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Isabella Mey

Wandelträume





BookRix GmbH & Co. KG
81371 München

WandelTräume

 

 

 

 

 

Da ist eine Wahrheit,

die kann Dir niemand erzählen,

in einem Wörterbuch wirst Du sie nicht finden

und in den Schlagzeilen suchst Du danach vergebens.

Selbst mit dem Verstand lässt sie sich nicht ermitteln.

Diese Wahrheit erfährst Du nur in der Stille,

wenn Du tief in Dich hineinlauschst.

 

Reiheneckhaus

Montagnachmittag

 

Seit einem halben Jahr wohne ich jetzt in diesem Reihenhaus mit dieser ›Familie‹ in dieser Kleinstadt! Und noch immer fühle ich mich wie eine Fremde in einer fernen Galaxie unter Außerirdischen. Kaum ein Tag vergeht, an dem ich nicht meinem alten Leben in Frankfurt am Main nachtrauere. Dort fühlte ich mich frei, hatte Spaß mit meiner Clique und jetzt sitze ich in einem Kaff am Hochrhein fest, viel zu weit weg, um meine Freunde regelmäßig zu sehen. Am Anfang haben wir noch oft telefoniert, geskypt oder gechattet, aber mit der Zeit verebbte der Kontakt. In einem schleichenden Prozess geriet ich zunehmend in Vergessenheit, einfach deshalb, weil ich kein Teil des Alltags meiner Freunde mehr war.

Hier ist alles anders als in der Großstadt: Bestehende Freundschaften wurden bereits im Sandkasten besiegelt, für Neuankömmlinge bleibt kein Platz – bestenfalls! Wenn sie nicht gar als Eindringlinge angefeindet werden. Na gut, da übertreibe ich vielleicht ein wenig.

Ich sitze am Schreibtisch und brüte über der Kurvendiskussion für Mathe, als die Tür meines Zimmers schwungvoll auffliegt. Uneingeladen stürmt mein Stiefbruder Nino herein und wedelt mit einem grünen Heft.

»Hey Lia, kannst du mir mit Mathe helfen?«

»Nein! Und jetzt verzieh dich!«, blaffe ich ihn an.

Ich kann es überhaupt nicht leiden, wenn jemand ohne anzuklopfen mein Zimmer betritt. Dummerweise fehlt der Schlüssel, sonst hätte ich abgesperrt. Statt mein Zimmer zu verlassen, schlendert Nino zu meinem grasgrünen Sessel, der den Platz zwischen Bett und Schreibtisch ausfüllt, und fläzt sich hinein. Aufgebracht rolle ich mit dem Schreibtischstuhl rückwärts und drehe mich zu ihm hin. Mit Sicherheit zucken gerade wütende Blitze aus meinen Augen. Allerdings schlagen sie offenbar überall im Zimmer ein, nur nicht bei meinem Stiefbruder, denn das breite Grinsen in seinem leicht gebräunten Gesicht will partout nicht verschwinden.

»Sag mal, welchen Teil von ›Verzieh! Dich!‹ hast du nicht verstanden?«, fahre ich ihn an.

»Bitte, Lia! Dafür leih ich dir auch mein BMX!«

Jetzt gerate ich doch ins Stocken. Nino weiß ganz genau, womit er mich locken kann, denn sein Fahrrad reizt mich. Ich habe es zweimal ausprobiert – heimlich – und es fühlte sich an, als ob ich nie etwas anderes gemacht hätte, als den Bordstein rauf- und runterzuspringen. Sogar mit erhobenem Vorderrad konnte ich nach ein wenig Übung ein Stück weit fahren. Leider hat mich Nino dabei erwischt. Er wollte wissen, wo ich denn einen Wheelie gelernt hätte, und meinte, ich müsse ein Naturtalent sein. Aber da ich weder mit ihm noch mit dem Rest seiner Familie etwas zu tun haben will, habe ich das Rad einfach in die Ecke gestellt und bin wortlos weggegangen.

»Dein BMX interessiert mich nicht!«, antworte ich schweren Herzens, versuche meiner Stimme aber die notwendige Kraft zu verleihen, um ihn endlich zu vertreiben.

»Wer’s glaubt …«, murmelt Nino, rutscht tiefer in meinen Sessel und schlägt die Beine übereinander, um es sich so richtig gemütlich zu machen.

Mit dem tiefschwarzen Haar und den dunklen Augen sieht er wie ein typischer Italiener aus, was wohl daran liegt, dass seine Eltern ursprünglich aus Italien stammen. Dummerweise ist sein Vater vor fünf Jahren gestorben und noch dümmererweise hat seine Mutter vor einem halben Jahr meinen Vater geheiratet. Und das allerdümmste an der Sache ist, dass Nino auch noch eine dreizehnjährige, überaus zickige Schwester namens Nicole hat, die meinen Vater vergöttert und mir als ihre Konkurrentin um seine Zuneigung den Kampf angesagt hat. Das Schlimmste an der ganzen Geschichte aber ist, dass ich nach der Vereinigung unserer Eltern mein geliebtes Frankfurt verlassen musste, um in einem Reiheneckhaus im kleinstädtischen Waldshut am Hochrhein zu versauern.

