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DANIEL MARSCHALL: „Tontatiuh oder Apokalypse in Pasewalk“
1. Auflage, Juli 2019, Periplaneta Berlin

© 2019 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin
www.periplaneta.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle
Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit
schriftlicher Genehmigung des Verlags. Die Handlung und alle handelnden Personen sind erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen
oder Ereignissen wäre rein zufällig.

Lektorat & Projektleitung: Laura Alt
Cover: Thomas Manegold (basierend auf einer Fotografie von Ralf Roletschek - www.roletschek.at)
Satz & Layout: Thomas Manegold

print ISBN: 978-3-95996-142-4
epub ISBN: 978-3-95996-143-1

Daniel Marschall

Tonatiuh

oder
Apokalypse in Pasewalk


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I

Es musste eine Ausnahme bleiben. Diese lächerliche Berichterstattung über einen nicht stattfindenden „Weltuntergang“ konnte Konrad Falls Rückkehr in den Qualitätsjournalismus nicht aufhalten. Dafür würde Konrad Fall sorgen, jetzt, wo er trocken war.

Nur im Moment musste er das Spiel mitspielen. Durfte nicht abtauchen in Selbstmitleid, Resignation und, nun ja, in den Alkohol. Das war für Konrad Fall, einem der bekanntesten Sportjournalisten Deutschlands, am Ende des Jahres 2023, das Entscheidende.

Gestern hatten die Kollegen gelacht, als er sich auf der Redaktionskonferenz von Content Mafia 24 mit Händen und Füßen gegen diese Demütigung zu wehren versucht hatte. Sie hatten grinsend zu Boden geblickt, als er zornig erklärte, was er gewesen und wozu er eigentlich journalistisch fähig sei. Und dass das ganze Thema für einen wie ihn einfach nichts sei. Besonders von seiner Ex-Frau, Britta Hochstieg, hatte sich Konrad Fall mehr Unterstützung erhofft. Immerhin war sie die Chefredakteurin in dieser „Sklavenbude“, wie Konrad Fall Content Mafia 24 zu nennen pflegte. In einem Unternehmen, dessen einziger Existenzsinn in der Fütterung des zentralen Contentmanagementsystems des Sprang & Siegel Verlag bestand, des größten der zwei verbliebenen deutschen Medienhäuser auf dem Markt. Content Mafia 24 versorgte das CMS Minerva-N3ws® mit journalistischen Inhalten, die das System selbständig nach Auswertung der neuesten Trends anforderte, bearbeitete und publizierte. Die Redaktion, die größtenteils aus Systemassistenten bestand, hatte weder Einfluss auf die Themenwahl noch auf die Wege der Veröffentlichung. Sie waren die Heizer im medialen Kohlenkeller. Und aus diesem Kohlenkeller wurde Konrad Fall nun von Minerva-N3ws® zu einer Berichterstattung über einen definitiv nicht stattfindenden „Weltuntergang“ an die Erdoberfläche beordert.

Britta Hochstieg kannte die Qualitäten von Konrad Fall. Sie wusste, dass er bis vor kurzem ein bekannter Fernsehjournalist gewesen war. Sie wusste, dass er als einer der besten Interviewer im Land galt, trotz Minerva-N3ws®. Aber sie wusste auch, dass er, im Gegensatz zu den Algorithmen, ein unzuverlässiger Alkoholiker war, und so hatte sie das demütigende Gelächter der Kollegen geduldet, das auf die Dienstplaneinteilung durch Minerva-N3ws® folgte.

