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Thomas Wüpper

BETRIEBS
STÖRUNG

Das Chaos bei der Bahn
und die überfällige
Verkehrswende

Ch. Links Verlag

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage, September 2019
entspricht der 1. Printausgabe von September 2019
© Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de
Umschlaggestaltung: Nadja Caspar, Ch. Links Verlag,
unter Verwendung eines Fotos von Dieter Rüchel

eISBN 978-3-86284-455-5
ISBN 978-3-96289-052-0

Inhalt

Einleitung

Warum uns die Bahn mehr wert sein muss

I. Am Prellbock –
Wie die Bahn ins Chaos rast

Unzuverlässigkeit

Warum sich Verspätungen und Zugausfälle häufen

Schandflecke

Wo mieser Service und dürftige Angebote nerven

Ticketwirrwarr

Wie hohe Preise und undurchsichtige Tarife abschrecken

Zitterpartien

Von ewigen Baustellen und gefährlichen Achsen

Stuttgart 21

Das schwäbische Milliardengrab

Lieferdebakel

Wenn Europas größte Güterbahn ins Abseits fährt

II. Ausgebremst – Wie die Politik
bei der Bahn versagt

Stilllegung

Von der Goldenen Ära in die Krise

Bahnreform

Viel versprochen – wenig gehalten

Irrfahrten

Die Fehler der Bahn- und Verkehrspolitik

1. Vorfahrt für Auto und Flieger –
und die Bahn rollt aufs Abstellgleis

2. Rendite vor Gemeinwohl –
ein Aktienkonzern denkt nur an sich

3. Staatsbahn auf Irrfahrt –
massive Steuerungsdefizite

4. Die Infrastruktur verkommt –
und alle schauen zu

5. Die Bahn auf Börsenkurs – Fehlschlag
mit fatalen Folgen

6. Milliarden ins Ausland – der geplatzte Traum
vom Global Player

7. Mehdorn, Grube, McKinsey & Co. –
Fehlgriffe beim Management

8. ICE-Tunnelpisten statt Flächenbahnen –
Highspeed ersetzt Vernunft

9. Schattenhaushalt außer Kontrolle –
die DB als Fass ohne Boden

III. Verkehrswende –
Der Weg zur besseren Bahn

Fahrplan 2040

Zehn Stationen eines nationalen Schienenpakts

1. Nachhaltigkeit –
umweltschonende Mobilität mehr fördern

2. Gemeinwohl –
Vorrang für den Verfassungsauftrag

3. Schlankheitskur –
Auslandsgeschäfte aufgeben

4. Aufspaltung –
Schienennetz gemeinnützig machen

5. Effizienzsteigerung –
Finanzierungssystem reformieren

6. Investitionsoffensive –
mehr Geld für die Schiene

7. Optimierung –
Deutschlandtakt einführen

8. Preissenkung –
Wettbewerb und Angebote stärken

9. Digitalisierung –
ein E-Ticket für alles

10. Vernetzung –
Angebote von Tür zu Tür schaffen

Bitte umsteigen!

Die Bahn als Motor der Verkehrswende

Anhang

Anmerkungen

Abkürzungen

Literaturverzeichnis

Dank

Personenregister

Über den Autor

Einleitung

Warum uns die Bahn mehr wert sein muss

Chronische Verspätungen, verpasste Anschlüsse, kaputte Züge, untaugliche Informationen, dürftiger Service, gestresstes Personal – jeder Bahnkunde kann seine Leidens- und Horrorgeschichten erzählen. Weder die Deutsche Bahn (DB) AG noch die deutsche Verkehrspolitik bekommen die Probleme in den Griff. Und zwar nicht erst seit gestern, sondern seit Jahrzehnten. Wie konnte es so weit kommen? Mit der Bahnreform 1994 sollte doch alles besser werden. Stattdessen schieben sich nun Konzern und Regierung gegenseitig die Schuld zu, wenn wieder mal etwas schiefgelaufen ist.

Dieses Debakel ist überaus tragisch. Denn Züge sind das beste Massenverkehrsmittel, das wir haben: sicher, komfortabel, umweltschonend, preisgünstig, zuverlässig. Schon deshalb geht uns die Deutsche Bahn alle an, ausnahmslos. Mehr als sieben Millionen Menschen nutzen jeden Tag ihre Züge und Busse, jeder zweite Bundesbürger steigt zumindest gelegentlich in einen ICE, Intercity, eine Regional- oder S-Bahn. Wir alle bezahlen dafür, denn der Staatskonzern erhält jedes Jahr zweistellige Milliardensummen aus der Steuerkasse. Und ist damit unser größter Subventionsempfänger. Dafür haben wir mehr verdient als veraltete und kaputte Fahrzeuge, ein verlottertes staatliches Schienennetz, verfallende Provinzbahnhöfe, schlimme Unfälle, überteuerte Prestigeprojekte und eine DB AG, bei der Betriebsstörungen ein Dauerzustand sind. Unsere Bahn wiederum hat mehr verdient als Hohn und Spott, der sich kübelweise über sie ergießt, leider bisher oft zu Recht.

Deutschland lässt sein bestes Verkehrsmittel zu oft links liegen, und das schon viel zu lange. Andere Länder wie die Schweiz und Österreich machen vor, wie es besser geht. Wenn das Rad-Schiene-System aber erst aus dem Takt gerät, knirscht es gewaltig im Betriebsablauf. Und das bekommen alle Bahnkunden immer häufiger zu spüren. Dieses Buch soll aufklären und im besten Fall aufrütteln. Dazu, sich mehr für unseren größten Konzern und die Verkehrspolitik zu interessieren. Denn von der Politik, vor allem von der Bundesregierung werden die entscheidenden Weichen für eine attraktive, leistungsfähige und bezahlbare Bahn gestellt. In Berlin wird maßgeblich entschieden, wie schnell die längst überfällige Verkehrswende hin zu mehr umwelt- und klimaschonender Mobilität kommt.

Immer mehr Menschen haben die Nase voll vom Abwarten und Kleinreden, vom Taktieren, Abwiegeln, Verschieben. Genau deshalb rückt die Verkehrspolitik in den Fokus. Gerade junge Leute stellen die richtigen Fragen. Zum Beispiel, warum Behörden und Regierungen die Stadtbewohner nicht besser vor gesundheitsschädlichen Autoabgasen schützen und so lange so wenig für nachhaltigere Mobilität wie das Bahnfahren getan haben. Die Liste lässt sich fortsetzen.

Mobilität ist ein sehr komplexes Thema. Wer sich näher mit den Problemen im Schienenverkehr beschäftigt, stellt schnell fest, wie viele Facetten es gibt. Dieses Buch soll helfen, die nicht selten verborgenen Zusammenhänge etwas besser zu verstehen. Es kann nicht alle Fragen beantworten, aber hoffentlich einige Erkenntnisse liefern. Im ersten Teil lesen Sie, wie die Deutsche Bahn AG ins Chaos gerast ist und warum das größte Bundesunternehmen nun als schwerer Sanierungsfall am Prellbock steht. Der zweite Teil ergründet, welch schwerwiegende Verantwortung die Politik dafür trägt. Und am Ende erfahren Sie, wie ein nationaler Schienenpakt über zehn Stationen zu einer besseren Bahn führen könnte – und vielleicht sogar zur besten Bahn der Welt. Man wird ja noch träumen dürfen.

