Ingendaay, Paul Warum du mich verlassen hast

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Für Sue, Greta und Julián

 

Überarbeitete Neuausgabe
Piper Verlag GmbH, München 2019
September 2019
© 2006, 2019 Paul Ingendaay
Covergestaltung: zero-media.net, München
Covermotiv: plainpicture/Millennium/Will Morgan

 

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1

Ich träume von einem Drachen mit Kaninchenlippen. Der katholische Suppenwürfel. Ich zeige euch die Schädelstätte. Die Tantenführung. Ich drehe mich wie ein Rad.

Dass etwas mit mir nicht stimmte, merkte ich daran, dass ich wieder diese Träume hatte. Ich werde sie euch nicht erzählen. Nur soviel, damit ihr ein Bild habt. Schwester Gemeinnutz kam darin vor, meine frühere Erzieherin, die mich zwei Jahre lang gequält hat, die ersten zwei Jahre auf dem Collegium Aureum. Schwester Gemeinnutz war ein grauer Drache mit Kaninchenlippen. In meinen Träumen trug sie ihr Nonnenhabit, aber es war länger und flatterte viel stärker, als ich es in Wirklichkeit je gesehen hatte. Ungefähr so wie ein Drache mit Kaninchenlippen, der Nonnensachen anhat und damit hoch in die Lüfte steigt und bei starkem Gegenwind seine Runden dreht.

Bitte!, rief ich in meinen Träumen, und meine Stimme war wie das Piepsen einer Maus. Bitte! Flieg davon! Verpiss dich! Lass mich in Ruhe!

Aber der graue Drache drehte nur seine Runden, und dann legte er sich in die Kurve, ließ die Flügel lässig ausschwingen und kehrte zurück. Seine Augen glühten, und ich konnte seine Kieferknochen arbeiten sehen. Er schoss so dicht über meinen Kopf hinweg, dass ich mich ducken musste. Ich glaube, er stank auch ein bisschen.

Jetzt kommt das Komische. Je stärker der Wind blies, desto böser guckte der Drache. Als gäbe der Wind ihm Nahrung. Ich wusste ja, wie Schwester Gemeinnutz gucken konnte, ich kannte diesen Blick, kalt und glühend zugleich. So guckte sie immer, wenn sie uns im Gruppenraum beim Abendgebet musterte und nachzählte, ob alle da waren. Oder wenn sie überlegte, wer bei der Gewissenserforschung vorsprechen durfte. Oder wenn sie sich fragte, wer bei der Wahrheitserforschung in die Mitte des Stuhlkreises treten musste, damit die anderen über ihn die Wahrheit sagten, auch gemeine und hässliche Wahrheiten, die niemand über sich selber hören will. Auch die Schande. Es muss im Gruppenraum alles heraus, sagte Schwester Gemeinnutz. Alles muss ans Licht des Herrn.

Aber ich dachte in den ersten zwei Jahren auf der Insel der Verzweiflung nur daran, wie ich alles, was mich betraf, einsperren und verbergen konnte. Ich wollte nicht, dass der Herr es sieht. Weil ich nicht wollte, dass Schwester Gemeinnutz es sieht. Ich dachte, wenn ich es dem Herrn zeige, zeige ich es auch Schwester Gemeinnutz, und das wollte ich nicht. Es gab einfach keinen Weg zum Herrn, ohne dass Schwester Gemeinnutz davon erfahren hätte. Schwester Gemeinnutz war immer schon da. Ich war zehn, als ich das dachte. Und ich dachte es mindestens zwei Jahre lang.

Marko!, rief die Stimme von Schwester Gemeinnutz aus den Höhen herunter, in denen sie mümmelnd herumsegelte. Denkst du an die Gruppe? Oder denkst du nur an dich? Gemeinnutz geht vor Eigennutz!

Das war auf der Insel der Verzweiflung immer die Frage. Dachte ich an die Gruppe? Oder dachte ich nur an mich? Wir waren vierundvierzig zehnjährige Jungen, als wir auf dem Collegium Aureum anfingen. Auch später fragte ich mich oft, wieviel ich an die anderen dreiundvierzig Jungen gedacht hatte. Ob es genug gewesen war oder ob ich an ihnen nicht etwas Wichtiges versäumt hatte.

Natürlich hätte ich Tilo und Motte fragen können, ob sie fanden, dass ich an ihnen etwas versäumt hatte. Aber ich fragte sie nicht. Wahrscheinlich hätte Tilo gesagt: Mann, bist du bescheuert? Und Motte hätte gesagt: Hast du sie noch alle? Brauchst du Hilfe?

Mann, damals hätte ich Hilfe gebrauchen können. Damals hatten wir gegen alle Zweifel das Abendgebet, aber es war zu wenig, fand ich.

Jeden Abend mussten wir in den Gruppenraum kommen, und wenn alles besprochen und geregelt, wenn das bisschen Lob und die große Menge Tadel ausgeteilt waren, die unser Tag so mit sich brachte, dann beteten wir alle zusammen immer dieselben Zeilen, ein verdammter kleiner Kinderchor mit fiepsigen Stimmen und weit aufgerissenen Augen: Hab ich unrecht heut getan, sieh es, lieber Gott, nicht an. Und am Ende: Deine Gnad und Jesu Blut macht ja allen Schaden gut.

Später lernte ich, dass es machen heißen müsste. Machen allen Schaden gut. Plural. Da seht ihr, was für einer ich war. Ich kümmerte mich um so einen blöden Grammatikfehler, während mein Leben in den Abgrund rauschte und das Leben meiner Eltern gleich dazu. So ein Idiot war ich. Ein Arsch, der sich immer um die falschen Sachen kümmerte.

Plötzlich hatte der Drache sein Aussehen verändert. Schwester Gemeinnutz trug jetzt eine Brille mit blaugetönten Gläsern, ein scheußliches Ding. Sie drehte in der Luft immer noch ihre Runden, als müsste sie nie landen oder sich ausruhen, und ihre Kaninchenlippen hörten gar nicht mehr auf zu mümmeln.

 

Bevor ich von der Schädelstätte rede, muss ich noch von einer alten Erinnerung erzählen, die in letzter Zeit öfter wieder hochkam. Ich weiß nicht, ob man Erinnerungen wiedersieht. Vielleicht sind es ja die Erinnerungen, die einen wiedersehen. Ich weiß nur, dass diese Erinnerung plötzlich wieder auftauchte und mir einen schweren Nihilismus-Anfall einbrachte. Eine dunkelgraue Wolke nahm mich der Welt weg, die Geräusche verstummten, und ich stand allein da wie auf dem Mond. Das ist das Nichts, dachte ich.

Ich war neun Jahre alt, und wir machten Ferien auf Mallorca. Sonja war zwölf, Robert war vier. Das Hotel hieß Playa Dorada und lag direkt am Strand. Vome sah man den blauen Swimmingpool, dahinter das blaue Meer. Der Oberkellner war ein blonder Deutscher, der auf seinen spitzen Schuhen einen Plastikball tanzen lassen konnte. Jeden Donnerstagabend gab es Tanz am Swimmingpool. Eine Musikband kam, Los Llamados, das heißt: Die Sogenannten. Sie bauten ihren Verstärker auf, stöpselten die elektrischen Gitarren ein und spielten Beatles-Lieder. Beim Singen rollten sie das r, obwohl man bei Beatles-Liedern das r gar nicht rollen darf. Am ersten Donnerstag musste ich vor einer kleinen Rothaarigen in Deckung gehen, die mit mir tanzen wollte.