„Passt doch.“

„Hoffentlich schneiden die Azteken ihm nicht das Herz raus, da oben in der Wildnis.“

„Wohl eher die Leber.“

„Müssen sie aber zu zweit anfassen.“

„Ich seh schon die Schlagzeile …“

„Mysteriöser Opfertod des Konrad Fall.“

„Nee, Apokalypse in Pasewalk. Das ist der Aufmacher.“

An Konrad Falls Enttäuschung über ihr Verhalten änderte auch nicht, dass Britta Hochstieg ihn am Ende der Redaktionskonferenz, die intern „CMS-Befehlsausgabe“ genannt wurde, beiseite nahm, um ihm endlich eine Position in der neuen Sport- und Eventredaktion in Aussicht zu stellen. Als Wiedergutmachung für den „Weltuntergang“ und das versaute Wochenende sozusagen. Auf dieses Angebot hatte Konrad Fall seit Wochen gewartet und dass er bisher übergangen wurde, nahm er persönlich. Aber in der Redaktion von Content Mafia 24 interessierte es niemanden, ob „Kofa“ etwas persönlich nahm. Er galt als Auslaufmodell, als ein im Gnadenbrot seiner Ex-Frau stehender ehemaliger Irgendwas, der von den jungen, die Karriereleiter nach oben strebenden Systemassistenten sorgsam gemieden wurde. Konrad Falls berufliche Wege führten ihrer Meinung nach in die entgegengesetzte Richtung. Und er stieg die Leiter nicht herab, er stürzte sie hinunter.

Aber Konrad Fall hatte Pläne. Der von allen als alter Mann Belächelte wollte noch einmal wiederkommen. Denn er fühlte sich keineswegs alt, Konrad Fall war gerade erst fünfzig Jahre geworden. Zwar wirkte er zwischen den Milchgesichtern mit seiner von der Alkoholsucht gezeichneten Physis wie ein Stück altes Schwemmholz.

Trotzdem sollte diese Anstellung bei Content Mafia 24 nur eine Durchgangsstation auf seinem erneuten Weg nach oben sein. Er fühlte, dass er die Jungen noch einmal würde wegmuskeln können. Immerhin war er eines der beliebtesten Moderatorengesichter im deutschen Sportfernsehen gewesen. Das war noch nicht lange her. Und das wieder zu werden, hatte er sich fest vorgenommen. Auch und gerade, weil ihn bei Content Mafia 24 die meisten Kollegen für ein Relikt aus der Vergangenheit hielten. Einer lange vergangenen Vergangenheit. In der Gegenwart setzten die Redaktionen nicht mehr auf Star-Journalisten wie ihn, sondern auf Technik: Lichtfeld-Hologramme, animierte Interviewer-Bots, Social-Bots, den KI-Contentmanager Minerva N3ws®, Infocrawler, Cluster Scanner, autonome Stative, intelligente Drohnen.

Konrad Fall ahnte, dass es im Mediengeschäft inzwischen Produktionsmittel gab, deren Funktionsweise ihm so vollständig fremd war, dass er sie genausogut für Zauberei halten könnte. Aber er wollte kämpfen.

Schon vor seinem Umzug von München nach Berlin vor fünf Jahren, hatte es wegen „der Sache“ einen unangenehmen Karriere-Knick gegeben. Ihm war nach diesem peinlichen Aussetzer bei der Skiflug-Weltmeisterschaft in Oberstdorf 2018 nichts anderes übrig geblieben, als den Aufhebungsvertrag mit Kanal 2 zu unterschreiben. Und nachdem er aus Trotz endgültig gekündigt hatte, war er für München beruflich verbrannt und der Job bei der Berliner Rundschau das einzige Angebot weit und breit. Bei Kanal 2 nahmen sie die Art seines Abganges zum Anlass, verstärkt auf den Einsatz von Interviewer-Bots zu setzen. Denen wäre dieser „Fauxpas“ sicher nicht unterlaufen.

Konrad Fall arrangierte sich. Überwintern in Berlin hatte er gewollt. Um dann, wenn Gras über die Sache gewachsen war, größer als jemals zuvor in den TV-Sportjournalismus zurückzukehren. Noch wollte das Publikum echte Menschen und echte Leidenschaft im Sport-Fernsehen, davon war er überzeugt.

