spielst gegen jemanden, der dunkler Prinz genannt wird. Ist eine Flasche, glaub mir. Ich kenne ihn. Immerhin mache ich das hier schon eine echt lange Zeit. Es ist doch schon nach 1980, oder?«

»Sogar schon nach 2000«, antwortete Anouk unsicher, was sie von alldem halten sollte.

»Meine Güte«, zischte Pan, und wenn das möglich war, sah er nun sogar noch schlechter gelaunt aus. »Nun, du musst also versuchen, besser als der dunkle Prinz zu sein. In jedem der vier Spielfelder kann etwas gesammelt werden, das dir am Ende hilft. Im Finale, sozusagen. In der Arena. Da trittst du gegen den dunklen Prinzen in einem abschließenden Kampf an, nachdem ihr beide vorher einige Dinge sammelt. Waffen und so. Jeder nimmt etwas mit. Der eine die wirklich tollen Sachen, mit denen man fast unbesiegbar werden kann. Der andere den Rest, der nicht der Rede wert ist. Es wird einfach, wenn du dich vorher gut geschlagen hast. Spielend einfach.« Er lachte wieder. Und fuhr abermals ernst fort, als Anouk ihn bloß entgeistert ansah. »Aber ziemlich schwer, wenn du dich dumm anstellst. So weit dürfte alles klar sein. Fragen?«

Langsam gewann Anouk ihre Fassung zurück. »Ich weiß doch gar nicht, was ich machen muss.« Sie hoffte, dass sie nicht zu verzweifelt klang.

»Dafür bin ich da«, meinte Pan gönnerhaft, ging zum Bett und stellte das Spielbrett auf. »Vier Felder«, murmelte er griesgrämig. »Das wird anstrengend.« Er seufzte. »Aber keine Panik. Ich bin der beste Begleiter, den du dir wünschen kannst. Der dunkle Prinz hat gegen mich noch nie gewonnen. Also entspann dich. Du wirst dein Spiel spielen müssen, wenn du Mayo zurückhaben willst. Und mit mir kannst du gar nicht verlieren. Noch mehr Fragen?«

Tausendundeine, mindestens, dachte Anouk. »Wer bestimmt, dass ich spielen muss? Und wo kommt das Spiel her? Und wer hat es mir geschickt? Und wo ist Maya jetzt?«

Pan sah auf und schnaubte. »Hattest du nicht gesagt, sie heißt Mayo? Nun, das sind ziemlich viele Fragen. Und ehrlich gesagt finde ich, dass wir langsam anfangen sollten. Mayo … äh, Maya ist hier.« Der Schimpanse deutete auf die Mitte des Spielfelds.

Und zu Anouks grenzenloser Verblüffung erkannte sie dort im Schnittpunkt der vier Spielfelder das Bild ihrer kleinen Schwester. Es war mit einem dunklen Stift aufgemalt worden. Die Linien waren so verblasst, als wären sie vor langer Zeit gezogen worden.

Pan hob den Würfel auf und drückte ihn Anouk in die Hand. »Den Rest können wir klären, während du spielst.«

»Und wo spiele ich?«, fragte Anouk. »Hier?« Gut, es war vielleicht möglich, die völlig abwegige Vorstellung, ihre Schwester sei fortgewünscht worden und durch das Spielen eines Spiels wieder zurückzubekommen, zu ertragen. Auch damit, dass ein rauchender Schimpanse in ihrem Zimmer stand, konnte Anouk vielleicht noch irgendwie umgehen. Aber sie wusste nicht, wie sie das alles ihren Eltern erklären sollte, falls diese die Tür öffneten und …

»Die Zeit ist für uns angehalten. Niemand wird kommen«, sagte Pan, der Anouk die Gedanken scheinbar von der Stirn gelesen hatte, und deutete auf den im Flug erstarrten Vogel, »solange du weg bist.«

»Wieso weg?«, fragte Anouk misstrauisch. Mussten sie mit dem Spiel irgendwohin gehen?