Die Analysen in diesem Buch beruhen auf teils vertraulichen Gesprächen mit mehreren Dutzend Verkehrsexperten, Politikern, Managern und Wissenschaftlern. Als Journalist befasse ich mich seit Anfang der 1990er Jahre mit der Bahn, seither wurden mehr als 1000 meiner Artikel in Tageszeitungen und Magazinen veröffentlicht. Es ging um Bilanzen, Reformkonzepte, Visionen, Illusionen, vor allem aber und immer häufiger: um Krisen. Anhand der Fußnoten finden Sie viele Links zu diesen Texten, falls Sie mehr zu bestimmten Themen erfahren möchten.

Insgesamt habe ich sechs Bahnchefs erlebt: Rainer Maria Gohlke (bis 1991), Heinz Dürr (bis 1997), Johannes Ludewig (bis 1999), Hartmut Mehdorn (bis 2009), Rüdiger Grube (bis 2017) und Richard Lutz. Und es kamen und gingen zwölf Verkehrsminister, von Friedrich Zimmermann über Wolfgang Tiefensee bis aktuell Andreas Scheuer. Die Konzernlenker waren im Schnitt nur gut viereinhalb Jahre im Amt, die Minister von der SPD, CDU und CSU nicht einmal zweieinhalb Jahre. Von Kontinuität und Nachhaltigkeit, die gerade für eine langfristig angelegte Verkehrspolitik so wichtig wären, kann da keine Rede sein.

Für dieses Buch konnte ich viele interne Unterlagen von Unternehmen und aus Ministerien nutzen, die mir seit Jahren von Informanten vertraulich zugespielt werden. Darunter die aktuellen Strategiepapiere »Starke Schiene« und »Agenda für eine bessere Bahn« von DB-Chef Lutz und seinem Vize Ronald Pofalla. Sie enthalten Hunderte interner Daten zur Entwicklung der teils maroden Infrastruktur, zur schwierigen Situation im Personen- und Güterverkehr sowie zur alarmierenden Finanzlage. Auch die ebenfalls vertrauliche DB-Mittelfristplanung dient als Basis für viele Bewertungen. Ebenso interne Papiere des »Schienenpakts«, einer Initiative von Verkehrsminister Scheuer, die Zukunftsszenarien und Maßnahmenpläne für eine bessere Bahn entwickeln soll.

Über Netzwerke landen solche geschützten Unterlagen bei investigativen Journalisten, meist auf recht verschlungenen Wegen. Solche Recherchen sind wichtig, denn nur so können Medien ein Bild der tatsächlichen Lage zeichnen. Auch im Falle der Bahn werden aus der Konzernzentrale oder dem Ministerium oft genug verharmlosende PR-Mitteilungen verschickt, die nur die halbe Wahrheit enthalten. Vieles von der anderen Hälfte erfahren Sie hier.

Es wäre eine verzerrte Wahrnehmung, das Bahn-Debakel allzu isoliert zu betrachten. Verspätungen und Ärger gibt es beileibe nicht nur im Zugverkehr. Die wachsende Mobilität insgesamt ist zum Problem geworden, auf Straßen und Schienen wie in der Luft. Allein in Berlin stand 2018 jeder Autofahrer im Schnitt 154 Stunden im stressigen Stop-and-go-Verkehr, wie die Datenfirma Inrix errechnet hat. In der »Stau-Hauptstadt« werden also in jedem Blechvehikel und in jedem Jahr mehr als sechs Tage wertvolle Lebenszeit mit Däumchen-Drehen, Kopfschütteln, Schimpfen und Fluchen verschwendet.

Auch auf den Autobahnen gibt es kaum noch entspanntes Durchkommen zwischen all den rollenden Warenlagern des europaweiten Lkw-Transitverkehrs. Am Himmel und auf Airports herrscht ebenfalls oft genug Chaos. Die Marktliberalisierung hat dem umweltschädlichen Luftverkehr grenzenlose Freiheit verschafft, was vor allem Billigflieger nutzen, die mit Taxipreisen die Menschenmassen locken.

Solche Entwicklungen sind kein Naturgesetz. Wenn über Jahrzehnte der Straßenverkehr viel stärker subventioniert wird als die Schiene, wird sich ohne eine Umkehr dieses Verhältnisses nichts zum Besseren wenden. Wenn im europaweiten Lkw-Billigverkehr menschenunwürdige Zustände geduldet werden, muss sich niemand wundern, wenn Frachtbahnen nicht mithalten können und Verluste schreiben. Und wenn überteuerte und für den Schienenverkehr kontraproduktive Immobilienprojekte wie Stuttgart 21 politisch erzwungen werden, zahlt am Ende dafür auch die Bahn einen viel zu hohen Preis.

Die gute Nachricht: Eine neue Goldene Ära der Bahn ist möglich. Die Schiene muss im Zentrum einer nachhaltigen Verkehrswende stehen, an der schon aus Gründen des Klima- und Umweltschutzes kein Weg vorbeiführt. Die politische Debatte darüber läuft so intensiv wie seit der Bahnreform 1994 nicht mehr. Schon das ist ein kleiner Fortschritt. Doch nun kommt es auf die konsequente Umsetzung an, an der es die wechselnden Regierungen schon so lange fehlen lassen.

Thomas Wüpper, Juli 2019

I. Am Prellbock –
Wie die Bahn ins Chaos rast

Der Große Brandbrief war im Mittelalter ein Erlass, der die Bestrafung von Dieben und Feuerlegern regelte. Später wandelte sich die Bedeutung, Behörden bestätigten mit Brandbriefen Bedürftigen, dass sie ihr Hab und Gut durch Feuer verloren hatten und betteln durften. Ein Brandbrief konnte aber auch eine Drohung sein, jemandem das Haus anzuzünden. Heute werde darunter meist ein Appell verstanden, erläutert Wikipedia. Genauer: ein Notruf, »der Missstände aufzeigt oder anprangert und häufig auch Abhilfe einfordert«.

Im internen Rundschreiben, das Bahnchef Richard Lutz am 7. September 2018 per Intranet an die Führungskräfte seines Unternehmens schickt, taucht das Wort Brandbrief zwar nirgendwo auf. Doch die Überschrift hätte gut gepasst. Denn ein Notruf, der Missstände aufzeigt und Abhilfe einfordert, ist der vierseitige Brief zweifellos, zumal er rasch an Medien gelangt und eine weitere öffentliche Debatte über die Dauerkrise und Zukunft des Unternehmens auslöst.

