“I could not tread these perilous paths in safety, if I did not keep a saving sense of humor.“

Lord Horatio Nelson

Bale C. Harding

1803

Historischer Roman

Prolog

HMS ENDURANCE, englisches Kurierschiff, 15 Seemeilen vor Westafrika:
„An Deck, Segel achteraus!“, klang die schrille Stimme von Midshipman1 Boyles aus dem Masttopp herunter. Der Junge war mit 15 Jahren an Bord gekommen und hatte sich in den vergangenen zwei Jahren zu einem recht fähigen Nachwuchsoffizier gemausert. Seine größte Stärke waren seine klaren Augen, die gefühlt meilenweit sehen konnten. Er liebte es, als Ausguck aufentern zu dürfen und seinem Kommandanten an Deck jede Gefahr am Horizont frühestmöglich zu melden. Er war der einzige an Bord der kleinen Sloop MS ENDURANCE, der einen solch scharfen Blick hatte. Abends in der Koje, wenn der Tag an Bord sich langsam dem Ende zu neigte, ging er regelmäßig noch seine Aufzeichnungen durch - Takelage, Flaggensignale und Segelpyramiden der einzelnen Nationen. Er verstand sein Handwerk und auf sein Urteil war deshalb stets Verlass.

„Was erkennen Sie denn? Ist es eines von unseren?“, fragte Commander2 William Collins lautstark zurück. Dabei ahnte er bereits die Antwort.

„Negativ, Sir. Sie ist französisch. Sehr wahrscheinlich unser alter Freund vom gestrigen Mittag“, Boyles wusste, was dies für sie alle bedeutete. Schon am Vortag war die französische Fregatte plötzlich aus einer der Buchten hervorgeschossen und hatte sich sogleich an ihre Fersen geheftet. Die ENDURANCE setzte daraufhin alles Tuch und konnte so den fast unvermeidlichen Zusammenstoß wohl nur etwas hinauszögern, wie der junge Offizier jetzt gewahr wurde.

Eigentlich galt seit einigen Wochen ein Waffenstillstand zwischen England und Frankreich. Der Vertrag von Amiens hatte endlich etwas Ruhe und Frieden für beide Seiten bringen sollen. Doch bereits kurz nach seinem Inkrafttreten begann sowohl die französische als auch die britische Seite damit, sich in kleineren Scharmützeln zu ergehen. Mehr als eine Dekade Krieg war nicht von einem auf den anderen Tag aus den Köpfen der Männer zu tilgen. Daher hatte Collins mit seiner ENDURANCE auch nicht blind auf die Rechtschaffenheit des Franzosen gebaut und lieber Fersengeld gegeben. Eine wahrlich richtige Einschätzung ihrer Situation, wie nun offenbar wurde.

„Wann wird sie hier sein, Mr. Boyles?“, unterbrach Commander Collins die Gedanken seines Midshipman.

„Schwer zu sagen, Sir. Aber sehr wahrscheinlich in weniger als einer Stunde.“

Ein Knall tönte zu ihnen herüber und eine kleine Rauchwolke stieg vor der französischen Segelpyramide empor. Dies war offensichtlich eine unmissverständliche Aufforderung, sofort beizudrehen.

Collins, ein erfahrener junger Commander, kannte seine ENDURANCE, als wäre das Schiff eine Verlängerung seiner selbst. Er wusste, dass sie dem Franzosen diesmal nicht entkommen würden. Dieser hatte sie trotz, dass die ENDURANCE alle Segel gesetzt hatte, wieder einholen können.

William Collins erinnerte sich an die Berichte seines Bruders, der als Fregattenkapitän vor Brest segelte, dass Bonaparte eine ganz neue Generation von Fregatten hatte auflegen lassen – ihr Geheimnis war der überaus schlanke Rumpf, der das Wasser vor dem Bug regelrecht durchschnitt und gleichmäßig auf die Schiffseiten verteilte. Diese Fregatten in Aktion zu erleben, bedeutete beinahe, sie über das Wasser gleiten zu sehen.

