Tiny Stricker
SPIELER IM PARK

Werkausgabe Tiny Stricker
Band 9


Außer der Reihe 33


Tiny Stricker
SPIELER IM PARK

Werkausgabe Tiny Stricker
Band 9

Außer der Reihe 33


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe: Mai 2019
p.machinery Michael Haitel

Titelbild: Anthony Brindley (123RF.com), Palladian Bridge & Pantheon, Stourhead Gardens in Wiltshire, England
Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda, Xlendi
Lektorat: Michael Haitel
Herstellung: global:epropaganda, Xlendi

Verlag: p.machinery Michael Haitel
Norderweg 31, 25887 Winnert
www.pmachinery.de

ISBN Paperback: 978 3 95765 159 4
ISBN Hardcover: 978 3 95765 160 0
ISBN E-Book: 978 3 95765 917 0


Michael C. gewidmet


Im Foyer

 

Das Foyer des Theaters in E… an der Südküste: Das Vestibül mit den vor sich hinstarrenden Garderobenfrauen, die jedem Besucher das Gefühl der Erwartung gaben, die Treppe in elegantem Rundbogen, die zu würdevollem Hinaufschreiten verleitete, die Hingebung der Poseure, das Spiel der Blicke … Kurz, etwas von der Theateratmosphäre waltete unzweifelhaft auch hier, ja war stärker noch, da man selbst Teil der Aufführung war. Mittags waren es die Studenten und »Dons« der angrenzenden Universität, die hier ihre Auftritte hatten, und Sieger war, wer möglichst »en passant« und völlig geistesabwesend umherschweifte. Oft saß ich zu dieser Zeit in der Cafeteria auf der Galerie, in Träumereien versunken, die vielleicht fester als die des Abends waren. Das Einhüllende des englischen Wetters, das monotone Geräusch des Regens am Fenster, die wechselnden Stimmungen der Wolken, auch ihre Riesenhaftigkeit, alles hatte eine angenehm entrückende Wirkung, der ich mich nur zu gern hingab.
Eine Gestalt, die ich häufig beobachtete und auf eine eher unbewusste Art förmlich studierte, war ein sorgfältig gekleideter Herr, der mir, wenn nicht als Inbegriff des Gentlemans, so doch als tonangebend in dieser Welt erschien. Ein Spielball höflichen Zuvorkommens zunächst an der Drehtür, gewann er im Foyer doch gleich überlegene Präsenz, ja, bildete einen einzigen Glanzpunkt, wie er in zentraler Position eine Reihe von Handgriffen zelebrierte, sich seiner Handschuhe entledigte, Hut, Schirm und Schal über den linken Arm warf, dabei mit spitzen Lippen Wind und Wetter wie eine Anmaßung von sich stoßend.
Er unternahm nun einen kleinen seitlichen Ausflug ins Foyer hinein, wie um seine Weltläufigkeit irgendwie fortzusetzen (vielleicht auch nur, um den nach ihm greifenden Garderobefrauen zu entgehen), dann wandte er sich der Treppe zu, wo möglicherweise mit provozierender Lässigkeit die Kunststudenten hingelagert waren. Er überwand dieses Hindernis jedoch mühelos durch einen federnden Zickzack-Sprungstil (die Sportlichkeit des Engländers, der sie nicht einfach offen zur Schau trägt, dachte ich), um geradezu entspannt oben herauszutreten.
Das Schlangestehen vor der Theke schien er zu einer spielerischen Lockerung zu benutzen, leicht ruckartige Bewegungen machend, in der Hosentasche mit dem Kleingeld klimpernd, gleichzeitig starke Bonhomie ausstrahlend, das Prinzip des Fair Play sozusagen darstellend, bis die Bedienung ihn mit scharfem »Sir« aufrief … Der Höhepunkt aber war sicher, wie er jetzt mit Hut, Schal, Schirm, Teller, Besteck und einem Glas Wasser, alle diese Dinge balancierend oder wie ein Gentleman-Magier mit ihnen jonglierend, inmitten des Getümmels dastand und vergebens nach einem freien Platz Ausschau hielt. Eine Minute Ohnmacht der Zivilisation! Aber da drängte er schon entschlossen die Treppe zu den Rängen hinauf, wo vielleicht die Avantgarde des Drama Departments lose gruppiert war, und nahm auf der obersten Stufe, alles überschauend, mustergültig mit all seinen Accessoires Platz. Halt, er richtete sich noch mal auf, zog sich, halb gebückt, seinen Mantel aus, eine Szene, die etwas faszinierend Enges, Erotisches an sich hatte, und setzte sich wieder hin.
Wie erstaunt war ich aber, als ich eines Tages von einem Kollegen hörte, dass der, den ich für einen vollendeten Engländer gehalten hatte, ein griechischer Jurist war, eine eigentlich seltene Kombination hier, und übrigens für englische Verhältnisse völlig »overdressed«.
Das Theatralische des englischen Lebens, der Versuch, den anderen weniger durch Worte und Inhalte, sondern durch eine effektvolle Demonstration seines gesellschaftlichen Auftritts in die Schranken zu verweisen – dies studierte ich oder vielmehr nahm ich in mich auf, ohne nämlich viel darüber zu wissen. Unsicher in meiner Rolle und über meinen künftigen Aufenthaltsort, bewunderte ich dieses und jenes und setzte daraus meinen eigenen momentanen Lebensstil zusammen. Denn eigentlich ging es darum, wie ich in dieser Welt der Academia, in die ich unversehens hineingeraten war, mit ihren Ansprüchen bestehen sollte.