Alle fanden, wir waren eine nette Familie. Na ja, mein Vater war nicht da. Wahrscheinlich war er wegen irgendwelcher Kanzleisachen in Köln geblieben. Ich glaube, es war in diesem Sommer, als jeden Donnerstag die Sogenannten spielten. Von meiner Mutter sagten die Leute immer: eure hübsche Mutter. Meine Mutter tanzte ja auch zur Musik, sie lachte, warf das Haar zurück und ließ ihre Armreife klingeln. Manche Männer dort am Swimmingpool nannten sie Irene und wollten von ihr Jürgen, Siegfried oder Detlef genannt werden. Detlef kam aus Oberhausen.

An dem Nachmittag, den ich meine, war meine Mutter plötzlich verschwunden. Wir durften nachmittags immer durchs Hotel fegen, wie wir wollten, wenn wir dabei gut auf Robert aufpassten, wir sollten nur nicht zu viel Sonne abbekommen. Aber als wir meine Mutter wegen irgendeiner Kleinigkeit suchten, war sie nicht da. Sie war nicht am Swimmingpool, nicht im Restaurant, nicht in der Bar, nicht im Zimmer, und wir fanden sie nirgendwo, solange wir auch suchten. Da fragten wir den blonden Deutschen, den Kellner, der draußen am Swimmingpool bediente, und wir hatten das Gefühl, er wollte uns etwas Wichtiges sagen. Aber dann guckte er aufs Meer hinaus und sagte, wir sollten uns keine Sorgen machen, es käme alles wieder ins Lot.

Irgendwann am späten Nachmittag war meine Mutter wieder da. Ihr Haar war feucht und zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie wäre drüben im Hotel Playa Bianca gewesen, sagte sie, um etwas zu trinken. Das Hotel Playa Bianca lag am Ende unserer kleinen Bucht, wo Leute mit schlabberigen Hosen ihre Angelruten auswarfen und magere Katzen nach Fischresten suchten. Meine Mutter sagte, wir hätten uns keine Sorgen zu machen brauchen.

Und ich dachte: Komisch, dass alle denken, wir könnten uns Sorgen machen. Sehen wir so besorgt aus? Und ich fragte Sonja danach.

Aber Sonja guckte mich böse an und sagte: Halt die Klappe.

Wir vergaßen den Nachmittag, an dem meine Mutter nicht zu finden gewesen war und plötzlich wieder auftauchte. Beim nächsten Mal, als meine Mutter mit Detlef in der Bar des Hotels Playa Bianca etwas trinken wollte, sagte sie uns vorher Bescheid. Damit wir uns keine Sorgen zu machen brauchten. Am Donnerstag spielten dann die Sogenannten. So kam alles wieder ins Lot.

 

»Theunissen.«

Münzen rutschten durch den Schacht des alten Telefonapparats.

»Papa?«

»Marko! Da bist du ja. Ich hatte schon früher mit deinem Anruf gerechnet. Hast du Nachrichten von Robert?«

»Papa, es ist der zweite Tag. Ich meine, die haben im Juvenat ein bestimmtes Programm, da kommen hundert neue Kinder. Große Brüder sind da nicht vorgesehen …«

»Ich dachte, du hättest die Gelegenheit wahrgenommen, ihn zu besuchen.« Er klang, als läse er Notizen ab.

»Was heißt wahrgenommen? Da war nichts wahrzun–«

»Es heißt, sich kümmern, dachte ich. Sich die Mühe machen, einmal ins Juvenat hinüberzugehen, das Gespräch mit der Schwester zu suchen, wie war ihr Name noch, Sieglinde?«

»Das Gespräch mit der Schw–«

»… Schwester Sieglinde, ja, und sich bei ihr zu erkundigen, wie er die ersten Tage überstanden hat. Um dieser Schwester Sieglinde zu zeigen, dass wir da sind. Wir hatten doch darüber geredet, Marko. Du sagtest, an dir sei damals etwas versäumt worden. Ich weiß zwar nicht, was das gewesen sein könnte. Aber ich bin bereit, daraus zu lernen.«

»Papa, bitte! Das Gespräch mit der Schwester zu suchen! Ich sage dir doch, das ist nicht vorgesehen. Die sind auf der anderen Seite des Grabens, da geht man nicht einfach rüber und sagt hallo! Ihr zu zeigen, dass wir da sind? Papa, bitte! Ich bin da. Robert ist da. Aber du bist in Köln. Es war nicht meine Idee, Robert aufs Collegium zu schicken.«

»Was soll das heißen? Dass du ihn reinen Gewissens im Stich lässt?« Er blieb ruhig, mein Vater. Mein Vater war Notar. »Ich würde gern wissen, was du für ihn zu tun gedenkst.«

Ich warf fünfzig Pfennig nach, legte die Stirn gegen den verdammten Münzautomaten und schloss die Augen. Dann guckte ich nach draußen. Das alte Telefonhäuschen mit der verrottenden Holztür stand schräg gegenüber vom Waschhaus. Vormittags quollen die Dämpfe der Heißmangel aus den halbgeöffneten blinden Scheiben. Aber abends quoll da gar nichts.

»Marko? Bist du noch da?«

»Kann ich mit Mama sprechen?«

»Mama ist nicht da. Sie ist eingeladen. Es könnte spät werden.«

»Warum gehst du nicht mal mit? Dauernd ist sie eingeladen, und du hockst zu Hause.«

»Ich hocke nicht zu Hause«, sagte er.

Ich guckte zum Waschhaus hinüber und hatte Lust, mich in irgendeine leere Wanne zu legen. »Ich habe aber stark den Eindruck, dass du zu Hause hockst.«

»Dein starker Eindruck ist falsch. Ich weiß mich sinnvoll zu beschäftigen.«

»Du hast dir bestimmt Akten mit nach Hause gebracht. Du solltest auch mal zu diesen Einladungen gehen.«

»Marko. Bitte.«

»Was sind das überhaupt für Einladungen?«

»Zum Thema. Was gedenkst du für Robert zu tun?«

»Mensch, Papa, du müsstest dich … Mist, mein Geld ist gleich zu Ende.«

»Ruf morgen an, mit Nachrichten von Robert.«

»Mal sehen.«

»Er zählt auf dich.«

»Wenigstens einer, der auf mich zählt. Die Münzen sind gleich … hallo? Papa? Scheißding.« Ich gab dem Apparat eins aufs Haupt. Er steckte es ein, ohne zu zucken.

Ich marschierte zurück. Draußen guckten mich die blinden Scheiben des Waschhauses an. Am Abendhimmel war kaum etwas zu sehen, aber ich war mir sicher, irgendwo hinter den Bäumen am See lauerte eine große graue Wolke, bereit, näher zu kommen und mich in den schwärzesten Nihilismus zu hüllen.