Die ENDURANCE beförderte dieser Tage vor allem Post für die Flottenverbände in Südafrika und auf St. Helena, eine kleine Insel im Südatlantik. Doch anders als die vielen Säcke mit Briefen für die Matrosen und Offiziere, lag eine einzelne Depesche stets in Collins oberster Schreibtischschublade. Instinktiv wusste der Commander, dass er diese Admiralitätsdepesche irgendwie von Bord schaffen musste. Mit oberster Dringlichkeit sollte dieser Brief an Kommodore Nathan Uxbridge ans Kap der Guten Hoffnung zugestellt werden. Collins ahnte, dass er diesen Befehl in weniger als einer Stunde sehr wahrscheinlich nicht mehr würde ausführen können.

„Danke, Mr. Boyles. Halten Sie die Augen offen und melden Sie mir sofort jede Veränderung bei dem Franzosen!“ Damit wandte sich Collins an seinen ersten Offizier, dem die Anspannung bereits seit dem Vortag Sorgenfalten auf die Stirn getrieben hatte: „James, übernimm bitte einen Moment hier oben. Lass die Männer klar machen und komm dann runter in meine Kajüte.“

Lieutenant James Mortimer tippte sich an den Offiziershut und bestätigte damit den Befehl. Für einen kurzen Moment blickte er Collins nach, der gerade im Niedergang verschwand.

„Also gut, Männer. Klar machen zum Gefecht! Doppelt laden auf beiden Seiten. Wir bekommen sehr wahrscheinlich in weniger als einer Stunde ordentlich Feuer unter dem Hintern! Ich möchte, dass der Franzose deutlich sieht, dass er es mit einem britischen Kriegsschiff zu tun hat!“, brüllte Mortimer über das Deck hinweg. Als Antwort echote seine Mannschaft mit ihren Jubelrufen zurück.

Die ENDURANCE war zäh und für ein Schiff ihrer Größe mit sechzehn 12-Pfündern sowie zwei 18-Pfünder-Jagdkarronaden sehr gut bewaffnet; allerdings, und das war jedem an Bord klar, würde man es unmöglich mit einer 36-Kanonen-Fregatte aufnehmen können.

Collins hörte das geschäftige Trappeln der Füße an Deck. Die Bootsmannpfeifen schrillten dazu und er wusste, sein Schiff tanzte seinen wohl letzten Tanz unter der Sonne. Der eiserne Schlüssel drehte sich klickend im Schloss des Schreibtischfaches. Mit einem leisen schabenden Geräusch zog der Commander die Schublade auf und entnahm den kleinen Brief mit dem leuchtend roten Siegel der Admiralität. Gedankenversunken blickte er durch die Fenster achtern nach draußen – noch war nichts von ihrem baldigen Ende zu sehen, die französische Fregatte lag weit achteraus.

Es klopfte. „Komm herein, James.“

Lieutenant James Mortimer öffnete die knarrende alte Tür zur Kapitänskajüte, nahm seinen Hut unter den Arm und trat ein: „Du wolltest mich sehen, Bill? Das Schiff ist jetzt klar.“

„Ja, komm bitte herein und setze Dich kurz zu mir. Ich habe einen Auftrag für Dich.“

Die beiden Männer nahmen gemeinsam auf der kurzen Bank unterhalb der Fensterreihe Platz, so wie sie es unzählige Male zuvor bereits getan hatten. Eigentlich trafen sie sich, wann immer es ihre Dienstpläne zuließen, um gemeinsam zu zeichnen und zu malen. Es war ihre ganz eigene Weise, um die Daheimgebliebenen später Anteil an ihrem Alltag auf See nehmen lassen zu können. Heute jedoch würden sie voneinander Abschied nehmen müssen.

