coverpage

Über dieses Buch:

Frankfurt, 1944. Sie haben sich nie zuvor gesehen, und doch wächst ein Band zwischen ihnen, das nicht zerschnitten werden kann. Als Sophie und Max nach einem Fliegerangriff für Tage in einem Bunker eingeschlossen sind, gibt es nur sie und das, was sie sich über ihre Wünsche und Hoffnungen anvertrauen – unendlich weit entfernt sind Sophies kalte Ehe und Max‘ ehrgeizig Familie. Als sie befreit werden, wissen die beiden, dass sie einander nie wieder loslassen wollen … und müssen doch zurück in ihre alten Leben. Darf diese Liebe wirklich enden? Sophie und Max schwören sich, an einem bestimmten Tag vor dem Rathaus aufeinander zu warten, fünf Minuten, die darüber entscheiden sollen, ob das Schicksal sie wirklich füreinander bestimmt hat. Aber dann kommt etwas dazwischen – Jahr für Jahr …

Ein bewegender Roman über zwei Lebenswege, die unterschiedlicher nicht sein können: »Eine dramatische Geschichte, emotional erzählt. Leserinnen werden dieses Buch lieben. Großartig!« Spiegel-Bestsellerautorin Dora Heldt

Über die Autorin:

Rebecca Stephan ist ein Pseudonym der erfolgreichen Autorin Steffi von Wolff. Sie wurde 1966 in Hessen geboren und war Reporterin, Redakteurin und Moderatorin bei verschiedenen Radiosendern. Heute arbeitet sie freiberuflich für Zeitungen und Magazine wie »Bild am Sonntag« und »Brigitte« und ist als Roman- und Sachbuch-Autorin erfolgreich. Steffi von Wolff lebt mit ihrem Mann in Hamburg.

Die Autorin im Internet: www.steffivonwolff.de und www.facebook.com/steffivonwolff.autorin

***

eBook-Neuausgabe Mai 2019

Copyright der Originalausgabe © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2010 / List Verlag

Das Zitat von Thomas Mann aus den Buddenbrooks erfolgt mit freundlicher Genehmigung des S. Fischer Verlags: © S. Fischer Verlag, Berlin 1901. Alle Rechte vorbehalten S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

Copyright © der Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung von Bildmotiven von shutterstock/Claudio Divizia, Svetlana Foote, Roman Sigaev, YuriyZhuravov und fancy

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)

ISBN 978-3-96148-407-2

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: info@dotbooks.de. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort Zwei halbe Leben an: lesetipp@dotbooks.de (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)

***

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

www.facebook.com/dotbooks

blog.dotbooks.de/

Rebecca Stephan

Zwei halbe Leben

Roman

dotbooks.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Epilog

Lesetipps

Für Miriam und Steffi, die immer wieder zueinanderfinden

Kapitel 1

Frankfurt am Main, Stadtteil Sachsenhausen Offenbacher Landstraße/Luftschutzkeller
18. März 1944, 22 Uhr 11

Sie sah nichts, obwohl sie ihre Augen so weit aufgerissen hatte, wie es nur ging. Dafür roch sie den Staub, er roch intensiv und setzte sich überall fest. Am liebsten hätte sie nicht geatmet, aber das ging ja nicht. Warum um alles in der Welt war das hier so dunkel? Während sie sich behutsam vorwärts tastete, musste sie husten. ›Bleib ruhig‹, ermahnte sie sich immer wieder. ›Das Licht ist ausgefallen. Das ist ganz normal bei einem solchen Angriff. Such die Wand und dann gehst du an der Wand entlang, und zwar so lange, bis du zu einer Tür kommst. Draußen ist es dunkel, es ist also völlig unmöglich, dass von irgendwoher Licht hier reinfällt. Atme durch. Auf gar keinen Fall darfst du jetzt panisch werden. Wenn du panisch wirst, handelst du unüberlegt. Und unüberlegtes Handeln kannst du dir in dieser Situation nicht leisten.‹

Langsam arbeitete sie sich durch Geröll. Sie spürte die Steine. Tastete sich weiter nach vorn. Und kam endlich zu einer Wand, jedenfalls hoffte sie, dass es eine Wand war. Etwas stand davor, nur was? Und alles bröckelte. Obwohl sie tapfer sein wollte und nicht panisch, durchflutete sie Angst: ›Was mache ich, wenn es hier überhaupt keine Wand und vor allen Dingen keinen Ausgang mehr gibt? Was ist, wenn ich hier eingeschlossen bin, der ganze Schotter ein Hinauskommen unmöglich macht? Das darf nicht sein. Es muss einen Ausgang geben.‹ Sie fühlte sich so allein – sie war ja auch allein, außer ihr war niemand in diesen Teil des Kellers gelaufen. Alle hatten versucht herauszukommen und waren in die andere Richtung gerannt.

»Hallo?«, sagte sie in die Stille, aber niemand antwortete. Sie ging weiter, fühlte überall nur kalten Stein und manchmal ein Stück hochragendes, zersplittertes Holz.

Von außen drangen keine Geräusche zu ihr. Nachdem vorhin die Bomben so nah bei ihnen eingeschlagen hatten, war sie instinktiv in den hinteren Teil des Kellers gerannt. Das war vielleicht ein Fehler gewesen. Möglicherweise war nämlich jetzt der kleine Durchgang verschüttet. Und möglicherweise würde auch niemand nach ihr suchen, weil man annahm, sie sei tot. Oder weil keiner ahnte, dass sie überhaupt hier drin war. Weil sie ja nur zufällig hier in Sachsenhausen gewesen war. Bei ihrer Freundin Lotti. Wo war Lotti?

»Hallo?« Sie merkte, wie verzweifelt sie klang.

»Ja«, kam es im nächsten Moment leise zurück. Eine Männerstimme. Sie war so froh darüber, nicht alleine zu sein, dass sie vor Erleichterung beinahe zu weinen anfing.

Sie tastete sich langsam in die Richtung vor, aus der die Stimme gekommen war, und stolperte über Schutt. »Seien Sie vorsichtig«, sagte der Mann. »Wir wissen nicht, ob noch etwas einstürzen könnte.«

Ein wenig später hatte sie ihn erreicht und kniete auf dem kalten Boden, fragte ihn, ob er verletzt sei.

»Ich weiß es nicht. Irgendwas liegt auf meinem Bein.« Blind fuhren ihre Hände an ihm herunter, dann spürte sie Widerstand. Es war etwas aus Holz. Beim dritten Versuch schaffte sie es, drückte es hoch und er konnte die Beine hervorziehen. »Danke«, sagte der Mann leise und schien sich aufzusetzen. Sehen konnte sie das nicht; es war stockfinster.