Die Deutsche Bahn AG ist eines der wichtigsten Transportunternehmen der Welt und der größte Staatskonzern Deutschlands. Die Bilanz 2018 weist 44 Milliarden Euro Umsatz und 542 Millionen Euro Jahresüberschuss aus. 319 000 Mitarbeiter in mehr als 140 Ländern rund um den Globus haben diese Erträge erwirtschaftet, im Personen- und Güterverkehr und in der Logistik. Allein in Deutschland sind täglich rund 7,4 Millionen Menschen in Bahnen und Bussen der DB unterwegs. 43 000 Züge, zwei Drittel davon mit DB-Logo, befahren Tag für Tag das rund 33 300 Kilometer lange staatliche Schienennetz, das die Konzerntochter DB Netz AG in möglichst gutem Betriebszustand halten soll, ebenso wie 5700 Bahnhöfe.1 Wenn solch ein Multi-Unternehmen Brandbriefe verschickt und in der Not eine strenge Ausgabenkontrolle verhängt, schrillen zu Recht die Alarmglocken.

Bei der Bundesregierung kommt die Botschaft aus der nahen Bahnzentrale allerdings gar nicht gut an. Und das nicht nur wegen der öffentlichen Aufregung. Im Kanzleramt von Angela Merkel (CDU), bei Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) und dem Koalitionspartner SPD wird der Hilferuf nämlich als kaum verhohlene Drohung empfunden. Eine Drohung, dass das wichtigste bundeseigene Unternehmen vollends an den Prellbock fährt, wenn es nicht mehr Unterstützung von seinem Eigentümer erhält. Die Verantwortlichen in der Politik wissen: Der Schuldenberg der DB AG könnte ohne Gegensteuern noch höher wachsen, von bereits 25 auf 30 Milliarden Euro und mehr. Also bald so viel, wie Bundes- und Reichsbahn aufgehäuft haben – allerdings in mehr als vier Jahrzehnten und unter deutlich schlechteren Bedingungen.

Tatsächlich liest sich das Rundschreiben stellenweise wie ein Offenbarungseid. Die »schwierige Situation« der DB habe sich in den letzten Monaten »nicht verbessert, sondern verschlechtert«, räumt Lutz gleich zu Beginn ein. Neben dem Bahnchef hat auch sein Vize, Infrastruktur-Vorstand Ronald Pofalla, den Alarmruf unterzeichnet. Ebenso die weiteren DB-Konzernvorstände Berthold Huber (Personenverkehr), Alexander Doll (Finanzen, Güterverkehr, Logistik), Sabina Jeschke (Technik und Digitalisierung) und Martin Seiler (Personal) – bis auf Lutz und Huber alle noch nicht lange im Amt. Auch CDU-Mann Pofalla, vormals Chef des Bundeskanzleramts, hat seinen Vorgänger Volker Kefer erst 2017 abgelöst.

Die Probleme, die das Sextett auf vier Seiten beschreibt, sind Bahnkunden wie Experten sattsam bekannt. Tenor: Es mangelt an Pünktlichkeit, Qualität und Wirtschaftlichkeit. »Wir wissen alle, dass wir mit unserer Leistung nicht zufrieden sein können«, bilanziert die DB-Spitze. Eigene Probleme wie die Verfügbarkeit von Fahrzeugen habe man »schlicht nicht im Griff«. Die Trendwende bei den Verspätungen sei nicht gelungen. Im Gegenteil, die Pünktlichkeitsquote sei bis August auf nur noch 76 Prozent gesunken – und damit noch schlechter als 2015, als der Konzern einen Milliardenverlust auswies und das Sanierungsprogramm »Zukunft Bahn« von Lutz’ Vorgänger Rüdiger Grube gestartet wurde.

Grube warf Anfang 2017 entnervt und verärgert hin. Wie wenig dessen Programm gebracht hat, beweist der Brandbrief ebenfalls. So sehe die finanzielle Performance »nicht besser aus«, konstatiert Lutz. Das operative Ergebnis liege »weit weg von unserer Zielsetzung«. Auch hier habe man »keine Trendwende geschafft«. Zum Zeitpunkt des Alarmschreibens hat der Bahnchef bereits zwei Mal die Ertragsprognose nach unten korrigieren müssen. Eine dritte Gewinnwarnung, warnt Lutz, »würde unsere finanzielle Lage weiter destabilisieren und Vertrauen und Goodwill, die wir bei Eigentümer und Öffentlichkeit noch haben, zusätzlich beschädigen«.

So schonungslose Analysen kommen selten direkt aus der Spitze eines Großkonzerns ans Licht der Öffentlichkeit. Die offenen Worte erhalten Anerkennung, sind aber zweischneidig. Denn die meisten der beschriebenen Defizite bestehen nicht erst seit gestern. Und gerade Lutz kennt sie bestens: Als langjähriger Finanzchef und zuvor Controller arbeitet der Pfälzer seit 1994 beim Staatskonzern.

Nach dem Brandbrief spitzt sich die Lage bei der Bahn zu. Im November 2018 kommen die 20 Aufsichtsräte des Konzerns zu einem zweitägigen Krisentreffen im DB-Tower zusammen, um unter Vorsitz von Michael Odenwald über Auswege zu beraten. Der frühere Staatssekretär im Verkehrsministerium hat wenige Monate zuvor die Leitung des Gremiums übernommen, nachdem sein Vorgänger Utz-Hellmuth Felcht einige Male unglücklich agiert und das Vertrauen der Regierung verloren hatte.

Gleich zum Auftakt bekommt das Gremium von Lutz und seinen Kollegen wenig Erfreuliches zu hören. Steigende Verschuldung, riesiger Finanzbedarf, bröckelnde Erträge, milliardenschwere Gewinnkorrekturen, häufige Qualitätsmängel und Verspätungen, hohe Verluste im Güterverkehr auf der Schiene und insgesamt trübe Aussichten auf mittlere Sicht – die Zwischenbilanz des neuen Bahnchefs fällt ziemlich verheerend aus und hätte in anderen Unternehmen den sofortigen Rauswurf bedeuten können. Zum Glück für die neue DB-Spitze kann das Debakel aber zum Teil noch dem glücklosen Vorgänger Grube angekreidet werden. Dessen von McKinsey-Beratern geschriebenes Rotstiftkonzept »Zukunft Bahn« entpuppt sich vor allem im Güterverkehr als Rohrkrepierer und wird von der Arbeitnehmerbank, die im Aufsichtsrat die Hälfte der Stimmen besitzt, über Jahre blockiert.

Nun soll ein neues Konzept helfen, das die DB-Spitze optimistisch »Unsere Agenda für eine bessere Bahn« benannt hat. Auf rund 200 bunten Powerpoint-Seiten bekommen die Kontrolleure wieder viele Ideen und Strategien für mehr Qualität, Kunden und Erfolg präsentiert. Einige Aufsichtsräte reagieren wenig begeistert: »Angesichts der bisher unklaren Strategie und problematischen Geschäftsentwicklung behalten wir uns die Zustimmung vor«, betont ein Arbeitnehmervertreter. Und fügt hinzu: Besonders im Fern- und Güterverkehr auf der Schiene gebe es massive Qualitätsdefizite und bisher wenig überzeugende Konzepte. Seit Jahren werde von wechselnden Managern viel versprochen, aber unzureichend geliefert.