„James, Du weißt, dass wir der Fregatte nicht mehr entkommen können. Und was ich jetzt tue, schmerzt mich mehr als alles andere jemals zuvor. Du bist nicht nur mein erster Offizier, sondern auch seit vielen Jahren ein enger Freund und Vertrauter für mich.“

Mortimer blickte seinen Commander bei diesen Worten an und spürte, wie ein Kloß seinen Hals zu verschließen drohte. Er hustete, sodass Collins ihm sanft den Rücken klopfen musste.

Dann fuhr dieser fort: „James, ich möchte, dass wir so nah unter Land gehen, wie es uns die Zeit noch ermöglicht. Du wirst Dir Billings nehmen, einen unserer kräftigsten Ruderer, und mit der Jolle aussetzen.“ Collins erhob die Hand, um jeden Einwand seines Ersten gleich im Keim zu ersticken: „Du wirst versuchen, die Westafrikanische Küste zu erreichen. Schlage Dich nach Lomboko durch, der dortige englische Verwalter wird Dir helfen, diese Depesche weiter ans Kap zu Kommodore Uxbridge zu bringen. Der Erfolg unseres Auftrags hat oberste Priorität und steht über unser aller Leben. Hast Du das verstanden?“

James Mortimer nickte und nahm die Depesche aus der zitternden Hand seines Freundes. „Viel Glück, James“, presste Collins unter einem Anflug von Tränen hervor.

„Dir auch, Bill“, erwiderte der Erste ebenfalls tiefbewegt und umarmte seinen Kommandanten zum Abschied. Dann gingen sie zusammen zurück an Deck und waren wieder ganz die Offiziere, zu denen ihre Mannschaft erwartungsvoll aufschauen mochte.

„Bericht, Mr. Boyles. Was macht unser Schatten?“, rief der Commander seinem Ausguck sogleich zu.

„Kommt weiterhin näher, Sir. Wird uns wohl in weniger als einer dreiviertel Stunde eingeholt haben.“

„Boyles, denken Sie, wir können etwas Boden gut machen, wenn wir weiter unter Land gehen?“

„Aye, Commander. Der Franzmann nähert sich von Steuerbord, also seeseitig. Wenn wir unseren Kurs etwas anpassen und den Wind Richtung Küste ausnutzen, gewinnen wir möglicherweise wieder ein paar Minuten dazu“, antwortete der Midshipman mit einem Lächeln.

„Sehr gut, Mr. Boyles. Mr. Penscoe, sie haben den jungen Mann gehört. Ändern Sie unseren Kurs und bringen Sie uns näher an die Küste!“

„Aye, aye, Sir!“

„Mr. Billings, fieren Sie auf mein Kommando die Jolle ab. Lieutenant Mortimer und Sie werden uns heute verlassen. Sie haben einen sehr wichtigen Auftrag zu erfüllen. Ich erwarte, dass jeder sein Bestes gibt, damit man sich unser auch in Zukunft noch erinnern wird!“

Die Männer grölten laut und ließen ihren Kommandanten hochleben. Es war fast so, als zeigten sie ihm, dass diese Schlacht noch nicht verloren war, und man dem Franzmann die Hölle auf Erden bereiten wollte.

Mit Mühe und Not hatte sich die ENDURANCE wenig später, dank des waghalsigen Manövers ihres Commanders, bis auf acht Seemeilen an die Küste herangetastet. Die Segelpyramide der ihr folgenden Fregatte war nun auch von Deck aus deutlich zu erkennen, ebenso der schlanke Rumpf, der das Wasser durchpflügte und die weiße Gischt aufschäumen ließ. Wieder hallte ein Kanonenschuss herüber und ließ eine kleine Fontäne achteraus der ENDURANCE aufspritzen.

„Fiert die Jolle ab, Männer! Lebhaft jetzt!“, rief Collins seiner Besatzung zu. Um das Verfahren noch etwas zu beschleunigen, durchtrennte Lieutenant Mortimer die Halteseile an den Davits3 und mit einem großen Platschen stürzte das Beiboot ins Meer. Sofort sprangen er und Billings hinterher, nahmen die Ruder in die Hände und begannen, gemeinsam auf das Land zuzuhalten. Hinter sich sah James Mortimer die ENDURANCE langsam abdrehen und ihrem Schicksal entgegenfahren. „Lebe wohl, Bill“, sagte der Lieutenant leise und spürte, wie ihm das Herz schwer wurde.

