Dirk C. Fleck

GO! Die Ökodiktatur

Erst die Erde, dann der Mensch

 

AndroSF 38

DSFP 1994

 


Dirk C. Fleck

GO! Die Ökodiktatur

Erst die Erde, dann der Mensch

 

AndroSF 38

DSFP 1994

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© der originalen Printausgabe: Dezember 2013;

© dieser E-Book-Ausgabe: Februar 2019

p.machinery Michael Haitel

 

Herausgeber: Ralf Boldt

Titelabbildung: Lothar Bauer

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda, Xlendi

Lektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda, Xlendi

 

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

www.pmachinery.de

für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu

und den Deutschen Science-Fiction-Preis, www.dsfp.de

 

ISBN der Printausgaben:

Paperback 978 3 942533 79 9

Hardcover 978 3 942533 94 2

 


Vorwort

 

Zwanzig Jahre sind seit der Erstveröffentlichung von »GO!« vergangen. Dass der Verlag p.machinery das Buch noch einmal auflegt, zeugt von Realitätssinn. Nicht schlecht für einen Science-Fiction-Verlag. (Übrigens wird der Roman, nachdem es bereits in der Türkei erschienen ist, in Kürze auch in Vietnam erscheinen.) Inzwischen hat sich das Klima auf der Erde nämlich erheblich verschlechtert, sowohl ökologisch als auch sozial. Unsere Zivilisation betreibt einen Weltkrieg gegen die Natur, der unmittelbar und unbestritten in den Ökozid führt. Dennoch wollen Wirtschaft und Politik von ihrer vernichtenden Wachstumsideologie nicht lassen. Der Drops, so scheint es, ist gelutscht. Der Meinung ist auch das US-amerikanische Energieministerium, das den Kampf gegen den Klimawandel vor Kurzem für verloren erklärte. Vielleicht ist dies der Grund, warum die Schweinerei auf den letzten Drücker unbeirrt, aber gewinnbringend weiter betrieben wird.

Das Verrückte dabei ist, dass wir Wälder vernichten, Flüsse kaputtmachen, Arten auslöschen und die Erde unbewohnbar machen können, ohne dabei ein einziges Gesetz zu brechen. Es ist zwar kriminell, jemanden die Handtasche zu klauen oder einen Joint zu rauchen, aber es ist völlig legal, den Planeten zu zerstören. Unsere gesamte Kultur ist auf der Vermeidung von Verantwortung gegründet – von oben nach unten, von innen nach außen, individuell und gesellschaftlich. Die Zivilisation ist, das wird jetzt, da es an unser aller Lebensgrundlagen geht, immer mehr Menschen bewusst, ein barbarisches System, das ausschließlich dem Geld folgt und nichts, aber rein gar nichts mit ethischen Grundsätzen zu tun hat.

Die Psychologie hat angesichts der Ratlosigkeit, in der sich die Menschheit zur Zeit befindet, den Begriff der kognitiven Dissonanz geprägt. Wir sehen uns einem Übermaß an Problemen gegenüber, während wir gleichzeitig glauben, dass es dafür keine Lösungsmöglichkeiten gibt. Kognitive Dissonanz. Ein unangenehmes Gefühl. Vor allem, wenn es sich wie ein schleichendes Gift in die Gesellschaft frisst. Um dieses Gefühl abzumildern, um an ihm also nicht verrückt zu werden, bleibt uns eigentlich nur eines: die Probleme in ein »besseres« Licht zu rücken. Also verharmlosen, vertuschen und verdrängen wir wie die Teufel, darin sind wir wirklich brillant.

Wir Menschen haben Jahrhunderte lang in unser Wohnzimmer uriniert. Anstatt aber unsere Lebensweise zu hinterfragen, diskutierten wir lieber über die Saugfähigkeit des Teppichs. Erst jetzt, da der Sättigungsgrad des Teppichs erreicht ist, beginnen wir allmählich aufzuwachen. Dabei hätte es nicht zwangsläufig so weit kommen müssen. Wir hatten unsere Chance, wir hatten sie immer. Wir konnten sie nur nicht nutzen, weil wir als politisches Gemeinwesen keine Idee besaßen, was und wer wir eigentlich sein wollten, jenseits unseres immer kümmerlicher werdenden Konsumentendaseins im Scheinpluralismus weniger Konzerne.

Eigentlich wissen wir es immer noch nicht. Deshalb glauben wir, dass die Lösung unserer Probleme ein Fall für die Wissenschaft geworden ist. Unsere Hoffnungen ruhen auf neuen Wissenschaftszweigen wie der Bionik, dem Geoengineering oder der Evolutionstechnik, wir träumen von molekularer Selbstorganisation und versuchen uns an der Züchtung von Stopfkrebsen zum Abdichten unserer Deiche. Wir hören von lernfähigen neuronalen Netzen und einer neuen Computerarchitektur, in der Hardware und Software zu einer Persönlichkeit verschmelzen. Aber verstehen tun wir nichts von alledem. Und wie immer, wenn wir nichts verstehen, wird es auch diesmal schief gehen. Mit allem, was wir Menschen bisher angefangen haben, sind wir nämlich in die Absurdität des Gegenteils geraten. Mit dem Versuch, die Äcker fruchtbarer zu machen, haben wir sie zu Tode gefoltert. Mit dem Versuch, uns vor Feinden zu schützen, sind wir so nahe wie möglich an den großen Weltbrand geraten. Selbst der Versuch zu heilen und zu helfen geriet immer mehr an die Grenzen der Unmenschlichkeit.

Der polnische Philosoph und Science-Fiction-Autor Stanislav Lem (»Solaris«) hat es folgendermaßen ausgedrückt: »Die Zivilisation ist ein Schiff, das ohne Pläne gebaut wurde und nun führerlos dahin schlingert. Es fehlt ihr ganz einfach an spiritueller Verbundenheit, damit sie einen Kurs hätte wählen können, der eben nicht in die Katastrophe mündet.«

 

Unsere Aussichten sind alles andere als rosig. Wie es scheint, stellen die Meere und Wälder ihre globalen Dienstleistungen, die bislang jedem Menschen zugute kamen, demnächst ein. Damit würde der Klimastress zum Dauerzustand werden. Und wie es um das kapitalistische Wirtschaftssystem bestellt ist, brauche ich niemandem zu erklären. Schon jetzt fühlen sich Milliarden Menschen rund um den Globus betrogen und verarscht, sie sind frustriert, ausgebrannt und ohne Hoffnung.

