164 Gedichte zu biblischen
Themen, Motiven und Figuren
Band 1
© 2019 Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart
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Druck und Bindung: Finidr s.r.o., Lípová 1965, 737 01 Český Těšín, Czech Republic
Verlag: Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Silberburgstraße 121, 70176 Stuttgart
www.bibelwerk.de
ISBN 978-3-460-08630-2
Auch als E-Book erhältlich unter ISBN 978-3-460-51072-2
Die Bibel im Gedicht
Das Alte Testament
1 / Adam und Eva
Heinrich HeineAdam der Erste
Otto Julius BierbaumGott zeigt Adam das Paradies
Christian MorgensternAdam und Eva
Rose AusländerEva
2 / Kain und Abel
Hermann HesseDas Lied von Abels Tod
Walter Helmut FritzKain
Dagmar NickAn Abel
Ludwig SteinherrKain
3 / Noach und die Arche
Karl GerokArarat
Ernst StadlerResurrectio
Ingeborg BachmannNach dieser Sintflut
Nora BossongArarat
4 / Der Turm von Babel
Emanuel GeibelBabel
Johannes R. BecherTurm von Babel
Heinz PiontekNachts, beim Turmbau zu Babel
Günter KunertErinnerung an Babylon
5 / Abraham
Friedrich Martin von BodenstedtAbraham und Sara
Else Lasker-SchülerAbraham und Isaak
Nelly SachsAbraham
Yvan GollMein Abraham
6 / Lot
Andreas GryphiusGedenket an Loths Weib
Erich FriedSalz der Welt
Ulrich SchachtKinder Lots
Jan Wagnerkurz hinter sodom
7 / Jakob und Esau
Else Lasker-SchülerJakob und Esau
Fritz Rosenthal (Schalom Ben-Chorin)Begegnung
Günter GrassEsau sagt
Johannes KühnJakob diente um Rachel
8 / Josef
Friedrich RückertJusuf und Suleicha
Mascha KalékoDer junge Josef
Jenny AloniJosef und seine Brüder
Martin PohlJosephs Zisternengebet
9 / Mose
Börries von MünchhausenMose
Erich MühsamMoses
Gertrud KolmarMose im Kästchen
Eva ZellerMoses
10 / Jiftach
Ricarda HuchJephta
Ricarda HuchJephtas Tochter
Matthias HermannRichter Jiftach
Matthias HermannRichter Jiftach II
11 / Simson und Delila
Theodor FontaneSimsons Tod
Georg HeymSimson
Uriel BirnbaumDer Tempelsturz
Johannes KühnDalila
12 / Rut
Leopold MarxRuth
Franz WerfelRuths Worte
Drutmar CremerLichtgehörn am Tor von morgen
Matthias HermannRut
13 / Ester
Rainer Maria RilkeEsther
Gertrud KolmarEsther
Johannes BobrowskiEszther
Drutmar CremerIm Weltblut der Unschuld
14 / Judit
Felix DahnJudiths Siegeslied
Erich FriedJudith
Dagmar NickJudith
Lioba HappelJudith
15 / Saul
August von PlatenSaul und David
Ricarda HuchSaul
Rainer Maria RilkeSaul unter den Propheten
Dagmar NickGilboa
16 / David
Friedrich RückertDavids Stellvertreter
Gottfried KellerDavid
Nelly SachsDavid
Albrecht GoesDavids Traum
17 / Abischag
Rainer Maria RilkeAbisag
Agnes MiegelAbisag von Sunem
Berthold ViertelAbisag
Fritz Rosenthal (Schalom Ben-Chorin)Abisag vor David
18 / Salomo
Heinrich HeineSalomo
Ricarda HuchSalomo
Hugo BallKönig Salomo
Uriel BirnbaumKönig Salomo
19 / Psalmen
Ernst ThrasoltDe Profundis 6
Georg TraklPsalm
SAIDHerr, gib dass ich unbelehrbar bleibe
Uwe KolbePsalm nach der tonlosen Zeit
20 / Hiob
Nelly SachsHiob
Yvan GollHiobs Gesang
Mascha KalékoEnkel Hiobs
Robert GernhardtHiob im Diakonissenkrankenhaus
21 / Kohelet
Andreas GryphiusVanitas, Vanitatum, et omnia vanitas
Christian Friedrich Daniel SchubartDer Greis
