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Gerd Eversberg

Theodor Storm lässt grüßen

Beobachtungen aus dem Land des Schimmelreiters

Boyens Buchverlag
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EIN BESUCH MIT FOLGEN vignette

Nach unserem ersten Besuch in der Storm-Stadt vor mehr als einem Vierteljahrhundert waren wir anschließend durch den Kreis Nordfriesland bis fast an die dänische Grenze gefahren und hatten in Seebüll das Nolde-Museum mit seinem wunderschönen Garten besichtigt. Noch nie war mir aufgefallen, wie sehr Kunst mit einer Landschaft verbunden sein kann. Das Werk Noldes öffnete sich in einer ganz neuen Dimension. Plötzlich verstand ich, warum der Maler den Himmel rot und die Kühe blau gemalt hat. Ich begriff, warum der Mann mit den wilden Haaren in die Ferne blickte und wieso die Frau mit den prallen Brüsten sich immerfort im Kreis drehen musste. Ich konnte es ja draußen selber sehen: Die unendliche Weite des Himmels, die karge flache Landschaft, die sinnlichen Farbspiele, das unergründliche Schwarz der Teiche und Tümpel in der sinkenden Abendsonne. Und überhaupt das Licht! Mitte Juni will es fast nicht mehr dunkel werden. Noch nach 23 Uhr kann man draußen Zeitung lesen, und ein helles Lichtportal zeigt uns selbst noch um Mitternacht, wo die Sonne während ihres kurzen Wegseins im Norden scheinen muss. Und nicht nur für das Werk des Malers bekam ich einen neuen Blick, plötzlich verstand ich auch einen Roman ganz anders, der mir immer wichtig war, nämlich „Deutschstunde“ von Siegfried Lenz. Ich konnte die Welt zwischen Deich und Warften nun mit Siggis Augen sehen und begriff, warum der Maler trotz Malverbots weitermalen musste, verstand den Sinn der „Ungemalten Bilder“ und der kindlichen Rettungszwänge als ganz andere „Freuden der Pflicht“.

Wenn du nun einmal einen Teil deines Lebens im Norden zubringen musst, so sagte ich mir eines Tages bei unserer Rückfahrt, so musst du dir das Land auch kulturell aneignen. Am nächsten Tag kaufte ich mir eine Gesamtausgabe der Werke Storms und las die meisten seiner Novellen und viele Gedichte während unseres nächsten Urlaubs. Die eigentümliche Verbindung eines Kulturraums mit einem literarischen Werk hatte es mir plötzlich angetan. Ich fand sie in Gedichten und Erzählungen Theodor Storms wie in keinem Werk eines Autors, mit dem ich mich bisher beschäftigt hatte.

Was war es denn, das diese Begeisterung auslöste, was nimmt mich bis heute bei der Lektüre dieser Texte in Anspruch? Was interessiert mich an den fiktiven Welten, in denen erdichtete Personen ihr kleines Leben vollenden, in denen sie lieben und hassen, hoffen und leiden, sich freuen und fürchten, in dem sich ihr Geschick oft so unerbittlich erfüllt? Warum sprechen die erfundenen Menschen aus der Vergangenheit plötzlich zu mir? Weil man solchen Menschen auch heute noch hier hoch im Norden begegnen kann, wohl weniger. Weil wir selber noch immer dasselbe hoffen, lieben und wünschen, schon eher; aber das finde ich auch in anderen literarischen Texten. Weil ich die Räume, in denen der Erzähler seine Geschichten entfaltet, noch heute erleben kann, also die Häuser, Dörfer, Städte und den sie umgebenden Kulturraum zwischen Meer, Watten, Deichen, Marsch und Geest, das ist es, was mir die Lektüre von Storm-Texten so bedeutsam erscheinen lässt. Kein anderer der großen realistischen Erzähler hat sein Werk so sehr mit persönlichen Erfahrungen seiner Heimat verwoben wie Theodor Storm. Weder bei Fontane noch bei Keller, Raabe oder Meyer findet man eine so enge und sinnstiftende Einheit von Mensch und Landschaft, von Individualität und kultureller Zugehörigkeit.