So wurde bei der dramatisch heruntergewirtschafteten Güterbahn DB Cargo in den letzten 20 Jahren schon acht Mal der Produktionsvorstand ausgetauscht, insgesamt gab es 30 Wechsel im Vorstand. Trotzdem fährt die größte Frachtbahn Europas auch 2018 dreistellige Millionenverluste ein. »Es fehlen Züge und Lokführer, die Abläufe funktionieren nicht, Ansprechpartner vor Ort wurden abgeschafft, und wir haben deshalb massiv Kunden verärgert und verloren«, kritisiert ein anderer Aufsichtsrat.

In der Bundesregierung sieht man die Lage des Staatskonzerns mit Verdruss. Kanzlerin Merkel will dort keine Unruhe. Schon die Demonstrationen von DB-Beschäftigten gegen »Zukunft Bahn« kamen vor den letzten Bundestagswahlen recht ungelegen und trugen mit zum plötzlichen Abgang von Ex-Bahnchef Grube bei. Die neue DB-Spitze muss nun zeigen, was sie kann. Infrastruktur-Vorstand Pofalla will weitere Steuermilliarden für die klamme Bahn organisieren – auch für das mit Abstand größte Problemprojekt Stuttgart 21. Pikant: Der CDU-Mann Pofalla hat noch vor Jahren selbst als rechte Hand Merkels eifrig aus dem Kanzleramt die Strippen gezogen für die hoch umstrittene Weiterführung von S 21, wie entschwärzte Akten des Kanzleramts beweisen. Nun hat der Aktienkonzern den Schaden dieser heiklen politischen Einflussnahme. Denn für die DB ist S 21 krass unwirtschaftlich, wie Lutz inzwischen einräumen musste.

Kein Wunder also, dass der Staatskonzern so großen Finanzbedarf hat. Rund fünf Milliarden Euro zusätzlich will die DB-Spitze bis 2022 vom Bund haben, offiziell nur für mehr Pünktlichkeit und Qualität – und um die 200 bestellten Züge bezahlen zu können, die bis 2023 geliefert werden und mehr als sieben Milliarden Euro kosten sollen. »Eine bessere Bahn gibt es nicht zum Nulltarif«, betont Lutz.

Verkehrsminister Scheuer und sein Staatssekretär Enak Ferlemann versuchen derweil als Macher zu punkten, nachdem in der Bahnpolitik allzu lange fast Stillstand geherrscht hat. Ein großes »Zukunftsbündnis Schiene« von Politik, Wirtschaft und Verbänden soll den Bahnverkehr voranbringen. Das ist leichter gesagt als getan, denn vor allem bei der betagten Infrastruktur gibt es bereits jetzt extreme Engpässe und teuren Nachholbedarf, den der Bund als Eigentümer maßgeblich zu verantworten hat. Die Regierung und der Minister haben selbst noch viele Hausaufgaben zu machen. Vor allem müssen sie enorme finanzielle Mittel bereitstellen.

Ohnehin fließt schon sehr viel Steuergeld an die DB AG. Der Bundesrechnungshof kritisiert seit Jahren, dass diese Milliardensummen effizienter eingesetzt und besser kontrolliert werden sollten. Doch auch aus einem anderen Grund gerät die Regierung durch den wachsenden Finanzbedarf der DB unter Druck: Geldspritzen an den klammen Staatskonzern sind ordnungspolitisch sehr fragwürdig, denn die privaten Konkurrenten der DB erhalten sie nicht. Nicht nur Grüne und FDP fordern deshalb Strukturreformen. Daran könnte kein Weg mehr vorbeiführen, wenn die DB noch weiter in die Krise fährt – und die nächsten Brandbriefe nicht mehr weiterhelfen.

Unzuverlässigkeit

Warum sich Verspätungen und Zugausfälle häufen

Günter Voß will es genau wissen. Im Sommer 2018 kauft sich der pensionierte Polizist für 1275 Euro eine Probe-Bahncard 100 und startet eine dreimonatige Bahnreise kreuz und quer durch die Republik. Mit 91 ICE-Zügen fährt er zwischen allen großen Bahnhöfen wie Hamburg, Berlin, Frankfurt, Stuttgart und München, manchmal bis zu 1500 Kilometer pro Tag. Aber er tuckert auch mit Regionalzügen in die Provinz und zu Grenzregionen wie Emden, Zwickau, Passau und Basel.

Mit 80 Jahren ist Voß immer noch ein großer Bahn-Fan. Begeistert ist der Niedersachse einst entlang der ersten ICE-Neubaustrecken von Hannover über Würzburg und Mannheim bis Stuttgart geradelt. Nun soll seine Deutschlandtour zeigen, wie verlässlich die Deutsche Bahn AG ist. Seine Bilanz nach 92 Tagen auf Achse fällt recht enttäuscht aus: »Die Leistungsfähigkeit hat ganz erheblich nachgelassen.« Größtes Ärgernis: die unpünktlichen Züge. 901 Verspätungsminuten hat Voß allein bei seinen ICE-Fahrten akribisch erfasst: »Am zuverlässigsten war noch der ICE 3, aber leider häufig unangenehm überfüllt.« Manchmal gab es nur noch Stehplätze und kaum Platz fürs Gepäck. In einem Fall mussten Fahrgäste von der Bundespolizei gar zwangsweise aus einem überbesetzten Zug geführt werden.

Pünktlich wie die Bahn? Dieser Vergleich löst bei gestressten Reisenden und Pendlern nur Hohn und Spott aus. In Medienberichten, Online-Foren und auf Leserbriefseiten machen täglich enttäuschte Kunden ihrem Ärger Luft über nervige Verspätungen, verpasste Anschlüsse und komplette Zugausfälle. Wer sich bei Terminen verspätet, muss nur darauf hinweisen, mit dem Zug gekommen zu sein, und stößt sofort auf Mitgefühl und Verständnis. Ein satirisches Buch voller Häme über kleine und große DB-Fehlleistungen machte »Bahn-Bashing« zum Volkssport. Eine Pendlerin aus München hat aus Frust für jeden unpünktlichen Zug eine farbige Reihe gestrickt. Der kunterbunte »Verspätungsschal« wurde 1,50 Meter lang, im Internet zum Hit und brachte bei einer Ebay-Versteigerung 7550 Euro Erlös, die der Bahnhofsmission gespendet werden sollten.

Trotz immer neuer »Zukunftsprogramme« bekommt die Deutsche Bahn AG die Probleme nicht in den Griff. Seit 2010 hat es das Unternehmen in keinem einzigen Jahr geschafft, dass seine Fernzüge wenigstens 80 Prozent der Bahnhöfe mit weniger als sechs Minuten Verspätung erreichen. 2018 gibt es einen weiteren Tiefpunkt. Jeder vierte ICE, Inter- oder Eurocityzug kommt deutlich verspätet an. Mit 74,9 Prozent Pünktlichkeit wird das eh schon bescheidene Ziel von 82 Prozent weit verfehlt. 2013 und 2015 sind die Züge sogar noch unpünktlicher. Besonders im Vergleich zu den Nachbarn in der Schweiz, wo der Takt- und Umsteigeverkehr vorbildlich wie ein Uhrwerk funktioniert, sieht Deutschland ganz schlecht aus.