Heinz PiontekDer Prediger Salomo
Hans Magnus EnzensbergerSalomonisch
22 / Propheten
Jochen KlepperDer Prophet 2
Fritz Rosenthal (Schalom Ben-Chorin)Der Prophet
Erich FriedEin Prophet
Andreas Knappprophet
23 / Jona
Dietrich BonhoefferJona
Dorothea GrünzweigIm Bauch des Wals
Ludwig SteinherrBrief an Jona
Jan Wagneran jona
24 / Daniel/Belsatzar
Johann Wolfgang von GoetheDas Lied vom Propheten Daniel
Heinrich HeineBelsatzar
Robert WalserDaniel in der Löwengrube
Christine BustaErinnerung an Daniel
Das Neue Testament
1 / Jesus
Kurt MartiJESUS
Ulla HahnMein Gott
Andreas KnappJesus Christus
Nora GomringerMan sieht’s
2 / Maria
Friedrich HölderlinAn die Madonna
NovalisIch sehe dich in tausend Bildern
Bertolt BrechtMaria
Reinhold SchneiderAn die Mutter des Herrn
3 / Josef
Joseph von EichendorffDie Flucht der Heiligen Familie
Rainer Maria RilkeArgwohn Josephs
Ida Friederike GörresHüter des Herrn
Wilhelm Brunersjosef
4 / Die Geburt Jesu
Siegbert StehmannDie Hirten
Peter HuchelDie Hirtenstrophe
Drutmar CremerWeihnacht
Ulla HahnStille Nacht
5 / Johannes der Täufer
August Wilhelm SchlegelJohannes in der Wüste
Annette von Droste-HülshoffVom Zeugnis Johannis
Christian MorgensternDer Täufer
Johannes KühnJohannes der Täufer
6 / Gebet: Vaterunser
Johann Wilhelm Ludwig GleimVater Unser
Rose AusländerVater unser
H. C. Artmannvater unser
Robert SchneiderGegengebet
7 / Wort: Verlorener Sohn
Robert WalserDer verlorene Sohn
Felix BraunDer verlorene Sohn gibt sich zu erkennen
Christine BustaDie andere Heimkehr
Drutmar CremerIn der Muschel Tod rauscht Leben
8 / Marta und Maria
Conrad Ferdinand MeyerDie Narde
Otto Erich HartlebenMaria
Erika MittererMaria von Bethanien
Heinrich DeteringMartha
9 / Petrus
Annette von Droste-HülshoffVom Fischfang Petri
Heinz PiontekDer Jünger
Eva ZellerPetrus
Heinrich Deteringnach Kapernaum
10 / Maria Magdalena
Agnes MiegelMagdalena
Ida Friederike GörresMagdalena im Garten
Christine BustaGebet einer Sünderin
Christa Peikert-FlaspöhlerMaria aus Magdala
11 / Judas
Konrad WeissJudas
Georg HeymDie Silberlinge
Josef WeinheberJudaskuss
Peter MaiwaldJudas-Versionen
12 / Paulus
Karl GerokPaulus im Sturm
Franz WerfelDer Tod des Paulus
Durs GrünbeinPaulus wechselt die Schiffe
Christian LehnertNeunzehnte Vigil
13 / Getsemani
Detlev von LiliencronLegende
Christian MorgensternDer einsame Christus
Ernst StadlerGethsemane
Elisabeth BorchersDer Olivenbaum im Garten Getsemane
14 / Passion
Bertold BrechtKarsamstagslegende
Rudolf Otto WiemerPassionslied
Heinrich DeteringGolgatha, kleine Vögel
Christian LehnertPassio
15 / Kreuzigung
Hilde DominEcce homo
Kurt Martiam holz
Erich FriedKreuzweg
Eva ZellerGolgatha
16 / Auferweckung
Johann Wolfgang von GoetheChorgesang
Theodor KörnerChristi Erscheinung in Emmaus
Marie Luise KaschnitzAuferstehung
Heinrich DeteringNach Golgatha
17 / Über Ostern hinaus
Rudolf Otto WiemerEntwurf für ein Osterlied
Ingeborg DrewitzOstern
Johannes KühnChristus
Andreas Knapposterspaziergang
Literaturverzeichnis
Quellen- und Copyrighthinweise