Konrad Fall, der Wintersportexperte aus München, arbeitete sich bei der Berliner Rundschau ohne Murren in die Sportressorts Leichtathletik, Schwimmen und Breitensport ein. Es würde nicht für lange Zeit sein. Den Fachbereich Breitensport übernehmen zu müssen, empfand er damals 2019 als größtmögliche Degradierung. Dass es mit seiner Karriere noch weiter nach unten gehen könnte, hielt er für unmöglich. Im sterbenden Zeitungsgeschäft für eine kurze Zeit Kraft zu schöpfen, schien Konrad Fall keine schlechte Strategie. Das war nicht ehrenrührig. Denn bei der Berliner Rundschau trafen sich die ausrangierten Journalisten der „alten Garde“. Viele frühere Edelfedern waren darunter, die sich, wie Konrad Fall, von Minerva-N3ws® zwar gedemütigt und bevormundet fühlten, aber heimlich von „Ihr“ ihre Kolumnen schreiben ließen. Ansonsten wurde viel schwadroniert. Und getrunken. Die meisten Kollegen hatten sich damit abgefunden, dem Sonnenuntergang ihres Berufslebens entgegenzudämmern. Aber sie hatten Kontakte. Und das war es, worauf es Konrad Fall ankam.

Er konnte sich damit arrangieren, sein Gesicht nicht mehr in jede Kamera zu halten. Aber er vermisste die Aufmerksamkeit, das Erkanntwerden auf der Straße und auch das Verschicken von altmodischen Autogrammkarten. Ja, Konrad Fall war einer der letzten Sportmoderatoren des Landes gewesen, die noch eigene Autogrammkarten besessen hatten. Schneider, Lässing, Bachmann und er, Konrad Fall. Aber all das war seit fünf Jahren vorbei, niemand erkannte ihn mehr in der Öffentlichkeit und keiner wollte mehr ein Autogramm von ihm. Er hatte nach „der Sache“ mit einem Schlag Ruhe vor aufdringlichen Menschen an den Supermarktkassen. Weder Getuschel im Theaterfoyer noch peinliches Geraune in der Umkleidekabine der Schwimmhalle störten mehr den Feierabend des ehemaligen TV-Stars Konrad Fall. Wie es das Publikum schaffte, einen Spitzenklassenjournalisten wie ihn innerhalb weniger Wochen total zu vergessen, war ihm bis heute ein Rätsel. Aber er entnahm dieser Tatsache, dass sie ihn ebenso schnell wieder in ihre Herzen schließen würden, wenn er nach einer Schonfrist erneut auf den Bildschirmen der Bundesrepublik auftauchte.

„Keine Fußballberichterstattung!“ Das war seine wichtigste Bedingung für eine Beschäftigung bei der Berliner Rundschau gewesen. Damals konnte er noch Bedingungen stellen, denn er war noch nicht das Alkohol-Wrack, als das er später durch das Großraumbüro schwankte. Noch galt er etwas in journalistischen Kreisen. Noch war er nicht zum Systemassistenten niedergesunken. Den Fußball überließ er zur Berichterstattung gerne irgendwelchen Algorithmen, dafür waren die gut genug, denen tat Stumpfsinn nicht weh. Konrad Fall schon. Das ganze System Fußball zeichnete sich, nach Meinung Konrad Falls, durch die komplette Hirnlosigkeit aller Akteure aus, sowohl derer auf den Rängen als auch derer auf dem Rasen, vom Intellekt der Journalistenkollegen ganz zu schweigen. Das Skispringen, das war Konrad Falls Sportart.