 

»Okay, Lucien, das ist Haus Athen«, sagte ich. »Hier wohnen wir.«

Lucien schleifte seine schwere Reisetasche über den dunklen Flur und lugte in die Zimmer. Er war ein kleiner, schwarzhaariger Bursche, Lucien Gonzalez. Der Vater war Zuckerfabrikant bei Versailles und hatte es irgendwie geschafft, dass unser Schüleraustauschprogramm wieder ausgegraben wurde, damit Lucien ein Jahr auf das Collegium gehen konnte. Vielleicht war auch eine Spende geflossen. Die Franzosen schickten einen Schüler, einen einzigen, und wir schickten niemanden. Der Junge sprach ziemlich gut Deutsch, mit diesem Akzent, den Mädchen süß finden. Aber Lucien war in Ordnung, ein hübscher Gauner, der uns alle in die Tasche steckte. Das merkte ich, als er seine Gitanes aus der Jacke zog.

»He, bist du bescheuert? Hier doch nicht! Steck das weg.« Ich schob ihn in sein Zimmer. »Okay, du schläfst oben, da hast du Ruhe. Über die Hühnerleiter, siehst du?«

»Hühnerleiter?« Er lächelte sein überlegenes, wohlerzogenes Lächeln.

»So heißen die, Lucien. Schaff dir ein Vokabelheft an.«

»Ich habe ein Vokabelheft.«

»Leb dich erst mal ein. Ganz wichtig, steck dir da oben keine Gitane an. Du machst dich unglücklich. Unser Erzieher ist Bruder Hermann, der Dicke. Du hast ihn ja gesehen. Vorsicht, er schläft schlecht. Eigentlich schläft er überhaupt nicht. Achte auch auf Bruder Albertus, den mit dem roten Kopf. Und dann Bruder Gregor. Bei Bruder Gregor nur die Klappe halten und ernst gucken. So.« Ich machte mein frommes Studiergesicht. »Um vier Uhr ist Silentium, das heißt, nicht quatschen, Lucien. Nicht das Zimmer verlassen. Auf deinem Hintern hocken und arbeiten, okay? Bis zwanzig vor sieben, dann gibt’s Abendessen. Warte ab, bis du die Schädelstätte gesehen hast, die ist für einen kulinarisch orientierten Franzosen eine besondere Freude. Ach ja, abends um Punkt neun wird der Bau abgeschlossen, Haus Athen, Haus Sparta, alles. Bis zur Obersekunda rauf müssen dann alle drinnen sein und auf die Zimmer gehen. Ab neun herrscht im Haus wieder Silentium. Lass dich nach neun nicht draußen packen, Lucien, das kommt schlecht an. Du hörst doch die Glocken, oder? Schlagen jede Viertelstunde. Du hörst sie auf dem ganzen Collegiumsgelände, auch am See. Uhr vergessen, das ist keine Entschuldigung.« Ich sah mich in der alten Bude um. »Okay, Lucien. Wir sind nebenan. Tilo auch, der Große. Und Motte. Wenn du was brauchst. Aber leb dich erst mal ein.«

Womit ich meinte: Rück mir nicht auf die Pelle, alter Frenchman.

 

Das Collegium Aureum, Schule und Internat, war nicht nur humanistisch, es war auch musisch und altsprachlich und bischöflich. Besonders das letzte. Wir gingen viermal die Woche in die Kirche, das war das Minimum, und manche beteten zwischendurch noch zur Gottesmutter. Mann, im Mai nannten sie die Gottesmutter auch noch Maienkönigin, solche Sachen. Wir hatten ja Kevelaer in der Nähe, den berühmtesten Wallfahrtsort Deutschlands. Nach oben waren der Frömmigkeit keine Grenzen gesetzt. Das Collegium war wie ein katholischer Suppenwürfel, wenn man ihn ins Wasser wirft, damit er sich auflöst, merkt man erst, was da alles drin ist.

Und dann war auch klar, warum es auf der Insel der Verzweiflung keine Mädchen gab, wegen der Sünde und allem. Wenn wir gefragt wurden, warum wir auf dem Collegium waren, sagten wir: wegen der guten bischöflich-musisch-altsprachlichen Schule.

Dann wurde man manchmal gefragt: Aber das ist doch sicher sehr streng?

Und wir sagten: Geht so. Also, das war eigentlich eine Lüge, und wir hätten sie beichten müssen, wenn wir dann nicht noch mehr Ärger bekommen hätten.

Motte sah das anders. »Früher wurden die Kinder täglich geprügelt, schon mal darüber nachgedacht? Ich kann doch nicht wegen jeder Backpfeife Trauer tragen.«

»Du bist ein echter Künstler, Motte. Schiebst einfach weg, was dich beunruhigen könnte. Schon mal darüber nachgedacht?«

»Ehrlich gesagt, nein.«

»Dann tu’s mal, wie wär’s damit?«

»Keine Lust. Das bringt doch nichts.«

Und für Motte brachte es wirklich nichts. Er sagte, geht so und machte weiter. Aber immer wenn wir sagten, geht so, waren wir eigentlich zu faul, uns gegen die Erzieher zu wehren.

Das war unser Problem, wir bildeten keine gemeinsame Front. Die Erzieher hatten ihre Collegiumsordnung und ihre Collegiumsregeln und ihren Collegiumsverstand, und alles, was da nicht hineinpasste, wurde verfolgt. Uns fielen ja jede Menge Sachen ein, die man an der Collegiumsordnung verändern konnte. Aber immer, wenn jemand etwas vorschlug, kamen die Erzieher und sagten: Wenn das jeder täte. Und wenn man etwas tun wollte, was nicht in den Collegiumsregeln stand, was aber auch niemandem schadete, irgendetwas Originelles, auf das noch nie jemand gekommen war, sagten sie: Das haben wir noch nie so gemacht.

Das waren so die beiden Sprüche: Wenn das jeder täte. Und: Das haben wir noch nie so gemacht.

Wir sagten dann: Es tut aber nicht jeder. Dann überlegten die Erzieher hin und her, strengten ihren Collegiumsverstand an, wackelten mit den Köpfen und sagten am Ende: Nein, es geht nicht. Das haben wir noch nie so gemacht.

Wie ich ihn hasste, diesen Spruch. Und ich hatte keine Lust, ihn Lucien zu erklären. Dass man in Versailles oder sonst wo in der christianisierten Welt mit solchen Sprüchen durchkam, konnte ich mir einfach nicht vorstellen.

Einmal sagte ich zu Motte: »Glaubst du nicht, dass es wichtig wäre, irgendetwas zum ersten Mal zu machen? Auch wenn man noch nicht weiß, ob es gut ist oder funktioniert oder ob man es nachher nicht bereut? Hätte Lindbergh den Atlantik überflogen, wenn er sich gesagt hätte: Das haben wir noch nie so gemacht? Ich würde lieber mal etwas Neues probieren und es dann bereuen, als ständig dasselbe zu tun und nie etwas zu bereuen. Ich glaube, das bin ich meiner unsterblichen Seele schuldig.«

Motte war sich aber nicht so sicher. Er fand, die Erzieher hätten doch Erfahrung, und meistens wüssten sie sehr genau, was gut für uns ist. Deswegen waren sie doch Erzieher. Es ginge doch auch darum, Fehler zu vermeiden, die nicht wiedergutzumachen waren, sagte Motte. Wir müssten ja nicht alles toll finden. Aber das meiste wäre ziemlich durchdacht.