„Mr. Penscoe, klar zur Wende. Bringen Sie uns auf Gegenkurs“, befahl Collins seinem Steuermann. Ihm war klar, dass er durch das Absetzen des Bootes nahe unter Land seine Chance auf den Windvorteil vollends verspielt hatte. Die ENDURANCE war nahezu unbeweglich und musste jetzt umständlich gegen die Fregatte aufkreuzen. In weniger als zwanzig Minuten würde diese in Reichweite sein.

„Englisches Schiff ENDURANCE! Drehen Sie bei und ergeben Sie sisch. Wir werden zu Ihnen an Bord kommen. Sie aben keine Chance. Ergeben Sie sisch augenblicklisch“, brüllte der französische Captain kurz darauf mit seinem offensichtlichen Akzent herüber und begann beizudrehen, um der ENDURANCE seine einsatzbereite Backbord-Breitseite zu präsentieren.

Auf diesen Moment hatte Commander William Collins nur gewartet. Die beiden Schiffe lagen jetzt um eine Schiffslänge getrennt voneinander in den Wellen vor Westafrika. Er würde nur diese eine Chance bekommen. Ein letztes Mal nahm er Maß und zählte leise in seinem Inneren bis zehn. Dann brach es förmlich aus ihm heraus und er fühlte, wie die Kampfeslust in seinen Adern brannte: „Penscoe, jetzt!“

Sofort ließ der Steuermann das Ruder hart nach Steuerbord durchlaufen, die ENDURANCE nutzte den verbliebenen Schwung aus ihren Segeln und drehte beinahe augenblicklich bei. Die kleine Sloop offenbarte eine Reihe aus schwarz glänzenden Zähnen, die nur Sekunden später rotglühend den Feind empfindlich beißen würden. „Feuer!“

Die Breitseite und die Wucht ihres Aufpralls überraschte die Franzosen offenbar. Die Doppelkugeln der ENDURANCE durchschlugen hier und da das Holz der Fregatte und mähten in ihrem Bauch Geschütze und Mannschaften erbarmungslos nieder. Sekundenlange Stille folgte, in der die Rauchschwaden langsam abtrieben und den kleinen Erfolg der Engländer offenbarten.

„Penscoe, beidrehen und fertigmachen bei der Steuerbordbatterie!“

Die ENDURANCE gehorchte träge dem Kommando ihres Steuerrades, zu stark war der Vortrieb des vorausgegangenen Manövers. Midshipman Boyles ließ dennoch seine Mannschaften bereits an die Steuerbordgeschütze wechseln und diese klarmachen. Sie würden einsatzbereit sein, wenn das Schiff herumschwang.

„Fertigmachen für Einschlag!“, entfuhr es Collins gerade noch, bevor die Kanonen des Franzosen Feuer, Rauch und ihre tödlichen Geschosse auf die ENDURANCE niederregnen ließen. Das kleine Schiff bäumte sich auf, wie ein verwundetes Tier. Aus ihren Speigatten ergossen sich Flüsse aus Blut, so als wäre es der Lebenssaft der ENDURANCE selbst, der dort ins Meer rann und das Wasser entlang des Rumpfes rot färbte. Midshipman Boyles stand in einem Moment noch aufrecht an der Seite seiner Geschützcrew und war im nächsten Moment verschwunden. Eine feindliche Kanonenkugel hatte ihn erfasst und sogleich zerrissen.