Er bestand darauf, dass die Wintersportberichterstattung in jeder Hinsicht professioneller, nüchterner und bodenständiger war als jede andere Sportberichterstattung. Außerdem war Konrad Fall ein Sportästhet. Skispringen war kunstvoll und zugleich gefährlich. Das war richtiger Sport: männlich, dramatisch, athletisch und äußerst fotogen. Und die Aktiven waren einigermaßen intelligent. Keine Leuchten, aber bei Verstand. Ganz anders der Fußball, der war zwar auch männlich, aber auf eine dümmliche, brutale Art. Da gab es Applaus dafür, wenn einem der Spieler der Ball nicht meterweit vom Fuß sprang oder eine Flanke tatsächlich den Kopf des Mitspielers erreichte – Oh, was für ein Wunder! Das war für Konrad Fall so, als ob er einen Skispringer dazu beglückwünschen müsse, auf der Flugschanze in Planica nicht nach einhundert Metern kopfüber auf den Aufsprunghang gestürzt zu sein. Eine Beleidigung echten Könnens.

Aber Konrad Fall kam seine unkontrollierte Trinkerei in die Quere. Die hatte nichts mit seiner ehemaligen Prominenz zu tun, sie lag auch nicht an seiner Entlassung oder an der Stadt Berlin. Getrunken hatte er schon immer und dass es in Berlin aus dem Ruder gelaufen war, das kam einfach so. Es begann mit dem ersten Glas am Morgen und endete schließlich mehrfach im Krankenhaus. Einmal sogar in der psychiatrischen Klinik der Charité, weil sich die Sanitäter und der Anamneseroboter nicht mehr anders mit dem delirierenden Konrad Fall zu helfen wussten, als ihn zwangseinzuliefern. Aus der Klinik entließ ihn der diensthabende Arzt mit der Warnung, dass er dabei sei, sich „totzusaufen“. Er empfahl ihm die Anonymen Alkoholiker. „Bla, bla, bla“, dachte Konrad Fall und bestellte sich gegenüber des Krankenhauses im „Zapfhahn“ ein Bier. Eine Woche später ging er hin. Widerwillig zuerst und dann einfach, um die wirklich fertigen Säufer zu sehen, diejenigen, zu denen er keinesfalls gehören wollte. Diejenigen, die auf den Parkbänken saßen, in die Ecken pinkelten oder mit dem Gesicht in ihrer eigenen Kotze lagen. Er ging hin, um zu sehen, was am Ende kam. Davon erhoffte sich Konrad Fall eine heilende Wirkung, denn das Ende war kein schöner Anblick. Das Ende war aufgedunsen und hässlich - diese Erkenntnis hatte ihn auf die trockene Spur gesetzt. Das war nun drei Monate her. Und jetzt, eine Woche vor dem „Weltuntergang“, ging es Konrad Fall so lala.

Dass „die Sache“ bei Kanal 2 und das Angebot an seine Ex-Frau, den Chefredakteursessel bei Content Mafia 24 zu übernehmen, zeitlich zusammenfielen, war reiner Zufall gewesen. Britta Hochstieg, die bis dahin im Karriere-Windschatten Konrad Falls gesegelt war, hatte das Angebot nicht ausschlagen wollen. Jetzt, zu einem Zeitpunkt, an dem Konrad Fall sich beruflich neu orientieren musste, war sie an der Reihe Karriere zu machen. Er akzeptierte, dass sie sich von ihm emanzipieren wollte. Er akzeptierte, dass ihm der Umzug nach Berlin den Wiedereinstieg erschwerte. Aber er wollte allen beweisen, dass er in der Lage war, von vorne anzufangen. Eine Trotzreaktion auf die, in seinen Augen, unwürdige Behandlung bei Kanal 2.