Das sagte er wirklich, durchdacht. Ich fragte Motte, warum er dann allen Blödsinn mitmachte, der uns einfiel, wie Rauchen oder Apfelkorn trinken oder heimlich durchs Fenster steigen, solche Sachen. Ich erwähnte noch nicht einmal die sündhaften Phantasien, die ich dauernd hatte, besonders von einem dunkelblonden Mädchen, dem ich an einem Sommertag im Weizenfeld die Bluse aufknöpfen wollte, um ihre Brüste zu streicheln und mich an sie zu drücken. Oder der ich im Winter den sandfarbenen Wollpullover hochschieben würde. Es gab ja tausend Arten, gegen die Collegiumsordnung zu verstoßen und seine unsterbliche Seele zu gefährden, in Gedanken, Worten und Werken.

Motte sagte: »Es geht eben hin und her. Mal gewinnen die Schwatten, mal gewinnen wir.«

»Und wer gewinnt ganz am Ende?«, fragte ich.

»Die Schwatten. Sie währen ewig.«

»Ich will aber, dass wir gewinnen. Für wen ist das Collegium denn da, für die Schwatten oder für uns?«

»Gute Frage.« Er guckte schräg über meinen Kopf hinweg ins Leere, wie er das immer machte, wenn er nachdachte. »Genaugenommen, für die Schwatten.«

Hier sind ein paar Dinge, die mir auf die Nerven gingen, ich habe sie euch aufgeschrieben, damit ich mich darauf beziehen kann. Also:

Blutwurst und Fettläppchen.

Abgeschlossene Türen.

Dass es keine Mädchen gab.

Der Marienmonat Mai.

Das Schweigegebot bei der Suppe.

Messdiener sein, das Weihrauchfass schwenken.

Die Kontrollgänge der Erzieher.

Dass Sonja nicht bei mir war.

Der lange Herbst.

Der lange Winter.

Die Erinnerungen an Schwester Gemeinnutz.

Die Schläge der Turmuhr zum Silentium.

Versteinerte Nussecken.

Kirchenmusik auf der Gitarre.

Die miefigen Umkleideräume in der Schwimmhalle.

Graue Sonntagshosen.

Sonntagvormittage.

Sonntagnachmittage.

Das müde Graubrot am Sonntagabend.

Ich sage euch lieber gleich, dass die Schädelstätte einer der verrufensten Orte des ganzen Collegiums war. Wenn ihr Gefängnisfilme kennt, so ungefähr ging es bei uns zu. Mittendrin saßen Bruder Hermann und Bruder Gregor und versuchten, Ordnung zu halten. Aber wenn Onni den langen Sven mit Brotkügelchen beschoss, kriegte keiner von den Schwatten etwas mit. Das war das Gute an dem riesigen Speisesaal. Wir waren vielleicht zweihundert Leute, und man fiel in der Masse nicht auf. Jede Woche gab es einen neuen Tischplan. Das Schlechte war, man konnte in der Masse auch untergehen. Einer wie Sven zum Beispiel hatte von Anfang an keine Chance. Svens Eltern waren sündhaft geschieden, und man merkte es ihm auf Schritt und Tritt an.

Einmal flog Onnis Brotkügelchen in hohem Bogen über Sven hinweg, landete bei Leo Siebenwirth auf der Brille und klebte dort fest. Siebenwirth war unser Erdkundelehrer. Onni hatte das Brotkügelchen ordentlich mit Spucke eingerieben. Als er sah, dass es bei Siebenwirth auf dem linken Brillenglas pappte, dachte er, jetzt ist er geliefert. Aber Siebenwirth schnippte das klebrige Ding einfach runter und aß weiter. Da wussten wir, dass Leo Siebenwirth nicht mehr zu helfen war. Er wusste nicht, was er in sich hineinschaufelte, und er sah nicht mehr, was ihm an der Brille klebte. Vor vielen Jahren war ihm seine Frau weggelaufen, und seitdem wohnte er bei uns im Collegium, auf einem schief getretenen Holzflur in der Nähe des Nonnentrakts. Manchmal sahen wir ihn in der Frühmesse. Abends hörten wir das Klingeln seines Schlüsselbunds auf der anderen Seite von Türen, die zum Nonnentrakt gehörten und von uns nicht geöffnet werden konnten. Er schlurfte umher wie ein Pensionär, obwohl er dafür viel zu jung war. Er gehörte zu uns und doch nicht zu uns. Ich glaube, Siebenwirth wollte nur noch seine Ruhe haben, vor allem vor den Frauen.

Jetzt zur Ernährung, dem eigentlichen Schrecken der Schädelstätte. Nach einem einzigen Blick auf den Speiseplan der Woche wüsstet ihr Bescheid. Dienstags zum Beispiel gab es Himmel und Erde, eine niederrheinische Spezialität, Blutwurst mit Kartoffeln und Apfelmus. Ihr findet sie auf meiner Liste. Die Blutwurst war eine kleine schwarze Platte. Sie war so schwarz und hart, dass kein Apfelmus der Welt ihr Herz erweicht hätte. Wenn ich sah, wie sich andere die schwarzen Stücke in den Mund schoben und kräftig zu kauen begannen, damit die Blutwurst schön zerkleinert und als schwarzer Matsch in ihrem Magen landete, wäre ich am liebsten schreiend aus dem Speisesaal gerannt. Wisst ihr noch, was Freitag ruft, als er dem alten Robinson sagen will, dass drei Kanus mit Kannibalen an der Küste ihrer einsamen Insel gelandet sind? O Herr! O Herr! O Jammer! O schlimm! Das ruft Freitag. Und dann sagt er noch: Ich sterben, wenn Ihr befehlen zu sterben, Herr.

Genauso fühlte ich mich, wenn die schwarzen Blutwurstplatten an der Küste der Schädelstätte landeten. Wie Kannibalen sprangen die Blutwurstplatten von den Tellern und bemächtigten sich unserer Tische. Sofort schwärmten sie aus, bereit, unser Leben, unsere Gesundheit, alles, was uns heilig war, mit ihrem grausamen Angriff zu bedrohen. Niemand erwartete von der Blutwurst Schonung. In höchster Not rief ich aus: O Herr! O Herr! O Jammer! O schlimm! Aber niemand erhörte mein Rufen.

Ich habe euch die übelsten Gerichte mal aufgeschrieben, damit ihr von der Schädelstätte ein Bild bekommt. Montags gab es Fettläppchen mit Mischgemüse. Die Fettläppchen hießen eigentlich Bonanza-Steaks und waren so groß wie, na ja, ein Päckchen Kaugummi. Ein bisschen breiter vielleicht, aber genauso elastisch. Die Hälfte davon war Schweinefleisch, das von den Collegiumsschweinen kam. Das Collegium Aureum hatte nämlich seinen eigenen Schweinestall, neben der Werkstatt von Jan Spans. Die andere Hälfte der Fettläppchen war reines Schweinefett. Stellt euch das Ganze paniert vor und schön braun gebraten. Das war die Tarnkappe, damit man nicht sah, wo das Fett begann. Man schnitt in das Fettläppchen und dachte, oh, das muss der Fettstreifen sein, und setzte das Messer woanders an. Aber auch da schnitt man ins Fett. Oh, so viel Fett! dachten die, die das Fettläppchen noch nicht kannten. Und dann schnitten sie links hinein und rechts hinein, dann vorne und schließlich hinten. Und überall schnitten sie in reines Fett, das sich so lang ziehen ließ wie ein großes Zeichenlineal.

