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Mami Bestseller
– 26 –

Es wird alles gut!

Zwei Kinder wollen ihren Vater zurück

Silva Werneburg

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74094-133-8

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Als der Arzt aus Regines Zimmer kam, wußte Thomas Holl, daß es geschehen würde. Er brauchte nicht zu fragen, er las die entsetzliche Gewißheit in den Zügen des alten Herrn.

Ihre Blicke trafen sich, stumm, ahnend, wissend.

Es ist nicht wahr, flüsterte eine Stimme in Thomas Holl. Es kann nicht wahr sein. Ich lasse es einfach nicht zu, daß sie mich verläßt, ich…

»Gehen Sie hinein zu ihr.« Dr. Kreutzer legte ihm eine Hand auf den Arm. »Umd machen Sie es ihr nicht schwer, Herr Holl. Denken Sie daran, daß sie endlich erlöst sein wird.«

Er senkte den Kopf, als könne er Holls Blick nicht mehr ertragen.

»Doktor«, murmelte Thomas, und die eigene Stimme schien ihm plötzlich fremd, »Doktor, können Sie denn wirklich nichts mehr für sie tun?«

Kreutzer sah auf, und wieder las Holl in seinem Blick, daß auch der ärztlichen Kunst Grenzen gesetzt waren.

»Wir haben getan, was wir konnten«, gab der Arzt leise zurück. »Gehen Sie zu Ihrer Frau. Versuchen Sie, heiter zu sein, es ihr leichtzumachen. Auch sie ist heiter…«

»Weiß sie es denn nicht?« fragte Holl gepreßt. »Mein Gott, Regine weiß es doch.«

Die Andeutung eines merkwürdig wissenden Lächelns lag um Kreutzers Mund.

»Es geht ihr gut, im Augenblick wenigstens. Sie hat keine Schmerzen und ist glücklich. Das ist eine Gnade.«

»Eine Gnade!« Holl stieß es erstickt hervor. Und während er auf Regines Tür zuging, versuchte er, zu vergessen, was geschehen würde. Es sollte nur eines zählen: Regines Lächeln, ihre Liebe zueinander. Kein Schatten sollte über ihrer letzten gemeinsamen Stunde liegen.

Leise öffnete er die Tür. Der Raum war vom Licht der Nachmittagssonne erfüllt. Das Fenster stand weit offen. Ein kaum merklicher Wind, der in den Blättern des Lindenbaumes spielte, brachte den Duft des Gartens, der Rosen mit sich.

Sie hörte seinen Schritt, öffnete die Augen und lächelte. Er stürzte auf sie zu, hob ihre Hand, diese zarte, schmale, durchsichtige Hand, und preßte sie auf seine Lippen.

Regines Lächeln vertiefte sich.

»Thomas… Thomas…« Die Worte kamen leise, aber ganz klar. »Ich muß geschlafen haben.«

»Ja, Liebes.« Seine Augen umfingen ihr Gesicht, dieses geliebte wunderbare Gesicht mit den tiefen blauvioletten Augen, dem blassen Mund, den er zart küßte.

Regine zitterte ein wenig unter seiner Berührung. Sie hob die Hand, und es schien ihr unendliche Mühe zu machen.

»Thomas… Lieber!«

Er legte seinen Kopf an ihre Schulter, schloß die Augen. Ich kann es nicht, dachte er verzweifelt. Wie kann ich heiter sein, wenn Regine von mir geht, wenn ich weiß, daß ihre Augen erlöschen, ihr Mund für immer schweigen wird, daß diese Hand, die auf meiner liegt, erkalten wird. Nie, nie mehr wird sie meinen Namen flüstern, nie mehr mir zulächeln. Nie, nie mehr! Welch ein entsetzliches, furchtbares Wort, nie…

›Machen Sie es ihr nicht schwer‹, hatte der Arzt gesagt, ›denken Sie daran, daß sie erlöst sein wird.‹

Holl hob den Kopf. Er sah Regines Blick auf sich gerichtet, fragend, unsicher.

Wie blaß sie war. Nur auf ihren Wangen brannten zwei hektisch rote Flecken.