An dem Tag, an dem ich Michael kennenlernte, saß ich in der Cafeteria einer schönen Dame gegenüber. Man muss dazu bemerken, dass es in diesem Lokal ein Problem mit den Stühlen gab. Offenbar aufgrund der morgendlichen Besuche der Schauspieler waren die Stühle, von denen nie ausreichend vorhanden waren, immer höchst ungünstig gestellt, wenn mittags die anderen Gäste eintrafen, das heißt, viele Stühle im Pulk um einen Tisch herum, andere aber nur mit einem einsamen Stühlchen oder gänzlich verwaist. Da es wegen der vorgeschriebenen Nonchalance des Schauplatzes natürlich unmöglich war, etwa selbst Stühle mit sichtbarer Kraftanstrengung herumzutragen und das feinere Thekenpersonal sich von diesen Dingen fernhielt, blieb das seltsame Arrangement während der ganzen Lunchzeit bestehen. Manchmal dachte ich, dass es eine geheime Versuchsanordnung der Schauspieler sei.
Jedenfalls setzte ich mich an ein Tischchen und stellte zu spät fest, dass ich der Dame am Nachbartisch auf sehr knappe Distanz mehr oder minder gegenübersaß. Ich schaute sofort in andere Richtungen, als würde ich Leute erkennen (sie aber mich nicht …). Das ständige Variieren des Blickfelds hatte etwas Schwindelerregendes, wobei der Platz am Geländer mit den unten eintreffenden und durcheinanderlaufenden Personen eine zusätzliche, wenn auch wohltuende Haltlosigkeit erzeugte. Die Dame hingegen schien sich weit besser unter Kontrolle zu haben. Sie hatte eine kerzengerade und entschiedene Haltung eingenommen und aß in einem verdeckten Stil, das heißt, auf englische Art die Zinken der Gabel sorgsam nach unten gerichtet, um ja keine Angriffsfläche zu bieten. Auf naive Weise bewunderte ich die Perfektion, mit der sie diese Tätigkeit versah. Ich erinnere mich aber, dass sie nach einiger Zeit zurücksank, ihren Rhythmus deutlich verlangsamte und nur noch missmutig und achtlos weiter aß. Gleichzeitig meinte ich, ein leises Stöhnen oder Fauchen von ihrer Seite zu vernehmen. Ich deutete diese Missstimmung zunächst als Ablehnung des Lokals, dann dieser Art zu essen, schließlich als Widerwillen gegen alles Fleischliche und Körperliche überhaupt (das Männer wie mich vermutlich mit einschloss). Wir wanden uns eine Zeit lang in dieser schwierigen Situation, bis wir durch das Eintreffen der Schauspieler daraus erlöst wurden.

Das Hereinbrechen der Schauspieler nach der Probe war ein Auftritt wie der auf der Bühne, eine wildere und ungesteuerte Variante jedoch, als müssten sie sich nach den endlosen Exerzitien nun lautstark und mit übersteigerter Gestik wieder Luft verschaffen. Ich entsinne mich, dass Michael mit einer Miene, als träte er zu einem heftigen Wortgefecht an, sich der dicklichen Verkäuferin näherte und zu ihr sagte »COULD I HAVE THE MEDIUM FAT CHEESE AND THREE BISCUITS, PLEASE«, wobei die Verkäuferin bei dem Ausdruck »medium fat« sichtlich zusammenzuckte. Er trug wie einige andere Absolventen der Londoner Schauspielschule trotz der vorgerückten Jahreszeit nur ein kurzes T-Shirt oder Trikot und eng sitzende Jeans, wie um eine Art Hausrecht anzuzeigen. Dieser Mangel an Kleidung gab ihnen ein akrobatisches, wenn man so will, oder aber sprunghaftes und übertrieben körperliches Gebaren.
Michael jedenfalls, der jetzt mit einem abgepackten Stückchen »medium fat cheese«, drei Keksen, dazu aber großartig Teller, Besteck und Tablett ausgestattet war, segelte noch in der vollen Wucht seines Entrees mit schwer zu bändigender Grazie durch den Raum, ohne allerdings die geringste Aussicht auf einen Sitzplatz zu haben. Plötzlich entdeckte er, dass es bei mir ein freies Tischende (aber keinen Stuhl) gab, und lief zu meiner Überraschung direkt darauf zu. Kurz vor dem Tisch kam er zum Stehen, mit einer pompösen Haltung, wie man sie manchmal in den Königsdramen sieht, deklamierte ein überzogenes »Anybody sitting here?«, wobei er gleichzeitig ironisch grinste, um sich dann samt dem Tablett niederzustürzen – die Dame gegenüber formte den Mund zu einem Schrei – und auf Knien, aber sonst gesellschaftlich korrekt, ja, wie in einem seltsamen höfischen Zeremoniell sein Mahl zu beginnen.