»Sind wir allein?«, fragte er nach einigen Augenblicken. »Offenbar schon. Nachdem vorn alles eingestürzt ist, bin ich nach hinten gerannt«, antwortete sie ihm. »Man konnte ja kaum seine Hand vor den Augen erkennen, deswegen weiß ich nicht, ob noch andere außer uns hier sind.«

»Wir müssen das überprüfen«, sagte der Mann. »Vielleicht ist jemand bewusstlos.«

Sie nickte, obwohl sie ihn ja gar nicht sehen konnte. Noch nicht einmal schemenhaft konnte sie etwas wahrnehmen, die Dunkelheit war übermächtig. Und wieder griff die Angst nach ihr – was, wenn es hier überhaupt keine Luftzufuhr gab? Wenn der Sauerstoff immer weniger würde und sie es nicht schafften, hier herauszukommen? Was war dann?

»Es scheint, als ob hier alles zugeschüttet ist.« Der Mann stand jetzt neben ihr, sie konnte seinen Geruch wahrnehmen. Er roch herb. Intensiv herb. Von links kam das Geräusch von knarrendem Holz, Steine schienen zu rollen. Er tastete nach ihrer Hand und zog sie in die andere Ecke, während ein Balken brach und noch mehr Schutt herunterprasselte.

Es war merkwürdig für sie, aber in seiner Nähe fühlte sie sich sicher. So als ob sie wüsste, dass ihr bei ihm nichts passieren konnte.

Eine halbe Stunde später hatten sie festgestellt, dass sich niemand außer ihnen beiden in diesem Teil des Luftschutzkellers befand. Zwar waren sie sicher, dass niemand da sein konnte, aber sie schauten trotzdem noch einmal nach, suchten alles ab. Nichts. Niemand. Sie wussten auch, dass es äußerst schwierig sein würde, ohne Werkzeug hier herauszukommen. Wo sie den Ausgang vermuteten, lagen schwere Steine, das hatten sie ertastet; es würde Tage dauern, sich hier auch nur ansatzweise einen Weg freizuschaufeln.

»Sind Sie durstig?«, fragte der Mann. Über solch profane Dinge hatte sie sich bislang keine Gedanken gemacht. Aber nun merkte sie, dass sie tatsächlich durstig war, sehr sogar, doch bevor sie das sagen konnte, spürte sie das kalte Metall einer Feldflasche an ihrem rechten Unterarm. »Hier, bitte«, sagte der Mann. »Mein Name ist übrigens Maximilian.«

»Sophie.« Dankbar schraubte sie die Flasche auf und trank.

»Wir müssen vorsichtig sein«, erklärte er kurze Zeit später. »Wir wissen nichts über die Statik des Gebäudes.«

»Wird man uns denn nicht suchen?« Sie versuchte, das aufsteigende ungute Gefühl zu unterdrücken. »Doch«, sprach sie weiter, noch bevor Maximilian antworten konnte. »Natürlich wird man uns suchen. Ich habe ja Familie. Meine Familie wird mich finden wollen. Mein Mann, er wird sich fragen, wo ich bin, und meine Kinder ... sie ... ich muss doch wieder nach Haus zurück.«

Maximilian antwortete ihr nicht gleich, Sophie hörte ihn nur gleichmäßig atmen. »Es ist Krieg.« Seine Stimme klang resigniert. »Und wir wissen nicht, wie es da draußen überhaupt aussieht. Wir wissen im Moment gar nichts. Nur, dass wir am Leben sind. Wir beide.« Die letzten Worte klangen warm und so, als wollten sie ihr die Angst nehmen. Maximilian hatte eine tiefe Stimme, sie hörte sich gut an. Sicher. Sophie waren Stimmen schon immer wichtig gewesen. Sie fragte sich, wie er wohl aussehen mochte. Ob er dunkle Haare hatte oder ob sie blond waren. Jedenfalls musste er größer sein als sie, das hörte man, denn seine Stimme kam von weiter oben, und sie standen beide.

»Was sollen wir denn jetzt machen?« Sie hoffte so sehr, dass seine Antwort, irgendein Plan, frei von Zögern kommen würde, gut durchdacht und ohne größere Probleme durchführbar.

»Ich weiß es nicht. Noch nicht«, war alles, was Maximilian schließlich sagte. Dann suchte er wieder Sophies Hand und zog sie ein Stück näher zu sich. »Sie zittern ja.«

Weil sie nicht wie ein Angsthase wirken wollte, sagte sie schnell, »Ich friere leicht«, und zwang sich, nicht mehr zu zittern, was sich aber als schwierig herausstellte, weil es im Luftschutzkeller doch sehr kalt war und sie nur ein leichtes Sommerkleid trug.

Und dann musste sie ganz plötzlich anfangen zu weinen, zuerst leise, sie wollte nicht, dass er es merkte, aber dann zog er sie noch näher an sich und legte beide Arme um sie, und Sophie presste ihr Gesicht in seine Armbeuge, spürte einen etwas kratzigen Stoff und gleichzeitig die Wärme, die er ausstrahlte, und dann konnte sie nicht mehr und schluchzte laut; alles brach aus ihr heraus.

Maximilian sagte gar nichts, er streichelte ihren Rücken und hielt sie fest, so fest, wie sie noch nie jemand gehalten hatte. Und Sophie hätte ewig so stehen bleiben können. Ewig.

Einige Minuten später ließ Maximilian sie langsam los. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte Sophie. »Es ist nur, weil ich ... weil ich ... es ist alles ein wenig zu viel.«

»Das verstehe ich sehr gut. Falls Sie Angst haben, dann geben Sie es ruhig zu«, antwortete Maximilian. »Angst ist schon seit einigen Jahren alles, was geblieben ist. Sie hat sogar die Hoffnung in den Hintergrund gedrängt. Sehr langsam zwar, aber letztlich war sie stärker.« Er lachte leise auf. »Jetzt müsste ich mich eigentlich bei Ihnen entschuldigen. Es ist doch als Mann meine Aufgabe, Sie zu beschützen, und dann fange ich an, von Angst zu sprechen.«

»Wenn es aber nun mal so ist«, entgegnete Sophie.

»Wussten Sie eigentlich, dass es einen Unterschied zwischen Angst und Furcht gibt?«, fragte Maximilian und wartete ihre Antwort gar nicht erst ab. »Wenn man sich fürchtet, sind alle Sinne in Habachtstellung. Man spürt seine Instinkte, ist bereit zu flüchten oder sich zu verteidigen. Angst ist anders. Hat man Angst, ist man wie gelähmt und fühlt sich ganz dumpf und wie benebelt, jede Bewegung und das Denken fällt einem schwer. So empfinde ich es zumindest.« Er machte eine kurze Pause. »Und warum erzähle ich Ihnen das jetzt? Weil wir uns weder Angst noch Furcht leisten können. Jedenfalls jetzt nicht. Nicht in dieser Situation. Verstehen Sie? Wenn wir uns ängstigen oder fürchten, egal vor was, können wir Fehler machen. Wir müssen versuchen, klar zu denken, zu überlegen. Schritt für Schritt. Nur so haben wir vielleicht die Möglichkeit, hier herauszukommen.«

»Was ist ... wenn es uns trotzdem nicht gelingt?«

Maximilian trat wieder einen Schritt näher zu Sophie und fasste sie an den Schultern. »Es muss uns gelingen. Wir werden es schaffen. Und vielleicht ... sucht man ja tatsächlich schon nach uns. Wenn wir Glück haben, ist bald alles ausgestanden. Trotzdem können wir nicht untätig herumsitzen und warten. Das können wir uns in dieser Situation nicht leisten.«

»Aber was dann? Was sollen wir tun?« Sophie war ratlos und hilflos zugleich.