Vermutlich braucht es den drohenden Megaschock, um eine wirkliche Bewusstseinsänderung herbei zu führen. In den Herzen der Menschen sitzen nicht nur Wut und Enttäuschung, es wächst in ihnen auch etwas heran, was von unschätzbarem Wert ist: die Sehnsucht nach einer besseren Welt! Diese Sehnsucht ist schon heute mit Händen zu greifen und zwar überall auf der Erde. Die Menschen haben die Seele der Gier-Kultur endgültig satt. Deshalb ist es wichtig, ihnen eine Perspektive zu bieten. Sie müssen wissen, dass es genügend gesunde Alternativen gibt, um sich aus den Fängen einer erbarmungslosen Wachstumsgesellschaft zu befreien. Sobald sie verstehen, dass es ohne Weiteres möglich ist, sich gegenüber den Kapitalinteressen zu emanzipieren, dass es möglich ist, eine Gemeinschaft nach eigenen Vorstellungen aufzubauen, um wieder in den Genuss von Kommunikation und Mitmenschlichkeit zu kommen, werden sie auch den Mut finden, etwas Neues zu wagen. Diese Neuorientierung wird nicht gradlinig verlaufen und viele Irritationen mit sich bringen, aber sie wird den Menschen von Anfang an und bei jedem Schritt etwas zurückgeben, was ihnen solange gefehlt hat: Lebensfreude.

Ich mag gar nicht daran denken, was an kreativen Kräften alles freigesetzt wird, wenn sich die Gemeinschaften auf regionaler Ebene neu organisieren. Wenn immer mehr Menschen verstehen, dass es allemal besser ist, mit der Natur als gegen sie zu leben. Wenn wieder natürliche Kreisläufe in Gang gesetzt werden und eine nachhaltige Wirtschaftsordnung entsteht, wenn Strom zu hundert Prozent aus regenerativen Energien gewonnen wird, wenn eine neue Geld- und Bodenordnung vor Spekulanten und Übervorteilung schützt, wenn ein transparentes und gerechtes Steuersystem allein der Zukunftssicherung verpflichtet ist, weil die Bemessungsgrundlagen nicht mehr an Umsatz, Verdienst und Gewinn orientiert sind, sondern am Verbrauch. Eine Rohstoff- und Energiesteuer zum Beispiel würde den Ressourcenverbrauch auf ein erträgliches Maß senken.

 

Ich könnte Hunderte von Alternativen nennen, für jeden Lebensbereich gleich mehrere. Sie sind bereits vorhanden. Erforscht und erprobt. Ob es sich um alternative Antriebe oder um gesunde Nahrung handelt, um Vorschläge für ein zukunftsfähiges Krankenversicherungssystem oder die Neuordnung der Demokratie durch Expertenparlamente – alles ist vorhanden oder angedacht, es wartet nur darauf, dass wir uns bedienen. Mit einem Sprung zurück ins Mittelalter, wie uns die Verfechter des alten Systems immer wieder weismachen wollen, hat das alles nichts zu tun.

Der Mensch ist schlau, er hat immer Auswege gefunden, wenn es zur Krise kam. Aber nie zuvor in seiner Geschichte ist seinem Erfindungsreichtum ein solcher Riegel vorgeschoben worden, wie zu Zeiten der kapitalen Gier. Kaum zu glauben, aber wahr: Das Profitinteresse einer kriminellen Finanz- und Wirtschaftselite hat in den letzten Jahrzehnten jede vernünftige Problemlösung im Ansatz erstickt. Jetzt haben sie den Salat, jetzt doktern sie hysterisch an den Symptomen herum. Dabei verkennen sie eines: Sie haben es nicht mit einem Fehler im System zu tun, ihr ganzes verdammtes System ist ein Fehler!

Der Umbau unserer globalen Konsumkultur wird das wichtigste Ereignis in der Geschichte der Menschheit sein. Diese Aufgabe können wir aber nur lösen, wenn wir uns als politisches Gemeinwesen verstehen. Weltweit. Aber angehen müssen wir diese Aufgabe. Sonst landen wir unweigerlich da, wo wir nicht hinwollen: in einer Ökodiktatur. Wie sich das anfühlt, wie das schmeckt – genau das habe ich versucht mir vorzustellen. Dass die äußeren Umstände, wie sie im Buch beschrieben werden, inzwischen nahe an die Wirklichkeit gerückt sind, ist allerdings kein Grund für übertriebenen Optimismus.

 

Ich bin nicht sicher, wie sich die Dinge entwickeln werden, deshalb schließe ich mit einem Satz der wunderbaren Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi: »Erwarte weiterhin das Beste, aber sei auf das Schlimmste vorbereitet.«

 

Dirk C. Fleck,

im Dezember 2013

 


GO! Die zwölf Grundgesetze

 

1.  Die Würde der Erde ist unantastbar.

2.  Genmanipulationen an Pflanzen, Tieren oder Menschen sind verboten.

3.  Es besteht Arbeitspflicht. Jeder Bürger zwischen achtzehn und fünfundfünfzig Jahren investiert seine Arbeitskraft in den ökologischen Neuaufbau.

4.  Die herkömmlichen Zahlungsmittel sind außer Kraft gesetzt. Vegetarische Grundnahrungsmittel, Kleidung und Wohnraum stellt der Staat.

5.  Private Medien sind verboten. Als Informationsquelle dient das Staatsarchiv.

6.  Tiere und Pflanzen genießen unseren Schutz. Schlachthäuser, Zoos und Versuchslabors sind geschlossen.

7.  Es besteht Bauverbot. Die vorhandenen Bestände werden bedarfsgerecht instand gehalten.

8.  Es besteht Reiseverbot. Privatfahrzeuge sind bei den zuständigen Stellen abzuliefern.

9.  Strom und Wasser sind rationiert. Die Energieversorgung wird über Solar-, Wind- und Wasserkraft sowie über Biogas gewährleistet.

10. Jede Frau zwischen achtzehn und dreißig Jahren hat das Recht auf ein eigenes Kind. Voraussetzung ist ein Gebärgutschein des lokalen Gesundheitsamtes.

11. Der Staat unterstützt das Zusammenleben seiner Bürger in autarken Meditationskommunen.

12. Wer ein Grundgesetz bricht, wird ins Stadtlager verwiesen. Stadtlager stehen auch Freiwilligen offen.

 

ERST DIE ERDE, DANN DER MENSCH!