Ein Stuttgarter Bahnkunde, der wochentags mit dem ICE nach Mannheim pendelt und 4270 Euro pro Jahr für seine Bahncard 100 zahlt, klagt im März 2019 der Heimatzeitung auf einer ganzen Seite sein Leid. Demnach hat die Deutsche Bahn AG in einem einzigen Jahr 4235 Minuten seiner Lebenszeit mit Verspätungen vertrödelt. Unerwähnt bleibt allerdings, dass der Fernpendler bei jeder pünktlichen ICE-Fahrt in nur 36 Minuten am Ziel ist, im Vergleich zur Autofahrt eine Stunde spart und zudem die Zeit im Zug gut nutzen kann. Fürs Image des Konzerns und des Schienenverkehrs sind solch abschreckende Berichte ein Desaster.

Matthias Gastel notiert in seinem Internet-Bahntagebuch bereits seit 2013 manch kuriose Erlebnisse auf der Schiene. Der Bundestagsabgeordnete und Verkehrsexperte der Grünen fährt schon aus ökologischen Gründen mit dem Zug, wann immer das möglich ist. Meist pendelt er quer durch die Republik zwischen Stuttgart und Berlin. Seit 2017 hat er die Fahrten in 274 DB-Fernzügen akribisch erfasst. Für dieses Buch hat Gastel eine kleine Bilanz gezogen: Nur bei 54 Prozent seiner Reisen hat er 2018 mit weniger als fünf Minuten Verspätung das Ziel erreicht, 2017 lag die Quote bei ebenfalls bescheidenen 62 Prozent. In den ersten vier Monaten 2019 sind es 64 Prozent. Wenn ein Zug unpünktlich ist, dann oft deutlich: »Die Verspätungen liegen meistens zwischen 15 und 20 Minuten.« Sein Fazit: »Hier besteht zweifelsfrei erheblicher Verbesserungsbedarf.«

So sieht das auch Philipp Kosock, Bahnexperte des Verkehrsclubs Deutschland (VCD) in Berlin. Der VCD nimmt die DB AG regelmäßig kritisch unter die Lupe. Denn gute Bahnangebote seien »grundlegend dafür, dass die Verkehrswende gelingen kann« – und zufriedene Kunden die beste Werbung. Der VCD-Bahntest 2018/19 zeigt erneut, wie weit dieses Ziel entfernt ist. Nur jeder vierzigste Fahrgast, den die Marktforscher von Quotas befragt haben, ist demnach mit dem DB-Fernverkehr rundum zufrieden. Fast 40 Prozent beklagen, dass sich die Pünktlichkeit in den letzten drei Jahren noch verschlechtert habe, und mehr als 37 Prozent meinen, dass Zugausfälle noch häufiger vorkommen.2

Beim Onlineportal zugfinder.de lässt sich nachlesen, wo Bahnfahrer besonders viel Geduld brauchen. Am störanfälligsten sind demnach Verbindungen über große Distanzen. Manche ICE sind zwischen Abfahrt und Ziel mehr als 1000 Kilometer unterwegs, alle befahren stark frequentierte Hauptkorridore zwischen Hamburg, Hannover, Köln, Frankfurt, Mannheim, Stuttgart und München und chronisch überlastete Großstadtnetze.3 Überall sind auch viele Regional- und Güterzüge unterwegs. In diesem komplexen Mischverkehr kommt es ständig zu Problemen, die sich rasch aufschaukeln. So hat der ICE 979 von Hamburg nach Stuttgart 2018 nur in einem von vier Fällen pünktlich sein Ziel erreicht, im Schnitt beträgt die Verspätung fast 26 Minuten. Auch der Intercity 1995 von Berlin nach Stuttgart fuhr nur zu 25 Prozent zuverlässig. Weniger als 30 Prozent pünktliche Fahrten werden zudem beim EC 230 Kopenhagen–Hamburg, beim IC 2314 Köln–Sylt und beim IC 2024 Passau–Hamburg registriert.

Wenig Erfreuliches erlebt auch Annalena Baerbock. Die Parteichefin der Grünen ist im November 2018 im ICE unterwegs und hat für ihre Kinder Plätze reserviert. Doch an der Station, wo der Nachwuchs zusteigen wollte, fährt der Zug wegen Überfüllung einfach vorbei. Die verärgerte Politikerin macht den Fall publik. Die Antwort der DB AG auf Nachfragen löst weitere peinliche Schlagzeilen aus. Fast jeder 40. Fernzughalt sei 2018 ersatzlos ausgefallen, räumen Konzern und Regierung ein. Die häufigsten Streichungen gibt es demnach am Hauptbahnhof Frankfurt/Main, danach folgen Frankfurt-Flughafen, Köln, Düsseldorf, Duisburg, Essen, Hamburg und Hannover. In manchen Monaten warten bis zu sieben Prozent der Kunden vergeblich auf den im Fahrplan stehenden Zug.

Geheimniskrämerei und Tricksereien

Solche Zahlen sind für die DB ein schlechtes Zeugnis. Die Konzernspitze im Bahntower am Potsdamer Platz in Berlin hält ihre peinlichen Defizite möglichst unter der Decke. Lange Zeit hat sie detaillierte Angaben zur Pünktlichkeit ihrer Züge sogar komplett verweigert. Die Geheimniskrämerei beginnt unter dem früheren DB-Chef Mehdorn, der die Bahn Anfang des neuen Jahrtausends im Regierungsauftrag an die Börse bringen soll. Kaum im Amt, lässt Mehdorn die Pünktlichkeitsanzeigen an Bahnhöfen ersatzlos entfernen. Die schlechten Werte hätten privaten Investoren sonst schon von Weitem signalisiert, wie dürftig der Transportriese sein Kerngeschäft erledigt, heißt es intern. Die Regierung Schröder duldet den Rückschritt, Kritiker protestieren vergeblich.

Weil der Staatskonzern seine immer schlechteren Leistungen fortan systematisch verharmlost und pauschal mehr als 90 Prozent Pünktlichkeit behauptet, überprüft die Stiftung Warentest 2007 die Ankunftszeiten von mehr als 94 000 Zügen. Das blamable Ergebnis: Im Fernverkehr sind 38 Prozent der Fahrten und im Regionalverkehr 24 Prozent mindestens vier Minuten verspätet. Jeder 25. Fernzug lässt sogar mehr als 30 Minuten auf sich warten. Damit ist bewiesen, dass die Angaben der Bahn sehr wenig mit der Realität und dem Alltag ihrer Kunden zu tun haben.