Collins taumelte und ihm schmerzten die Ohren. Warm fühlte er das Blut aus einer Wunde an der Stirn über sein Gesicht laufen. Der rote Saft mischte sich mit dem salzigen Schweiß und dem Nass, welches der beißende Rauch ihm in die Augen trieb. Er blinzelte und sah vor sich einige seiner Männer wie ferne Schatten über das Deck taumeln. Die ENDURANCE schwang noch immer langsam herum und offenbarte nun ihre Steuerbordbatterie dem nahen Feind. „Alle Geschütze, Feuern nach Belieben“, brüllte der Commander dem Krachen und Ächzen seines Schiffes entgegen. Doch der erhoffte Schlag der Breitseite blieb aus. Lediglich drei Geschütze spuckten noch müde und beinahe unkontrolliert ihre doppelten Ladungen. Collins hörte das Platschen von schwerem Eisen in das Wasser zwischen den beiden Schiffsrümpfen und wusste, das Ende war nahe. Er blickte nach links Richtung Küste und versuchte die kleine Jolle auszumachen, die jetzt der einzige Garant für den Erfolg ihrer Mission sein würde. Doch die See schien das kleine Beiboot geschluckt zu haben und mit einem feinen Teppich aus Rauchschwaden die Szenerie bedecken zu wollen. Im nächsten Moment fiel Penscoe, der Steuermann der ENDURANCE seinem Commander direkt vor die bebenden Füße. Er hatte noch bis zuletzt das Ruder gehalten, um die alte Lady beidrehen zu lassen für eine letzte Salve.

Commander William Collins blinzelte durch seine blutverklebten Augen und sah einen Strahl Sonnenlichts durch den Qualm auf die Flagge der ENDURANCE scheinen. Mit einem ohrenbetäubenden Krachen entlud sich die zweite Breitseite des Franzosen und drang krachend in das Holz der kleinen Sloop ein. Das Schiff bäumte sich auf und stöhnte unter der Macht, mit der die Kugeln ihr das Rückgrat brachen. Masten und Spieren schlugen hart auf das Deck und begruben die Männer unter sich.

Sterbend erblickte Collins die abdrehende Fregatte und erhaschte mit einem letzten Aufbäumen gegen sein Schicksal einen Blick auf die goldenen Lettern am Heck des Schiffes: THÉMIS. Dunkelheit umfing ihn, während sein Ich langsam zerfaserte. Er hatte – genau wie seine ENDURANCE – seine finale Schlacht unter der Sonne geschlagen und würde nun nach Hause zurückkehren.

Geschützt vom langsam abziehenden Rauch des kurzen Gefechtes beobachteten Lieutenant James Mortimer und sein Bootsführer Billings den ungleichen Zweikampf. Tränen ließen die Bilder, die sie jetzt sahen, bis zur Unkenntlichkeit verschwimmen. Er hatte einen Auftrag und er war mehr als gewillt, diesen auch zu erfüllen. William Collins, sein Kommandant und Freund, zählte auf seinen Erfolg. Irgendwann, in einer fernen Zukunft, würden sie wieder aufeinander treffen - an einem besseren Ort.

„Verschwinden wir von hier, Billings. Und sehen wir zu, dass ihr Opfer nicht vergebens war.“

1 Midshipman = Dienstgrad der britischen Marine, entspricht einem Fähnrich oder Offiziersanwärter zur See

2 Commander = ein Dienstgrad der britischen Marine, der den Kommandanten einer Sloop oder Brigg über den Lieutenant erhob und dennoch einem Fregattenkapitän klar untergeordnet war.

3 Davit = eine Ausleger oder kleiner Kran, an dem die Boote zu Wasser gelassen wurden

Kapitel 1

Im Indischen Ozean des Jahres 1802:
Die FLUNDER preschte durch die turmhohen Wellen. Der Monsun zeigte schon seit Tagen seine ganze Kraft. Benjamin und Richard hatten pünktlich das Schiff nach Afrika bestiegen und saßen nun inmitten einer bunten Crew unter Deck. Die Laternen schaukelten wild im Auf und Ab des Schiffsrumpfes. Nicht alle Seesoldaten der königlichen Marine galten bei den Matrosen als derart wetterfest. Viele litten gerade in den ersten Monaten schwer unter der Seekrankheit. Doch Benjamin McAllister hatte seine Laufbahn zur See in der Handelsmarine begonnen. Er war sehr schnell in der Hierarchie an Bord aufgestiegen und liebte das Meer bis zu jenem schicksalhaften Tag, der sein gesamtes Leben verändern sollte. Wirbelndes Wasser und das Tosen des bellenden Sturmes weckten nun erneut längst vergessen geglaubte Erinnerungen.