Der Öko-Rat im Januar 2040

 


Die wichtigsten Personen

in der Reihenfolge ihres Auftretens

 

Martin Heiland (44), Informationsminister

Max Malin (50), Renaturierungsingenieur

Xenia (27), Moderatorin der staatlichen Holo-Lesson

Eszra Hinrichsen (22), Freund von Lari und Percy Baro

Dr. Philip Baro (72), ehemaliger Managementberater

Percy Baro (23), Enkel von Philip Baro

Lari Baro (22), Percys Schwester

Edward Goldsmith (64), Wissenschaftler

Prof. Kitami (62), Mitglied des japanischen GO!-Rats

Mira Goldsmith (19), Tochter von Edward Goldsmith

Willy (38), »Spieler« im Stadtlager

Iris Blume (27), Lebensgefährtin von Martin Heiland

Paul Boon (42), Hauptmann der GO!-Schutztruppen

Philine (26), Mitglied der Meditationskommune Usedom

Dr. Marinella Malin (37), Ärztin, Ex-Frau von Max Malin

Wilken Armerding (76), Physiker

Dhyani (32), Indianerin vom Stamme der Hopi

Peter Bachmann (68), Ex-Chefredakteur

Tamara (20), Widerstandsgruppe Weiße Rose

Mark (24), Tamaras Bruder

Kafka (39), Lehrer in der Meditationskommune Usedom

Colette Rosenbladt (69), ehemaliger Ballettstar

 


GO!

 

Martin Heiland stocherte nervös in seinem Essen. »Siehst blass aus«, bemerkte Peter Buchholz. Als sein Freund nicht reagierte, versuchte er es mit einem Scherz: »Ich werde den Piloten bitten, die Kiste so richtig ins Trudeln zu bringen, das belebt. Die Spanier verstehen sich auf solche Kunststückchen.«

Heiland schob den Teller beiseite: »Du fliegst allein«, sagte er und stand auf.

»O nein, mein Lieber! Wir sind gemeinsam geladen, also sehen wir uns die Sache auch gemeinsam an.«

»Vergiss es«, entgegnete Heiland. »Sie wollen, dass wir uns an der Schweinerei beteiligen, also werden wir es tun. Haben wir eine Wahl?« Er legte dem Schutztruppenminister die Hand auf den Arm: »Keine zehn Pferde kriegen mich in diesen Helikopter …«

»Zu spät«, flüsterte Buchholz. Zwei Herren näherten sich ihrem Tisch, der eine im Anzug, der andere in offener Lederjacke. Buchholz stellte sie vor: »Señor Vargas vom spanischen Informationsministerium, Miguel, unser Pilot. Na, dann wollen wir mal.«

Der Bell Jet Ranger stand mit hängenden Rotorblättern auf dem Flugfeld wie ein flügellahmes Insekt. Heiland drückte sich neben Buchholz auf die rückwärtige Sitzbank. Der Pilot entfernte den Überzug vom Staurohr und drehte an der Benzinzufuhr. Seine Hand fuhr unter das Kabinendach, wo sie nach einer genau festgeschriebenen Choreografie zwischen Kipp- und Drehschaltern virtuos hin und her tanzte. Heiland vertraute sich dem Piloten an wie einem Arzt, der vor der Operation die Instrumente sortiert. In der Luft war ein Zwitschern, als hätte sich ein Vogelschwarm in der Kabine niedergelassen.

»Helikopter Seawind 2040 ready for take off.«

»Roger. Altimeter set thirty point ten. Clear for take off.«

Heiland krallte sich in den Sessel. Trotz aller Angst verursachte der Kurvenflug, in dem Algeciras wie ein Tischtuch unter ihnen weggezogen wurde, ein wohliges Kribbeln im Bauch. Die Schaumkronen auf dem Meer schienen schräg vom Himmel zu fallen, um gleich darauf, dem kippenden Horizont folgend, waagerecht auf sie zuzurollen. Er bekam eine Ahnung davon, wie es sich anfühlte, aus der Welt katapultiert zu werden, und es gefiel ihm. Insbesondere gefiel ihm, dass sich seine Verantwortung für diese Welt dabei in Nichts auflösen würde …

»In einer Stunde wird es dunkel«, hörte er Vargas sagen, »allmählich dürften sie sich bereit machen da drüben. Die meisten versuchen es nachts. Sie kapieren einfach nicht, dass wir sie genau so gut im Dunkeln aufspüren können.«

»Wie viele sind es inzwischen pro Tag?«, fragte Buchholz.

»Wer weiß das schon. Einige Tausend. Die meisten stammen aus Schwarzafrika. Die Marokkaner gehen nicht gerade zimperlich mit denen um. Erst letzte Woche haben sie an der senegalesischen Grenze ein Flüchtlingscamp bombardiert. Allmählich aber geht ihnen Treibstoff und Munition aus. Wenn wir das Problem im Griff behalten wollen, müssen wir liefern …«

»Die GO!-Staaten haben ein striktes Waffenembargo verabschiedet«, antwortete Buchholz irritiert.

»Ein Fehler«, bemerkte Vargas trocken. »Es mag für Sie makaber klingen, aber ohne die Dezimierung im Vorfeld unserer Grenzen wäre Europa verloren. Die Menschen drängen zu Millionen an die nordafrikanischen Küsten. Marokko, Algerien und Tunesien sehen aus wie nach einem Heuschreckenangriff. Was nicht niet- und nagelfest ist, wird geklaut und zu Flößen umfunktioniert.« Der Spanier reichte seinen deutschen Gästen die Karte. »Wir patrouillieren mit zwanzig Schnellbooten in der Straße von Gibraltar, außerdem sind ständig sechs Hubschrauber im Einsatz. Trotzdem gelingt es einem beträchtlichen Teil von Flüchtlingen, bei uns anzulanden. Womit wir beim Punkt wären: Der spanische Öko-Rat hat beschlossen, eine zusätzliche Pufferzone einzurichten. Der gesamte Küstenstreifen zwischen Huelva im Westen und Benidorm im Osten wird bis zu zwanzig Kilometer ins Landesinnere geräumt. Das hat natürlich nur Sinn, wenn dort genügend Militär präsent ist, um die Eindringlinge aufzuspüren.«

»Und dabei dachten Sie an uns?«, nuschelte Buchholz über die Karte gebeugt.