Für Britta Hochstieg, die durch Konrad Falls Fürsprache den Online-Auftritt von Kanal 2 redaktionell betreut hatte, war Content Mafia 24 eine große Chance. Konrad Fall kam die Fütterung eines CMS wie Minerva-N3ws® mit Text-, Bild- und Videomaterial wie ein Götzendienst vor. Das Contentmanagementsystem war zwei Jahre zuvor als großer Wurf zur Rettung der deutschen Verlagswelt gefeiert worden. Die auf künstlicher Intelligenz beruhende „verwissenschaftlichte Produktion“ von Meldungen, Berichten und Reportagen galt als Bollwerk der Pressefreiheit gegen Fake-News und russische Propaganda. Nebenbei war sie zur radikalen Kostensenkung in den Redaktionen genutzt worden. Konrad Fall ging heute, im Jahr 2023, davon aus, dass die Hälfte der Veröffentlichungen im Printbereich und zwei Drittel der im Infonet publizierten deutschsprachigen Inhalte autonom durch Minerva-N3ws® erstellt wurden. Das CMS übernahm alle Bereiche journalistischer Tätigkeit: von der Themenwahl, über die redaktionelle Endbearbeitung der Artikel, Bilder und Videos, bis hin zu der Entscheidung in welchen Medien was, wann zu publizieren sei. Die Arbeit der Redaktionen bestand nur noch darin, Minerva-N3ws® bei der Recherche und Bewertung der Informationen zu unterstützen und für den nötigen Content der Anschlussberichterstattung zu sorgen. Minerva-N3ws® stand für die neuen journalistischen Heiligtümer: Personalisierung, Bequemlichkeit und Benutzerfreundlichkeit.

Konrad Fall kam nicht umhin, über die Fähigkeiten von Minerva-N3ws® ins Staunen zu geraten. Es waren nicht nur die umfangreichen Datenbanken, die weltweit durch Unternehmen wie Content Mafia 24 permanent vergrößert wurden. Auch nicht die leidlich intelligenten Artikel und Interviews, die Minerva-N3ws® zu schreiben in der Lage war. Das fachfremde Publikum konnte nicht mehr zwischen den von Menschen oder der Maschine verfassten Texten unterscheiden. Selbst den Turing-Test zweiten Grades hatte das CMS bestanden. Was Konrad Fall an Minerva-N3ws® wirklich erstaunte, war die Fähigkeit des Systems mit einem „Blick“ neunzig Prozent der sich in einem Raum befindlichen Personen nach deren Einstellungen und Aussagebereitschaft zu prüfen. Diese Kennzahlen wurden durch Minerva zu einem individuellen Rating zusammengefasst und über eine iglasses® Datenbrille ausgegeben.

Wenn man durch die Brille sah, zu deren Benutzung die Systemassistenten bei Content Mafia 24 vertraglich verpflichtet waren, trug jeder Mensch ein kleines farbiges Fähnchen am Kopf, das je nach Suchanfrage in den Ampelfarben anzeigte, wie stark jemand dem gewünschten Suchprofil entsprach:

Thema: generelles Kopftuchverbot.

Alter: 35.

Geschlecht: weiblich.

Bildung: Akademikerin.

Religion: Islam.

Aussagebereitschaft: hoch.

Video: Ja.

Social Media: Ja.

Print: Nein.

Der oder die Angesprochene hatte von diesem Verfahren keine Ahnung, sich aber durch die Benutzung der großen Social Media Plattformen wie „Cyber-Chat“ dazu in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen bereiterklärt.