»Das werden wir beide gemeinsam entscheiden. Hören Sie? Wir beide gemeinsam

»Ja«, sagte Sophie leise. »Nur ... wann wollen wir damit anfangen?« Sie spürte Maximilians warme Hände durch den leichten Stoff ihres Kleides, dann ließ er sie überraschend los.

»Jetzt gleich«, sagte Maximilian mit fester Stimme.

»Und womit?«

»Waren Sie schon einmal hier unten?«, wollte Maximilian wissen.

»Nein, noch nie. Ich wohne gar nicht hier. Ich bin nur zufällig in Sachsenhausen, weil ich eine Freundin besucht habe. Mein Mann und meine Kinder sind zu seinen Eltern gefahren, und ich, ich wollte zu Lotti. Das heißt, ich war auch bei Lotti. Bis die Sirenen losgingen.« ›Lotti‹, schoss es ihr durch den Kopf. ›Hoffentlich ist dir nichts passiert. Bitte, bitte, ich möchte nicht, dass dir etwas passiert ist. Das könnte ich nicht ertragen.‹ »Lotti ist meine beste Freundin«, sagte sie dann noch. »Wir kennen uns schon sehr lange. Aber wie gesagt, nein, ich war noch niemals hier unten. Ich kann mir schon denken, wieso Sie fragen. Sie hoffen, dass ich mich ein bisschen auskennen könnte.«

Maximilian nickte und überlegte. »Das Erste, was wir brauchen, ist Licht. Lassen Sie uns den Boden systematisch absuchen, Zentimeter für Zentimeter. Immerhin könnte jemand vorsorglich Kerzen und Zündhölzer deponiert haben. Falls passiert, was uns passiert ist.«

Sophie hörte, dass Maximilian sich von ihr wegbewegte und folgte ihm vorsichtig. Sie kniete sich hin und tastete den Boden ab.

»Warum sind Sie eigentlich hier?«, fragte sie Maximilian kurze Zeit später unvermittelt.

»Weil ich wie Sie die Sirenen gehört habe. Und den nächsten Schutz gesucht habe.«

»Nein, das meine ich nicht. Es ist doch Krieg, und Sie ...« – »Verstehe«, sagte Maximilian. »Ich hatte drei Tage Heimaturlaub. Morgen müsste ich eigentlich wieder an die Front. Aber so wie es aussieht, schaffe ich das nicht. Es sei denn, ein Wunder geschieht. Allerdings bin ich Realist und glaube nicht an Wunder. Jedenfalls nicht in diesen Zeiten.« Sie krochen beide auf dem harten Boden herum, spitze Steine bohrten sich in Sophies Knie. Ab und an ertasteten sie etwas, versuchten herauszufinden, was es war, aber meist handelte es sich nur um Holz- oder Betonstücke. Doch dann spürte Sophie plötzlich etwas, das anders war. Weicher und nachgiebiger. »Hier!«, rief sie in die Richtung, wo sie Maximilian vermutete und hörte, dass er rasch näher kam.

»Das sind tatsächlich Kerzen«, sagte er froh. »Wenn hier jetzt noch ... ja!«

Drei Sekunden später zündete er eine der Kerzen an und hielt sie hoch. Und Sophie und er schauten sich zum ersten Mal in die Augen.

***

Bad Homburg im Taunus,
25. April 1944, 15 Uhr 15

Geliebter Maximilian,
gerade habe ich ein wenig Zeit für mich und möchte sie nutzen, Dir ein bisschen von meinem Leben zu erzählen. Von meinem Leben nach uns. Denn wenn wir uns irgendwann, wenn der Zufall es für richtig hält, wiedersehen, habe ich vielleicht einiges vergessen. Aber so kann ich Dir dann alles, was ich aufgeschrieben habe, zeigen oder vorlesen, wenn Du es denn möchtest. Mir geht es gut, nun ja, was heißt gut, eher den Umständen entsprechend. Natürlich waren Clara und Johannes überglücklich, als ich zu Hause vor der Tür stand.

Wo bist Du?

Was machst Du gerade?

Vor genau einer Woche haben wir unser Zuhause verlassen. Ja, unser Zuhause. Lach nicht. Nein, ich schäme mich nicht dafür, dass ich geweint habe. Ich habe jedes Recht der Welt dazu. Unser Zuhause, hört sich das nicht seltsam und unwirklich an? Aber ich empfinde es so. Hier fühle ich mich nicht daheim, hier funktioniere ich nur. Du fehlst mir, und ich frage mich seit meiner Rückkehr immer wieder, ob wir auch wirklich das Richtige getan haben. Natürlich war es vernünftiger so, allein schon wegen der Kinder. Aber hat man selbst nicht auch das Recht auf ein kleines bisschen Glück? Oder muss man, sobald man erwachsen ist, anstehen und sich immer nur – wenn überhaupt – eine kleine Portion davon abholen? Wenn ich wenigstens zufrieden wäre. Das würde mir schon genügen.

Aber das bin ich nicht. Ich denke bei allem, was ich tue, daran, wie es wäre, wenn ich es für Dich tun würde. Es mit Dir teilen könnte. Alles, was ich erlebe. Ich mache mir diese herrlichen Kopfbilder, in denen Du und ich und Deine und meine Kinder zusammen sind. Zusammen wohnen, zusammen essen, zusammen lachen – ja, wir würden lachen. Trotz des Krieges. Das weiß ich.

Ich bringe es nicht über mich, das Blumenkleid zu waschen. Es wäre dann für mich so, als würde ich aufgeben. Verstehst Du das?

Du fehlst mir so. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr. Und doch bist Du bei mir.

Deine Sophie!

***

Weder Sophie noch Maximilian sagten lange Zeit ein Wort. Sie knieten einander gegenüber und sahen sich an. Später hätte keiner von beiden sagen können, wie lange. Es könnte eine Minute gewesen sein, genauso gut eine Stunde oder zwei. Maximilian schließlich brach das Schweigen: »Ihr Kleid ... es gefällt mir. Die Blumen. Wie heißen diese Blumen?«

Sophie lachte zum ersten Mal und sagte: »Das sind Moosröschen. Kennen Sie keine Moosröschen?« Er schaute sie an.

»Nein ... doch. Natürlich. Ich habe nur eine Ewigkeit keine mehr gesehen.« Er beugte sich vor und fuhr ihr mit einem Finger über die Wange. »Sie haben sich weh getan, da ist ein Kratzer.«

»Ich spüre nichts. Es tut nicht weh«, antwortete Sophie und strich sich eine Strähne ihres blonden Haares zurück.

»Ich möchte nicht, dass Ihnen etwas weh tut«, sagte Maximilian sanft. »Ich werde gut auf Sie aufpassen.«

Eine kleine Pause entstand.