»An Sie, an die Franzosen, die Engländer, die Schweizer, egal … Alleine schaffen wir es nicht. Die Alternative wäre für niemanden verlockend. Bedenken Sie nur die Ströme von Aids-Infizierten, die sich nach Norden bewegen würden.«

Heiland lauschte den Ausführungen des Spaniers eher beiläufig, er war viel zu sehr damit beschäftigt, Miguels Flugmanöver auszubalancieren. Als der Helikopter unvermutet niedersackte, um plötzlich mit erhobenem Schwanz in niedriger Höhe stehen zu bleiben, wurde ihm schlecht. Buchholz reichte ihm eine Kotztüte.

»Hier haben wir es mit einem der typischen Flöße zu tun«, dozierte Vargas im Tonfall eines Museumsführers. »Vier, fünf kräftige Balken aneinander genagelt, das ist es meist schon. Viele werden von der Strömung in den Atlantik gerissen.«

Heiland würgte eine gallige Flüssigkeit hervor und blickte mit tränenden Augen auf die See, die sich unter ihnen kräuselte. Inmitten dieses von peitschenden Rotorblättern entfachten Sturms kauerte eine Gruppe verängstigter Gestalten auf schaukelnden Planken. Fünf junge Männer, eine Frau. Sie saß als Einzige aufrecht. Ihre Lippen bewegten sich wie im Gebet.

Heiland kam sich in seiner Glaskuppel wie ein Alien auf Stippvisite vor. Der Pilot zog die Maschine behutsam hoch, als sei ihm der Anblick peinlich. Von Backbord näherte sich in rasender Fahrt ein Schnellboot. Es hielt direkt auf das Floß zu und pflügte es unter. Sekunden später stob der Helikopter mit gesenktem Haupt auf die afrikanische Küste zu. Heiland erbrach sich erneut. »Es sind Hunderte!«, schrie Vargas, »zählen Sie mal mit.«

»Ab wo werden sie angegriffen?«, fragte Buchholz, um Kontenance bemüht.

»Sie werden gestellt, wo immer wir ihrer habhaft werden, Señores! Was dachten Sie denn?«

»Auch vor ihrer eigenen Küste?«

Dem Spanier ging die Empfindlichkeit des Deutschen auf die Nerven. »Natürlich«, knurrte er, »je eher, desto besser.«

»Und wenn es sich um Fischer handelt?«, hakte Buchholz nach.

Vargas starrte ihn fassungslos an. Auch Heiland warf seinem Kabinettskollegen einen abschätzigen Blick zu. Fischen war in allen Anrainerstaaten seit der Choleraepidemie von 2024 unter Todesstrafe gestellt. Die ökologischen Zeitbomben tickten in solcher Menge im Meer, dass auch in hundert Jahren keine Besserung in Sicht sein würde. Fast die Hälfte der europäischen Industrieabfälle war hier über Jahrzehnte kostenneutral entsorgt worden. Der Massentourismus, der am Ende auf 340 Millionen Besucher pro Jahr angewachsen war, hatte die Gewässer zwischen Gibraltar und der Südtürkei endgültig zugeschissen.

Sie folgten der Küste nach Melilla. »Ich denke, wir haben genug gesehen«, sagte Heiland, als sie wieder einmal in geringer Höhe über die Köpfe der Flüchtlinge donnerten. Vargas gab dem Piloten das Zeichen zur Umkehr.

»War ne blöde Bemerkung, das mit den Fischern«, entschuldigte sich Buchholz, als sie eine Stunde später im Gästehaus des spanischen Öko-Rats zu Abend aßen.

»Sagen wir mal so«, antwortete Heiland, »sie hat unseren Sachverstand nicht gerade unter Beweis gestellt. Wie viele Soldaten können wir ihnen bewilligen? Zwanzigtausend?« Er schnupperte am Vino Tinto und blickte den Schutztruppenminister über den Rand seines Glases belustigt an.

Buchholz verschwand auf sein Zimmer. Er wurde einfach nicht schlau aus diesem Mann. Im Helikopter hatte Heiland Höllenqualen gelitten beim Anblick der verzweifelten Menschen, und jetzt erteilte er mit einem Augenzwinkern Unterstützung für dieses Schlachtfest an Europas verwundbarster Stelle.

 

Malin legte das Buch beiseite. Ihm war aufgefallen, dass seine Augen immer wieder zum Anfang des Kapitels zurückglitten, nachdem sie sich eine Zeit lang über Zeilen bewegt hatten, die ihren Sinn jedoch verborgen hielten. Er betrachtete das Foto von Marinella, das er als Lesezeichen benutzte. Seit ihrer Trennung umgab ihn ein melancholischer Schleier, als hätte sich seine Seele verpuppt. Traurigkeit brauchte keinen bestimmten Anlass, das machte ihre Autorität aus.

Er stellte die Beschallung ein und zündete sich eine Zigarette an. Es war die Letzte, aber es beunruhigte ihn nicht. Er hatte sich mit seinem Suchtverhalten arrangiert. Die monatliche Ration von fünf Schachteln war, wie üblich, nach drei Tagen verbraucht. Das Gleiche galt für den Alkohol. Was ihn ängstigte, war die Tatsache, dass es ihm nach diesen drei Tagen exzessiven Genusses immer schwerer fiel, in die Nüchternheit zurück zu finden, die am Ende doch äußerst angenehm war. Sie sollten Zigaretten und Alkohol ganz verbieten. Leute wie er würden es ihnen danken, aber Leute wie ihn gab es offensichtlich nicht in ausreichender Zahl.