Doch es kommt noch schlimmer: Nino ist mit seinen achtzehn Jahren nur sechs Monate älter als ich und belegt daher die gleiche Jahrgangsstufe derselben Schule wie ich. Das Schicksal hat mir wirklich übel mitgespielt, vor allem, weil dieser Kerl auch noch gut aussieht und immer eine Traube an Mädels hinter sich herzieht. Wenn er sich wenigstens bescheiden zurückhalten würde, wäre das ja nicht ganz so tragisch, das Problem ist aber: Nino weiß genau, welche Wirkung er auf das weibliche Geschlecht hat, und scheut sich nicht, das raushängen zu lassen.

Aber nicht mit mir!

Ich werde niemals in seinen Fanclub eintreten, da kann er warten, bis er alt und grau wird.

Mein Stiefbruder sitzt noch immer mit Hundeblick in meinem Sessel, aber gegen seinen Charme bin ich zum Glück immun.

»Was muss ich tun, um dich zu überzeugen?«, versucht er es erneut.

»Vergiss es! Steck deine Nase lieber in die Bücher, statt nach dem Sport in die Mädchenumkleide!«, ziehe ich ihn auf, obwohl ich mir in Wahrheit sicher bin, dass er so etwas niemals tun würde.

»Oh, du hast mich erwischt?! Wie peinlich!«, entgegnet Nino grinsend, doch mir scheint, dass es ihm nicht einmal unangenehm gewesen wäre, wenn er tatsächlich gespannt hätte.

Ich gehe alle Alternativen durch, um meinen Stiefbruder aus dem Zimmer zu vertreiben. Da wäre die körperliche Gewalt, doch leider ist er mir überlegen und außerdem ertrüge ich die Nähe eines Ringkampfes nicht. Ich könnte ihn auch einfach wie Luft behandeln und mich wieder in meine Kurvendiskussion stürzen, aber erfahrungsgemäß würde er mich dennoch weiter reizen, bis meine Nervenstränge komplett reißen.

Hysterisch schreien?

Nein, das wäre unter meiner Würde.

Erpressung? Aber womit?

Ich fixiere das Heft in Ninos Hand. Das Grün des Umschlags beißt sich unangenehm mit dem Grün meines Sessels. Ich beuge mich vor und ziehe das Heft aus seinen Fingern. Das siegessichere Blitzen in Ninos Augen verblasst in dem Moment, als ich zusätzlich das Wasserglas anhebe. Ich male oft Aquarelle und habe das Glas mit der trüb-braunen Flüssigkeit beim letzten Mal hier stehen lassen. Zugegeben, Ordnung zu halten zählt nicht zu meinen Stärken, dementsprechend viele Dinge türmen sich auf meinem Schreibtisch. Die leicht gebräunte Gesichtsfarbe meines Stiefbruders verblasst deutlich, als ich das Wasserglas direkt über seinem Matheheft in Schieflage bringe. Noch tritt keine Flüssigkeit über den Rand, aber viel fehlt nicht mehr.

»Raus aus meinem Zimmer oder du kannst austesten, ob sich der Wäschetrockner auch für Mathehefte eignet!«

»Ach Lia, kannst du nicht mal ein bisschen netter zu deinem Stiefbruder sein?«, seufzt Nino, als er sich jetzt endlich von meinem Sessel erhebt.

»Nein, kann ich nicht«, brumme ich. »Und das Heft bleibt als Pfand bei mir, damit du mich nicht wieder belästigst.«

Doch da habe ich mich verrechnet, denn er zieht es mir im Vorbeigehen mit einer flinken Bewegung aus der Hand. Ich erschrecke so sehr, dass ich das Wasser beinahe über meine eigenen Schulbücher und Hefte verschütte, schaffe es aber dann gerade so, das Glas unter heftigem Wellengang abzustellen.

»Ich störe dich ohnehin nicht mehr!«, wirft mir Nino noch zu, bevor er hinausflitzt, natürlich ohne die Tür hinter sich zu schließen. Vor mich hin grummelnd übernehme ich diese Aktion notgedrungen selbst.

Der erneute Versuch, mich in meine Kurvendiskussion zu vertiefen, schlägt kläglich fehl. Zu sehr hat mich Ninos Überfall in Aufregung versetzt. Da kommt mir das Klackern der Katzenklappe gerade recht. Mit erhobenem Schwanz stolziert Luna quer durchs Zimmer und springt auf meinen Schoß. Ich weiß, eine Katzenklappe in der Außenwand eines Zimmers im ersten Stock ist recht ungewöhnlich. Tatsächlich war es ein enormer Aufwand, diese einzubauen, denn das Loch dafür musste in die Außenmauer des Hauses geschlagen werden. Bestimmt hat sich mein Vater nur deshalb zu diesem Gefallen breitschlagen lassen, weil an ihm das schlechte Gewissen nagt, mich hierher verfrachtet zu haben – schließlich musste ich alles aufgeben, was mir wichtig war. Vor meinem Fenster steht ein Apfelbaum, den Luna zum Aufstieg nutzt, und in meinem Zimmer stehen ihr Körbchen und der Kratzbaum vor der Klappe.

Ich muss wohl zugeben, dass Waldshut für sie besser geeignet ist als die Großstadt. Im Frankfurter Westend war es zu gefährlich, sie draußen rumlaufen zu lassen. Hier hingegen ist der Wald nicht weit entfernt und hinter den Reihenhäusern liegen viele kleine Gärten, in denen sie herumstreunen kann.