Sich mit der Vergangenheit einer Region zu beschäftigen oder heute in ihr zu leben, das sind ganz verschiedene Dinge; das sollten auch meine Frau und ich erfahren, nachdem wir uns entschlossen hatten, nach Husum zu ziehen.

Heute, da sich unsere beruflich aktive Zeit ihrem Ende zuneigt, blicke ich auf die zwanzig Jahre an der Nordseeküste mit gemischten Gefühlen. Die Begeisterung für die Landschaft ist einer stillen Melancholie gewichen, die vielleicht auch Theodor Storm im Jahre 1880 dazu bewogen haben mag, seine Heimatstadt zu verlassen und ins südlicher gelegene Hademarschen zu ziehen. Dort fand er eine etwas hüglige Landschaft vor, die ihm im Alter offenbar mehr behagte als die weite, baumlose Öde der Marschen am Meer. Aber Erfahrungen konnte ich hier sammeln, die ich nicht missen möchte. Ich habe die abweisende Landschaft und ihre verschlossene Geschichte erforscht und glaube, manches davon begriffen zu haben.

Und die Menschen? Sie haben sich im 20. Jahrhundert mit vielen Zugereisten vermischt, aber noch immer erlebt man ihre ursprüngliche Wortkargheit. Ich habe interessante Menschen kennen gelernt und zu mir selbst ein anderes Verhältnis entwickelt. Eigentlich sagt man ja den Bewohnern von Küsteregionen nach, sie seien weltoffen, weil es ihnen leicht fällt, die angestammte Heimat auf dem Seewege zu verlassen. Aber es gibt nach wie vor auch andere Charaktere, solche, wie sie bereits von Theodor Storm in seiner Novelle „Eine Halligfahrt“ beschrieben wurden: „Wenn wir jetzt auf unseren Deichen stehen, so blicken wir in die baumlose Ebene wie in eine Ewigkeit; und mit Recht sagte jene Halligbewohnerin, die von ihrem kleinen Eiland zum ersten Mal hieher kam: ‚Mein Gott, wat is de Welt doch grot; un et gifft ok noch en Holland !‘“

THEODOR STORMS SCHULZEIT vignette

Theodor Storm? Kann man da denn noch Neues finden? Über den ist doch alles gesagt.“ Solche Äußerungen hört man häufig von Besuchern des Theodor-Storm-Zentrums in Husum. Und in der Tat, Leben und Werk des Dichters von „Pole Poppenspäler“ und des „Schimmelreiter“ gehören zu den besterforschten aller Autoren des 19. Jahrhunderts. Aber obwohl man so viele Details aus dem Leben bedeutender Realisten wie Storm, Fontane und Thomas Mann kennt, bleiben die Hintergründe ihrer ersten Schreibversuche doch seltsam unscharf.

Dies stellt sich beim größten Sohn Husums nun anders dar. Das verdankt die Storm-Forschung dem Archiv in der Wasserreihe, das dem Storm-Museum angeschlossen ist. Dort bemüht sich eine Handvoll Literaturfreunde, die internationale Storm-Forschung zu koordinieren. Von Husum gehen Impulse in alle Welt aus, um Leben und Wirken des Dichters von Marsch und Geest bis in alle Details aufzuhellen. Das Interesse für derartige Informationen ist da. Man muss nur einmal die Buchhandlung in der Krämerstraße besuchen, wo eine Tradition fortgesetzt wird, die bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückreicht: Dort sind alle, wirklich alle lieferbaren Bücher von und über Theodor Storm vorrätig und darüber hinaus auch vieles, was bereits vergriffen ist. Und die hohen Auflagen der vielen Storm-Ausgaben, die fast alle belletristischen Verlage Deutschlands im Programm haben, beweisen, dass Storm heute mehr gelesen wird als zu Lebzeiten, ja dass er einer der meistgelesenen Autoren des 19. Jahrhunderts ist.