Als einziger Überlebender der AALKMAR hatte er seinen dürren Leib nur mit Mühe über Wasser halten können.

Der gebrochene Mast des Schiffes war damals sein einziger Halt in der wütenden See gewesen. Drei Tage hatte es gedauert, bis er schließlich halb tot von einem englischen Geschwader aufgesammelt worden war. Nach mehreren Wochen tief im Bauch eines großen 64-Kanonen-Schiffes der britischen Marine war er endlich stark genug, um die Sonne wiederzusehen. Geld für eine Rückkehr nach England hatte er nicht. Der erste Lieutenant des Schiffes hätte Benjamin damals am liebsten als einfachen Matrosen in seine Mannschaft gepresst. Doch seine Geschicklichkeit mit dem Gewehr erlaubte es ihm, freiwillig in den Dienst als Seesoldat im Indischen Ozean einzutreten.

Nach ein paar guten Jahren würde er genug Sold zusammenhaben, um zurückzukehren. Benjamin erinnerte sich noch sehr klar an jene Zeit und seine Hoffnungen. Doch mittlerweile waren Jahre vergangen und das Schaukeln des Schiffes holte ihn jäh ins Hier und Jetzt zurück.

Richard Green zupfte Benjamin am roten Ärmel seiner Uniform und blickte ihn fragend an. Die beiden hatten sich beim Indischen Geschwader kennengelernt und waren seitdem zu unzertrennlichen Freunden zusammengewachsen. Der jüngere Green bewunderte die scharfe, rationale Art seines Vorgesetzten und dieser wiederum fand die unkonventionelle Denkweise seines Freundes sehr erfrischend.

Benjamin lächelte Green an und erwiderte dessen stille Frage kurz: „Es ist alles in Ordnung. Keine Sorge, Richard.“ Erst jetzt bemerkte der Marine4 wieder bewusst die Szenerie um sich herum. Alkohol floss mittlerweile in rauen Mengen. Die Stimmung hatte sich in der letzten Stunde weiter aufgeheizt. Lautes Gegröle und Gesang mischten sich mit dem Stöhnen der seekranken Passagiere. Gerade in diesem Moment ergoss sich ein warmer Schwall dicht neben Benjamins Stiefeln. Doch das Würgen des kleinen Jungen neben sich wurde vom schmetternden Gesang der Seeleute übertönt. Aus tiefen Kehlen erklangen Geräusche, die nur entfernt an Lieder erinnerten und sich schnell im Gurgeln des nächsten Schluckes Rum wieder verloren. Das Schiff neigte sich stark und kippte unvermittelt nach Steuerbord. Die Männer verloren den Halt und purzelten wild fluchend durcheinander.

Der Maat schrie von Deck; eine Glocke schlug. Im nächsten Moment stürzten alle um Benjamin herum in wilder Flucht nach oben. Richard, er und der Junge, der sich kurz zuvor übergeben hatte, blieben unter Deck zurück. Nicht weit entfernt ragten Arme und Beine unter den schaukelnden, hängenden Tischen hervor. Ein paar der Matrosen würden erst einmal ihren Rausch ausschlafen müssen, bevor sie wieder Hand an die kleine zähe FLUNDER legen konnten.

„Zeit, ein neues Reff einzuschlagen“, ertönte der Befehl des Masters5 von oben durch das Tosen des Sturms.