»Entschuldigen Sie bitte«, sagte Maximilian schließlich. »Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Ich ... ich bin wohl einfach etwas durcheinander. Das war ein großer Schreck, das alles. Ich ...«, er schwieg.

»Schon gut«, antwortete Sophie. »Sicher war es ein Schreck. Außerdem ist es sehr nett von Ihnen, dass Sie auf mich aufpassen möchten. Ich selbst bin relativ unvorsichtig.« Sie lachte kurz auf. »Das ist das erste Mal«, sagte sie dann.

»Dass jemand auf Sie aufpasst?«

Sie nickte. »Ja, so ist es.«

Er schaute auf ihren Ehering, sagte aber nichts, sondern strich ihr noch einmal über die Wange.

»Ich passe gern auf Sie auf.« Es klang wie ein Versprechen.

Sophie konnte nicht antworten. Sie schaute ihn nur weiter an. Beide schwiegen sie.

Und Sophies Herz klopfte auf eine Art und Weise, wie es vorher noch nie geklopft hatte.

Kapitel 2

Maximilian brach das Schweigen zuerst. »Wie schön Sie sind«, sagte er leise und musste sich beherrschen, denn am liebsten hätte er Sophie noch einmal berührt. Um ganz ehrlich zu sein, am allerliebsten hätte er sie an sich gezogen und umarmt. Aber das tat man ja nicht. Sie hatte etwas an sich, das seinen Beschützerinstinkt weckte – und etwas anderes, das ihm allerdings nur unterbewusst klar war. Ihre Ausstrahlung hatte etwas unglaublich Sinnliches an sich, obwohl sie gar nicht in das Schema der Femme fatale passte; an ihr war nichts Anrüchiges oder Geheimnisvolles. Trotzdem irritierte sie ihn sehr. Er spürte, dass sie, wenn sie wollte, alles geben, gleichzeitig Frau, Geliebte und Freund sein konnte. Und er fragte sich, ob sie sich ihrer Ausstrahlung bewusst war. ›Nein, das glaube ich nicht‹, dachte er. ›Sie ist nicht die Art von Frau, die sich mit so etwas beschäftigt. Dazu bleibt ihr gar keine Zeit.‹ Gleichwohl fiel ihm auch der etwas bittere Zug um den Mund auf. Sie musste schon einiges erlebt haben. Vielleicht würde er herausfinden, was das war.

»Danke sehr«, Sophie wusste nicht, was sie sonst darauf hätte antworten sollen. Die ganze Situation war sehr merkwürdig. In der kurzen Distanz zwischen ihr und Maximilian lag eine ungekannte Spannung, eine Spannung, die sie nicht deuten konnte. Zunächst wollte sie es auf die momentane Lage selbst schieben, wusste aber, dass dies nicht der Wahrheit entsprach. Es lag an ihr. Und an ihm. Eine merkwürdige Unruhe breitete sich in ihr aus, und gäbe es draußen keinen Krieg und kein wahres Leben, sie hätten sich gut fühlen können.

Langsam stand Maximilian auf und reichte Sophie die Hand. »Lassen Sie uns schauen, wie wir hier herauskommen.« Sie nickte, erhob sich und versuchte, im Kerzenschein etwas zu erkennen. Der Raum, in dem sie sich befanden, musste der Sanitätsraum sein; und er musste gleichzeitig auch als Abstellkammer dienen, das erkannte man an den zusammengerückten Bänken und Stühlen, die rechts und links an der Wand lehnten. An der Wand direkt vor ihnen standen hohe, schmale Metallschränke, in denen sie mit Sicherheit Verbandszeug, Jodtinktur und andere Dinge finden würden, die man für Verletzte benötigte. Möglicherweise befanden sich auch Lebensmittel darin. Viele Luftschutzkeller waren recht gut ausgestattet. Aber war es hier genauso? Und würden sie die abgeschlossenen Schränke überhaupt öffnen können?

Dass sie hier Kerzen und Streichhölzer gefunden hatten, konnte im Übrigen auch ein Zufall sein. Möglicherweise hatte sie jemand nur kurz hier abgelegt, um sie später an einen anderen Platz zu bringen, und es dann vergessen – oder er war durch die Sirenen davon abgehalten worden. Jedenfalls war dies hier nicht der Raum, in dem sich die flüchtenden Menschen normalerweise aufhielten, er musste sich woanders befinden. Weiter vorn, hinter der letzten Wand, vor der riesige Trümmerbrocken lagen, die zum Teil so groß waren, dass man mit der Hand noch nicht einmal ans obere Ende gelangen konnte. Hinter diesem Geröll musste der Durchgang zu den anderen Räumen sein, alles andere ergab keinen Sinn. ›Und‹, dachte Sophie, ›es ist die einzige Möglichkeit, diesen Raum zu belüften.‹ Wieder kroch die Angst in ihr hoch, und wieder bemühte sie sich, sie nicht an sich herankommen zu lassen.

»Wir sollten versuchen, die Steine abzutragen.« Maximilian sagte das wie zu sich selbst, als ahnte er, wie sinnlos seine Worte waren. Aber er hatte das Gefühl, etwas tun zu müssen, und wenn es nur Reden war. Denn ihm war sehr wohl bewusst, dass dieses Unterfangen mehr als unmöglich war. Sophie konnte man nun wirklich nicht kräftig nennen, der Ausdruck zierlich war noch untertrieben; schätzungsweise wog sie keine hundert Pfund. Und er selbst war zwar groß und eigentlich kräftig, aber die Jahre des Krieges, der Auszehrung, des Hungers und der Angst hatten auch in seinem Körper ihre Spuren hinterlassen. Er hatte immer noch breite Schultern und kräftige Beine, aber sein ehemals muskulöser Körper würde, sollte dieser Krieg endlich einmal vorüber sein, seine Zeit brauchen, um wieder in seinen ehemaligen Zustand zurückzufinden. Wie auf Befehl bekam Maximilian Hunger. Wann er das letzte Mal etwas gegessen hatte, daran konnte er sich nicht erinnern. Aber es war lange her. Plötzlich musste er an den Braten denken, den seine Mutter sonntags immer gemacht hatte. Wie sie in der Küche gestanden hatte. Nur dann hatte man sie in der Küche gesehen, nur am Sonntag, die weiße Schürze umgebunden. Die Familie hatte einen Landsitz im Taunus, dort verbrachte man die Wochenenden. An den anderen Tagen war eine Köchin für die Mahlzeiten zuständig, aber sonntags hatte seine Mutter immer selbst gekocht. Irgendwann hatte sie damit aufhören müssen. Seine Mutter litt an multipler Sklerose und saß nun schon seit einigen Jahren im Rollstuhl, eine Entwicklung, die sie zunehmend aggressiver machte. Sie, die Lebenslustige, die immer Agile, war schleichend zu einem Pflegefall geworden. Trotz allem musste Maximilian kurz lächeln, als er an seine Mutter dachte. Sie hatte ihren Söhnen eine wunderbare Kindheit bereitet, eine, die geprägt war von Liebe, Fürsorge und der immerwährenden Sicherheit, sich geborgen fühlen zu können. Und das hatten sie auch getan. Der Landsitz befand sich etwas außerhalb von Königstein, es war ein wunderschönes, zweihundert Jahre altes Haus, das seine ursprüngliche Einrichtung behalten hatte. Warum ihm das ausgerechnet jetzt einfiel, das wusste Maximilian auch nicht. Vielleicht war der nachlassende Schock daran schuld. Er versuchte, sich zusammenzureißen und nun besser an die nächsten Schritte zu denken, damit sie hier rauskamen.