Seit April 2009 veröffentlicht der Konzern immerhin die Ankunftszeiten jedes Zuges im Internet auf bahn.de. Das erleichtert die Reiseplanung. Doch auch unter Mehdorn-Nachfolger Rüdiger Grube bleibt die Pünktlichkeitsstatistik zunächst weiter unter Verschluss. Nur einmal im Jahr wird ein Pauschalwert veröffentlicht, der weder aussagekräftig noch nachprüfbar ist. Das zeigt sich im Winter 2010/11. Wochenlang herrscht Ausnahmezustand im Schienenverkehr. Probleme bereiten vereiste Oberleitungen, Schneeverwehungen, ausgefallene Weichenheizungen und Stellwerksstörungen. Das Maximaltempo der ICE muss reduziert werden, weil Frostschäden drohen. Viele Züge fallen aus, das Angebot wird eingeschränkt. Millionen Fahrgäste sind verärgert, auch weil die Bahn über Verspätungen und Zugausfälle extrem schlecht informiert.

Schon zu dieser Zeit tritt offen zutage, dass die Bahn zu lange auf Verschleiß gefahren worden ist und dringend wieder mehr in Züge und Infrastruktur investiert werden muss. Im offiziellen Bericht an den Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestags stellt auch der damalige Verkehrsminister Ramsauer dem Konzern ein schlechtes Zeugnis aus. Demnach ist im Chaosmonat Dezember die Pünktlichkeit im Nahverkehr auf 77 Prozent gesunken, im Güterverkehr gar auf unter 50 Prozent.

Das wahre Ausmaß des Desasters wird der Öffentlichkeit und dem Parlament allerdings verschwiegen. So heißt es im Regierungsbericht zu den massiven ICE-Verspätungen verharmlosend: »Im Fernverkehr sank die Pünktlichkeit sogar tageweise unter 70 %.« Das erweckt den Eindruck, als ginge es um Ausnahmen. In Wirklichkeit zieht sich das Verspätungschaos über Wochen. Zeitweise ist nur noch jeder fünfte Fernzug pünktlich, eine verheerende Bilanz. Das kommt jedoch erst durch Zeitungsberichte heraus. Bei Recherchen wird mir damals die streng geheime Originalstatistik der DB-Netzleitzentrale zugespielt. Demnach lag in der Weihnachtswoche die Pünktlichkeit aller ICE- und IC-Züge unter 30 Prozent, an weiteren Tagen noch deutlich darunter. Am 26. Dezember sank die Quote gar auf den Tiefstwert von 20,5 Prozent, nur jeder fünfte Zug war noch halbwegs nach Fahrplan unterwegs. Auch am Ersten Weihnachtstag fuhren nur 23,8 Prozent der Fernzüge rechtzeitig. Ein DB-Sprecher verweigerte zu den Daten eine Auskunft.

Dennoch steht fest: Die Pünktlichkeit sank nicht »tageweise unter 70 Prozent«, wie Ramsauers Bericht ans Parlament behauptet, sondern lag durchgehend weit darunter. Die Zeitungsberichte bringen den Minister gehörig unter Druck, Ramsauer und sein Ministerium sind blamiert. Denn die geschönten DB-Angaben hat die Behörde offenkundig ungeprüft ans Parlament weitergegeben. Danach soll es intern ziemlich gekracht haben, auch die DB-Spitze bekommt den Ärger des Ministers zu spüren. Die erfreuliche Folge: Wenig später veröffentlicht der Konzern erstmals etwas aussagefähigere Statistiken. Inzwischen sind die Pünktlichkeitswerte monatlich und getrennt in Fern- und Nahverkehr online abrufbar. Das schafft mehr Transparenz, wie gut oder schlecht die Bahn ihre wichtigste Aufgabe erfüllt: Menschen möglichst pünktlich und zuverlässig von A nach B zu bringen.

Geschönt ist die DB-Statistik weiterhin, weil Verspätungen erst ab sechs Minuten und Zugausfälle sowie verpasste Anschlüsse überhaupt nicht erfasst werden. In anderen Ländern gelten Züge schon als unpünktlich, wenn sie dem Fahrplan wenige Minuten hinterherfahren. Die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) erfassen Verspätungen ab drei Minuten, ebenso Zugausfälle und die tatsächliche Ankunft am Ziel – und schaffen dennoch Topwerte um 90 Prozent. Solche Ergebnisse kann die DB nur im Nah- und Regionalverkehr vorweisen, weil hier ihre vielen S-Bahnen das Ergebnis aufbessern. In den großen Metropolen wie Berlin und Hamburg fahren diese Züge meist auf eigenen Netzen in sehr dichter Taktfolge. Bei Regionalzügen in der Fläche sind die Verspätungen dagegen deutlich höher.

Zugausfälle wiederum können Fahrgästen im Extremfall nicht nur minuten-, sondern stundenlanges Warten auf dem Bahnsteig bescheren. Das ist gar nicht so selten. Immer wieder hat die DB in den letzten Jahren den Zugverkehr in manchen Regionen sogar zeitweise ganz eingestellt, weil Stürme zu Streckenschäden führten und Ausweichgleise fehlten. Allein 2017 fielen rund 140 000 Züge aus, nochmals 20 000 mehr als im Jahr zuvor, wie die Bundesregierung auf eine Anfrage der Grünen einräumte. Für Millionen Fahrgäste bedeutete das: längeres Warten am Bahnsteig, Umsteigen in überfüllte Ersatz- und Folgezüge, verfallene Platzreservierungen, verpasste Termine und manchmal sogar unfreiwilliges Übernachten in fremden Städten. Also richtig viel Ärger und Stress.

In der DB-Statistik taucht das nirgendwo auf, was zu absurden Ergebnissen führt, wie ein einfaches Beispiel zeigt. Wenn zehn von hundert ICE verspätet ankommen, weist die DB-Statistik logischerweise eine Pünktlichkeit von 90 Prozent aus. Erreichen aber die zehn Züge ihr Ziel überhaupt nicht, weil sie unterwegs liegen geblieben oder gar nicht erst losgefahren sind, fallen die verursachten Verzögerungen komplett aus der Rechnung heraus – und die DB kann eine Pünktlichkeit von 100 Prozent ausweisen. Denn von den erfassten 90 Zügen ist ja keiner verspätet. Der Fahrgastverband Pro Bahn fordert deshalb schon lange, wenigstens die Zahl der Zugausfälle ebenfalls monatlich auszuweisen. Nur so ergebe sich ein Gesamtbild, das halbwegs der Realität entspreche.4

Den Alltag der Fahrgäste bildet die DB-Statistik ohnehin nur sehr begrenzt ab. Denn Anschlussverluste werden nicht erfasst. Kommt ein Fernzug zehn Minuten verspätet an und der selten fahrende Regionalzug ist schon weg, erreicht man das Reiseziel womöglich erst Stunden später. Wer das öfter erlebt, dem werden die schönen DB-Pünktlichkeitswerte wie Hohn vorkommen – und die Statistik wie eine Mogelpackung.