Er legte den Kopf zurück und lauschte der Musik. Ein Blick auf den Monitor zeigte ihm, dass eine weitere Lesson aufgelaufen war. Vielleicht sollte er sie regelmäßiger anschauen, wer weiß, ob das Informationsministerium nicht falsche Schlüsse zog, wenn er sie jedes Mal im Paket konsumierte. Bis zu drei Lessons durfte man stehen lassen, und er nutzte diese Möglichkeit für gewöhnlich aus. Im Grunde war es wie mit den Zigaretten: Er nahm immer alles auf einmal …

Xenia würde ihm gut tun. Die schöne Quälerin war nicht leicht zu ertragen. Malin gehörte nicht zu jenen, die ein masochistisches Verhältnis zu ihr pflegten wie die meisten seiner Arbeitskollegen. Aber in Stimmungen wie dieser konnte ihre rotzfreche Rhetorik sogar erheiternd wirken. Er kramte im Abfall nach Kippen und drehte sich eine letzte Zigarette. Dann ging er in den Medienraum, gab seine Bürgernummer ein, schlüpfte in den Sensorenanzug und setzte sich in den Sessel, der ihm trotz seines Komforts unheimlich war. Sobald die Sensoren angeschlossen, sobald Helm, Nasenschlauch und Handschuhe betriebsbereit waren, überfiel ihn die Angst, aus der Scheinwelt, in die Xenia ihn entführen würde, nicht mehr zurückzukehren. Dennoch war Malin ein ums andere Mal fasziniert von der virtuellen Realität, in die ihn die schöne Quälerin entführte.

Er betätigte den Abrufknopf und befand sich in einem runden Raum, von dessen Decke zarte Leuchtfäden herabhingen. Der Boden war mit einem heidefarbenen Teppich ausgelegt, in dessen Mitte ein lackiertes schwarzes Tablett stand. Darauf ein silberner Samowar sowie zwei flache Teeschalen. Um das Tablett waren weiße Sitzkissen drapiert. Er war gespannt, auf welche Weise sich Xenia diesmal zeigen würde. Malin sah sich um. An der Wand lehnte eine gerahmte Tuschezeichnung.

»Wo soll ich es hinhängen?«, hörte er Xenia mit ihrer unnachahmlich rauchigen Stimme fragen. Sie lehnte in der Tür und schlang ihr langes Haar im Nacken zu einem Knoten. Ein dunkelroter, seidener Morgenrock floss ihr bis zu den nackten Füßen. »Setz dich doch«, sagte sie und nahm ihm gegenüber im Schneidersitz Platz. Dann schenkte sie Tee ein. Während sie die Schale zum Mund führte und ihn aus ihren großen grünen Augen ansah, hatte er das Gefühl, sich aufzulösen. Xenia-Kick nannte man das.

»Warum, glaubst du, nennt man mich die schöne Quälerin?«, begann sie die Unterhaltung, die letztlich doch nur ein vorgefertigter Monolog war, der den Besucher geschickt vereinnahmte. »Ich will es dir verraten: weil Menschen wie du die Wahrheit noch immer als Qual empfinden. Die Wahrheit ist, dass wir eine Schuld zu begleichen haben, eine Schuld gegenüber unserem Planeten, gegenüber seinen Pflanzen und Tieren. Dazu bedarf es einer Gehirnwäsche. Denk nach über das Wort. Es bedeutet, dass wir in euren Gehirnen sauber machen … Erst wenn der Gedankenschmutz von Jahrhunderten getilgt ist, kommen eure Herzen wieder in Ordnung.«

Sie lächelte. Malin bemerkte einen spöttischen Zug um ihre Lippen, aber er mochte sich täuschen. Es war nicht einfach, ihrem Blick standzuhalten, aber die Regeln besagten, dass der Besucher seine Augen offen zu halten hatte, wenn er die Lesson nicht wiederholen wollte. Er hatte schon von Leuten gehört, die unter den Blicken der schönen Quälerin ohnmächtig geworden waren.

»Halte deine Hand hoch«, forderte ihn Xenia auf. »Was siehst du zwischen dir und deiner Hand?« Was sollte er sehen? Nichts. »Nichts? Bist du sicher?« Klar war er sicher, es gab nichts zu sehen. Sie stand auf und drückte ihm ein feuchtes Tuch auf Mund und Nase. Er erstickte fast daran. Als er sich den Helm vom Kopf reißen wollte, ließ sie los. »Zwischen dir und deiner Hand befindet sich Luft. Ohne Luft können wir nicht atmen. Jedes Lebewesen bedient sich aus demselben Luftvorrat. Er ist das Bindeglied zwischen den Existenzen. Du siehst, wir sind alle miteinander verbunden.«

Malin schwebte im All und blickte auf die Erde hinab, die von einem verletzlichen, blassblauen Häutchen umgeben war. »Unsere Atmosphäre ist begrenzt. Sie ist begrenzt belastbar und begrenzt lebensfähig. Stirbt sie, sterben auch wir. Trink einen Schluck … Ich begleite dich jetzt fünfzig Jahre zurück in die Zeit der Verblendung. Ich zeige dir Bilder aus einer Stadt. Aufgenommen an einem x-beliebigen Platz an einem x-beliebigen Tag …«

Malin zuckte zusammen. Wieder einmal war er auf den Lärm nicht vorbereitet. In Verbindung mit der bleigeschwängerten Luft, die der Nieselregen in niedriger Höhe band, wirkte das Konglomerat wie eine sublime Folter. Er atmete so flach, wie es irgend ging. Aber sofort verbreitete sich ein widerwärtiger Geschmack im Mund. Es hatte keinen Sinn, an den Geräusch- und Geruchssensoren zu drehen, die Zentrale merkte es ja doch. Auf den Gesichtern der Passanten lag ein Ausdruck mühsam gezähmter Hysterie. Niemand verwendete einen Mundschutz. Auf seiner Arbeitsstelle mussten sie sich die Dinger schon aufsetzen, wenn sich ein Baufahrzeug nur näherte.

Er hockte auf einem mit Erde gefülltem Betonkübel, in dessen Mitte ein kahles, hanfgeknebeltes Bäumchen wurzelte, um dessen Stamm sich leere Dosen türmten. Hinter ihm befand sich ein U-Bahn-Eingang. Malin wechselte die Straßenseite. In einem Schnellrestaurant standen die wartenden Gäste in Dreierreihen. Die Angestellten trugen alberne Papierschiffchen auf dem Kopf. Auch die Gäste steckten in einer Art Uniform. Auf ihren Jacken, Hosen und Schuhen prangten die gleichen Schriftzüge und Logos. In der Parkbucht hockte ein Mann bei laufendem Motor in seinem Auto und stopfte kleckernde weiche Brötchen in sich hinein. Er sah aus, als hätte man ihn aus Schleim gefertigt und durchs Schiebedach aufs Polster gegossen. Das Fahrzeug vibrierte unter den dumpfen Schlägen einer Musikanlage, die selbst den Verkehrslärm übertönte.