»Die riesigen Steine sollen wir wegrücken? Das ist unmöglich.« Sophie schüttelte den Kopf. »Sie sind viel zu schwer und es sind zu viele.« Sie drehte sich zu ihm um, er sah ihr Gesicht im Kerzenschein und das Flackern in ihrem Blick. Er lächelte. »Versuchen sollten wir es trotzdem. Möglicherweise haben wir ja Glück.«« Sie zuckte mit den Schultern und strich ihr Kleid glatt, so gut es eben ging. »Ich glaube nicht, dass das hier etwas mit Glück haben oder nicht Glück haben zu tun hat. Es ist doch einfach so, dass wir die niemals allein wegschaffen können.«

»Sind Sie immer so pessimistisch?«, fragte Maximilian.

Wieder sah sie ihn an. »Es ist Krieg. Warum sollte ich nicht pessimistisch sein?«

»Gerade jetzt sollte man optimistisch sein«, meinte er. »Sonst kann man die Hoffnung doch gleich begraben.«

Sophie lachte müde auf. »Welche Hoffnung?«, wollte sie von Maximilian wissen, wartete die Antwort jedoch gar nicht ab, sondern versuchte mit ganzer Kraft, einen Steinbrocken zur Seite zu drücken.

»Warten Sie!«, rief er. »Wir müssen weiter unten drücken. So kann man den Stein besser bewegen.« Während er sich neben sie stellte und beide gemeinsam versuchten, etwas zu erreichen, nahm er ihren Duft wahr. Sie roch nicht nach Parfüm oder Seife, nein, es war ihr Eigengeruch, eine leichte Mischung aus herb und süß, weder aufdringlich noch zu schwach. Genau richtig. Genau richtig. Sie duftete perfekt, nach schöner Frau, nach Sinnlichkeit und Reinheit. ›Was um alles in der Welt geht hier mit mir vor?‹, fragte er sich und musste nach der Antwort nicht lange suchen. Er konzentrierte sich auf den Steinhaufen, der vor ihnen lag, und bemühte sich, Sophie nicht zu nahe zu kommen, was sich als relativ schwierig herausstellte, da sie gemeinsam vorgehen mussten.

Sophie war ebenso durcheinander. Dieser Mann faszinierte sie. Weil er ein richtiger Mann zu sein schien, nicht einer von denen, die große Töne spuckten, aber vor Taten zurückschreckten. Seine Unterarme waren leicht behaart und kräftig, sie konnten eine Frau festhalten, das hatte sie ja bereits gespürt. Und er legte ab und an seinen Kopf schräg, wenn er mit ihr sprach – aus welchem Grund auch immer fand sie das unglaublich erotisierend. Sie verbot sich diese Gedanken.

Sie mussten hier herauskommen, das war alles, was zählte. Trotzdem. Er gefiel ihr.

»Ich hatte recht.« Sophie war nach ein paar Minuten völlig außer Atem und hörte auf, die zentnerschweren Steine zur Seite rücken zu wollen. »Noch nicht mal Goliath wäre kräftig genug, um hier irgendetwas auszurichten.«

»Wahrscheinlich nicht«, musste Maximilian zugeben. »Wobei ich allerdings sagen muss, dass ich sowieso nichts für die Gestalten aus der Bibel übrighabe. Ich halte das für Humbug.«

»Da haben wir ja etwas gemeinsam«, Sophie setzte sich auf einen der Brocken. Langsam bekam sie wieder Luft. »Ich bin auch nicht gerade das, was man gläubig nennen könnte. Aber ich gehe damit nicht hausieren.« Maximilian setzte sich neben sie. »Ich auch nicht. Schon als Kind habe ich es gehasst, in die Kirche zu gehen.« Einen Moment lang schwiegen sie beide.

»Was sollen wir jetzt tun?«, fragte Sophie. »Ich meine, irgendetwas muss doch passieren. Wir können nicht einfach hier sitzen bleiben, das geht doch nicht.« Fast panisch sprang sie auf. »Vielleicht gibt es ja eine andere Möglichkeit. Einen Notausgang oder einfach nur einen geheimen Gang für Situationen wie die unsere. In den Boden könnte doch eine Falltür eingelassen sein.«

Maximilian erhob sich ebenfalls. Er überlegte. Da! Schon wieder legte er den Kopf auf diese bestimmte Art zur Seite, die Sophie so gefiel. Am liebsten hätte sie gesagt: »Bitte bleiben Sie genau so stehen«, aber das tat man ja nicht.

»Das kann ich mir zwar nicht vorstellen, doch nachschauen sollten wir auf alle Fälle«, unterbrach er ihre Gedanken. Er hielt die Kerze ein Stück weit von sich weg, so dass der Raum etwas heller erleuchtet wurde. Sophie sah in dem Lichtschein noch zierlicher aus, und er war sicher, dass sie fror, dies aber nicht zulassen oder zugeben wollte; jedenfalls bemühte sie sich sehr, nicht mit den Zähnen zu klappern. Hätte er doch bloß eine Jacke oder eine Decke gehabt, die er ihr geben könnte. Sie war so dünn, fast mager, ihr Schlüsselbein war mehr als deutlich zu erkennen. Ganz offensichtlich aß sie nicht genug, was in den heutigen Zeiten zwar nichts Außergewöhnliches war, ihn aber trotzdem tief berührte. Er fragte sich, welches Blond ihre Haare wohl hatten, wenn man sie bei Tageslicht sah. Ob sie eher golden waren oder eher ins Weizenfarbene übergingen. Ihre Augen waren hell, das meinte er jedenfalls zu erkennen. Sie hatte lange, gebogene Wimpern, und er war sich fast sicher, dass dieser Wimpernkranz nicht von einer Zange geformt worden war, sondern von der Natur. Es waren jedoch Sophies Hände, die ihm am meisten gefielen. Sie waren klein, kräftig, und sie hatten eine schöne, symmetrische Form. Die Nägel waren kurz geschnitten, aber nicht zu kurz. Es waren gepflegte Hände, denen man allerdings ansah, dass sie mehr zupacken mussten, als ihnen gutgetan hatte. Die ganze Frau berührte ihn so sehr, wie es keine vor ihr getan hatte. Sie hatte Stärke. Und sie weckte schöne Gefühle in ihm, die er irgendwann mal gekannt, aber dann wieder vergessen hatte. Wann war das gewesen, wann hatte er diese Gefühle verloren? Oder hatte er nur geglaubt, sie zu kennen?