Ich streichele über Lunas graues Fell, wobei sie sich meiner Hand entgegenschmiegt und zu schnurren beginnt.

»Weißt du eigentlich, dass du die einzige Freundin bist, die mir geblieben ist, Luna?«, seufze ich.

Meine Katze legt den Kopf schief und sieht mich mit ihren bernsteinfarbenen Augen an. Nicht zum ersten Mal kommt es mir so vor, als ob sie jedes meiner Worte versteht. Ich kraule sie liebevoll am Hals, bis ihr leises Schnurren in ein lautes Brummen übergeht.

Als meine Oma gestorben ist, hat mir mein Vater zum Trost ein kleines graues Katzenbaby geschenkt. Seither besteht ein inniges Verhältnis zwischen Luna und mir. Als Britisch Kurzhaar ist sie eine Rassekatze, doch ihr Stammbaum ist mir egal – viel wichtiger ist mir das warme Gefühl, das mir ihre Nähe gibt. Es beruhigt mich, sie zu streicheln, und ich liebe es, wenn sie sich zwischen meinen Füßen zusammenrollt, wenn ich im Bett liege.

Die Tür fliegt auf. Zum zweiten Mal heute. Luna springt erschrocken von meinem Schoß und flüchtet unters Bett. Nicole steht mit puterrotem Gesicht im Türrahmen.

O nein! Die hat mir gerade noch gefehlt!

»Je-jemand hat mein Pu-Puder über meinem Bett verteilt!«, stottert Nicole aufgebracht. Das geschieht meistens, wenn sie sich aufregt, was wiederum recht häufig vorkommt. Durch das Stottern verliert ihr Wutausbruch allerdings an Schärfe.

»Und du denkst, dieser Jemand war ich?«, zische ich gereizt.

»Wer denn sonst? Ich wü-wüsste niemand anders, der mi-mi-mir das antun würde!«

Nicole gestikuliert hektisch mit den Armen, während sie redet. Sogar ihre Augen glitzern feucht, was mein Gemüt jetzt doch ein wenig abkühlt.

»Ich mache so etwas aber auch nicht«, antworte ich bestimmt.

»Ach ja? Und wa-was war mit meinem besudelten Spie-Spiegel? Wa-waren das alles die Hei-Heinzelm-m-m-männchen oder was?«

»Ja, vielleicht! Ich war es jedenfalls nicht.«

Nicole holt tief Luft, um noch etwas zu sagen, doch dann zieht sie nur düster die Augenbrauen zusammen und macht eine wegwerfende Handbewegung.

Sie murmelt etwas wie »Ich we-werde dich schon noch erwischen« und knallt meine Zimmertür ins Schloss.

Langsam atme ich mit geblähten Wangen aus und fühle mich mal wieder bestätigt, in einem Irrenhaus zu leben. Aber seltsam ist es schon, dass ständig etwas schiefgeht und niemand dafür verantwortlich zu sein scheint. Das mit dem Puder war ich jedenfalls nicht und ich kann mir auch nicht vorstellen, wer es sonst getan haben könnte. Bliebe eigentlich nur die Möglichkeit, dass sich Nicole das alles ausdenkt, um mich schlechtzumachen. Aber da müsste sie schon ziemlich gut schauspielern können und so irre kommt sie mir nun auch wieder nicht vor. Fast jedem in der Familie ist schon etwas ähnlich Unerklärliches passiert, was meist in stumme Verdächtigungen ausartete. Am häufigsten traf es Nicole, mich hingegen noch nie. Außerdem bin ich diejenige mit der Anti-Waldshut-Haltung, daher kursiert in der Familie der unausgesprochene Verdacht, ich wäre die Ursache des Übels – ein weiterer Grund, warum ich am liebsten meine Koffer packen und nach Frankfurt zurückkehren möchte.

Genau wie ihr Bruder hat Nicole braune Augen und dunkles Haar. Während es bei meinem Stiefbruder in leichten Wellen nicht ganz bis zur Schulter reicht, berühren die Haarspitzen seiner Schwester beinahe ihren Hintern. Als Dreizehnjährige beginnt sie gerade, ihre Weiblichkeit zu entdecken, und dabei übertreibt sie manchmal – sowohl mit der Schminke als auch mit reizvoller Kleidung, die sie dann vor allem meinem Vater präsentiert. Ich finde das megapeinlich und mein Vater versucht es weitgehend zu ignorieren. Am Anfang hat er sich noch hin und wieder dazu breitschlagen lassen, sie auf den Schoß zu nehmen – da wirkte sie allerdings noch wie ein kleines, hilfesuchendes Mädchen. Mit ihrer Verwandlung zur Frau jedoch, versucht er Nicole nun dezent auf Abstand zu halten, was bei ihr aber eher den entgegengesetzten Effekt auslöst: Sie buhlt regelrecht um seine Aufmerksamkeit. Sogar unseren Familiennamen hat Nicole nach der Hochzeit annehmen wollen, so heißt sie jetzt genau wie ich Schiller. Ihr Vater lebt schon lange nicht mehr, so konnte er auch keinen Widerspruch gegen die Namensänderung seiner Tochter einlegen.