Den Rest mache ich kurz. Dienstags kam die Blutwurst. Mittwochs gab’s Frikadellen. Manche sagten, sie bekamen ihre Würze durch die Küchenmädchen. Vor dem Braten nahmen die Küchenmädchen die geformte Frikadelle, legten sie sich in die Achselhöhle und drückten den Arm kurz und kräftig nach unten. Wie die Henne ihre Flügel. Donnerstags gab’s wieder Fleisch, Rind, glaube ich, jedenfalls dunkler. Es war nicht so elend wie die Fettläppchen, aber trocken, traurig und zäh, als hätten die Rinder große Langeweile gehabt und wären ohne Hoffnung auf ein Jenseits gestorben. Freitags kamen meistens Fischstäbchen, zu denen hört ihr von mir kein Wort. Manchmal gab es auch Spiegeleier mit Spinat. Ihr werdet sagen, Spiegelei mit Spinat ist nichts Aufregendes, und ich sehe das genauso wie ihr. Spiegelei mit Spinat ist überhaupt nichts Aufregendes. Aber unter widrigen Bedingungen lernt man, die einfachen Dinge zu schätzen.

Robinson Crusoe, auf der Insel der Verzweiflung, musste ja auch nehmen, was die Natur ihm gab. Seine sonstigen Aussichten waren, entweder vor Mangel zu sterben oder von wilden Tieren zerrissen zu werden. Das sagte er am Anfang immer wieder. Ständig hatte er Angst, wilde Tiere möchten kommen und ihn fressen. Solche Betrachtungen trieben ihm dann Tränen in die Augen, sagte er. Die Lappen, welche er Kleider nannte, konnte man vergessen, sie waren für ihn eine höchst unwichtige Sache. Es war ja auch keiner da, um ihn in seinen alten Lappen zu sehen. Aber in den ersten Jahren auf seiner Insel war er ein ganz einsamer Arsch, und ich vermochte sein Schicksal mit jeder Faser aufzunehmen. Die Unmöglichkeit seiner Rettung schien ihm so augenfällig, dass kein Funke von Hoffnung in seinem Innern zurückblieb.

Ich durfte nur nicht daran denken, dass Robinson Crusoe ganz am Anfang seiner Zeit ein ganzes Schiff ausgeräumt hatte. Das heißt, er war im Vorteil. Erinnert ihr euch daran? Vor der Plünderung des Schiffes hatte Robinson Crusoe nur sein Messer, den Tabak und die Tabakspfeife. Nach der Plünderung zog er mit Brot, Zwieback, Reis, Schnaps, Gouda und getrocknetem Ziegenfleisch ab. Ungefähr so betrachtete ich Spiegelei und Spinat, als Überlebender.

Und ich sprach: Du freundliches Spiegelei! Du gütiger Spinat! Zwar erfüllt mich euer Anblick nicht mit Verlangen, aber ihr kommt annähernd aus der Natur. Ihr werdet mir helfen, meine körperlichen Kräfte auf der Insel der Verzweiflung zu bewahren und meinen Verstand mit Nahrung zu versorgen, damit mich die grauen Wolken des Nihilismus nicht umhüllen. So sprach ich.

Vom Wochenendfraß auf dem Collegium Aureum will ich fast schweigen, besonders vom wortkargen Nudelsalat, der in einer absolut ungesetzlichen Schmiere ruhte. Nur das müde Graubrot muss ich noch erwähnen, dazu seinen zuverlässigen Partner, die kranke Fleischwurst. Die beiden traten immer als Paar auf. Am müdesten waren die beiden am Sonntagabend, der auch auf meiner Liste auftaucht. Blass und abgespannt und unterernährt lagen sie auf ihren Tellern, das Graubrot auf dem einen Teller, die Fleischwurst auf dem anderen Teller. Wir wussten, dass sie nicht mehr auf die Beine kommen würden, beide nicht. Sie funkten sich nur noch schwächer werdende Botschaften zu.

 

Wir wohnten in einem Dreierzimmer mit Hühnerleiter, Motte, Tilo und ich. Onni wohnte nebenan bei Ralle und Ernie. Auf der anderen Seite war jetzt Lucien.

Wenn wir aus dem Fenster guckten, sahen wir die beiden Tennisplätze. Das Collegium war sehr stolz darauf, dass es diese Tennisplätze hatte. Wisst ihr eigentlich, was die kosten, sagte der Präses. Wir wussten es nicht. Aber es machte Spaß, sich bei trockenem Wetter aus dem Fenster unserer alten Bude zu lehnen und den Spielen zuzugucken. Und auch wenn wir nachmittags etwas anderes taten, hörten wir das Tschack-tschack der Schläge, das Rutschen der Schuhe auf der krümeligen Asche, das Geräusch, wenn der Ball gegen die Netzkante klatschte, und die Scheiße-Rufe.

In unserem Zimmer standen zwei Betten, zwei unten und eins oben, das hatte Motte, weil er seine Privatsphäre braucht. Insgesamt war unser Leben ziemlich langweilig, auch wenn unsere alte Bude in Ordnung war. Draußen war nicht viel zu machen. Drinnen erst recht nicht. Das Collegium Aureum lag in der Mitte eines großen Nichts, und drum herum lagen Felder. Kühe mampften ihr Gras. Alle Mädchen, die im Umkreis von zwanzig Kilometern wohnten, hatten sich versteckt, oder die Eltern holten sie von der Straße, wenn wir in die Nähe kamen. Die Eltern waren meistens Bauern. Also, sie fuhren Kartoffeln und Rüben durch die Gegend und wollten nicht, dass ihre Töchter einen Freund haben.

Lucien erzählte mir, dass es in der Gegend von Versailles auch Bauern gab. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass sich die Versailler Bauern so aufführten wie die Collegiumsbauern oder die Bauern in der Gegend von Gleuyn und Hommersum. Einer stellte sich mal mit der Mistgabel an die Hofeinfahrt, damit wir sofort wussten, mit wem wir es zu tun hatten. Ein anderer saß oben auf seinem Traktor und ließ kurz den Motor aufdröhnen. Sie sprachen nicht viel, die niederrheinischen Bauern. Sonntags saßen sie beim Frühschoppen in der Dorfkneipe, hauten mit der flachen Hand auf den Tisch oder klopften sich gegenseitig auf die Schultern. So ungefähr. Manche hatten noch ein Plumpsklo im Freien, eine Bude aus Holz, in der ihnen im Winter der Hintern abfror. Arme Bauern.

Das Collegiumsgelände war insgesamt gar nicht so klein, aber wenn man daran dachte, dass man nicht wegkam, schrumpfte es plötzlich zu einer Insel zusammen, einer winzigen Insel der Verzweiflung im niederrheinischen Nichts direkt an der holländischen Grenze, ohne Autos, ohne Mädchen, ohne irgendetwas Neues. Auch der graue Himmel darüber war ein großes Nichts. Man konnte um den See latschen, der zum Collegium gehörte, unser altes Baggerloch, und wenn kein Fußball war, taten wir das auch. Aber der See war nur ein bisschen Wasser, das Ufer jede Menge Lehm und Gras, das war’s schon. Im Zimmer spielten wir manchmal den Magic Blues, der ging so: Wir taten so, als hörten wir gerade eine irre Musik, aber jeder eine andere, und dann summte und brummte jeder vor sich hin, als würde er seine eigene Musik machen, aber jeder eine andere. Dann wurden wir lauter. Ein starkes Gitarrensolo gab Extrapunkte. Und wer lauter war als die anderen und auch noch Drums und Piano reinbrachte, hatte gewonnen. Ein blödes Spiel. Die Unmöglichkeit meiner Rettung schien mir so augenfällig, dass kein Funke von Hoffnung in meinem Innern zurückblieb.