So weit, so gut. Aber ein brillanter Sportjournalist und Interviewer wie Konrad Fall konnte über Minerva-N3ws® trotzdem nur die Nase rümpfen. Suche nach Informationen, Gesprächspartnern und Illustrationen – geschenkt. Nur war das in den Augen Konrad Falls eben nicht alles. Er schlug jeden Interviewer-Bot in Eloquenz, Humor und emotionaler Intelligenz. Klar, konnte so ein Bot auf endloses Detailwissen zurückgreifen. Darauf kam es aber bei guten Interviews und Berichten nicht an, es musste „menscheln“. Und niemand konnte besser „menscheln“ als Konrad Fall. Minerva-N3ws® jedenfalls konnte es nicht. Und noch einen Schwachpunkt hatte die Maschine. Ein Interview- oder Chat-Bot hatte bei der Berichterstattung über einen nicht stattfindenden „Weltuntergang“ keine Chance. Die künstliche Intelligenz stand sich bei solchen „hypothetischen“ Ereignissen selbst im Weg. Die neuronalen Netzwerke würden in den Datenbanken nichts Kluges finden über ein Ereignis, dessen Eintrittswahrscheinlichkeit an diesem spezifischen Tag des 21.12.2023 bei Null lag – außer der Erkenntnis, dass das Ereignis nicht eintreten würde. Damit wäre für jeden Nachrichten-Bot die Sache beendet. Die Algorithmen konnten weder etwas ausschmücken, noch Nebensächlichkeiten aufbauschen oder Korrelation für Kausalität ausgeben. Das Publikum hatte das in der Sommerflaute 2021 bei den Nessie-Sichtungen am Loch Ness live mitansehen können. Die holografischen Interviewer-Bots, erstmalig von den Sendern „Telemat“ und „Funcat“ eingesetzt, kamen mit der Berichterstattung nicht klar, weil sie vom naturwissenschaftlichen Standpunkt ausgingen, dass Nessie nicht existierte. Der Fakeindex der Bots lag über dem für eine Berichterstattung zulässigen Wert. Das hieß für den Bot, dass es eine Lüge war. Und die war es ja auch. Aber während ein menschlicher Reporter wie Konrad Fall das Beste daraus machen würde, hatten sich vier der digitalen Interviewer vor den Augen des erstaunten Publikums in einer Art Pixelraserei selbst ausgelöscht und dabei allerlei obszönes von sich gegeben. Dieses Risiko wollte seine Ex-Frau bei dem angekündigten „Weltuntergang“ in Pasewalk nicht eingehen.

Weltuntergang. Und das ausgerechnet in Pasewalk, im tiefsten Osten. „Es wäre nicht mal schade um den Ort, der nach dem deutschen Austritt aus der Gemeinschaftswährung im letzten Jahr und dem Beginn der innerpolnischen Wirren wahrscheinlich voller deprimierter Arbeitsloser und Flüchtlinge ist, die in den letzten Überresten der DDR-Plattenbauten wohnen“, dachte Konrad Fall, als er den Auftrag trotzig annahm. Er würde es ihnen allen zeigen. Konrad Fall war trocken und kampfbereit.

„Kollege Fall, das müssen Sie falsch verstanden haben. In Pasewalk geht die Welt eben nicht unter, ganz im Gegenteil, Pasewalk wird der einzige Ort auf dieser Welt sein, an dem weder Polsprung, Springfluten noch Meteoriteneinschläge zu befürchten sind. Sie haben Glück. Sie werden als einziger aus unserer Redaktion den Azteken-Weltuntergang überleben.“

Nachdem Britta Hochstieg, die ihren Ex-Mann im Kollegenkreis konsequent zu siezen pflegte und auch sonst in der Redaktion jede Vertraulichkeit unterließ, geendet hatte, begannen alle zu feixen. Laut und ordinär. Alle diese unerfahrenen Systemassistenten, sie lachten ihn, den gestandenen Sportjournalisten, aus. Er wusste genau, wie Blaschkowski und die anderen ihn hinter seinem Rücken verspotteten, sein journalistisches Kürzel „Kofa“, mit dem er alle seine Beiträge zeichnete, in „konstanter Fall“ oder „Kostenfaktor“ verballhornten. Er wusste, dass sie ihn für einen Alkoholiker hielten, der eine Karrierebruchlandung hingelegt hatte und seinen Job dem Mitleid seiner Ex-Frau zu verdanken hatte. Sie mieden ihn, als hätte er mehrere todbringende Krankheiten. Konrad Fall hatte bei Content Mafia 24 nichts zu sagen.