»Thomas… du… du gehst doch nicht fort?«

»Nein, Liebes.«

Ihre Lider zuckten.

»Eben«, murmelte sie erstickt, »eben warst du so weit von mir, ich sah dich nicht mehr. Wie ein Nebel war es und…« Sie brach erschöpft ab und schloß die Augen.

Er hob sie ein wenig zu sich auf, legte den Arm um sie und bettete sie an seine Brust. »Fühlst du mich nicht, Regine? Fühlst du nicht die Wärme meines Körpers? Meine Arme, die dich halten?«

»Doch, Thomas…« Sie seufzte. »Halt mich immer so, laß mich nicht mehr los, Thomas, Lieber!«

Er preßte sein Gesicht auf ihr Haar, die weiche goldblonde Flut, die über seinen Arm rieselte. Regines Haar war es gewesen, in das er sich zuerst verliebt hatte. Plötzlich tauchte die Szene vor ihm auf: das schlanke Mädchen vor ihm auf der Straße, sein anmutiger Gang, das Leuchten des Haars.

Noch ehe er ihr Gesicht gesehen hatte, wußte er, daß dieses bezaubernde elfenhafte Geschöpf all seine Träume versinnbildlichte.

»Thomas…« Regine hob den Kopf. »Es ist kalt, so kalt.«

Sanft ließ er sie in die Kissen gleiten. »Ich bringe dir noch eine Decke.«

»Ich… ich mache dir so viel Mühe, all die Monate schon, Thomas. Wirst du mir je verzeihen?«

»Niemals.« Es sollte scherzhaft klingen, aber er spürte, daß sein Lächeln verzerrt war. »Soll ich das Fenster schließen, Regine?«

»Nein, Thomas. Laß es offen.« Ihre Augen folgten ihm, als er die Decke über sie breitete. »Hörst du die Vögel? Wie sie singen?«

»Ja, Regine.« Er strich ihr eine feuchte Locke aus der Stirn, nahm sie wieder in den Arm.

Sie lächelte, es war ein glückliches Lächeln, das ihm ins Herz schnitt.

»Nächstes Jahr, Thomas…« Regine rang nach Luft. »Nächstes Jahr… die Kästen für die Stare, wir wollten…« Sie brach ab, ihr Mund formte noch Worte, sie fand aber nicht die Kraft, sie auszusprechen.

»Du sollst dich nicht anstrengen, Liebes.«

Er legte seine Wange an die ihre, spürte die zarte seidige Haut und hielt mühsam die Tränen zurück, die ihm in die Augen stiegen. Nächstes Jahr! Was war nächstes Jahr? O mein Gott! Regine!

»Ich liebe dich«, murmelte er an ihrem Ohr, »weißt du, wie sehr ich dich liebe, Regine?«

Sie lächelte schwach.

»Auch – auch jetzt noch, Thomas? Jetzt, wo ich… wo ich so krank bin?«

Er schluckte, zeichnete behutsam die Konturen ihres Mundes nach, ehe er ihn küßte.

»Du wirst gesund werden, Liebes. Bald! Dann beginnen wir noch einmal, und alles wird sein wie früher, nur noch schöner, noch wunderbarer.«

Sie sah ihn aus geweiteten Augen an.

»Noch schöner, Thomas? O ja… wenn ich gesund bin, ja…«

Er streichelte ihr Gesicht.

»Du solltest nicht so viel sprechen, Regine. Es strengt dich zu sehr an.«

Ich rede, durchfuhr es ihn, ich rede und rede, und rede an Regine vorbei. Alles, was ich ihr sagen möchte, darf ich ihr nicht sagen, weil sie nicht wissen soll, wie spät es ist, wie spät für sie. Daß ich dir danke für alle ihre Güte, ihre Liebe, ihr Verständnis, für Michaela, das Kind, das sie mir geschenkt hat.

»Michi?« fragte Regine, als ahne sie seine Gedanken. »Wo ist Michi?«

»Im Garten, Liebes.«

Regines Augenbrauen hoben sich ein wenig.

»Ich – ich möchte sie sehen, Thomas.«

Es hatte merkwürdig geklungen, und er blickte sie rasch an. Ahnte Regine wirklich nicht, wie es um sie stand?