Doch wie kommen die Ergebnisse eigentlich zustande? Nach DB-Angaben erfasst die Statistik jeden Monat alle rund 20 000 Fahrten von Fernzügen und 780 000 Fahrten im Nahverkehr. Die Ankunftszeit wird an jedem Bahnhof registriert. So ergibt sich bei einer Fahrt mit fünf Stationen, bei denen einer der Bahnhöfe verspätet erreicht wird, eine Pünktlichkeitsquote von 80 Prozent.

Seit einiger Zeit werden intern zudem für die täglich rund 400 000 Reisenden im Fernverkehr auch persönliche Pünktlichkeitswerte berechnet. Dafür verknüpft die DB die digitalen Buchungsdaten von 270 000 Kunden mit den Ankunftszeiten von 7000 Bahnstationen. Verspätungen werden erst ab 16 Minuten erfasst, bis zu 15:59 Minuten gilt die Reise noch als pünktlich. Dennoch fällt das Ergebnis ebenfalls unerfreulich aus: Die neue »Reisenden-Pünktlichkeit« sank demnach 2018 von 84,3 auf nur noch 80,1 Prozent, wie aus der Antwort auf eine Kleine Anfrage der FDP im Bundestag hervorgeht.

Die Bahn will diese Zahlen künftig regelmäßig online veröffentlichen, im Sommer 2019 laufen dazu Gespräche mit Verbänden und der Politik. Beim zusätzlichen Wert werden Zugausfälle und verpasste Anschlüsse berücksichtigt, zudem fallen Züge stärker ins Gewicht, die mehr genutzt werden. Der Konzern betont, dass parallel die bisherige 5:59-Minuten-Statistik beibehalten werde. Denn sofort wird der Verdacht laut, dass wieder getrickst werde. Das zeigt, wie viel Vertrauen die DB verspielt hat.

Verspätungen als Kostenfaktor

Fairerweise ist festzustellen, dass an die Bahn offenkundig besonders hohe Ansprüche gestellt werden. Denn andere Verkehrsmittel sind keineswegs pünktlicher. Bei einer Pkw- und Fernbusfahrt quer durch die Republik auf den oft überlasteten Autobahnen können durch unkalkulierbare Staus, Pannen und Unfälle viel größere Verspätungen entstehen als im Zug – was viele klaglos hinnehmen. Auch im Flugverkehr gibt es immer häufiger chaotische Zustände auf Airports und lange Warteschleifen in der Luft. Verglichen damit steht der Schienenverkehr nicht so schlecht da. Allerdings fahren Züge auf eigenen Gleisen, und bei guter Organisation sind punktgenaue Ankünfte machbar, wie die Schweiz oder Japan jeden Tag beweisen.

Hier muss die DB einfach besser werden. Wie aus der Antwort des Bundesverkehrsministeriums auf eine Anfrage von Bündnis 90/ Die Grünen im Bundestag (Drucksache 19/8483) hervorgeht, fuhr die DB AG im Regionalverkehr 2018 bundesweit rund 143 Millionen Minuten Verspätung ein, nach 134 Millionen im Jahr zuvor. Das bedeutet eine Steigerung um rund neun Millionen Verspätungsminuten, was 6250 Tagen oder mehr als 17 Jahren entspricht. Im Fernverkehr wuchs die Unpünktlichkeit von 3,3 auf 3,7 Millionen Minuten.5

Die desaströsen Verspätungen kosteten im November 2018 den Produktionsvorstand der DB Fernverkehr AG, Kai Brüggemann, seinen Job. Der bisherige Fahrplanmanager Philipp Nagl rückte nach. Auch Fernverkehrschefin Birgit Bohle, die 2016 Besserung durch ein Aktionsprogramm versprochen hatte und als Hoffnungsträgerin galt, verließ den Staatskonzern. Schon zuvor gab es zahlreiche Wechsel an der Spitze dieses Problemressorts. So mussten 2010 gleich drei der vier Vorstände beim Fernverkehr gehen, darunter der damalige Chef Nikolaus Breuel. An der Dauermisere hat das wenig geändert.

Die Unpünktlichkeit der Bahn verärgert nicht nur die Fahrgäste und beschädigt das Image, sondern kostet den Konzern auch enorm viel Geld. Interne Unterlagen der DB-Spitze zeigen, dass der Staatskonzern allein 2017 und 2018 im Regionalverkehr fast 500 Millionen Euro Vertragsstrafen wegen Verspätungen und Zugausfällen an die öffentlichen Auftraggeber zahlen musste und bis 2023 mit weiteren 650 Millionen Euro gerechnet wird. Im Regionalverkehr sind diese Strafen in den Verkehrsverträgen mit den Bundesländern geregelt, die den Zugverkehr über ihre Gesellschaften ausschreiben, bestellen und bezahlen. Wer als Bahnunternehmen den Zuschlag bekommt, muss festgelegte Qualitätsziele schaffen. Werden Pünktlichkeitswerte verfehlt, gibt es weniger Geld oder Pönalen. Schon 2016 kamen nicht mal 92 Prozent der Nahverkehrsbahnen mit Verspätungen unter sechs Minuten an. Das Vertragsziel von 95 Prozent wurde deutlich verfehlt. »Wir erbringen derzeit die notwendige Basisqualität nicht«, hieß es seinerzeit im vertraulichen Sanierungskonzept »Zukunft Bahn« des damaligen Konzernchefs Grube.

Die Details zu Vertragsstrafen werden vom Konzern ebenfalls gehütet wie ein Staatsgeheimnis. Denn auch diese Zahlen verdeutlichen, wie groß die Unzulänglichkeiten im operativen Geschäft sind. Schon zwischen 2012 und 2014 summierten sich die Pönale auf rund 500 Millionen Euro. Auch das geht aus vertraulichen Unterlagen für den DB-Aufsichtsrat hervor. Die Fahrgäste profitieren von den Vertragsstrafen übrigens allenfalls indirekt. Die Aufgabenträger der Länder reichen das Geld bis auf wenige Ausnahmen nicht weiter, können die zusätzlichen Mittel aber in mehr Bahnverkehr stecken. In Baden-Württemberg fordert VCD-Landeschef Matthias Lieb, die betroffenen Fahrgäste im Regionalverkehr an den Pönalen über Rückerstattungen zu beteiligen.

Im Fernverkehr muss die DB wegen Verspätungen jedes Jahr zweistellige Millionensummen direkt an die Fahrgäste zurückzahlen, allein 2018 fast 54 Millionen Euro. Die Zahl der Anträge wuchs in diesem Jahr um 900 000 auf rund 2,7 Millionen. Die Entschädigungen sind in den EU-weiten Fahrgastrechten geregelt. Demnach erhalten Reisende bei Verspätungen ab 60 Minuten ein Viertel des Fahrpreises zurück und ab 120 Minuten die Hälfte. Selbst wenn die Ursachen Suizide oder Sturm sind, besteht der Anspruch. Der Antrag kann auch formlos eingereicht werden.