 

Das Collegium Aureum war das bedeutendste katholische Internat im Umkreis von zweihundertfünfzig Meilen. Der beschauliche Ort, wo das Bistum Münster seinen hoffnungsvollen theologischen Nachwuchs gewinnt. Wo sich Weltabgeschiedenheit, humanistische Bildung und tiefreligiöse Erziehung zu einer harmonischen Einheit verbinden. So ungefähr stand es im Prospekt, den interessierte Eltern in die Hand gedrückt bekamen, und so ungefähr mussten wir es den alten Tanten erzählen, die alle paar Wochen in großen Reisebussen angekarrt wurden und unser schönes Collegium besichtigten.

Aureum heißt golden, wisst ihr das, sagten die Tanten. Aus Gold, wie etwas Kostbares. Wie die menschliche Seele, die darauf wartet, von Gott veredelt zu werden. Ich dachte: So goldfarben wie die panierten Fettläppchen, die ihr nie essen werdet. Nach einer Stunde war es vorbei. Der Reisebus mit den selig lächelnden Tanten fuhr langsam am wilden Heiligen vorbei und bog dann links ab, Richtung Gleuyn.

Krampfader-Geschwader, sagte Motte, wenn er bei ihnen diskret abkassiert hatte und dem Bus hinterherwinkte.

Die Tantenführungen veredelten nicht unsere unsterblichen Seelen, aber sie brachten uns ein ordentliches Taschengeld ein. Wir trabten mit den Ladys eine Stunde übers Gelände, zeigten ihnen Haus Sparta und Haus Athen, die Sportplätze und die Turnhalle. Die meisten Tanten wollten vor allem die Kirche mit der niederrheinischen Beweinung sehen. Also zeigten wir ihnen auch die alte Kirche mit der Beweinung, und wir sorgten dafür, dass irgendjemand Orgel übte, damit die Tanten heilige Gefühle kriegten und uns noch mehr Geld gaben.

Da sagte uns der alte Jan Spans, dass er Orgel spielt. Wir konnten es kaum fassen.

Wir sagten: »Herr Spans? Sie? Wir dachten, sie reparieren nur Eisensachen und so.«

Da sagte Jan Spans: »Habe erst Maurer gelernt, dann Kesselwart umgelernt. Seit damals ist mein Gebiet Metall. Auch Orgelpfeifen sind Metall. Wenn ihr mich lasst, Jungs, dann spiele ich. Aber kein Wort! Zu niemandem!«

Und wir ließen ihn spielen, auch die langsamen Sachen. Jan Spans war ja unser Collegiums-Handwerker, der schon seit Ewigkeiten da war und alles machte. Er kümmerte sich um die Gartengeräte, die Laubharken und so. Auf die Orgelempore hätte er aber eigentlich nicht gedurft, auch nicht zum Üben. Wo gab es denn so was, einen Handwerker, der auf der Orgel übte? Also trippelte er von seiner Werkstatt über die große Collegiumsbrücke, dann über den Schulhof und zur Kirche hinüber. Im Kreuzgang guckte er sich unauffällig um, als müsste er was reparieren, und ging die Treppe zur Empore hinauf. Manchmal spielte er auch heimlich auf dem Harmonium in der Krypta. Er sagte, er hat einen Schlüssel. Schlüssel sind ja auch aus Metall.

Wie lange er das schon tat, wussten wir nicht. Vielleicht schon sehr lange. Er musste einen riesigen Vorrat alter Schlüssel haben. Der alte Jan Spans war einer, der ein Geheimnis hüten konnte, ein ganz gerissener Bursche. Und er sagte einem nie, was man tun oder lassen sollte. Er fand, die Ordnung kümmert sich um sich selbst. Geld wollte Jan Spans nie haben, nicht mal fünfzig Pfennig. Es blieb sowieso immer genug Geld übrig. Eine einzige Tantenführung brachte manchmal fünfundzwanzig Mark ein. Es war ja eine ganze Busladung voller Tanten.

Irgendwie war mir aber nicht mehr wohl dabei, wenn ich den Tanten mit ihren schwitzigen Händen und den großen braunen Handtaschen von meinem konfessionellen Internat erzählte. Ich fühlte mich ganz schön verlogen. Ich wusste nämlich selber nicht mehr, warum ich da war, und ich glaubte auch nicht an Gott. Ich war Nihilist, könnte man sagen. Die traurige Folge eines ersten Fehltritts, jenes beweinenswürdigen Irrtums, der mich aus dem väterlichen Hause getrieben hatte.

Das wollte ich gerade erzählen. Wir waren alle aus verschiedenen Gründen auf dem Collegium Aureum, aber manche von uns wussten nicht, aus welchen. Ich zum Beispiel wusste es nicht mehr. Das war aber bestimmt nicht der Grund für meine fiesen Träume von Schwester Gemeinnutz, die aussah wie ein Drache mit Kaninchenlippen. Schwester Gemeinnutz war ja schon seit drei Jahren weg. Der Grund für die fiesen Träume und das andere war, dass mein kleiner Bruder jetzt auch auf das Collegium Aureum gekommen war.

Ich weiß noch, wie ich zu meinem Vater sagte: Warum soll Robert nicht in Köln auf eine normale Schule gehen? Er ist nicht nervös, oder? Er ist auch nicht lerngestört oder verhaltensgestört, er weint nicht, wenn er seine Hausaufgaben macht. Er will Fußball spielen, zum 1. FC Köln gehen und ein normaler Junge sein. Warum muss er auf das Collegium Aureum?

Mein Vater sah mich an und sagte: Eins nach dem anderen. Meine Mutter saß dabei und hielt den Mund. In letzter Zeit hielt sie oft den Mund.

»Also«, sagte mein Vater. »Es gibt weit und breit keine bessere Schule als das Collegium Aureum. Was wäre aus dir geworden, wenn du in Köln geblieben wärst? Ich sehe dich noch in Tränen über deinen Lateinvokabeln. Deine Bleistifte, völlig zerkaut. Soviel dazu.«

Auch einer von seinen Kanzleisprüchen. Soviel dazu. Aber an die zerkauten Bleistifte erinnerte ich mich. Mann, und wie ich mich erinnerte. Ich war zehn Jahre alt und kapierte gar nichts. Mein Gastspiel auf dem Kölner Gymnasium war ein Albtraum. Ich zerkaute jeden Nachmittag zwei Stifte. Erst die Bleistifte, dann die Buntstifte. Einmal machte ich mich sogar über meinen grünen Filzstift her. Meine Zunge hättet ihr sehen sollen. Nach einem halben Jahr und sieben Großhandelspackungen Bleistifte meldete mich mein Vater auf dem Collegium Aureum an. Die fünfte Klasse musste ich wiederholen. Es fiel aber kaum auf, weil ich vorher der Jüngste gewesen war. Jetzt war ich eben der Älteste.