Malin fröstelte und lief auf die nahe Brücke, vorbei an einem Spielsalon, aus dem Kinder wie Schmeißfliegen hinaus gescheucht wurden. Kurz darauf kehrten sie zurück, als stünde ihnen der Stumpfsinn zu. Zwei kichernde Mädchen schlenderten vorüber. Eine drehte sich um und schenkte ihm aus dem Schatzkästchen ihrer schnippischen Gesten einen Blick, der ihn erröten ließ. Er krallte sich ans Geländer und spürte die Schwingungen der Brücke in seine Arme kriechen. Auf dem Kanal zog ein Paddler seine Bahn, vorbei an den dreckbesäten Ufern mit ihren gespenstischen Baumskeletten. Eine wachsgesichtige ältere Dame hielt eine Zeitung vor die Brust, als wollte sie etwas beweisen. Er flüchtete in einen gläsernen Kiosk und beugte sich über einen Kübel voller Blumenleichen. Sie verströmten keinerlei Geruch. Jeden Augenblick erwartete er die Pflanzenschutzpolizei, aber nichts rührte sich. Ein Kind zwinkerte ihm zu. Er zwinkerte zurück, aber die Mutter riss es davon. Draußen standen die Zeiger der Normaluhr auf fünf vor zwölf.

Jetzt wusste er, was ihn an Xenias Lessons so störte: die platte Symbolik! Im nächsten Moment fand er sich auf einer Wiese am Waldrand wieder. Noch dröhnte die Stadt in seinen Ohren, aber allmählich gewann das Zwitschern der Vögel die Oberhand. Die warme, ungetrübte Sonne löste die Verkrampfung in seinen Gliedern, und das Spiel des Windes wirkte beruhigend aufs Gemüt. »Aber wollt ihr denn durchaus zugrunde gehen, so tut es lieber auf einmal und plötzlich. Dann bleiben von euch vielleicht noch erhabene Trümmer übrig!«, hörte er die Stimme der Quälerin.

Er blickte irritiert auf. Xenia musterte ihn wie ihren Lieblingsschüler. »Es herrschte eine grandiose Langeweile damals«, sagte sie lächelnd. »die in einem dumpfen, nicht enden wollenden Zerstörungswerk kulminierte. Erst wenn du in der Lage bist, die Zusammenhänge in den unscheinbaren alltäglichen Begebenheiten zu lesen, wirst du verstehen, warum wir euch in Geiselhaft nehmen mussten. Bis demnächst, mein Freund …«

Siebzehn Minuten hatte diese Lesson gedauert. Malin schälte sich aus dem Anzug. Wie sanft Xenia sein konnte. Und wie rätselhaft. Da hatte er sie schon ganz anders erlebt.

 

Eszra wunderte sich, dass niemand öffnete. Er ging ums Haus. Percys Großvater hockte mit einer Gartenschere am Rosenbeet. Eszra tippte ihm auf die Schulter.

»Hi!«

Der Mann fuhr herum: »Mein Gott, Junge, hast du mich erschreckt …!«

»Was haben wir denn da, Philip, eine Gartenschere? Ist denn das erlaubt?«

»Weißt du, mein Junge«, sagte der Mann und erhob sich, »Leute wie mich ändert man nicht mehr.«

Eszra mochte den alten Herrn, er mochte die buschigen, sich nach oben ziehenden Augenbrauen, die wunderschön geschwungene Nase, die großen eng anliegenden Ohren und die müden Augen, die gelegentlich aus dem Nebel seiner Melancholie aufblitzten. Der alte Herr hatte Stil. Und wenn man bedachte, dass sein Leben gespalten war, dass es sozusagen in zwei Welten stattgefunden hatte, dann liebte man die ironisch-intelligenten Spitzen, die er bei jeder Gelegenheit gegen die »große Erlösung«, wie er die Revolution nannte, fallen ließ.

»Siehst gut aus, Junge …«

»Mir geht’s auch gut, Doc«, antwortete Eszra. »Ist Percy da?«

»In der Garage.«

»Darf ich rein?«

»Frag nicht so dumm«, brummte Baro.

»Was würdest du sagen, wenn ich dir erzähle, dass ich im Besitz von zwanzig Liter Benzin bin?«, fragte Eszra triumphierend.

Baro schaute den Freund seines Enkels lange an. »Ich würde es sein lassen, wenn ich du wäre«, sagte er schließlich.

»Sag doch ja, Doc …«, bettelte Eszra.

»Ich sag ja, daran liegt es nicht. Aber überlegt euch genau, was ihr tut. Und was ist mit Lari? Sie darf davon auf keinen Fall erfahren. Auf keinen Fall, hörst du? Das ist meine Bedingung.«

»Versprochen, Doc.«

Eszra umarmte den Mann und stürmte durch den Garten auf die getarnte Garage zu. Er hob die Grasnarbe an und stieg die Geheimtreppe hinunter. Percy saß mit geschlossenen Augen auf dem heruntergeklappten Verdeck des Porsches und begleitete die Musik aus den Boxen des Autoradios mit einem imaginären Schlagzeugwirbel. »My eyes have seen you« von den Doors, einer Band aus der Beatles-Ära. Eszra setzte sich ans Steuer, legte die Füße auf den ledernen Beifahrersitz und stellte das Radio leise.

»Charly hat’s geschafft«, sagte er.

»Nee …!« Percy mochte kaum glauben, was er hörte. »Er hat’s geschafft?! Die alte Wildsau!«

»Zwanzig Liter!«

»Weiß der Doc davon?«

»Er ist einverstanden. Allerdings ohne Lari.«

»Quatsch. Natürlich kommt sie mit.«

»Er will es nicht.«

»Was ist los, Esz? Ich denk, du bist in meine Schwester verknallt? Die beißt uns die Schwänze ab, wenn sie erfährt, dass wir sie nicht mitnehmen.«

Und wie aus einem Mund riefen die Freunde: »Er muss es ja nicht erfahren …!«

Sie lachten und trommelten wie die Wahnsinnigen auf die Sitze. Im Radio lief »Unhappy Girls« von Mr. Jim Morrison, ein Gigant in den Augen dieser jungen Gentlemen.

 

Die Spritztour war für die nächste Vollmondnacht geplant, in vier Tagen also. Bis dahin verbrachten Baro und sein Enkel die meiste Zeit in der Garage. Sie ölten das Schwingtor und befreiten es vom Gestrüpp, das sich auf dem rostigen Metall festgebissen hatte. Um den Carrera brauchten sie sich nicht zu kümmern, das hatten sie lange genug getan. Zum Schluss machte Percy einige Trockenübungen hinter dem Steuer. Sein Großvater saß daneben und versuchte ihm zu vermitteln, wie es sich anfühlt, wenn der Wagen Teil des eigenen Körpers wird, wenn die Fliehkräfte wirken und der Wind in den Haaren tobt.