„Die Schriftsteller haben schon lange gewusst, dass die Bibel eigentlich alle Geschichten enthält, die sich denken lassen“, schrieb der Erzähler, Lyriker und langjährige Leiter des Hanser-Verlags Michael Krüger (*1943) im Jahr 2003. Unübertroffen sei, mit „welcher Leidenschaft, mit welcher Sprachgewalt, mit welcher Ehrfurcht“ ihre Geschichten erzählt wurden, Urerzählungen, die beides zugleich sind: viel zu wenig gelesen und zu unbekannt, und dennoch die bleibenden Grundschriften der westlichen Kulturen. Krügers Konsequenz aus dieser Spannung im Blick auf „die Bibel als literarisches Kunstwerk“: Es kommt „darauf an, sie aus der Sprache“ ihrer Zeit „in unsere Sprache zu übersetzen“ (M. Krüger 2003, S. 7). Und genau diese Aufgabe teilen sich die Schriftsteller1 mit den Theologen, wenngleich mit völlig unterschiedlichen Zielen und Methoden.
Was verändert sich, wenn man die Bibel mit den Augen der Poeten liest? Zum einen wird deutlich, dass diese unvergleichliche Menschheitsbibliothek umfassende Grunderzählungen enthält, in der sämtliche Facetten der Beziehung von Menschen zu anderen Menschen ausgelotet werden. Ihren spezifischen Reiz erhält diese Sammlung jedoch zum anderen dadurch, dass sich – ihrem eigenen Anspruch zufolge – in diesen menschlichen Beziehungsgeschichten in einzigartiger Weise die Beziehung von Mensch und Gott spiegelt.
In Figurenrede lässt der österreichische Romancier Robert Menasse (*1954) einen der Protagonisten seines großen Romans „Die Vertreibung aus der Hölle“ (2001) erkennen, was den zeitüberdauernden Reiz der Bibel ausmache: Es handelt sich um „Berichte, über zahllose Generationen weitergegeben, die davon erzählen, was Menschen, wenn sie das Unerklärliche befragen, erklären können. Wie nah der Gott dieser Menschen war und zugleich wie fern. Wie besessen Menschen sein konnten, wenn sie diesem Gott alles unterordneten, und wie vernünftig zugleich, wenn sie ihm im Zweifelsfalle vertrauten.“ Die Bibel? Sie ist „das Buch der Menschen“ (R. Menasse 2001, S. 447).
Die Bibel enthält tatsächlich „einen ungeheuren Stoff für einen Schriftsteller“, so Stefan Heym in einem Gespräch mit Karl-Josef Kuschel aus dem Jahre 1984 (S. Heym 1985, S. 106). Er weiß, wovon er redet, verdanken wir ihm doch mit dem „König David Bericht“ (1972) und „Ahasver“ (1981) zwei brillante, bis heute überaus lesenswerte Bibelromane. Wahrlich ein „ungeheurer Stoff“! Denn was für Geschichten sind dort aufbewahrt: Erzählungen um Verlangen, Schuld und Scham (Adam und Eva), um Eifersucht und Brudermord (Kain und Abel), um Massensterben und Rettung (Noach), um Größenwahn und Sprachverwirrung (Turmbau zu Babel), um Segen und Betrug (Isaak und Jakob), um Selbstaufopferung und Tyrannenmord (Ester und Judit), um Liebe, Klugheit und Aufnahme (Rut), um Menschwerdung und Rettungstod (Jesus), um Treue und Verrat (Petrus), um Berufung und Mission (Paulus) – und damit sind nur wenige Erzählhöhepunkte schlaglichtartig benannt. Wahrlich – was für Stoffe für Schriftsteller! Umso mehr, da die Bibel diese Geschichten erzählt, aber nicht ausschöpft. Die alttestamentlichen wie neutestamentlichen Erzählungen sind voller Leerstellen und Fragezeichen. Ihnen fehlen vor allem psychologische Feinzeichnung und dramaturgische Vollendung, denen sich die Schriftsteller widmen können.