Nino dagegen wollte den Namen seines Vaters behalten, was ich in seinem Fall nicht ganz nachvollziehen kann, denn witzigerweise lautet sein Nachname Angelo, was Neider manchmal zu Spötteleien verleitet. Damals in den Achtzigern kam doch dieser fast namensgleiche Schlagersänger Nino de Angelo groß raus, und natürlich sucht man da automatisch nach Parallelen. Das mit dem Frauenschwarm und der italienischen Abstammung passt ja schon mal zusammen. Bisher hatte ich allerdings noch keine Gelegenheit, das Gesangstalent meines Stiefbruders zu beurteilen. Ich frage mich, ob seine Eltern diesen Vornamen bei vollem Bewusstsein gewählt haben oder ob sogar Absicht dahintersteckte. Doch wieder zurück zu meiner Stiefschwester. Durch Nicoles Anhänglichkeit kümmert sich mein Vater kaum noch um mich. Ich weiß, dass er es nicht böse meint, aber neben seiner temperamentvollen Frau, seiner Arbeit und den Bemühungen, Nicole auf Abstand zu halten, bleibt eben nicht mehr viel Raum für seine eigene Tochter. Wahrscheinlich meint er auch, ich bin mit meinen Siebzehneinhalb ja schon fast volljährig und benötige keine Zuwendung mehr. Die Wahrheit aber ist: Egal wie viel Trubel um mich herum herrscht, ich fühle mich so was von einsam. Seit wir aus Hessen weg sind, spreche ich meinen Vater übrigens verstärkt mit Babba an – als Ausdruck meiner kleinen persönlichen Rebellion.

Luna schleicht mir um die Beine, wobei sie ihren Kopf an meiner Hose reibt. Ich hebe sie auf meinen Schoß und kraule ihr den Hals. Dann starte ich einen erneuten Versuch, die Kurvendiskussion zu Ende zu bringen.

 

Eine Stunde später sind alle Hausaufgaben erledigt. Ich liege seitlich im Bett und starre zum Fensterbrett. Ein breites Regal vergrößert die Stellfläche, um ausreichend Platz für meine Blumentöpfe zu schaffen: Orchideen in mehreren Farb- und Formvariationen reihen sich dort aneinander – mein liebstes Hobby. Auch ein selbst gemaltes Aquarell an der Wand zeigt eine Orchidee, wobei ich dazu anmerken muss, dass ich im Normalfall nicht auf Selbstgemaltes an Zimmerwänden stehe. Aber dieses ein wenig abstrahierte Bild ist mir so gut gelungen, dass ich es einfach aufhängen musste. Als Kind wollte ich Blumenverkäuferin werden, weil es im Blumenladen immer so gut duftet. Heute weiß ich nicht mehr so recht – ich schwanke zwischen Floristik, Gartenbau und Biologie mit Schwerpunkt Botanik.

Irgendwer klopft an die Tür.

Es geschehen doch noch Wunder, dass tatsächlich mal jemand anklopft …

Ich richte mich auf und rufe: »Ja?«

Der Kopf von Antonius Schiller, meinem Vater, lugt durch den entstehenden Spalt zwischen Tür und Rahmen. Ein bisschen abgekämpft sieht er heute aus, aber ansonsten wie immer: Ein kantiges Gesicht, das durch die kleinen Grübchen und Lachfältchen Sympathie ausstrahlt. Die graublauen Augen habe ich von ihm, die braunen Haare auch, wobei seine schon ordentlich mit weißen durchsetzt sind.

»Hallo Lia! Francesca hat Fondue gemacht. Möchtest du mit uns zu Abend essen?«

Nein, ich habe keine Lust auf ein gemeinsames Essen mit meiner Patchwork-Pseudo-Familie, aber wenn mein Vater sich schon mal extra zu mir begibt, um mich persönlich einzuladen, fällt es mir schwer, ihn zu enttäuschen. Wäre er nicht gekommen, hätte ich mir nach dem Abendessen der anderen in der Küche ein Brot geschmiert und mich damit wieder aufs Zimmer verzogen.

»Hm, na gut«, antworte ich wenig begeistert.

Mein Vater schenkt mir ein nettes Lächeln, als ich vom Bett aufstehe und auf ihn zugehe. »Wie warʼs auf der Arbeit, Babba?«

»Spannend! Wir haben eine keltische Grabstätte entdeckt. Einiges daran ist recht ungewöhnlich – aber wie du ja weißt, unterliegen die Details der Geheimhaltung.«

Mein Vater arbeitet als Archäologe bei einer privaten Grabungsfirma. Wenn jemand altertümliche Gegenstände auf seinem Grundstück entdeckt, dann kann er die Firma beauftragen, die rechtlichen Formalitäten für ihn zu erledigen und die Grabung professionell durchzuführen. Was sie so alles entdecken, klingt zwar spannend, aber in der Praxis besteht die Arbeit eines Archäologen aus stundenlangem Freilegen Tausender verstreuter Artefaktsplitter – und das zum Teil nur mit einem Pinsel! Außerdem wird die Lage eines jeden Fundstücks genau ausgemessen und kartografiert. So eine Fieselei wäre der pure Horror für mich.