Baro selbst wollte nicht mitfahren. Er sei zu alt für solche Scherze, behauptete er. Es war ziemlich genau dreißig Jahre her, dass er in diesem Porsche ein letztes Mal nach Frankfurt gefahren war. Von einem Tag zum anderen war ja Schluss gewesen mit der Herrlichkeit. Nein, zu alt fühlte er sich nicht. Eher befürchtete er, dass ihm die Erinnerung an eine gewisse Dame, die er damals in Frankfurt glaubte, aufsuchen zu müssen, den Seelenstaub aufwirbeln würde. Was die Jungs betraf, die sollten ruhig ihren Spaß haben. Vielleicht half das, einige Vorurteile zu beheben, die man seiner Generation gegenüber pflegte. Die Geschichte mit der Luftverpestung war ohnehin lächerlich angesichts der Tatsache, dass ihre gesamte Scheißarmee noch immer mit den veralteten Vehikeln aus den Zeiten der Faschistischen Liga unterwegs war.

 

Der Mond hatte die dichte Wolkendecke bis Mitternacht vollständig aufgelöst. Der Himmel war von solcher Klarheit, dass Eszra zum ersten Mal bewusst wurde, dass er sich auf seinem Fahrrad ja mitten durchs All bewegte.

Das Haus des Doktors lag gut geschützt am Berg. Unten wand sich ein glitzerndes Flüsschen durchs Dorf. In den Sonnenkollektoren blitzte der Mond auf, selbst die Schieferdächer erinnerten an mattierte Spiegel. Eszra nahm den Kanister vom Gepäckträger. Das Garagentor stand bereits offen. Percy und der Doc fummelten bei Kerzenlicht an den Zündkerzen herum. Baro begrüßte Eszra, wischte sich die Hände mit einem Tuch ab und roch am Verschluss des Kanisters. Er drehte den Deckel vom Benzinstutzen, steckte einen Trichter hinein und wuchtete den Kanister vor den Bauch. Als der Sprit sich glucksend in den Tank ergoss, herrschte eine fast weihevolle Stimmung.

Baro schaute auf die Uhr. »Zehn vor eins. Ihr habt also noch ne gute Stunde. Gehen wir solange ins Haus.«

Percy holte eine Flasche Wein aus dem Keller. »Hör mal, Doc«, sagte er und schenkte seinem Großvater ein, »Eszra und ich würden uns gerne zur Feier des Tages ein paar von deinen alten Klamotten ausleihen. Was meinst du? Wir inszenieren die perfekte Zeitreise!«

Okay, dachte Baro, warum nicht?

»Hast du Lari informiert?«, flüsterte Percy, als sie oben vor dem geöffneten Kleiderschrank des Großvaters Hemden, Hosen und Binder sortierten.

»Sie wartet um zwei an der Burg.«

»Gut.«

»He, wie findest du das hier?«, fragte Eszra und hielt sich ein Smokinghemd vor die Brust.

»Zu rüschig. Komm, ich verpass dir was Anständiges. Verlass dich ganz auf Brüderchen Dandy.«

Als die beiden in den Salon zurückkehrten, traute Baro seinen Augen nicht. Die Jungs sahen fantastisch aus. Eszra war wie geschaffen für den Nadelstreifen von Ladage & Oelke. Und es wunderte ihn nicht, dass Percy den Armani gewählt und dazu auch noch die passende Krawatte gefunden hatte.

»Es ist Zeit«, sagte Baro. »Hier ist der Autoschlüssel. Seid vorsichtig, hört ihr?«

»Was ist?«, fragte Percy. »Willst du uns nicht losbrummen sehen?«

Baro schüttelte den Kopf: »Es ist euer Trip«, sagte er. »Geht schon …«

Er setzte sich an den Kamin und hob das Glas erst, als das vertraute Geräusch des Carrera an seine Ohren drang. Zwei, drei Fehlzündungen, das war zu erwarten gewesen, aber dann flüsterte sich der Porsche in die Nacht.

 

Percy fuhr die Serpentinen im Schritttempo hoch. Sein Kopf stieß fast gegen die Frontscheibe. Die Straße war seit Jahren in Auflösung begriffen und die Schatten der Bäume machten die Orientierung zwischen den Schlaglöchern nicht einfacher. Das Verdeck war geschlossen, wegen der Musik, die sie eigentlich spielen wollten, aber im Moment war ihnen nicht nach Musik zumute. Nach einer Viertelstunde erreichten sie den überwucherten Parkplatz zu Füßen der Burg. Von Lari keine Spur. Sie stiegen aus und hockten sich an den Waldrand. Die Stille war mit Händen zu greifen, es war, als wäre die Welt in Klarsichtfolie verpackt und alle Geräusche nach draußen verbannt. Irgendwo knackte ein Zweig. Es war Lari, die dort aus dem Wald trat.

»Lasst euch ansehen«, sagte sie. Dann nickte sie anerkennend: »Was will man mehr …«, bemerkte sie lachend und hakte sich bei ihnen unter.

»Du siehst toll aus«, flüsterte Eszra ihr ins Ohr.

»Ja, wirklich toll«, pflichtete Percy bei.

Das fand sie auch. Gut, dass sie den Strohhut gefunden hatte, er erst adelte das schlichte Kostüm. Eszra kletterte nach hinten auf den Notsitz und schlang seine Arme um Lari, die es sich neben ihrem Bruder bequem gemacht hatte. Aufgeregt trudelten sie auf die Straße, welche jetzt in langen, sanften Schwüngen in die Ebene fand, die sich vor ihnen phosphorfarben ausdehnte. Lari kramte eine Kassette aus dem Handschuhfach. Nach den Klängen eines Streichquartetts von Mozart fand Percy endlich zu seinem Fahrstil. Auf Knopfdruck faltete sich das Verdeck nach hinten und gab den Himmel frei. Laris Hand ritt auf dem Fahrtwind wie ein Delphin. Eszra genoss den kühlen Sturm auf seiner Stirn. Auch Lari neigte nun den Kopf zur Seite, ihr Haar flatterte gegen seine Hand, es fühlte sich an, wie zarte Peitschenhiebe.