Und als hätte das alles noch nicht ausgereicht, bekam Konrad Fall auch noch die Höchststrafe. Dass er nicht allein nach Pasewalk würde reisen können, war ihm klar. Er hatte im Gegensatz zu seinen jungen Kollegen keine Ahnung, wie man eine Lichtfeldkamera bediente, geschweige denn davon, wie man das Material auf die Server von Minerva-N3ws® hochlud. Konrad Fall war ohne technische Begabung und hatte kein Interesse an Digitalem oder dem auf dem Superpositionsprinzip beruhenden deutschen Infonet. Oder an den Dingen, welche die Kollegen mit einem „5.0“ garnieren mussten: Journalismus 5.0, Chatbots 5.0, Wissenschaft 5.0, Redaktion 5.0. Unter den Kollegen war momentan alles „5.0“, sogar die Heimat. Heimat 5.0. Für Konrad Fall war klar: Irgendwann würde 6.0 kommen, dann 8.0, 10.0, immer weiter. Wie bei den Rasierklingen, immer eine Schneide und eine Goldmark mehr. Das waren für Konrad Fall nichts als Worthülsen, Ideologie, verarmtes Denken.

Das Einzelkämpfertum der Journalisten bei Content Mafia 24 fand Konrad Fall lächerlich. Irgendwann würden die Jungen, die ihr Wissen so bereitwillig an die Maschine abgaben, alle durch das selbstlernende Minerva-N3ws® ersetzt werden. Und sie sahen es nicht einmal kommen. Zu diesem Zeitpunkt würde Konrad Fall hoffentlich schon in Rente sein.

Den Volontär Andrej Fischer an die Seite gestellt zu bekommen, empfand er als unnötige Demütigung. Nicht nur, weil er Fischer für einen Angeber hielt, mit dem sich auf dieser Reise kein anständiges Gespräch würde führen lassen. Nein, er war auch der neue Lover seiner Ex-Frau. Die beiden hatten es eine Weile vor ihm geheim halten können. Das war nicht schwer gewesen, so benebelt, wie Konrad Fall die meiste Zeit über gewesen war. Aber seit drei Monaten, seit er aufgehört hatte zu trinken, war es offensichtlich, dass seine Ex sich einen Jüngeren und Knackigeren gesucht hatte. Immerhin hatte sie ihn nicht für Fischer verlassen, das glücklicherweise nicht, aber auch so war das Selbstvertrauen des vom Alkohol aufgedunsenen Fünfzigjährigen beschädigt. Die beiden lachend in der Meeting-Lounge turteln zu sehen, bereitete ihm Übelkeit. Er mied den Anblick so gut es ging.

Konrad Fall konnte es Britta Hochstieg nicht verdenken, sich mit einem Volontär eingelassen zu haben. Ihm war es mit ihr zehn Jahre zuvor ähnlich gegangen, als er die fünfzehn Jahre jüngere Britta geheiratet hatte. Die Jüngeren hatten etwas, was den Älteren fehlte: Leichtigkeit. An Konrad Fall jedenfalls war in den letzten Jahren nichts leicht gewesen. Alles an ihm war sackschwer, stockdunkel und deprimierend. Als Säufer neigte er zum Grübeln, zum besoffenen Grübeln. Das war ganz natürlich, wenn man so oft wie Konrad Fall allein vor einem Glas saß. Es war ganz natürlich, dass man anfing, in die Ecken und Ritzen der menschlichen Existenz zu gucken und sich selbst zum Mittelpunkt der Welt zu erklären. Alles verständlich, nur eben nicht gesund.

Bisher waren Konrad Fall und Andrej Fischer sich aus dem Weg gegangen. Aber jetzt ließ sich ein längeres Zusammentreffen nicht mehr vermeiden. Konrad Fall beschloss, es so professionell wie möglich über die Bühne zu bringen. Die notwendigen dienstlichen Absprachen zu treffen, die Hinweise der Algorithmen des Contentmanagers, der Lichtfeldkamera und des automatischen Stativs zu beachten und ein Minimum an Kollegialität gegenüber Fischer an den Tag zu legen. Allen Umgang mit ihm und der Technik auf ein arbeitsfähiges Mindestmaß zu reduzieren. Nicht mehr, nicht weniger.