»Weil du das Spiel in dem Spiel spielst«, antwortete Pan. Er stellte die Figuren auf. Das spitzohrige Wesen in den Wald, den Riesen zu den Bergen, die Schlange zum Meer und das Kamel in die Wüste. Seine eigene Figur und die des Ritters aber stellte er an den Rand. »Du fehlst«, meinte er knapp und deutete auf die beiden Figuren, die er zuletzt platziert hatte.

Anouk starrte ihn an. Und verstand. Sie erinnerte sich an einen Film, in dem Kinder einmal in ein Spiel geraten waren. Aber das … das … »Ich soll da rein?«

Pan rollte wieder mit den Augen. »Wieso behauptet ihr Menschen eigentlich immer, ihr wärt die Krone der Schöpfung, wenn ihr doch so begriffsstutzig seid? Natürlich musst du da rein. Mayo ist dort. Ich bin dort. Der dunkle Prinz ist dort. Und da das Spiel dort Anouks Spiel heißt … Hallo?« Er sah sie vielsagend an.

»Aber ich kenne die Regeln doch gar nicht«, meinte Anouk kleinlaut. Sie war zu verblüfft, um sich zu sorgen.

»Aber ich«, erwiderte Pan. »Jetzt mach endlich deinen ersten Zug. Würfele, damit das Spiel beginnt.«

Anouk zögerte. Abgesehen davon, dass dies alles komplett irre war, hatte sie Angst, sich auf das Spiel einzulassen. Vielleicht konnte ihr dort etwas geschehen? Hin- und hergerissen zwischen dem Drang, ihre Schwester zu retten, und der Furcht vor dem, was sie erwartete, blickte sie auf den Würfel.

Pan bemerkte ihr Zögern. Und zog einen angelaufenen Taschenspiegel aus einer Tasche seines Anzugs. »Da ist noch etwas«, meinte er mit seiner rauen Stimme. »Wenn du nicht spielst, nun … wird dein Wunsch in dir nachwirken. Er verändert dich, verstehst du?«

Anouk schüttelte den Kopf. Pans ernster Blick machte ihr fast mehr Angst als das Spiel vor ihr.

»Es geht um dein Herz«, erklärte der Schimpanse. »Noch ist es voll Mitgefühl, auch wenn der Wunsch es nicht war. Aber mit der Zeit wird er wie ein Gift wirken, wenn wir ihn nicht ersetzen. Deine dunkle Seite wird siegen und dein Herz versteinern. Sieh!« Pan hielt ihr den Spiegel vor die sommersprossige Nase.

Und Anouk erschrak. Sie erblickte sich selbst, doch es war nicht ihr Spiegelbild, das sie erkannte. Nicht direkt. Diese Anouk dort war wenigstens sechzehn. Die Augen waren hart. Der Blick eingebildet und kühl und hochnäsig. Ich bin etwas Besseres als du, schien das Mädchen im Spiegel zu sagen. Anouk schauderte es, sich so zu sehen.

»So wirst du werden, wenn du den Wunsch nicht tilgst. Ihn wirken lässt. Du. Musst. Spielen.« Er betonte jedes Wort.

Anouk wollte noch etwas sagen, doch dann schluckte sie alle Erwiderungen hinunter. Sie musste Maya retten. Sonst würde ihre Schwester auf ewig dort in dem Spiel bleiben. Und sie wollte nicht diese Anouk dort werden. Niemals. Sie schloss die Augen und warf den Würfel so rasch, als könnte sie sich die Finger an ihm verbrennen.

Pan entfuhr ein Raunen, als der Würfel mit einem Klacken auf dem Boden landete. »Gut gemacht. Ein hübscher Ort.«