»Warum macht ihr eigentlich immer so ein Geheimnis aus den Grabungen?«, will ich wissen, während ich meinem Vater die Treppe hinunter ins Erdgeschoss folge.

»Alle Mitarbeiter sind zum Stillschweigen verpflichtet, denn es kommt nicht selten vor, dass wir echte Schätze entdecken. Die liegen dann mehr oder weniger frei zugänglich in der Erde herum, bis wir sie vollständig geborgen haben. Wenn davon die falschen Leute Wind bekämen, wäre die Grabungsstätte schneller geplündert als wir draufpusten können.«

›… schneller als wir draufpusten können‹, zählt zu den Lieblingssprüchen meines Vaters, was wahrscheinlich daran liegt, dass er das mit dem Pusten oft anwendet, um Staub und Erde von seinen Fundstücken zu entfernen.

Der intensive Duft von Kräuterbaguette und Gemüsesuppe strömt mir entgegen, als ich mit meinem Vater im Wohn-Esszimmer eintreffe. Francesca zerteilt gerade das Brot in mundgerechte Stücke und sieht dann zu uns auf.

»Lia! Welche Freude, dass du mitisst. Komm, setz dich, cara mia!«

Die Frau meines Vaters zieht den Stuhl neben sich zurück und bedeutet mir, mich zu setzen. Zugegeben, Francesca ist nicht wirklich übel, aber für mein Empfinden zu emotional und in ihren Gefühlsausbrüchen zu körperlich – vor allem, wenn sie mich ungefragt in ihre Arme schließt oder mir einen ihrer feuchten Küsse auf die Wange drückt. So nahe stehe ich ihr nun einmal nicht, dass ich das gut finden könnte. Allerdings habe ich es bisher noch nicht gewagt, mich gegen ihre herzliche Überschwänglichkeit zu wehren … und ich sollte mir vielleicht eingestehen, dass es mich manchmal sogar ein wenig über meine Einsamkeit hinwegtröstet.

Ich lasse mich gerade auf dem angebotenen Stuhl nieder, als Nicole mit einer Schüssel voll rohem Fleisch aus der Küche kommt.

»Ey, Mama, da si-sitze ich!«, protestiert meine Stiefschwester.

Wen wundert’s – schließlich hat Francesca ausgerechnet den Platz für mich ausgesucht, der an das Kopfende des Tisches grenzt, an dem mein Vater sitzt. Den Stuhl gegenüber besetzt mein mir zuzwinkernder Stiefbruder.

»Nicole! No! Heute sitzt Lia neben ihre Papà!«, bestimmt Francesca und gestikuliert dabei ausladend.

Meine Stiefschwester sieht für einen Moment aus, als kämpfte sie mit dem Impuls, uns allen die Zunge rauszustrecken. Sie lässt es jedoch bleiben, wahrscheinlich weil sie merkt, dass das nicht mehr ganz zu ihrem Alter passt. Dafür starren ihre nussbraunen Augen unverwandt zu Boden, als sie sich widerstrebend neben ihrem Bruder hinsetzt. Zeitgleich stellt sie polternd die Schüssel auf den Tisch, auf dem bereits ein großer Topf mit Gemüsesuppe steht, unter dem mehrere Teelichter brennen. Zudem warten in Schälchen klein geschnittene Paprika und Tomaten und verschiedenen Soßen auf den Verzehr. Auch beim Thema Kochen muss ich zugeben, dass Francesca eine Bereicherung darstellt.

Zu Zeiten, als meine Oma diese Aufgabe noch übernommen hat, stand ausschließlich gute deutsche Küche auf dem Speiseplan, wobei anzumerken wäre, dass Kochen nicht gerade zu den Talenten meiner Großmutter zählte. Inzwischen ist sie jedoch gestorben.

 

»Lia, magst du die Soße mit die Knoblauch?«, fragt Francesca und reicht mir eine Schale.

»Nein, danke«, wehre ich ab.

»Toni, du?«

»Gerne, cara mia!«, antwortet er mit einem deutschen Akzent, den selbst ich als Nicht-Italienerin heraushören kann. Unwillkürlich verdrehe ich die Augen. Doch nicht nur bei Francesca, offenbar auch bei meiner Mutter war mein Vater seiner Schwäche für südländisches Temperament erlegen – sie ist eine heißblütige Griechin, allerdings zu heißblütig für ein spießiges Familienleben. Das hielt sie nämlich nicht lange aus, und so schloss sie sich kurz nach meiner Geburt einer Band als Sängerin an und tourt mit mittelmäßigem Erfolg quer durch die Welt. Aus diesem Grund fiel meiner Oma damals die Aufgabe zu, sich um mich zu kümmern, während mein Vater arbeiten ging. Ein Mal im Jahr kommt meine Mutter vorbei, um nachzusehen, wie viel ich gewachsen bin. Ich vermisse sie nicht besonders, weil es da noch nie eine enge Bindung gab…

Okay, erwischt!

Das rede ich mir mindestens dreimal täglich ein. In Wahrheit bin ich heftig enttäuscht von ihr. Wie oft hat sie mir versprochen, mich mal mit auf Tour zu nehmen, mir die Welt zu zeigen – aber nie ist was draus geworden. Und ihre fadenscheinigen Ausreden quellen mir auch schon zu den Ohren raus!