»Bitte, Thomas, bring mir Michi.«

Mühsam reihte sie Wort an Wort, und er sprang schuldbewußt auf, weil er in seinen Gedanken ihre Bitte völlig vergessen hatte.

»Nein, geh nicht fort, Thomas. Ruf sie… ruf sie.« Unvermittelt stand Panik in ihrem Blick.

Er trat an das Fenster. Michaela spielte mit Betty, Regines Schwester. Sie warfen sich einen Ball zu, und ihre Stimme klangen gedämpft, Michis zuweilen aufquellendes Lachen verhalten.

Er rief ihnen zu und bat sie, heraufzukommen.

»Danke«, flüsterte Regine und lächelte. »Wie sehe ich denn aus, Thomas… ich…« Ihre Augen irrten an ihm vorbei zu dem großen venezianischen Spiegel. »Michi soll nicht merken… sie soll nicht…« Wieder brach sie ab, hob beide Arme zu ihm auf. »Thomas, Michi… sie soll mich nicht… nicht sterben sehen.«

Plötzlich schluchzte sie auf, schloß die Augen und preßte die Lippen aufeinander.

Er starrte sie fassungslos an. Es schien ihm, als zerbreche ihre Gestalt in seinem Arm, als würde sie immer gewichtsloser und durchscheinender.

»Was – was sagst du da, Regine?« kam es tonlos von seinen Lippen. »Mein Gott, Regine! Du wirst nicht sterben! Wie kannst du denn das sagen! Fühlst du denn nicht, daß es dir heute viel besser geht? Selbst Dr. Kreutzer meint, daß du Fortschritte machst.«

Ohne zu überlegen, kamen die Worte über seine Lippen. Einzig besessen von dem Drang, Regines dumpfe Ahnungen zu zerstreuen, versuchte er, ihr Mut zu machen, sie aufzurichten, während ihm schien, als schnitten tausend grausame Messer in sein Herz.

»Glaubst du wirklich?« Regine hob den Blick zu ihm auf. »Glaubst du daran, Thomas?«

Er küßte ihre Hände.

»Ja, Regine, ja, ich glaube daran. Und versprich mir, daß du dir nie wieder so unsinnige Gedanken machst!«

»Mein Lieber!« Sie schmiegte ihr Gesicht in seine Hand. »Hörst du? Michi – Michi!«

Michaela und Betty traten nach kurzem Klopfen ein.

»Komm zu mir, Michi.«

Regine sagte es kaum hörbar, und das Kind, bezaubernd mit der Flut schwarzer Locken, löste sich aus der Befangenheit, mit der es an der Tür verharrt hatte, und lief auf das Bett zu.

»Mami!«

Regine versuchte die Hand auszustrecken, eine Gebärde, die ihr nicht gelang.

»Mein – mein kleines Mädchen! Was – was habt ihr denn heute gemacht?«

»Ball gespielt, Mami. Tante Betty hat dreimal gewonnen und ich sechsmal.« Michis dunkle Augen funkelten befriedigt. »Wann spielst du denn wieder mit mir, Mami?«

Holl legte den Arm um das Kind.

»Mami soll nicht so viel sprechen«, mahnte er lächelnd.

»Laß sie.« Regine versuchte sich aufzurichten. Er stützte sie ein wenig.

Hinter ihnen ging die Tür. Holl blickte sich um. Betty hatte taktvoll den Raum verlassen. Betty! Auch sie wußte es. Er merkte es an ihren Worten, ihrem Lächeln, das immer eine Spur zu leise, zu gedämpft war.

Selbst Michi mußte es gemerkt haben. Kinder besaßen einen untrüglichen Instinkt. Sie begegnete Regine mit der gleichen Behutsamkeit und Befangenheit wie alle anderen.

»Du – du hast wohl Tante Betty sehr lieb, Michi?« Regine schien sich dazu zu zwingen, normal zu sprechen und zu lächeln.

Michaela nickte eifrig.

»Ja, Mami. Aber dich hab’ ich auch sehr lieb.«

»Auch – auch jetzt, Michi, wo ich krank bin?«

Michaela lächelte. Sie war bezaubernd mit ihrem kleinen dunklen Gesicht, den riesigen, lagbewimperten Augen.