DER ERSTE ZUG

Als Anouk die Augen wieder öffnete, sah sie gerade noch, wie Pan den Würfel einsteckte, während auf ihrem Bett Gras spross. Binnen weniger Augenblicke waren Kissen und Decke schon nicht mehr darunter zu erkennen und ihr Bett sah aus wie eine kleine Erhebung. Daneben schossen Bäume aus dem Holzboden in die Luft, rissen das Dach des kleinen Hauses mit der Treppe und dem Garten laut krachend auf und entfalteten ihre mächtigen Kronen, als wollten sie sich strecken. Sie waren unfassbar groß. Noch nie hatte Anouk solch gewaltige Stämme gesehen. Auch das Gras wurde geradezu riesig. Schlingpflanzen reckten sich die Wände empor, schienen tastend mal hierhin, mal dorthin zu wachsen, und drückten dann die Mauern des Hauses so spielend leicht ein, als wären diese aus Pappe. Grün und rot leuchtende Pilze trieben auf Anouks Kleiderschrank aus, der längst wie das ganze Bett von Gras überwuchert war. Anouk konnte ihnen beim Wachsen zusehen. Sie reichten immer höher, bis sie so groß wie Anouk waren. Alles hier war … gigantisch.

»Der Wald«, wisperte sie beinahe sprachlos vor Verblüffung. Das alles hier war so unglaublich. Glaub es dennoch, sagte sich Anouk und versuchte ihr vor Aufregung wild schlagendes Herz zu beruhigen.

»Sehr scharfsinnig«, kommentierte Pan. »Die Krone der Schöpfung, fürwahr.«

»Aber weshalb ist hier alles so …«

»Groß?«, beendete er ihre Frage. »Weil du noch ganz am Anfang deines Spiels stehst. Das klärt sich gleich alles auf.«

Anouk starrte ihn verwirrt an. Er trug nun nicht mehr den Anzug, sondern … War gerade Karneval? »Robin Hood?«, fragte sie.

Pan wirkte einigermaßen unglücklich in den grünen Sachen mit dem spitzen Hut und der Feder auf dem Kopf. »Ich weiß auch nicht, was das immer soll. Der Regelmacher packt mich in jeder Spielwelt in ein Kostüm, das aus seiner Sicht dorthin passt. Erzähl bloß keinem davon.«

Wozu auch, dachte Anouk bei sich. Man konnte es ja deutlich sehen. Sie nickte beiläufig und atmete tief durch. Gut, dass sie ihre Jeans, den Pullover und ihre Turnschuhe hatte behalten können.

»So«, meinte Pan übellaunig. »Also fangen wir an zu spielen.«

»Warum eigentlich ein Affe?«, fragte Anouk und hatte in dem Moment, in dem die Frage ihren Mund verlassen hatte, Angst, sie könnte Pan mit ihr beleidigen.

In der Tat sah er sie streng an. »Affe? Ich bin nicht bloß ein Affe. Ich bin ein Schimpanse. Die wahre Krone der Schöpfung. Eine Hochleistungsmaschine. Schlau, ach was, genial. Mit einem Körper, für den es keine Grenzen gibt. Ich bin gewitzt, gefährlich, gerissen.«

Geschwätzig, dachte Anouk bei sich, doch sie sagte nichts.

»Ganz einfach überragend.« Pan wirkte sehr zufrieden mit sich. »Du brauchst eben jemanden mit Mut und … Klasse. Wer bitte außer mir sollte das sein, hm?« Er grinste Anouk überheblich an. Die schlechte Laune war zumindest für den Moment verschwunden. »Es gibt natürlich auch andere Begleiter durch das Spiel. Zum Beispiel eine sehr nervige und vorlaute Schildkröte. Testudina. Glaub mir, ihre Spiele dauern eine Ewigkeit. Und sie ist wahnsinnig eingebildet.« Er setzte einen erhabenen Gesichtsausdruck auf. »Eile mit Weile, junger Schimpanse«, sagte er mit verstellter Stimme. »Eile hat noch nie ans Ziel geführt.« Pan schüttelte sich. »Furchtbar. Und am Ende wird auch noch sie das beste Spiel abliefern und den Pokal des Regelmachers gewinnen.«

Anouk starrte Pan nur verständnislos an, doch der plapperte einfach weiter.

»Nun, sieh einmal dort.« Er deutete an den Rand des Weges. »Da erfahren wir auch schon, was du zu tun hast.« Er zeigte auf einen Stein, groß wie ein Tisch. Darauf stand zu Anouks Überraschung das Spiel. Weder konnte sie sich erklären, wie es hierhergekommen war, noch wer es aufgebaut hatte. Sie erkannte die Figur mit den spitzen Ohren. Alle anderen waren verschwunden.