Während mein Vater genüsslich an seinem Rotwein schlürft, schnappt sich Francesca die Schüssel mit dem Fleisch und hält sie uns reihum vor die Nase. Ich nehme mir ein paar Würfel heraus und schiebe sie auf meine zwei Metallspieße, die dann neben ihren Kumpels in der blubbernden Gemüsesuppe landen. Bis das Fleisch gar ist, bediene ich mich an Blattsalat und Baguette.

»Hast du heute etwas Neues über die keltischen Gräber herausgefunden, Toni?«, fragt Nicole plötzlich hochinteressiert und sogar ohne zu stottern.

Ich seufze geräuschlos. Sie kann’s einfach nicht lassen, sich bei ihm einzuschleimen! Eigentlich heißt mein Vater Antonius, aber mit diesem Namen wird er höchstens von seinem Chef angesprochen. Freunde und Verwandte rufen ihn Toni. Immerhin verwendet Nicole heute mal seinen Vornamen, viel zu oft nennt sie ihn nämlich Papa. Das stößt mir jedes Mal übel auf.

»Ja, diese Gräber sind absolut ungewöhnlich. Wir haben sie auf die Latènezeit um 200 v. Chr. datiert. Es sieht ganz danach aus, als ob die Grabstätte ursprüngliche ein Stollen war, in dem die Kelten nach Mineralien gegraben haben. Allerdings wurden die zwei hintereinanderliegenden Grabkammern durch mehrere massive Felsblöcke versperrt und auf denen fanden wir atypische Zeichen vor. Wie ihr ja wisst, waren die Kelten recht schreibfaul, und so kommt es eher selten vor, dass man Schriftzeichen aus dieser Zeit entdeckt. Das Wissen über ihre Kultur und Lebensweise stammt fast ausschließlich aus den Quellen anderer Völker.«

Ich glaube es nicht!

Gerade eben hat Babba mir noch klargemacht, weshalb alle Informationen der Geheimhaltung unterliegen, und jetzt plaudert er munter drauf los!

»Aber in dieser Grabhöhle habt ihr Schriftzeichen gefunden?«, hakt Nicole nach, ohne ihren durchdringenden Blick von meinem Vater zu nehmen, der einen großen Schluck von seinem Rotwein nimmt. In der Begeisterung um seine Arbeit vergisst er sogar das Essen.

»Ja, genau! Und die Abbildungen deuten auf Warnungen vor bösen Geistern hin. Überhaupt ist es seltsam, dass der Stollen ausgerechnet an diesem Ort in den Fels gehauen wurde. Die Höhle befindet sich nämlich …«

»Babba, hast du nicht gesagt, das alles unterliegt der Geheimhaltung?«, fahre ich dazwischen.

»Oh, ja, danke, Lia! Wie dumm von mir! Darüber darf ich eigentlich gar nicht sprechen.«

Ich kann wirklich froh sein, dass Blicke nicht töten können, wenn ich Nicoles Gesichtsausdruck richtig deute.

»Komm, cara mia! Lia hat recht. Außerdem ist jetzt nicht die Zeit, um über die Arbeit zu sprechen! Du hast noch nicht einmal deine Essen probiert«, antwortet Francesca mit leicht italienischem Akzent.

Da sowohl Nino als auch seine Schwester in Waldshut geboren und aufgewachsen sind, sprechen beide fließend deutsch – von Nicoles Stottern mal abgesehen.

Francesca hält meinem Vater die Schüssel mit dem Fleisch unter die Nase, wobei ihre Arme über meinen Teller ragen. Sie verströmt den intensiven Duft eines Parfüms, das ich noch nicht kenne. Meine Stiefmutter tut alles für ihr perfektes Aussehen – regelmäßiger Sport im Fitnessstudio und gesundes Essen bilden dabei die Hauptpfeiler. Durch den jugendlich frischen Kleidungsstil und den gekonnten Umgang mit Make-up wirkt sie jünger, als sie mit ihren zweiundvierzig Jahren tatsächlich ist. Das alles muss sie wohl auch von Berufs wegen tun, denn sie betreibt ein Nagel-, Kosmetik- und Wellnessstudio im Wohnzimmer des Reiheneckhauses, das ich jetzt als mein Zuhause bezeichnen muss. Bevor mein Vater und ich hier einzogen, nutzte sie mein Zimmer für ihre Arbeit – ein weiterer Grund, weshalb ich mich hier wie ein unerwünschter Eindringling fühle, selbst wenn meine Stiefmutter mich das nie hat spüren lassen.