Auf dem Collegium nannten sie die fünfte Klasse Sexta, die sechste Klasse Quinta und die siebte Klasse Quarta. Wenn man Latein konnte, hatte das einen Sinn. Mein Vater hatte mir erklärt, wie wichtig es ist für später, Latein zu lernen, und dass fast alle Schulen heute mit Englisch anfangen, weil das Lateinische, das hatte es schwer, weil es eine tote Sprache war. Er sagte: Du solltest mit Latein anfangen und dann Englisch dazunehmen und dann Griechisch und dann weitere lebende Sprachen, unbedingt auch Französisch, eine wunderbare Sprache. Da ich dazu geboren war, das Werkzeug meines eigenen Unglücks zu sein, setzte ich allen diesen Anerbietungen keinen größeren Widerstand entgegen.

Als ich dann Latein lernte, kapierte ich, was er mit der toten Sprache gemeint hatte. Mann, war die tot. Später merkte ich, dass die ganze Erklärung mit den lebenden und toten Sprachen nicht stimmte. Es war nicht der wirkliche Grund, warum ich von zu Hause weg sollte.

»Es hat bei dir doch gut funktioniert, Marko«, sagte meine Mutter. Funktioniert. Sie sah mich an wie einen Rührmixer. »Ihr könntet zusammensein«, sagte meine Mutter, »der Große und der Kleine. Du könntest Robert helfen, sich auf dem Collegium einzuleben. Er schaut zu dir auf.«

»Was sagt Sonja dazu?«

»Sonja wird gewiss unterstützen, was das Beste für euch ist«, sagte mein Vater. »Das hat sie immer getan.« Mein Vater hatte seinen Versöhnlichkeitston eingeschaltet.

»Ich hätte das gern mit Sonja besprochen«, sagte ich wie ein Idiot. »Ich kann mir nicht denken, dass sie damit einverstanden ist.«

»Es ist beschlossen, Marko«, sagte meine Mutter. »Robert geht auf das Collegium, und Sonja weiß Bescheid. Glaub mir.«

Also glaubte ich ihr. Aber die ganzen Sommerferien dachte ich daran, dass Robert aufs Collegium musste. Wer würde da sein, um ihn gegen Menschenfresser und reißende Tiere zu schützen? Manchmal machte ich die Augen zu und sah uns beide, meinen kleinen Bruder und mich, aber in einer einzigen Figur und mit einem einzigen Kopf, der mal nach Robert aussah, dann wieder nach mir, aber so, wie ich vor fünf Jahren war. Wir waren derselbe, mein Bruder und ich. Wir trugen beide kurze Hosen.

Das war der Sommer vor dem Schuljahr, von dem ich euch erzählen will. Bevor ich nach Hassum fuhr, Margret kennenlernte und alles. Und bevor Bruder Gregor uns verließ. Das Jahr meine ich. Mein letztes Jahr auf dem Collegium Aureum.

Ihr wisst ja nicht, was so ein Jahr bedeutet. Keiner weiß das, der nicht bei uns auf dem Collegium Aureum war, morgens in der Frühmesse gestanden und die Kirchenlieder aus dem Gotteslob gehört hat. Wenn ich um halb acht in der Kirchenbank saß, umrauschten mich graue Engel mit grünen Gesichtern, vielleicht sechs oder sieben, und schnatterten alle gleichzeitig auf mich ein. Ich dachte, gleich fegen die mit ihrem Gerausche und Flügelschlagen die Gebetbücher von der Bank. Bis dahin war kein religiöser Gedanke in meinem Gemüte aufgestiegen, und ich hatte sehr wenige Begriffe in dieser Beziehung. Ich sprach zu den grauen Engeln: He! Ich komme gerade erst aus dem Bett! Wisst ihr nicht, wie das ist?!

Aber sie flatterten und schnatterten einfach weiter.

Und dazu das Gotteslob. Oh, Mann. Wir hatten das Gotteslob mit Plastikumschlag, den gab es in Grün oder Braun. Alle, die etwas für Bücher übrighaben, wollen bestimmt wissen, wie das Gotteslob aufgebaut war. Also. Das Gotteslob bestand aus verschiedenen Teilen, zuerst den Gebeten, dann den Liedern oder Songs. Auf die Gebete werde ich gleich noch zurückkommen. Die Songs waren eingeteilt in den »Stammteil« und den »Eigenteil Münster«. Der Eigenteil Münster enthielt die Songs, die im Münsterland besonders gern gesungen wurden und die zum Beispiel im Bistum Würzburg oder im Bistum Speyer nicht so gesungen wurden, darunter beliebte Weisen wie Lied 952, »Was Gott tut, das ist wohlgetan«, oder Lied 959, »Maria, wir dich grüßen«. Dieser Song war gefürchtet, weil er achtzehn Strophen hat, und wenn der Organist sich an jemandem rächen wollte, konnte er alle achtzehn Strophen erbarmungslos durchspielen. Eine meiner Lieblingsstrophen von »Maria, wir dich grüßen« war die zehnte, wo es heißt: »Gewähre Schutz den Greisen (o Maria hilf.), den Witwen und den Waisen (o Maria hilf.).« Ein besonderes Prickeln löste bei mir auch die zwölfte Strophe aus, die lautet: »Vor Teurung, Pest und Brande (o Maria hilf.) gib Schutz dem Vaterlande (o Maria hilf.).«

Zur Einteilung der Songs im Stammteil will ich hier nur sagen, dass sie dem Verlauf des Kirchenjahrs folgte, was sonst. Mit Advent fing es an, mit Pfingsten hörte es auf, das waren so die großen Abteilungen. Dann kamen Sachen wie Lob und Dank oder Vertrauen und Bitte. Mottes Lieblingssong kam aus dieser Abteilung. Es war Lied 295, »Wer nur den lieben Gott lässt walten«. Das schmetterte Motte immer mit, dass der Putz von der Kapellenwand bröckelte. Gern gesungen wurden auch Lied 257, »Großer Gott, wir loben dich«, Lied 258, »Lobe den Herren«, und Lied 265, »Nun lobet Gott im hohen Thron«.

Und was soll ich euch sagen, Leute? Diese Songs waren meine Musik, da konnte ich gar nichts machen. Als ich elf, zwölf und dreizehn war. Als ich vierzehn war. Als ich fünfzehn wurde. Robert musste sich auf etwas gefasst machen.

Mann, war ich müde in diesen Frühmessen. Vielleicht hatten mich die grauen Engel mit den grünen Gesichtern kurz aufgescheucht und wachgerüttelt, aber wenn sie wieder abgezogen waren, fühlte ich mich noch müder als vorher. Und die Hostie schmeckte so trocken wie Mehl, sie klebte am Gaumen wie nasse Pappe. Niemand macht sich darüber Gedanken, wie der alte Chip am Gaumen klebt.

Aber ich versuchte es, ich versuchte es wirklich. Ich suchte Gott. Es war nur so verdammt früh am Morgen.

Ich blinzelte mit den Augen, blätterte im Gotteslob und fand ein paar gute Sprüche.

Wir können laufen und springen. Wir danken dir. Wir können sehen und hören. Wir danken dir. Wir können spielen und lustig sein. Wir danken dir.

Das fand ich nicht schlecht. Das mit dem Laufen und Springen gab mir morgens einen richtigen Schub, und beim Spielen und Lustigsein wäre der Tag fast gerettet gewesen, wenn dieser Tag zu retten gewesen wäre.

Ich blätterte weiter.

Herr, du kennst mich, stand da. Ich bin weder ganz gut noch ganz schlecht.

Damit konnte ich etwas anfangen.

An einem einzigen Tag ändere ich mich tausendmal, wie ein Rad drehe ich mich unzählige Male.