McAllister und Green bewegten sich schwankend zum Niedergang und gingen die kurze Treppe nach oben an Deck. Wogende Wellenberge schlugen ihnen entgegen. Der Sturm hatte weiter aufgefrischt und blies jetzt beständig von achtern. Wenn es ihnen nicht die Masten wegfetzte, so würden sie dank der guten Fahrt, in weniger als drei Wochen Afrika erreicht haben, dachte Benjamin. Eine riesige Welle klatschte auf das Deck der FLUNDER.

Die beiden Seesoldaten rutschten vom abfließenden Wasser getragen den Niedergang zurück in die trockene Geborgenheit des Rumpfes, wo Richard gegen Benjamin stieß und dieser den freien Fall seines Freundes so beendete.

„Was meinst Du, wird uns erwarten, wenn wir das Geschwader erreichen?“, fragte Lieutenant Green.

„So, wie ich Major An kenne, glaube ich, dass uns zumindest nichts Schlimmeres als auf den Andamanen erwartet, Richard“, antwortete Benjamin McAllister mit einem doch etwas gequält wirkenden Lächeln. Er verstand die Sorge des jungen Lieutenants nur zu gut.

Richard Green war gerade einmal 25 Jahre alt, als er in Indien seine erste Schlacht gegen die Piratenhorden erleben musste. Wie gelähmt hatte er damals nur dagestanden, als Männer um ihn herum fielen. Und um ein Haar hätte auch Richard das Zeitliche gesegnet. Doch im schier letzten Moment hörte er hinter sich das Klirren von Metall gegen Metall – Benjamin im Zweikampf mit einem Piraten, der sich angeschickt hatte, Richards noch junges Leben auszulöschen. Gemeinsam drängten die beiden Marines anschließend den Feind zurück und machten das Ruder des feindlichen Schiffes funktionsunfähig. Richard Green stand seit jenem Tag tief in Benjamins Schuld. Doch viel wichtiger war, dass sie zusammen diesen Kampf bestanden hatten, füreinander eingetreten waren. Wohin Benjamin auch ging, Richard war seit damals immer mit dabei. Die beiden waren zu Freunden geworden, wenn auch Benjamin es gern im Scherz immer wieder auf den Punkt brachte: „Lieutenant, Sie begleiten mich! Irgendjemand muss ja auf Sie aufpassen.“

Und als ob beide in diesem Moment an Bord der FLUNDER an die gleiche Geschichte dachten, lächelten sie sich jetzt vertraut zu. Benjamin fuhr fort: „Wir werden HMS CESARION zugeteilt. Ein gutes Schiff. Alt, aber zuverlässig. Ihr Kommandant, Captain Theodore Bentley, ist ein resoluter Mann. Streng und dennoch gerecht soll er sein. Ich glaube, wir werden uns schon irgendwie einleben.“ Zweifel zeichneten tiefe Furchen auf dem Gesicht des jungen Lieutenants der Royal Marines: „Glaubst Du, dass der neue Kommodore - wie war doch gleich sein Name? - sein Geschwader gegen Franzosen, Piraten, Sklavenhändler und neuerdings auch die Holländer verteidigen kann?“

Benjamin berührte sanft die Schulter seines Freundes und suchte ihn mit dieser Geste zu beruhigen, als er ihm antwortete: „Kommodore Nathan Uxbridge hat bereits einige Erfahrungen als Captain in Amerika gesammelt und war dort einer unserer erfolgreichsten Seeoffiziere, Richard!“

Der junge Marineinfanterist seufzte und nahm einen großen Schluck Rum. Benjamin klopfte ihm sanft auf den Rücken und prostete ihm zu. In gut drei Wochen würden sie mehr wissen.

Es lohnte nicht, sich über alles jetzt schon den Kopf zu zerbrechen. Wieder neigte sich das Schiff stark, dieses Mal nach Backbord.

4 Marine, Marinesoldat = Seesoldat der Royal Marines, charakteristisch war die rote Uniformjacke, die den britischen Seesoldaten auch ihren Beinamen „Lobster (Hummer)“ einbrachte.

5 Master = Segelmeister, Steuermann