»Schneller!«, feuerte Lari ihren Bruder an. »Schneller, los!«

Percy trat aufs Gas. Der Schub überwältigte Lari, sie warf den Kopf hin und her und schrie. Warum platzte die Welt nicht? Erst als Eszra Lippen ihre Stirn betupften, seine Zähne ihre Nase beknabberten und sein Mund ihre Lippen versiegelten, gab sie sich geschlagen. Sie kletterte zu ihm nach hinten. Dort thronten sie im Wind wie zwei Königskinder.

Percy bog in einen Waldweg. Das Altholz bot keinen Schirm gegen das Mondlicht, die Bäume standen wie theatralische Grabmale gegen den silbernen Himmel. Ihre unerschütterliche Haltung flößte noch immer Respekt ein. Er beobachtete seine Schwester im Rückspiegel. Es gab Momente, da durfte man sie nicht ansprechen, da spann sie ihre Träume. Dies hier war so ein Moment.

Er schaltete hinunter in den zweiten Gang, die Steigung war stärker, als sie aussah. Etwa hundert Meter vor dem Gipfel hörte der Wald auf und die Sicht wurde besser. Er wollte gerade die CD wechseln, als er auf der Kruppe die Konturen eines krakenähnlichen Monsters entdeckte. Der Anblick durchzuckte ihn wie ein elektrischer Schlag.

»Runter!«, brüllte er und trat auf die Bremse.

Eszra und Lari rutschten hinter die Vordersitze, während Percy krampfhaft versuchte, den Rückwärtsgang einzulegen. Als die Scheinwerfer des Helikopters aufflammten, hatte er endlich Erfolg. Er wendete und raste in den nächsten Waldweg, der sich jedoch zuspitzte, sodass er gezwungen war, im halsbrecherischen Tempo zwischen den Bäumen hindurch zu kurven. Der weiche Boden bremste die Fahrt, er schien den Porsche wie mit Saugnäpfen festzuhalten. Ein quer liegender Baumstamm gab ihm den Rest.

»Aussteigen!«, brüllte Percy. Er half Lari aus ihrer Igelhaltung. »Jeder rennt in eine andere Richtung!«, schrie er, gab seiner Schwester einen Kuss und stürmte davon. Als er sich nach wenigen Metern umdrehte, sah er, dass sich auch Eszra und Lari in die Büsche schlugen. Der Hubschrauber war direkt über ihm und rührte mit seinem Lichtfinger zwischen den kahlen Bäumen.

»Achtung, Achtung!«, dröhnte es vom Himmel, »hier spricht die Polizei! Kommen Sie mit erhobenen Händen zum Wagen! Ich wiederhole: Kommen Sie mit erhobenen Händen zum Wagen!«

Percy hechelte mehr, als dass er atmete. Das Blut schoss ihm mit solcher Wucht in den Kopf, dass er glaubte, ihm müsse die Schädeldecke explodieren. Er stolperte zum Ausgangspunkt zurück. Die Entscheidung war von ganz alleine gefallen, quasi ohne sein Zutun. Als er in den gleißenden Lichtkegel trat, faltete er die Hände über dem Kopf und ergab sich. Von der Straße näherte sich ein Geländewagen. Drei Grünhelme mit Maschinenpistolen im Anschlag sprangen heraus und führten ihn ab.

»Sind Sie allein?«, fragte der Offizier, als er ihm die Handschellen anlegte. Percy nickte. Sie hatten tatsächlich keine Ahnung davon, dass sie zu dritt gewesen waren. Als sich der Militärjeep in Bewegung setzte, war seine Freude über Laris und Eszras Rettung so stark, dass er die Demütigung seiner Bewacher gelassen ertrug, die ständig an seinem Armani und an der Krawatte zupften und sich ausschütten wollten vor Lachen.

 

»Welches Zimmer hat Professor Kitami?«

»Zimmer 448, Sir.«

»Ist er oben?«

»Ich habe ihn vorhin ins Hotel kommen sehen. Soll ich anrufen?«

»Nicht nötig, danke.«

Edward Goldsmith nahm den Lift in den vierten Stock. Ein mittelgroßer Mann in einem Sari öffnete. Er mochte Anfang fünfzig sein, die Augen unter den winkligen Brauen waren von einladender Offenheit.

»Professor Kitami, wenn ich mich nicht täusche? Mein Name ist Edward Goldsmith. Störe ich?«

»Ich bitte Sie, treten Sie ein«, antwortete der Japaner. »Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen, ich wäre während des Kongresses ohnehin auf Sie zugekommen.«

»Auch ich hätte die Augen nach Ihnen offen gehalten«, antwortete der Amerikaner und folgte dem Professor ins Zimmer.

Kitami bereitete Tee, Goldsmith sah ihm aufmerksam zu. »Die großen Teemeister sind achtzehn Jahre in die Lehre gegangen, bis sie das Geheimnis beherrschten«, sagte Kitami, als er die Kanne aufs Stövchen stellte. »Der Tag in den Teeschulen begann morgens um fünf. Zunächst wurden die Gärten gesäubert und die Böden geschrubbt. Danach übte man sich in der Disziplin der Teezeremonie. Wussten Sie übrigens, dass sie in diesem Land eine Holo-Adviserin haben, die jede Lesson mit einer Teezeremonie beginnt?«

Goldsmith schnupperte an der dampfenden Schale und nickte.

»Die Teezeremonie war eine Kunst«, fuhr Kitami lächelnd fort.

»Wieso war?«

»Weil wir das Wasser nicht mehr haben. Die Zeremonie suchte nach der innersten Seele des Wassers. Das beste Wasser befand sich in der Mitte eines Sees. Und dort durfte es nur zur Stunde des Tigers abgeschöpft werden, zwischen drei und vier Uhr morgens. Das ist die Zeit, wo die bösen Geister ruhen und das Wasser seines reinsten Zustand erlangt …« Er schaute versonnen zu Boden. »Wasser ist lebendig. Das haben die Menschen leider vergessen.«

Goldsmiths Brille beschlug, er sah sein Gegenüber nur als Schemen.

»Darf ich raten, was Sie von mir wissen wollen?«, hörte er Kitami fragen. »Sie möchten wissen, ob ich die Revolution gut heiße, ob ich einverstanden bin mit den Härten, die sie mit sich bringt.«