Der Raum war schätzungsweise dreißig Quadratmeter groß, und es dauerte nicht allzu lange, ihn abzugehen.

»Nichts.« Er blieb stehen, ratlos und nachdenklich.

»Was schlagen Sie als Nächstes vor?« Sophie bemühte sich so sehr, die Fassung zu bewahren.

»Ich weiß es nicht.«

»Sie wissen es nicht? Nun ...«, Sophie machte eine kleine Pause. »... ich weiß es auch nicht. Da haben wir ja noch etwas gemeinsam.« Sie schwiegen beide. Sophie sah sich zum wiederholten Mal in dem Raum um. »Wer weiß, was wir noch alles gemeinsam haben. So wie es aussieht, werden wir genügend Zeit haben, es herauszufinden.« Sie verschränkte die Arme. »Ich meine damit natürlich die Zeit, die uns bleibt. Hier scheint es keine Luftzufuhr zu geben.« Die letzten Worte kamen sachlich, so als hätte sie ihm gerade erzählt, wie sie hieß. Sie deutete auf die brennende Kerze. »Wir sollten sie löschen. Sie verbraucht zu viel Sauerstoff.«

»Wenn wir sie ausmachen, haben wir noch weniger Chancen, einen Ausgang zu finden«, warf er ein.

»Schauen Sie sich doch mal um«, war die Antwort. »Dieser Raum ist nicht gerade groß, und wenn es einen Ausgang gäbe, würden wir ihn sehen. Das ist leider die Wahrheit.« Sie sagte es ruhig, obwohl sie am liebsten geschrien hätte. Dunkelheit machte ihr Angst. Das war schon immer so gewesen. Seit je. Im Dunkeln war man allein und hatte keine Möglichkeit, sich zu wehren. Sie wusste nicht, woher das kam, aber schon als Kind hatte sie darum gebeten, dass von draußen ein Lichtschein ins Zimmer drang. Ihre Mutter hatte sie ernst genommen und nicht über sie gelacht. Die Vorstellung, in diesem Raum in völliger Finsternis zu sein, vielleicht sogar mehrere Tage, gruselte sie; noch mehr Angst allerdings hatte sie davor, dass sie in diesem Raum sterben könnte.

»Man sucht uns doch bestimmt schon?«, fragte sie hoffnungsvoll. Sie war sich bewusst, dass sie diese Frage schon einmal gestellt hatte, aber sie hoffte sehr, dass er sie jetzt so beantworten würde, dass sie Mut schöpfen konnte.

»Ich habe keine Ahnung«, entgegnete Maximilian. »Ich glaube zwar, dass der Angriff vorbei ist, aber ich weiß nicht, wie es da draußen aussieht. Ob man überhaupt nach uns suchen kann.«

»Das heißt, es könnte sein, also es besteht die Möglichkeit, dass uns niemand hier findet. Ist es das, was Sie mir sagen wollen?«

»Ja«, sagte Maximilian und löschte die Kerze. In der Dunkelheit wurde die Gewissheit noch unheimlicher, dass niemand kommen würde. »Wir sind hier in einem Luftschutzkeller. Wären wir in einem Bunker, wäre es vielleicht einfacher. So aber wissen wir nicht, wie viele Trümmer über uns liegen, und wir wissen auch nicht, ob die Decken dieses Kellers die Belastung über längere Zeit aushalten. Wir können nur hoffen, dass dem so ist.«

»Aber Sie ... Sie haben doch bestimmt auch jemanden, der Sie vermisst, oder etwa nicht?« Sophie fror mit einem Mal sehr stark, obwohl sich die Raumwärme in diesen paar Sekunden ja gar nicht hatte ändern können. Dann zuckte sie zurück; Maximilian hatte ihren Arm berührt.

»Das weiß ich nicht«, war seine leise Antwort. »Die Sache ist ein wenig problematisch. Ich wohne nämlich ebenfalls nicht direkt hier in der Umgebung; ich war zu Besuch bei einem Bekannten, und zu Hause wissen sie nichts davon. Ich ... ich hatte mich mit meiner Frau gestritten und ...«

»Sie sind verheiratet?«, wurde er von Sophie unterbrochen.

»Ja, warum? Ist das so außergewöhnlich?«

»Nein. Nur so. Ich bin es ja auch. Seit sechs Jahren. Und wenn ich heute die Wahl hätte, würde ich es nie wieder tun.« Ihre Stimme hatte einen abweisenden, bitteren Klang. Zu bitter für jemanden, der noch so jung war. Maximilian schätzte sie auf Mitte zwanzig. Er selbst war sechsundzwanzig.

»Warum erzählen Sie mir das?«

»Wieso sollte ich nicht? Schließlich hört uns ja keiner.«

»Ich höre es.«

»Ja, Sie schon. Aber warum sollten Sie es weitersagen?«

»Ich habe ja auch gar nicht behauptet, dass ich es weitersagen will.«

»Gut. Das wollte ich hören.«

Sie gefiel ihm. Sie war anders als alle Frauen, die er kannte, sie mit ihrer leicht schnippischen Art, ihrer vorgetäuschten Burschikosität und ihren Versuchen, die Angst nicht zu zeigen, die er aber sehr wohl spürte.

»Sie sind also verheiratet. Sind den heiligen Bund der Ehe eingegangen, in guten wie in schlechten Tagen, in Krankheit und in Armut, bis dass der Tod Sie scheidet?« Sie wusste selbst nicht, warum sie so redete, vielleicht wollte sie einfach von ihrem merkwürdigen Gefühl und von der Zuneigung ablenken, die sie für diesen Mann empfand.

Maximilian musste lächeln. Jetzt troff ihre Stimme vor Sarkasmus. »Ja«, sagte er dann schlicht.

»Etwas Gutes hat das hier. Ich muss nicht bei ihm sein.«

»Bei Ihrem Mann?«

»Sicher, wem denn sonst? Ich ... hasse ihn und ich verachte ihn.« Es war so, als würde die Dunkelheit ihr Schutz geben und den Mut, solche Sätze auszusprechen. Bis auf Lotti hatte sie noch nie mit jemandem über ihre Ehe gesprochen. Ihre Ehe. Eine Ehe konnte man das ja auch nicht nennen.

»Warum hassen Sie Ihren Mann?« Maximilian hörte, wie sie sich räusperte und dann Luft holte. Und er überlegte, wie dieser Mann wohl sein mochte, dass sie so über ihn sprach.

»Raten Sie.«

»Ich soll raten?«

»Ja, raten Sie. Ich meine, wir haben ja im Moment nicht wirklich etwas zu tun. Warum also nicht?«

»Tja ... nun gut, warum also nicht, rate ich also.« Er dachte nach und kam auf das Naheliegendste: »Er hat sie betrogen, und Sie haben es zufällig herausgefunden.«

»Nein«, kam es trocken. »Wenn es das nur wäre ... da könnte ich ja fast erleichtert sein.«

Maximilian begriff nicht ganz. »Soll das heißen, Sie würden es begrüßen, wenn Ihr Mann Sie betrügt?« Warum hörte er nicht auf, seinen Kopf so schräg zu legen? Das machte sie völlig nervös.