Nino fischt seinen Fleischspieß aus der Suppe und genießt sein Essen dann in aller Seelenruhe. Wenn ich so zurückblicke, erinnere ich mich an nicht viel, was diesen Typen aus der Fassung bringen kann. Ab und zu schaut er mich an, aber diesen Blickkontakt breche ich jedes Mal rasch ab, nicht dass er noch auf die irrwitzige Idee kommt, ich würde mit ihm flirten. Das Essen schmeckt köstlich, das muss ich Francesca lassen. Nur die Stimmung bei Tisch lässt zu wünschen übrig. Während Nicole in demonstratives Schweigen verfallen ist, sich mein Gesprächsbedarf ebenfalls in Grenzen hält und Ninos Konzentration ausschließlich dem Verzehr seines Fleischs gilt, gibt Francesca den neuesten Kleinstadtklatsch zum Besten, wobei sie versucht, meinen Vater mit ins Gespräch zu ziehen. Dieser äußert sich zwar höflich, jedoch eher einsilbig zu ihren Ausführungen. Ich weiß ganz genau, dass er mit Klatsch und Tratsch nicht viel anfangen kann. Bei den beiden wirkt offenbar gerade die Gegensätzlichkeit anziehend. Die Schnittmenge bildet lediglich ihrer beider Begeisterung fürs Theater und für Musicals. Sowohl mein Vater als auch Francesca sind absolute Spezialisten auf diesem Gebiet und pilgern in ihrer arbeitsfreien Zeit auch gerne mal durch die halbe Welt, um ihre Favoriten live zu sehen. So war es auch ein Musical, das die beiden schließlich zusammenführte, während ihnen das Schicksal direkt nebeneinander Plätze zuwies.

Wir sind noch nicht fertig mit dem Essen, da klingelt es an der Tür. Meine Stiefmutter fährt erschrocken in die Höhe.

»Hoffentlich, das ist nicht schon die Signora Peck: Die wollte erst um sieben kommen, zu die Maniküre!«

Francesca eilt in die Diele und öffnet die Eingangstür.

»Äh, ah, Frau Schlutemeie! Schöne gute Abend! Was kann ich für Sie tun?«

»Schlütermeiser ist mein Name, nicht Schlutemeie!«, krächzt unsere Nachbarin mit zorniger Stimme:

»Natürlich, natürlich. Scusa«, antwortet Francesca beschwichtigend.

Unsere Nachbarin habe ich in meiner Katastrophenliste bisher gar nicht erwähnt. Das Reihenhaus liegt nämlich in Hanglage, was bedeutet, dass das Wohnzimmer im Erdgeschoss gleichzeitig das zweite Kellergeschoss bildet. Wir bewohnen alle Stockwerke außer der Dachwohnung – dort haust Frau Schlütermeiser, eine zänkische alte Dame.

Ihre Einliegerwohnung verfügt über einen eigenen Eingang, den man von der Hangseite her über eine Treppe durch den Vorgarten erreicht – ein zugegebenermaßen seltsames Konstrukt für ein Reiheneckhaus. Soweit ich mitbekommen habe, richtete das Frau Schlütermeisers Neffe damals so für sie ein, lange bevor meine Stieffamilie das Haus kaufte. Ich bin mir sicher, dass Ninos Eltern die Immobilie vor Jahren nur deshalb so preisgünstig erwerben konnten, weil Frau Schlütermeiser über ein lebenslanges Wohnrecht verfügt. Denn diese verbitterte Alte macht einem das Leben nicht gerade zum Vergnügungstrip.

»Die Treppe vor meiner Tür ist voller Erde!«, beschwert sich Frau Schlütermeiser jetzt. Sie steht mit Francesca im Hauseingang, schimpft aber so laut, dass wir es bis ins Wohnzimmer deutlich hören können.

»Si. Aber wir wissen nicht, wie Erde da hinkommt. Vielleicht spielen Kinder eine böse Streich.«

»Einen Streich? Und das in meinem Alter! Früher hätte es so etwas nicht gegeben! Da hatte die Jugend noch Respekt vor dem Alter. Aber die heutigen Sitten verkommen immer mehr …«

»Aber Frau Schlutemeie, ein bisschen Erde … das ist doch nicht ein großes Problem! Ich mache gleich weg die Erde.«

Francesca kommt kopfschüttelnd ins Wohnzimmer und hebt beschwörend die geöffneten Hände in die Höhe.

»Porca miseria!«, murmelt sie, verschwindet in der Küche und eilt dann bewaffnet mit Schaufel und Besen in den Garten.

»War das mit der Erde jemand von euch?«, will mein Vater mit einem kritischen Blick in die Runde wissen.

Es versetzt mir einen Stich, dass er dabei besonders lange bei mir verweilt. Zugegeben, es scheint naheliegend, dass ich dafür verantwortlich sein könnte, weil ein Großteil des Gartens unter meiner Obhut steht. Ich habe erst kürzlich in kunstvoller Anordnung verschiedene Blumen gepflanzt und dafür benötigte ich natürlich Blumenerde, aber dass mein Vater mich verdächtigt, diese auf der Treppe zu Frau Schlütermeisers Wohnung verteilt zu haben, schmerzt mich.

Nino hält eine Antwort nicht einmal für notwendig und schüttelt lediglich den Kopf. Nicole sieht meinem Vater fest in die Augen und sagt: »Aber Toni, wie kannst du nur so etwas denken? Das würde ich niemals tun!«

Mich überhaupt dafür zu rechtfertigen, ist mir zuwider, daher stehe ich einfach auf und steige gekränkt die Treppen nach oben in den ersten Stock, welcher von der Hangseite her das erste Kellergeschoss bildet.

Luna kommt mir maunzend entgegen, als ich mein Zimmer betrete. Ich streichele ihr übers Köpfchen und versorge sie mit Wasser und Futter. Danach gieße ich meine Pflanzen. Ich atme den Duft der Blumen tief ein, das beruhigt mich ein wenig.