Nach der Redaktionskonferenz versuchte er bei Britta Hochstieg zu intervenieren, aber die versteckte sich hinter Minerva-N3ws®. Der Dienstplan des CMS sei nicht verhandelbar, das stünde in den Arbeitsverträgen und den Verlagsrichtlinien.

„Kollege Fall, das System sucht die am besten geeigneten Systemassistenten für die jeweilige Berichterstattung aus. Wer bin ich denn, dass ich das manuell ändere?“

„Du bist die Chefredakteurin.“

„Richtig. Und ich muss den Kopf hinhalten.“

„Nur ein Mal?“

„Nichts da. Außerdem ist Herr Fischer der einzige verfügbare Mitarbeiter in der kommenden Woche, damit basta.“

Natürlich waren so kurz vor Weihnachten die meisten der Kollegen in den Ferien. Für Konrad Fall spielte Weihnachten keine Rolle. Er brauchte weder Weihnachts- noch Silvesterurlaub, die waren sogar hochgradig gefährlich für ihn. Ohne Alkohol allein unterm Tannenbaum zu sitzen, das würde ihm nicht guttun. Aus diesem Grund hatte er sich auch freiwillig für den Feiertagsdienst gemeldet. Ihm war das egal und es hatte ihm, wenn schon nicht Respekt, dann doch eine gewisse Dankbarkeit der Redaktion eingebracht.

Keine Frau mehr, Kinder nie gewollt, Eltern gestorben, der einzige Bruder lebte in den USA. Konrad Fall, alias Kofa, war es einerlei, während der Feiertage zu arbeiten. Er war kein Feiertagschrist. Er war überhaupt kein Christ mehr, allerdings wusste er nicht seit wann und warum das so gekommen war. Es hatte einfach aufgehört.

Konrad Fall graute es davor, mit dem permanent durch seine iglasses® starrenden Andrej Fischer im Zug sitzen und Konversation machen zu müssen. Er konnte sich an den abgelenkten Unterhaltungsstil der jungen Menschen nicht gewöhnen. Immer musste er den letzten gesprochenen Halbsatz sekundenlang im Kopf wiederholen, um den Faden nicht zu verlieren, bis sein Gegenüber endlich von der Infoleiste der Smartbrille oder von welchem Display auch immer aufblickte und den verdammten Satz beendete. Den Satz, den er vor gefühlt drei Minuten begonnen hatte. Ein kultiviertes Gespräch würde sich so jedenfalls nicht führen lassen.

Konrad Fall hatte sich auf ein paar nette Weihnachtsmarkt- und Silvester-Features eingestellt, ein bisschen Bratwurst, ein paar Lammfelldecken, herzerwärmende Spendenaufrufe. Und jetzt sollte die Welt untergehen? Das war sinnlos. Aber er, Konrad Fall, würde kämpfen. Nur dieser eine Auftrag noch, dann kam ein neues Jahr. Und 2024 würde Kofas Jahr werden. Wenn Britta Hochstieg Wort hielt, könnte er schon im Januar in die neue Sport- und Eventredaktion wechseln, rechtzeitig zur ersten vollständigen Dopingfreigabe bei einer Olympiade seit 1968. Diese sportpolitische Rolle rückwärts war bis vor kurzem noch unvorstellbar gewesen. Aber nach der weltweiten Legalisierungswelle bei Rauschmitteln war das existierende Dopingverbot nicht mehr aufrechtzuerhalten. Die Auswirkungen würden sich spätestens bei der Sommerolympiade in Paris zeigen: Fabelrekorde, Monsterathleten, Todesfälle. Konrad Fall musste zurück in den Sportjournalismus. Und wenn das bei Content Mafia 24 nicht möglich war, dann würde er sich woanders bewerben. Er hatte noch genügend Kontakte. Und jetzt, wo er trocken war, würden sie sich auch nutzen lassen.

Nur eine Sache durfte unter keinen Umständen passieren: dass sie ihn auch noch bei Content Mafia 24 aussortierten. Das wäre das Ende für Konrad Falls Karriere, so viel stand fest.