Der Reiz der Bibel für Schriftsteller erschöpft sich jedoch nicht im Stoff ihrer Geschichten. Vor allem die Sprachformen, die poetischen und narrativen Gattungen der Bibel, tragen in sich einen stimulierenden Reiz, der bis heute nichts an Produktiv- und Anregungskraft eingebüßt hat.
Beides soll im Fokus des vorliegenden Buches stehen: eine Erinnerung und Aktualisierung der biblischen Inhalte, gleichzeitig aber auch ein Verweis auf die unvergleichliche sprachliche Produktivkraft der Bibel. Von Anfang an hat sie zu Weiter- und Nachdichtungen, aber auch zu völlig eigenständigen erzählerischen und poetischen Ausgestaltungen und Anknüpfungen angeregt. Neben der Erzählwelt der griechischen Mythen ist sie das große Themen-, Figuren- und Sprachreservoire, aus dem die unterschiedlichen Gattungen der Literatur schöpfen, vor allem die Poesie, auf die wir uns hier beschränken.
Die im folgenden präsentierten Gedichte wurden alle in deutscher Sprache verfasst. Sie stammen aus der Zeitspanne vom 17. bis zum 21. Jahrhundert und aus den unterschiedlichen geistigen Hallräumen von Katholizismus, Protestantismus, Islam, Judentum und Atheismus. Sie ermöglichen im breit aufgespannten Panorama Antworten auf die Frage: Wie wird die Bibel in der deutschsprachigen Lyrik bis in unsere Zeit hinein aufgegriffen und dichterisch fruchtbar gemacht?
Das Buch baut auf zwei unverzichtbaren Pfeilern auf. Das ist zum einen das seit knapp 40 Jahren intensiv bestellte interdisziplinäre Forschungsfeld von „Bibel und Literatur“. 1999 erschien das von Heinrich Schmidinger herausgegebene, doppelbändige Grundlagenwerk „Die Bibel in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts“, das erstmals die Forschungen zu Themen, Stoffen, Personen, Motiven und Gattungen grundlegend darstellte und auswertete. Im Anschluss daran – leider aber auch manchmal ganz unabhängig und ohne Berücksichtigung von Erkenntnissen des erarbeiteten Forschungsstandes – erscheinen seitdem immer wieder thematische Überblicksdarstellungen, sei es als Abdruck von Vorlesungsreihen (z. B. T. Kleffmann 2004), als grundlegende Einführung (z. B. K. Schöpflin 2011; E. Glatz 2013) oder als Sammlung persönlicher Zugänge (z. B. M. Nüchtern 2010). Nur selten geht es dabei um substantielle quantitative oder qualitative Erweiterung des Forschungsbefunds. Diese Publikationen beweisen eher die bleibende Aktualität des Interesses an der Beziehung von Bibel und literarischen Texten.
Wirklich substantielle Erweiterungen betreffen hingegen zum einen die spezifisch historische Sichtung der Beziehung von Bibel und Literatur, zum anderen den Blick auf einzelne, zuvor kaum oder nur oberflächlich beachtete biblische Motive (vgl. dazu G. Langenhorst 2013). Erhellend ist zudem der korrelative Gegenblick. Während sich der Blick meistens von der Bibel aus auf das Werk der Dichter späterer Zeiten richtet, finden sich zunehmend Untersuchungen, die von den Poeten und ihren Textwelten aus zurück auf die Bibel schauen. Eine sinnvolle Ergänzung!