Fragen zum bedeutenden Sohn werden von Touristen überall in der „grauen Stadt am Meer“ gestellt, kommen aber auch von auswärts. Sie alle landen schließlich im Storm-Archiv, von wo aus sie nach bestem Wissen geduldig beantwortet werden. Darunter sind viele Anfragen von Wissenschaftlern, von professionellen Büchermachern, von Verlagen und anderen Kulturinstitutionen, aber auch von interessierten Laien. Erstaunlich, dass es dort überhaupt noch etwas zu erforschen gibt. Gerade da, wo man meint, alles schon gefunden zu haben, ergeben sich die größten Überraschungen. Anfang der neunziger Jahre wurden vier Gedichtveröffentlichungen Storms im „Husumer Wochenblatt“ entdeckt, die der Pennäler während seiner Schulzeit zum Druck gebracht hat. Dies war der Storm-Forschung bisher unbekannt geblieben.

Wenn man da genauer nachschaut, wo es sich scheinbar überhaupt nicht lohnt, kann man Erstaunliches entdecken; so konnte vor einigen Jahren ein bisher unbekannter Erzähltext identifiziert werden, eine Jahrmarkt-Schilderung, die der damals 17jährige Schüler 1835 im „Ditmarser und Eiderstedter Boten“ veröffentlicht hat, einem Wochenblatt, das im nahen Städtchen Friedrichstadt erschien, und in dem zur selben Zeit Friedrich Hebbel aus Wesselburen seine ersten Gedichte zum Druck brachte.

Aber auch regionale Archive enthalten viel versprechende Hinweise. An der Hermann-Tast-Schule, einem der beiden Gymnasien der Stadt Husum, gibt es noch heute die Bibliothek der alten Gelehrtenschule, die seit 1763 besteht und mehr als 25.000 Bände umfasst. Storm hat sie bereits als Schüler benutzt und entlieh auch später immer wieder Bücher, die er für Recherchen zu seinen Novellen brauchte. Zuletzt noch mehrere Werke bei der Niederschrift des „Schimmelreiter“, der 1888 im Todesjahr des Dichters herauskam.

Was dort kürzlich zu Tage trat, ist in der Tat erstaunlich. Storm wurde zum Schreiben durch den Unterricht in der Schule angeregt; seine ersten Gedichte und auch seine ersten Prosatexte sind nichts anderes als Fortsetzungen seiner Hausaufgaben. Dies ist umso überraschender, als es eine dogmatische Meinung über Storms Schulzeit gibt, die man in allen Biographien nachlesen kann: Storms Schule sei schlecht gewesen, seine Ausbildung veraltet, die Lehrer verknöchert, die klassische Bildung sei völlig an ihm vorbeigegangen; so hat es Gertrud, die jüngste Tochter des Dichters, schon 1912 in der Biographie ihres Vaters behauptet, so kann man es seit hundert Jahren in allen einschlägigen Darstellungen nachlesen.

Dies erwies sich aber als völlig falsch; Storms literarische Sozialisation hat in der Husumer Gelehrtenschule begonnen und wurde während der eineinhalb Jahre am Lübecker Katharineum nur vollendet, wo der Primaner die zeitgenössische Literatur für sich entdeckte. Das eigentliche Schreiben aber hat der junge Storm in der Schule gelernt. Hier hatte er vor allem Sprachunterricht: Die Schüler büffelten in zwei Dritteln ihrer Schulstunden Latein, Griechisch, Französisch, Dänisch und Deutsch.

Und der Unterricht war, wie die Schulprogramme und die alten Buchbestände belegen, recht modern ausgerichtet. Denn Storm und seine Kameraden mussten das tun, was heutige Deutschlehrer als große Errungenschaft moderner Pädagogik anpreisen, sie mussten „kreativ und produktiv“ schreiben. So verlangten die Lehrer von den Sekundanern und Primanern, dass sie Texte der Klassiker aus dem Griechischen und aus dem Lateinischen nicht nur übersetzten, sondern sie mussten auch eigene Texte schreiben, in denen sie die antiken Vorbilder nachzuahmen hatten. Damit standen die Schüler in der Tradition der imitierenden Poesie des 18. Jahrhunderts und produzierten ähnliche Texte, wie sie in ihrer Schulbibliothek standen, in den Ausgaben von Lessing, Klopstock, Voss, Ramler, Schiller, Goethe, Hölderlin und anderen, die sie neben den Klassikern in ihren Originalsprachen häufig nach Hause entliehen.