»Nein, ich würde es nicht begrüßen«, entgegnete Sophie und zwang sich, sachlich zu klingen. »Es wäre mir einerseits ganz egal, andererseits wäre ich auch erleichtert. Würde er mich betrügen, so hieße das ja, er wäre in der Zeit, in der er mit einer anderen zusammen wäre, nicht bei mir. Verstehen Sie?«

»Aha ...«, sagte Maximilian langsam. »Nun, ich kann Ihnen zwar nicht ganz folgen, aber das tut ja auch nichts zur Sache. Also rate ich weiter. Ist er ein Spieler und hat das ganze Geld verprasst?«

»Auch das wäre eine Möglichkeit, die ich sehr gut finden würde. Würde er spielen, wäre er nicht zu Hause. Außerdem ...«

»Er ist zu Hause? Ich meine, es ist Krieg, und ...«

»Immer der Reihe nach«, unterbrach Sophie ihn.

»Hm«, machte Maximilian. »Kein Betrüger, kein Spieler ... Trinkt er?«

»Ja, das auch.«

»Viel?«

»Viel zu viel.« Wieder ein Räuspern. »Schon morgens«, fügte sie dann noch hinzu.

»Woher hat er denn ...«

»Immer der Reihe nach.«

»Na ja, viel fällt mir jetzt nicht mehr ein«, musste Maximilian zugeben. »Tut er Ihnen weh? Schlägt er Sie?«

»Ja«, sagte Sophie. »Beinahe jeden Tag. Und sehr oft auch schon morgens.« Sie musste husten. »Insofern ist es gar nicht schlecht, dass ich gerade hier bin und nicht zu Hause, denn um diese Uhrzeit ist er meistens so betrunken, dass es nicht zum Aushalten ist. In vielerlei Hinsicht.«

Maximilian setzte sich aufrecht hin und holte Luft. »Ihr Mann schlägt Sie jeden Tag?«

»Fast jeden Tag, ja.«

»Warum verlassen Sie ihn nicht?«

»Wie soll das gehen? Ich habe zwei Kinder. Außerdem ... das tut man doch nicht. Ich kenne keine Frau, die ihren Mann verlassen hat.«

»Das ist doch Unfug. Jeder Arzt wird Ihnen bestätigen, dass ...«

»Nein und nochmals nein. Meine Eltern sind da sehr altmodisch. Sie haben mir damals ihren Segen gegeben, und für sie ist eine Scheidung undenkbar. Sie würden es weder begreifen noch billigen. Gott hat das so gewollt, verstehen Sie?«

»Aber die Kinder bekommen doch bestimmt mit, was er tut.«

»O nein, er ist da sehr geschickt. Er ist – selbst wenn er sturzbetrunken ist – noch gescheit genug, immer dann zuzuschlagen, wenn sie nicht im Zimmer sind oder schon schlafen. Manchmal zerrt er mich auch in den Keller und prügelt mich da.« Sophie schüttelte leicht den Kopf, was Maximilian nicht sehen konnte. Er sah auch nicht ihre angespannten Gesichtszüge, die sich immer dann noch mehr verhärteten, wenn sie an ihren Mann dachte.

»Aber ... warum tut er das?«

»Warum gibt es Krieg?«

»Das hat doch damit nichts zu tun.«

»Aber eine Antwort können Sie mir spontan darauf auch nicht geben.«

»Nein«, musste er zugeben. »Aber ...«

Ein Geräusch ließ sie zusammenfahren. Es kam einerseits von weit weg, andererseits fühlte es sich nah an. Grollend.

»Zünden Sie die Kerze an!« Hektisch stand Sophie auf und drückte sich gegen die Wand. Das Grollen wurde lauter, und sie konnten das Geräusch nun langsam zuordnen. Es hörte sich an, als würde über ihnen etwas einstürzen. Ein paar Sekunden später flammte das Licht auf. Sie sahen an die Decke, die von Querbalken getragen wurde, zwischen denen sich Quader aus Zement oder Ähnlichem befanden. Am Rücken spürten sie deutlich die Erschütterung, und mit einem Mal begann es aus allen kleinen Öffnungen zu rieseln.

Sophie war blass. »Das Haus stürzt ein«, flüsterte sie, während im gleichen Moment über ihnen einer der Stützbalken nachgab und sich ein Riss in seiner Mitte bildete. Und während Maximilian sie mit einer Hand mit sich zum anderen Ende des Raumes zog, gab der Balken nach und mehrere Zentner Stein- und Zementbrocken krachten mit voller Wucht auf den Boden.

Maximilian riss Sophie mit sich nach unten. »Die Hände über den Kopf, schnell!«

Sie tat, was er sagte. »Wird denn alles einstürzen?«, schrie sie ihn panisch an. Sie schrie noch lauter, als ein riesiger Haufen Schutt mit einem dumpfen Knall durch die Decke donnerte. Keine zwei Sekunden später brach einer der Holzbalken durch. Sophie wusste weder, was alles zusammenstürzte, noch ob es jemals aufhören würde. Sie wusste lediglich, dass sie unglaublich froh war, in dieser Situation nicht alleine zu sein. Maximilian lag halb über ihr und schützte sie mit seinem Körper; am liebsten hätte sie sich die Ohren zugehalten, weil der Lärm so unerträglich war.

»Ich bin bei Ihnen«, hörte sie Maximilians Stimme. »Ich passe auf, dass Ihnen nichts passiert.«

Der Geruch von Mörtel und Holz stieg ihr in die Nase, gleichzeitig tränten ihre Augen durch den aufgewirbelten Staub. Sie spürte seine Nähe und seine Wärme und schon wieder hatte sie dieses Gefühl von Geborgenheit, obwohl es in ihrer Situation völlig absurd war. Aber sie nahm es hin und wollte nicht, dass es verging.

Kapitel 3

Frankfurt am Main,
25. April 1944,16 Uhr 30

Meine Sophie, meine geliebte Frau,

gerade habe ich wieder an Dich gedacht und mir überlegt, dass es doch vielleicht keine schlechte Idee wäre, mein Leben für Dich aufzuschreiben. Also das Leben nach Dir. Denn ich glaube nach wie vor, dass irgendeine höhere Macht es gut mit uns meint und uns zusammenbringen wird. Wann, das weiß niemand, aber die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt. Wenn wir uns dann sehen, kannst Du diese Briefe lesen, die ich Dir von jetzt an schreiben werde. Immer wenn ich etwas zu erzählen oder das Gefühl habe, es vor Sehnsucht nicht mehr auszuhalten. Gerade jetzt, lach bitte nicht, ist mir so, als seiest Du bei mir, und ich spüre Deine Anwesenheit; es ist beinahe unheimlich.