So stellt Christoph Gellners Monographie „Schriftsteller lesen die Bibel“ die „lebens- und werkgeschichtliche Bedeutung der Bibel im Denken und Schreiben namhafter deutscher Autorinnen und Autoren des 20. Jahrhunderts“ (C. Gellner 2004, S. 15) ins Zentrum. Ein ähnlicher Zugang findet sich in dem umfassenden Sammelband „Der Heiligen Schrift auf der Spur“ (M. Kłańska u. a. 2009).
Schon mit diesen Verweisen wird deutlich, dass mehr und mehr auch die Literaturwissenschaften das Dialogfeld von Theologie und Literatur als Forschungsgegenstand allgemein neu- oder wiederentdecken (vgl. D. Weidner 2016). Wenn in den letzten Jahren das „öffentliche Interesse an […] Religion wächst“, rückt aus Sicht der Literaturwissenschaft vor allem „ein Gegenstand ins Zentrum des Interesses, der nun gar nicht fremd, neu oder anders ist, sondern eher als paradigmatischer Gegenstand literaturwissenschaftlicher Forschung erscheint: die Bibel“ (A. Polaschegg / D. Weidner 2010, S. 9). Der Bereich von „Bibel und Literatur“ bleibt also ein reizvolles Feld von interdisziplinär angelegten Forschungen. Nur konsequent deshalb, dass der Verlag Katholisches Bibelwerk mit dem hier vorliegenden Buch eine Reihe zu diesem Schwerpunkt eröffnet.
Neben der Sichtung dieses Forschungsfeldes baut das vorliegende Buch jedoch auf einem zweiten unverzichtbaren Pfeiler auf. Es ist nicht das erste Buch seiner Art, profitiert also von vorliegenden Anthologien zum Thema. 1968 veröffentlichte Hermann Hakel eine mehr als siebenhundertseitige Anthologie über „Die Bibel in deutschen Gedichten“, eine immer noch kaum erschlossene Fundgrube von Gedichten, Zitaten, Textpassagen in eher unsystematischer, aber gerade so reizvoller Vielfalt. Erst 2005 sollte ein in der Anlage ähnlich angelegtes Panoramawerk vergleichbaren Umfangs erscheinen: Bertram Kirchers „Die Bibel in den Worten der Dichter“.
Neben ungezählte Spezialanthologien zu einzelnen biblischen Figuren oder Gattungen traten einige auswählende Zusammenstellungen: 1985 Gero Kutzlebs „Biblische Balladen“; 2001 eine erste didaktisch kommentierte Auswahl von dem Herausgeber des vorliegenden Buches unter dem Titel „Gedichte zur Bibel. Texte – Interpretationen – Methoden“; 2005 zwei von Martin Scharpe herausgegebene Bände „Erdichtet und Erzählt“ über das „Alte“ respektive „Neue Testament in der Literatur“. All diesen Bänden verdanken sich zahlreiche Hinweise und Anregungen.
Was also ist der neue Zugang, den das vorliegende Buch bietet? Präsentiert werden jeweils vier Gedichte zu den zentralen Gestalten und Erzählungen, aber auch zu thematischen oder ästhetischen Grundmustern der Bibel. Dadurch sollen mehrere Perspektiven ausgelotet werden:
–einerseits die Entwicklung der inhaltlichen Ausgestaltungen, die von bloßer Paraphrasierung über die Dramatisierung, Psychologisierung und Historisierung der biblischen Vorlagen hin zu frei assoziativen Anknüpfungen reicht;
–andererseits die Entfaltung der poetischen Gattungen über Ballade, Hymne, strophig-singbares Lied, Sonett, Parlando-Text bis hin zu konkreter Poesie.