Für die Bahnen könnte es bald noch teurer werden. Verkehrsexperten im EU-Parlament wollen durchsetzen, dass schon ab 60 Minuten die Hälfte des Fahrpreises zurückerstattet wird und ab 90 Minuten sogar drei Viertel. Zudem verlangen Fahrgastverbände eine automatisierte Online-Entschädigung für registrierte Kunden statt der mühsamen schriftlichen Anträge. Es würde sich also für den Konzern richtig auszahlen, die Verspätungen endlich mal zu verringern. Das wird von den wechselnden Topmanagern zwar regelmäßig versprochen. Die Ergebnisse jedoch bleiben aus. Denn es gibt Ursachen, die nicht von heute auf morgen zu beseitigen sind.

Vier große Feinde der Bahn – und viele kleine

Ist der Klimawandel schuld an den vielen Bahnverspätungen? Das könnte man denken, denn auffällig oft machen DB-Manager Schnee und Eis, Stürme oder lange Hitzeperioden verantwortlich, wenn wieder mal das Chaos herrscht. Tatsächlich sorgen eingefrorene Weichen, umgestürzte Bäume oder Schäden in der Oberleitung schon mal dafür, dass Strecken nicht mehr passierbar sind. Unter frustrierten Reisenden kursiert der Witz: Kennen Sie die vier größten Feinde der Bahn? Frühling, Sommer, Herbst und Winter.

Wettereinflüsse sind jedoch nicht der Hauptgrund für Störungen. In Ländern wie der Schweiz fahren die Züge schließlich auch bei Minusgraden pünktlich. Und 1966 konnte die Deutsche Bundesbahn noch durchaus glaubhaft mit einem schönen Slogan für ihre Zuverlässigkeit werben: »Alle reden vom Wetter. Wir nicht.« Daran möchten die Nachfolger ungern erinnert werden. Denn wie der Konzern selbst einräumt, ist die Unpünktlichkeit nur in rund einem Drittel der Fälle auf externe Einflüsse zurückzuführen. Dazu gehören neben dem Wetter zum Beispiel Suizide, Unfälle an Bahnübergängen oder mit Tieren, die auf die Gleise laufen. Aufräumarbeiten und Ermittlungen können die Strecke dann für viele Stunden blockieren. Das gilt ebenso bei Anschlägen, Terrordrohungen oder Bombenverdacht.

Zwei Drittel der Störungen aber haben hausgemachte Ursachen: Probleme mit der Infrastruktur und operative Schwächen im Zugbetrieb. Die Grenzen verlaufen fließend. So hat die zuständige DB Netz AG viele Jahre bei der Kontrolle der Vegetation entlang vieler Bahnstrecken gespart. Die Folge: Bei Stürmen können Bäume eher aufs Gleis stürzen. Im Oktober 2018 wiederum führte der dramatische Brand eines ICE bei Montabaur zu wochenlangen Beeinträchtigungen. Zwei Monate später legte ein Warnstreik während der Tarifverhandlungen bundesweit den Zugverkehr lahm. Technische Defekte und Konflikte mit den Gewerkschaften sind zwar nicht zwangsläufig Folgen von Missständen im System, allerdings auch keine Naturereignisse, die unvermeidbar sind.

Andere operative Defizite sind schwerwiegender, wie die Regierungsantwort auf die Grünen-Anfrage zeigt. Demnach stieg 2018 die Zahl der Haltezeitüberschreitungen um 2500 auf rund 27 500 Fälle, was auf zu enge Fahrpläne und stark überlastete Knotenbahnhöfe hindeutet. Hinzu kamen fast 9500 Fälle von unpünktlich bereitgestellten Zügen bereits am Start, ein Anstieg um mehr als 30 Prozent. Ein Grund dafür: massive Personalprobleme. In mehr als 4500 Fällen musste gar auf Mitarbeiter wie Zugführer gewartet werden, eine Zunahme um 40 Prozent.

Für alle Experten jedoch ist unstrittig: Hauptursache für Störungen ist das bundeseigene Schienennetz, das seit Jahrzehnten vernachlässigt und unterfinanziert, aber gleichzeitig immer stärker genutzt wird. Mittlerweile läuft immerhin eine Modernisierung mit bis zu 1200 Baustellen täglich, was nun im laufenden Betrieb zahlreiche Behinderungen verursacht. Allein 2018 gab es rund 161 000 Fälle von »Infrastrukturstörungen«, 9000 mehr als im Jahr zuvor. 2015 waren es sogar noch 228 000. Baustellen sind für weitere 41 000 Störfälle verantwortlich, 2014 waren es gar noch fast drei Mal so viele.6

Anfang 2019 wächst wegen der chronischen Verspätungen wieder mal der politische Druck auf die DB-Spitze. Verkehrsminister Scheuer fordert rasche Verbesserungen und zitiert Bahnchef Lutz gleich zu drei Terminen frühmorgens in sein Haus. Der Manager präsentiert darauf einen »Fünf-Punkte-Plan«, der bereits eingeleitete Maßnahmen zusammenfasst. Dazu gehört die Einstellung von 22 000 Mitarbeitern allein im laufenden Jahr. Besonders Lokführer und Fahrdienstleiter werden gesucht, in den Reparaturwerken die Personalzahlen aufgestockt. Mit »Knoten- und Bahnhofskoordinatoren« und dem »Lagezentrum Pünktlichkeit« sollen die Abläufe in besonders überlasteten, verspätungsanfälligen Knoten wie Hamburg, Berlin, Mannheim und Würzburg verbessert werden.

Das »Lagezentrum Bau« soll Einschränkungen bei der Sanierung der Infrastruktur vermindern, das Programm »Digitale Schiene« langfristig die Netzkapazität erhöhen. Personenverkehrsvorstand Berthold Huber macht den Kunden Hoffnung: »Wir haben das größte Investitionsprogramm unserer Geschichte auf den Weg gebracht und rund 200 neue Züge für fast sieben Milliarden Euro bestellt. Damit wollen wir unsere Angebotsqualität in den nächsten Jahren weiter deutlich verbessern.«

Auch ziemlich unkonventionelle Maßnahmen werden ausprobiert. So hat Infrastruktur-Vorstand Ronald Pofalla die Idee, Fernzüge bei größeren Verspätungen nicht bis zum Endbahnhof durchfahren, sondern früher umkehren zu lassen. So soll die Pünktlichkeit insgesamt im Netz verbessert werden, weil ein Domino-Effekt vermieden wird. Die »Pofalla-Wende« bedeutet aber für manche Fahrgäste unfreiwillige Zugwechsel und lästiges Umsteigen.

Immerhin werden Reisende bei Störungen mittlerweile schneller benachrichtigt, zum Beispiel über einen »Verspätungsalarm« auf dem Smartphone. Auch die Informationen und Anzeigen am Bahnsteig und im Zug haben sich verbessert. Zudem sollen Bahnkunden bei Unpünktlichkeit unkomplizierter entschädigt werden. Bisher sind zeitraubende schriftliche Anträge notwendig, während das Online-Ticket blitzschnell gebucht werden kann.