Meine Sophie. Ich denke jeden Tag an Dich. Eigentlich ununterbrochen. Und ich träume von Dir. Jede Nacht. Es sind schöne Träume, in denen wir gemeinsam glücklich sind. In denen es keine Probleme gibt. In diesen Träumen sind wir zusammen und alles ist gut. Natürlich ist es schlimm, morgens aufzuwachen und festzustellen, dass alles gar nicht wahr ist. Aber die Träume – so unlogisch es auch klingt – helfen mir, weiterzumachen, die Hoffnung nicht aufzugeben, dass es eines Tages tatsächlich so sein könnte. Dass alles gut wird. Die Zeit mit Dir hat mir so unglaublich viel gegeben; ich kann es nicht in Worte fassen. Ich war glücklich in dieser Zeit. So unsagbar glücklich. Wir haben uns gegenseitig Sicherheit und Du hast mir ein Stück vom Himmel gegeben. Ich liebe Dich.

Dein Maximilian

***

»Wie geht es Ihnen?« Seit einigen Minuten waren keine Geräusche mehr zu hören außer ihrem eigenen Atem, der flach und stoßweise ging. Sophie musste über diese eigentlich lapidare Frage zum ersten Mal wirklich nachdenken. Wie oft fragt man jemanden, wie es ihm geht, und eigentlich fragt man einfach nur so, wartet die Antwort oftmals gar nicht ab, sondern redet weiter. Wie oft hatte sie selbst schon ihrer Umgebung diese Frage gestellt? »Wie geht es dir?« oder »Wie geht es Ihnen, Ihrem Mann, Ihrer Frau, Ihren Kindern?«. Sie wägte ab. Vor Kriegsbeginn öfter, seit dem Krieg fragte das eigentlich niemand, jedenfalls konnte sie sich nicht daran erinnern. Warum sollte man diese Frage heutzutage auch stellen? Man musste einfach froh sein, zu leben und das Nötigste zum Essen zu haben und erleichtert darüber sein, dass das Haus noch stand, wenn man nach den Luftangriffen wieder nach draußen konnte. Das Leben hatte sich auf ein Minimum an Wichtigkeiten reduziert. Aber genau diese brauchte man, um weitermachen zu können.

Trotzdem war es eine lapidare Frage. Bis jetzt. Denn nun hatte sie zum allerersten Mal den Eindruck, jemand meinte sie ernst.

»Es geht mir gut.« Sie wunderte sich, dass ihre Stimme ganz normal klang, weder ängstlich noch rau. Und sie sagte die Wahrheit. Ihr ging es tatsächlich gut. Sie lebte. Wie merkwürdig, dass auf einmal alles andere so unwichtig war, dass nur eine einzige Sache zählte.

»Und Ihnen?«, wollte sie von Maximilian wissen.

»Alles in Ordnung.« Obwohl er sie nun hätte loslassen und mit ihr aufstehen können, tat er es nicht. Viel zu sehr gefiel es ihm, sie in den Armen zu halten und ihre weichen Haare an der Wange zu fühlen.

»Ich weiß nicht, wie lange das her ist«, sagte Sophie.

»Was meinen Sie?«

»Dass mich ein Mann in den Armen gehalten hat. Ich wusste gar nicht mehr, wie schön das sein kann.«

»Freut mich, dass es Ihnen gefällt.« Maximilian wusste nicht, was er sonst hätte sagen sollen; Sophie irritierte ihn immer mehr, wobei er es sehr sympathisch fand, dass sie so direkt war und sagte, was sie dachte. Bislang hatte er die Erfahrung gemacht, dass Frauen davon ausgingen, dass ein Mann zu wissen hatte, was sie dachten, fühlten oder wollten. Sophie war anders. Ganz anders.

»Ja, es gefällt mir. Viele Dinge gefallen mir. Aber ich werde leider sehr selten danach gefragt. Wollen Sie noch mehr wissen?«

Er lachte auf. »Sehr gern.«

»Dann fragen Sie mich.«

»Was gefällt Ihnen also noch? Moosröschenkleider, das weiß ich schon.« Er dachte nach. »Was ist Ihr Leibgericht?«

Nun lachte sie ebenfalls. »Das ist ja nicht gerade eine passende Frage. Mein Magen knurrt, und ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal überhaupt etwas zu mir genommen habe ...«

»Das wollte ich nicht. Es tut mir leid.«

»Schon gut. Mein Leibgericht ... es gibt vieles, was ich gerne mag. Aber wenn ich könnte, also wenn ich mich jetzt entscheiden müsste, dann wären es Rouladen. Rindsrouladen, mit Senf und Gurken und Zwiebeln, dazu Rotkraut und Kartoffeln und eine würzige braune Soße. O ja, für die Rouladen würde ich jetzt in diesem Moment einiges geben.«

»Ich mag Rouladen auch sehr, allerdings am liebsten mit Kartoffelklößen. Mit selbstgemachten natürlich«, erklärte ihr Maximilian.

»Können Sie kochen?«

»Ich ... kochen? Nein, um ehrlich zu sein.«

»Wer kocht bei Ihnen zu Hause? Ihre Frau?«

»Nein, sie ... sie kann auch nicht kochen.«

»Das glaube ich Ihnen nicht«, wiegelte Sophie kategorisch ab. »Das kann doch gar nicht sein. Jede Frau kann kochen.«

»Sie kann es nicht. Wirklich nicht.«

»Wer kocht denn dann?«

»Ja, also ... unsere Köchin ...«

»Sie haben eine Köchin? Dann müssen Sie sehr wohlhabend sein.«

»Ich nicht direkt. Aber mein Vater, ja, das kann man sagen.«

»Sind Sie richtig reich?« Nun war ihre Stimme ungläubig und wie die eines kleinen Kindes, das ein Märchen über Juwelen und seidene Gewänder erzählt bekommen möchte.

»Was ist denn für Sie richtig reich?« Er war amüsiert.

»Wenn jemand ein eigenes Haus hat und wertvolle Möbel, die seit Generationen weitervererbt werden, genauso wie der Schmuck der Damen, und wenn die Herren Siegelringe tragen und die Familie ein eigenes Wappen hat. So in etwa stelle ich mir Reichtum vor. Ist das bei Ihnen so?«

»Ja«, musste Maximilian zugeben und schämte sich für dieses Ja. Sophie wirkte auf ihn nämlich alles andere als reich. Sie wirkte so, als ob sie sich alles hart erkämpfen müsste, als würde ihr niemals etwas in den Schoß fallen. Dabei hatte gerade sie Reichtum und Sorglosigkeit verdient, so viel war sicher.

»Eine traditionsreiche Familie also. Wissen Sie, was ich merkwürdig finde? Dass wir uns hier in diesem Luftschutzkeller befinden und über Leibspeisen und Ihre reiche Familie sprechen, anstatt über die wirklich wichtigen Dinge. Zum Beispiel darüber, ob unseren Familien etwas passiert ist, ob es ihnen gutgeht.« Sie löste sich aus Maximilians Arm und setzte sich auf. »Aber es kann natürlich sein, dass wir mehr unter Schock stehen, als wir wahrhaben wollen.« Ihre Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, sie konnte Maximilian schemenhaft erkennen, was sie verwunderte. Vorhin war das nicht so gewesen, da schien die Dunkelheit einfach nur eine schwarze Glocke zu sein. Sie sah sich um, und dann bemerkte sie es.