Das Besondere liegt dabei in der Aufnahme zahlreicher bislang kaum beachteter Texte aus dem 21. Jahrhundert. Während frühere Anthologien nur wenige zeitgenössische Texte integrieren, wird hier so oft wie möglich die Deutespur bis in die unmittelbare Gegenwart ausgezogen. Dass und wie die Bibel tatsächlich bis heute kulturprägend bleibt, lässt sich so über die historischen Entfaltungen hinweg bis in unsere Lebenswelt nachzeichnen.
Einige Einschränkungen sollen klar benannt sein:
–Als Vorgabe gilt der Blick auf die deutschsprachige Literatur. Im Original nicht-deutsche Texte wurden nicht berücksichtigt.
–Im Dienste der besseren Lesbarkeit wurden bei wenigen älteren Gedichten leichte Anpassungen im Hinblick auf Schreibweise und Zeichensetzung vorgenommen.
–Einige biblische Gestalten oder Erzählungen blieben außen vor, weil sich – trotz intensiver Recherche und Sichtung – keine vier wirklich abdruckreifen Texte finden ließen.
Als weitere Einschränkung erwies sich die Konzentration auf höchstens vier Texte pro Dichter. Die Erfassung eines breiten Spektrums an Beiträgern war letztlich wichtiger als die Aufnahme wirklich herausragender weiterer Gedichte (etwa von Rainer Maria Rilke oder Else Lasker-Schüler).
24 alttestamentliche und 17 neutestamentliche Zugänge belegen so eindrücklich, was die anfangs zitierten Einschätzungen auf ihre Weise hervorheben: Die Bibel ist das Buch der Geschichten: zwischen Mensch und Mensch sowie zwischen Mensch und Gott. Sie drängen von innen heraus dazu, weitergeschrieben zu werden. Sie laden zu Ver-Dichtungen ein, in denen sich ihre Zeit, ihre Gesellschaft, das Leben Einzelner spiegelt. Immer wieder anders. Immer wieder neu.
1In diesem Buch wird – aufgrund der besseren Lesbarkeit – die Kurzform verwendet. Gemeint sind jedes Mal explizit Frauen und Männer.
Das erste Menschenpaar! Mehr als das einige Jahrhunderte später verfasste, die Bibel eröffnende ‚Sieben-Tage-Werk‘ hat es die Künstler und Dichter aller Zeiten fasziniert. Welche Vielfalt von archetypisch geformten Grundmotiven menschlicher Selbstdeutung findet sich in dieser ersten großen Erzählung des Buches Genesis: der Garten Eden als das Paradies, die Schlange, die Versuchung, der Fall, die Urschuld, die Selbst- und Fremderkenntnis, die Vertreibung!
Kaum eine biblische Erzählung ist so wirkmächtig in das kollektive Gedächtnis der Menschheit eingedrungen wie die von Adam und Eva. Keine andere ist in gleicher Weise so tragisch missverstanden worden wie in den Engführungen der so genannten ‚Erbsündenlehre‘, mit der diese Erzählung selbst kaum etwas gemeinsam hat. Nicht um fixierbar-eindeutige Lehren geht es den wunderbaren Erzählungen der ‚Urgeschichte‘ in Genesis 1–11, sondern um ein Umkreisen der unbeantwortbaren Grundfragen: Woher? Wohin? Warum so? Nicht Dogmen will die Bibel anregen, sondern immer wieder neu Identität stiftende Erzählungen und sinnbergende Gedichte.