In der Natur wachsen die meisten Orchideen auf Bäumen in tropischen Regenwäldern. Daher würden die Wurzeln, die sonst zum Teil in der freien Luft hängen, verfaulen, würde man sie mit Erde bedecken. Ich habe lange mit verschiedenen Mischungen aus Torf und Rinde diverser Bäume herumexperimentiert, um das optimale Orchideensubstrat zu entwickeln. Es muss ausreichend luftig sein, um Fäulnis zu verhindern, gleichzeitig dürfen die Wurzeln aber nicht austrocknen. Mein ganzer Stolz ist eine Variation der Cattleya, die ich selbst gezüchtet habe. Ich nenne sie Sonnenuntergang, weil die Lippe der Orchideenblüte in einem kräftigen Gelb leuchtet, während die drei großen Kronblätter einen Verlauf von Orange in dunkles Rot zeigen. Außerdem heben sich die Blattadern etwas heller hervor, sodass man sich darunter Sonnenstrahlen vorstellen kann. Diese Orchidee duftet besonders intensiv, was sie zu meinem absoluten Favoriten macht.

Am liebsten möchte ich mein Zimmer für heute nicht mehr verlassen, aber meine Kehle fühlt sich wie ausgetrocknet an. Ich habe heute ganz vergessen zu trinken, also muss ich doch noch mal in die Küche runter.

Im Wohnzimmer hat sich inzwischen Francescas Kundin eingefunden. Sie liegt in einem extrabequemen Sessel und lässt sich von meiner Stiefmutter das Gesicht mit einer komischen Paste beschmieren.

»Ach, Frau Schiller, Sie machen das wie immer fantastisch! Nach Ihren Gesichtsmasken fühle ich mich jedes Mal um zehn Jahre jünger«, schwärmt die Kundin.

»Wunderbar, das freut mich!«, antwortet Francesca enthusiastisch. »Ich gebe Ihnen nachher noch einen Lotion mit – duftet fantastico! Habe ich gestern ausprobiert und ich sage Ihnen …«

In der Küche angekommen, gieße ich mir Wasser in ein Glas, was das Gespräch kurzzeitig übertönt.

»Ja, und was ich Ihnen noch erzählen wollte, wir machen dieses Jahr Urlaub in Ihrer Heimat! Vielleicht können Sie mir ja ein paar Worte Italienisch beibringen?«

»Ma certo …«

»Ach, hier bist du, Lia!«

Ich zucke erschrocken zusammen, weil mein Vater plötzlich neben mir in der Küche steht.

»Hi Babba!«, antworte ich und trinke einen Schluck Wasser.

»Ich würde gerne mit dir reden.«

Warum klingt er denn so ernst?

»Klar, tust du doch gerade.«

»Schau mal, Lia. Wir wohnen jetzt schon über ein halbes Jahr in Waldshut. Meinst du nicht, du könntest die Situation langsam mal akzeptieren? Was hast du denn eigentlich für ein Problem?«

»Soll ich dir das wirklich alles aufzählen? Ich gebe dir nur mal eine kleine Auswahl: Meine Freunde sind weg, ich bin hier völlig fremd, diese Familie ist nicht meine, mir fehlt Frankfurt, in der Schule bin ich eine neu zugezogene Außenseiterin und auf der anderen Rheinseite ragt der Kühlturm des Kernkraftwerks in den Himmel!«

»Den siehst du doch von hier aus gar nicht!«

»Das ist doch egal! Es reicht schon aus, dass ich weiß, dass er da ist.«

»Meinst du nicht, es liegt auch ein Stück weit an dir selbst, dass du dich noch immer fremd fühlst? Freunde kannst du doch auch hier finden, oder nicht?«

»Babba! Ich wurde nicht mal gefragt, ob ich nach Waldshut zu dieser Familie ziehen will. Ich musste einfach mit! Was würdest du davon halten, wenn ich dich gegen deinen Willen nach Frankfurt entführen würde – weit weg von Francesca und deiner Arbeit? Oder in deinem Fall sollte ich es wohl eher mit dem Ausland vergleichen, weil du eine Strecke innerhalb Deutschlands ja ganz gut mit dem Auto zurücklegen könntest. Für mich sieht die Sache da schon ganz anders aus. Was wäre, wenn du gegen deinen Willen in Taiwan leben müsstest? Würdest du dich so leicht damit abfinden können?«

Darauf weiß er nichts zu erwidern, dafür fällt der folgende Seufzer umso geräuschvoller aus. Ich kippe das restliche Wasser in einem Zug hinunter, stelle das Glas in die Spüle und ziehe mich wieder in mein Zimmer zurück.

 

* * *

 

Als ich an diesem Abend im Bett liege, kann ich nicht einschlafen. Etwas beunruhigt mich, doch was es genau ist, lässt sich nicht fassen. Ich wälze mich von einer Seite auf die andere, versuche mich zu entspannen, aber eine diffuse Vorahnung, dass etwas Schreckliches geschehen wird, lässt mich nicht mehr los. Sogar Luna scheint es zu spüren, denn auch sie läuft immer wieder aufgeregt durchs Zimmer, und kuschelt sich schließlich maunzend in meine Arme.

Aber irgendwann siegt die Müdigkeit über die Unruhe und zieht mich ins Reich der Träume hinüber.