Ja, das gefiel mir.

Meistens ging es im Gotteslob aber nicht so gut weiter, sondern mündete wieder in dieselbe alte Frömmigkeitsspur, und die war nichts für mich. Ich hielt es lieber mit dem Hamsterrad, das tausend Umdrehungen macht und selber nicht immer weiß, wo gerade oben und unten ist. Oder mit dem Kutschrad, das sich immer im Kreis dreht und keine Fragen stellen kann, weil ihm sonst schwindlig wird. Und ich dachte: Wahrscheinlich bin ich das Rad, nicht der Wagen. Es muss auch Räder geben.

Hier, Lied 567, das passt in allen Lebenslagen: »Der Herr bricht ein um Mitternacht; jetzt ist noch alles still. Wohl dem, der nun bereit sich macht und ihm begegnen will.«

Von dem Jahr rede ich. Meinem letzten Jahr auf dem Collegium.

2

Das alte Kronenbourg. Sonja lässt mich im Stich.
Gespräch über Benamukee und Tilos Kusine aus Duisburg. Bruder Gregor verhört uns. Ich lerne etwas über Vergeblichkeit.

Im Sommer vor diesem Schuljahr machten wir wieder unseren südfranzösischen Urlaub. Mein Vater hatte dieselbe Villa in der Provence gemietet wie im Vorsommer. Damit man gleich anfangen kann, sich zu erholen, sagte er. Von der Terrasse aus, über grüne Hügel hinweg, guckten wir auf das Haus des früheren Redenschreibers von Willy Brandt. Jetzt könnt ihr euch ein ungefähres Bild machen.

Frankreich, dieses schönste aller Länder, sagte mein Vater immer. Wochenlang bekam er sich nicht mehr ein vor Lob auf die Pfirsiche, den Rotwein und die Croissants. Diese Croissants! sagte er. Die macht den Franzosen keiner nach. Eigentlich nur ein bisschen Butter und Blätterteig. Aber keiner kennt das Croissant-Geheimnis außer den Franzosen. Seht ihr die Weinberge! rief er am Abend. Dort reift, was wir gerade trinken.

Aber ich trank nicht, was da gerade reifte. Ich trank überhaupt noch keinen Alkohol. Das war auch eine von diesen Sachen, die jetzt an der Reihe waren, fand ich. Es wurde allmählich Zeit, die Welt und den Reichtum ihrer Getränke kennenzulernen.

Also sagte ich zu meinem Vater: »He, ich würde abends gern mal ein Bier trinken.«

»Oho!«, sagte mein Vater. »Nicht lieber einen Wein? Sieh mal die herrlichen Reben da draußen.«

»Lieber ein Bier«, sagte ich.

»Gut«, sagte mein Vater, »da haben die Franzosen ihr Kronenbourg, das besorgen wir. Ein leichtes, bekömmliches Bier, das du nicht bereuen musst. Der Ehrgeiz der Franzosen gilt ja eher dem Wein als dem Bier. Aber auch für Leute mit Bierdurst ist in Frankreich immer gesorgt. Ein kühles bière blonde ist genau das Richtige. Wir besorgen dir das alte Kronenbourg. D’accord?

»Claro«, sagte ich.

Und wirklich besorgte mir mein Vater das alte Kronenbourg. Er trank sogar selber eins mit. Am dritten Kronenbourg-Tag standen wir auf der Terrasse und guckten jeder auf das Kronenbourg in der Hand des anderen. Wir tranken das alte Kronenbourg immer aus der Flasche. Die Abendsonne brachte das Flaschenglas zum Leuchten, als wäre eine Glühbirne darin. Ich wollte mir nur nicht vorstellen, wie er sich später an unser erstes gemeinsames Bier erinnern würde. Mein Vater erinnerte sich an alles. Sein Kopf war eine Maschine für Zahlen, Daten und die winzigsten Einzelheiten. Weißt du noch, würde er sagen, im Sommer 1976 in Südfrankreich auf der Terrasse? Das alte Kronenbourg? Und weißt du noch, wann die Kronenbourg-Brauerei gegründet wurde? Lange, lange vor der Französischen Revolution! Eine uralte französische Traditionsbrauerei.

Und ich würde sagen: Papa, bitte.

Wir kamen aber nicht dazu, jeden Abend mit unserem bière blonde auf der Terrasse zu stehen und auf die grünen Weinberge und das Haus des Redenschreibers von Willy Brandt zu schauen. Mein Vater musste seinen Urlaub für eine Woche unterbrechen und nach Köln fliegen, um in der Kanzlei nach dem Rechten zu sehen. Als er wiederkam, fuhr meine Mutter sofort zu einer Freundin nach Nizza, die Delphine hieß. Wir kannten die Freundin nicht. Ich glaube, mein Vater beklagte sich, weil er sie nicht kannte und den Namen Delphine noch nie gehört hatte. Aber meine Mutter ließ sich nicht abhalten, sie wollte unbedingt zu ihrer Freundin Delphine nach Nizza.

Die Stimmung war mäßig, wenn ich ehrlich sein soll. Alle merkten, dass wir nur mit halber Kraft Familie spielten. Das große Haus half meinen Eltern, sich aus dem Weg zu gehen. Und Sonja, der die Sachen meiner Eltern gewaltig auf die Nerven fielen, kam nur für ein paar Tage vorbei. Sie wollte noch einen wichtigen Freund in Genua besuchen, sagte sie, und dann weiter zu einer wichtigen Freundin nach Sardinien. Sie hatte ihre Gitarre mit dem Rolling-Stones-Aufkleber dabei und trug einen braunen Lederriemen um den rechten Oberarm. Ihre Blusen knöpfte sie nur halb zu. Wenn man ihr vorn hineinguckte, sah man die Brüste, richtig braun gebrannt und so. Sonja hielt nichts von BHs. Sie sagte, BHs machen unfrei.

Einmal wollte meine Mutter sie richtig anmeckern, aber Sonja sagte: »Von dir lasse ich mir gar nichts sagen. Sonst reden wir mal über dich. Okay?«

Und meine Mutter sagte nichts mehr.

Ich hätte Sonja gern länger gesehen. Ich sagte ihr: »Wie kannst du mich so im Stich lassen, Alte? Gerade jetzt?«

Und ich meinte es ernst. Irgendwie brauchte ich sie jetzt mehr als sonst. Aber Sonja gab mir nur ein paar schmatzende Küsse.

»Ich verlasse mich auf dich«, sagte sie. »Kümmere dich um Papa und den Kleinen.«

»Was ist mit Mama?«

»Die kümmert sich um sich selbst«, sagte Sonja und machte ihr böses Gesicht. Dann packte sie ihre Gitarre ein und war weg. Sie war achtzehn. Warum sollten wir ihr wichtig sein?

Aber das war noch nicht alles. Das Schlimmste war dieses kleine Nagen, egal was ich tat. Das Nagen kam von meinen Gedanken an das Collegium. Die ganze Zeit guckte ich mir Robert an und fand, dass er noch viel zu klein war, um auf das Collegium Aureum zu gehen. Er war doch gerade erst zehn geworden. Ich fand seine Arme zu dünn, seine Beine zu dünn und seine Schultern zu schmal. Wenn ich nicht gewusst hätte, wie gut er spielt, hätte ich ihn nie allein auf den Fußballplatz gelassen.