Die ersten vier Texte dieses Buches zeigen gleich die Breite der möglichen poetischen Rezeptionsformen auf: Heinrich Heine (1797–1856) eröffnet den Blick auf die Deutungsvielfalt mit einem satirischen, frech und schräg gereimten Spottgedicht. Gegen alle theologischen Überlagerungen der Urgeschichte beharrt er auf seinem „Freiheitsrecht“, das ihm mehr wert ist als alle paradiesischen Beschränkungen. Ganz anders zeigt sich der Ton in Otto Julius Bierbaums (1865–1910) Gedicht. Ein hoher, ausschmückender, pathos-geladener Ton malt die „keusche Reine“ des Paradieses, der nur in einer unterschwelligen Ahnung Adams die Andeutung eines ersten Risses eingezeichnet wird. Christian Morgensterns (1871–1914) Doppelzeilengedicht begnügt sich demgegenüber mit einer pointierten, psychologisierend ausgemalten Nachzeichnung der Erzählung. Bei Rose Ausländer (1901–1988) schließlich fällt der Blick erstmals auf Eva, die Frau. Spielerisch-leicht – „wie ein Ball“ – verschiebt sich in ihrem Gedicht der Fokus auf das Erblühen der Sexualität, die ja erst im und nach dem vermeintlichen ‚Sündenfall‘ ihren Raum und Sinn fand.
Du schicktest mit dem Flammenschwert
den himmlischen Gendarmen,
und jagtest mich aus dem Paradies,
ganz ohne Recht und Erbarmen!
Ich ziehe fort mit meiner Frau
nach andren Erdenländern;
doch daß ich genossen des Wissens Frucht,
das kannst du nicht mehr ändern.
Du kannst nicht ändern, daß ich weiß,
wie sehr du klein und nichtig,
und machst du dich auch noch so sehr
durch Tod und Donnern wichtig.
O Gott! wie erbärmlich ist doch dies
Konsilium abeundi!
Das nenne ich einen Magnifikus
der Welt, ein Lumen Mundi!
Vermissen werde ich nimmermehr
die paradiesischen Räume;
das war kein wahres Paradies –
es gab dort verbotene Bäume.
Ich will mein volles Freiheitsrecht!
Find’ ich die geringste Beschränknis,
verwandelt sich mir das Paradies
in Hölle und Gefängnis.
Führt der gütestille Herr der Welten,
Ewig jung in seinem blonden Barte,
Vor das Blüheland der jungen Erde
Adam hin, den nackten braunen Knaben.
Zeigt ihm all die moosblühbunten Steine,
All die schönen Vögel, stillen Tiere,
All die weiten saftiggrünen Wiesen,
Berg und Tal und Busch und Baum und Wasser.
Alles liegt in frischer, keuscher Reine
Unterm silbergrauen hohen Himmel.
Und er spricht mit leisen Deuteworten,
Wie der Vater spricht zum kleinen Kinde,
Und er legt den Vaterarm um Adam.
Ängstlich vor dem Reichtum steht der Knabe,
Halbgebeugt vor dieser schönen Erde.
Hielt ihn nicht der Gottesarm, der linde,
Sänk er nieder auf den Schoß der Keime.
Ahnung senkte ihm ins Herz der Vater.
Adam und Eva stehen an dem Baum,
aus dem es ihnen rauscht wie Zukunftstraum.
Aus dunklem Laube zischt der Schlange Witz:
Wofern ihr esset, fährt in euch der Blitz.
Und Eva blickt auf Adam wie gebannt,
und Adam blickt auf Eva unverwandt.
Und wie die Augen ineinanderruhn,
da müssen sie das Ungeheure tun.
Sie hebt den Arm und biegt den Zweig zu ihm.
Von ferne blitzt das Schwert der Cherubim.
Erwählt den schönsten Apfel totenbleich.
Und beide essen von der Frucht zugleich.
Von ihrer Seele sinkt der Unschuld Flor.
Es wühlt die Flamme sich der Scham empor.
Die Hände kreuzend überm Schoß, so stehn
sie da, die sich zum ersten Male sehn.
Und Zwiespalt, ob er gehn, ob bleiben soll,
verwirrt sie, jeden, süß und wehevoll.
Da fällt ein großer Schatten über sie –
Und zitternd wendet sich zur Flucht ihr Knie.
Sie gab ihm eine Aprikose,