»Du wirst ja wieder gesund, Mami.«

Holl wandte sich ab. Ich ertrage es nicht mehr, dachte er. Nie würde er dieses Bild vergessen: Regine und Michi, Hand in Hand, dicht nebeneinander – das blühende und das erlöschende Leben. Regines qualvolles Bemühen, natürlich zu sein, und Michis trügerische Zuversicht.

»Weißt du, Michi, daß – daß ich…« Regine brach ab. Sie hob die Augen und warf ihm einen Blick zu, der panisch nach Hilfe rief. Dann wandte sie sich ab.

»Was ist denn, Mami?«

Regine schüttelte den Kopf. Sie griff nach Thomas’ Hand und umklammerte sie.

»Nichts, Michi.« Schon lächelte sie wieder. »Gibst du mir einen Kuß?«

Michaela hob sich auf die Zehenspitzen, legte die weichen, runden Arme um Regines Hals und küßte sie auf den Mund. Die schwarzen Locken fielen über ihre Gesichter, hüllten sie ein wie ein duftender dunkler Mantel.

Thomas schaute weg. Lieber Gott, betete er plötzlich, laß es mich durchhalten, oder laß mich mit Regine sterben.

»Warum siehst du mich so an?« fragte Michi. »Mami! Mami!«

Regine lächelte schon wieder ihr Lächeln, dieses herzzerreißende Lächeln, von dem sie nicht wußte, wie sehr es ihm Angst machte.

»Weil du… weil ich dich sehr, sehr lieb habe, Michi.« Regine ließ ihre Hand kraftlos auf die Decke sinken. »Geh wieder spielen, magst du?«

»Ja, Mami.« Trotz ihrer offensichtlichen Freude darüber zögerte Michaela. Der Blick ihrer großen Augen war fragend und merkwürdig gespannt. »Aber wenn du mich brauchst, Mami…«

Regine nickte.

»Dann… dann rufe ich dich, Michi.«

»Bestimmt, Mami?«

»Ja«, flüsterte Regine, »ja, mein Kleines.«

Holl erhob sich, strich dem Kind über das Haar und öffnete die Tür. Betty erhob sich draußen aus einem Stuhl und starrte ihn an. Ihr Gesicht wirkte bleich und eingefallen und sah Regine in diesem Moment zum Verwechseln ähnlich.

»Darf ich hinein, Thomas?«

Er nickte, gab stumm die Antwort auf ihre stumme Frage.

Michaela lief die Treppe hinunter in das Erdgeschoß, wo Alma, die Haushälterin, sie in Empfang nahm.

Betty ging auf Regines Bett zu, während Thomas Holl im Hintergrund blieb, dann zum Fenster trat und aus leeren Augen in den riesigen Garten schaute, in dem Michis rotes Kleid hinter einem Baum auftauchte. Michi! Sie würde sich später nicht mehr an diesen Tag erinnern, der ein Tag wie jeder andere für sie war. Kinder vergessen so schnell! Wie glücklich sie sind, durchfuhr es ihn.

Er hörte Bettys warme, dunkle Stimme, dazwischen Regines mühsames Flüstern, dann ein trockenes Aufschluchzen, als Betty mit abgewandtem Gesicht an ihm vorbei aus dem Raum ging.

Am Fenstersims ließ sich eine Amsel nieder, sah ihn neugierig und ohne Scheu an, ehe sie aufflog und sich zwitschernd im Geäst der Linde niederließ.

Er drehte sich um und ging mit steifen Schritten auf Regines Bett zu. Er war bestürzt über den Verfall, der sich in ihren Zügen abzeichnete.

Es schien, als habe der Abschied von Michaela und Betty ihr die letzten Kraftreserven geraubt, denn das Lächeln, das ihm galt, erstarb im Ansatz, entstellte ihr Gesicht zu einer Maske.

»Regine! Mein Liebes!«

Wieder nahm er sie in den Arm und preßte sie an sich, als vermochte seine Kraft und Wärme das entschwindende, entgleitende Leben zurückzuhalten.