Storm und seine Freunde ahmten diese Vorbilder nach; sie schrieben Versepisteln in der Sprache Homers, dichteten Elegien mit dem Pathos Hesiods, gaben Äsopischen Fabeln nach Phädrus lyrische Gestalt und imitierten die Oden des Horaz; das Ganze im Kontext ausführlicher Textanalysen und intensiver Beschäftigung mit den Prinzipien klassischer Rhetorik, Poetik und Verslehre. Von den rund hundert Gedichten, die Storm als Schüler geschrieben hat – sie werden als Handschriften im Storm-Archiv aufbewahrt –, sind etwa ein Drittel durch den Unterricht angeregt worden. Ein weiteres Drittel steht in der Tradition der damaligen Wochenblatt-Poesie, die einem verspäteten Rokoko frönte, und der Rest sind Natur- und Liebesgedichte, darunter einige, die von der Lektüre Heinrich Heines „Buch der Lieder“ beeinflusst wurden.

Die Biographie des jungen Storm muss neu geschrieben werden; es war gerade die Schule in Husum, die dem angehenden Poeten wichtige Anregungen vermittelt hat. Neben den Übersetzungen und den Nachdichtungen antiker Formen wurde natürlich auch die griechische und lateinische Klassik erarbeitet und so ein Kanon antiker Tugenden entwickelt, der das Weltbild Storms nachhaltig geprägt hat. Aus dieser Quelle entsprang seine republikanische Kritik an den reaktionären Machtansprüchen von Adel und Kirche, die er später als „Gift in den Adern der deutschen Nation“ charakterisiert hat. Seine solide humanistische Bildung hat bis in die späte Novellistik gesellschaftskritische Spuren hinterlassen.

Auch die skandinavische Literatur spielte für die Entwicklung Storms, der 1817 im Herzogtum Schleswig auf dem Territorium des Königreichs Dänemark zur Welt gekommen war, eine größere Rolle, als es nationalistische Germanisten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wahrhaben wollten. Storm genoss wöchentlich mehrere Stunden Dänischunterricht und konnte zeitgenössische Texte in der Originalsprache lesen; das gehörte zur Grundbildung eines Gelehrtenschülers oder Gymnasiasten im Dänischen Gesamtstaat, zu dem das Herzogtum Schleswig bis 1864 gehörte.

Nachdem der angehende Dichter sich im Frühjahr 1837 an der Kieler Universität immatrikuliert hatte, um Jura zu studieren, setzte er seine poetischen Versuche aus der Schulzeit fort. Nun gewann er in engem Kontakt mit seinem Studienfreund Theodor Mommsen Distanz zu seinen ersten poetischen Versuchen und konnte im kritischen Umfeld der Kommilitonen seinen Interessen für volkskundliche Themen frönen. Man sammelte Sagen, Märchen, Lieder und Sprichwörter aus Schleswig-Holstein, und Storm nutzte jede Gelegenheit, seine Möglichkeiten im Umgang mit der deutschen Sprache weiter zu entwickeln. Er erprobte sich an verschiedenen Textsorten und fand in der Lyrik allmählich einen eigenen Ton, indem er Naturerfahrungen und Liebeserlebnisse poetisch verarbeitete. Die sprachliche Grundlage für seine spätere Meisterschaft aber hatte er bereits ein Jahrzehnt früher erworben, als er in Husum an der Gelehrtenschule gar nicht so ungern die Aufgaben löste, die ihm seine Lehrer verordnet hatten.

WOCHENBLATTPOESIE vignette

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lasen die Husumer ihr „Wochenblatt“, einen jener Vorläufer unserer Tageszeitungen, die in allen kleineren oder größeren Städten der Herzogtümer Schleswig und Holstein regelmäßig erschienen. In Husum erhielt der Buchdrucker Heinrich August Meyler 1811 ein Druckerei-Privileg und gab das „Königlich privilegirte Wochenblatt“ seit 1813 heraus. Diese Blätter waren in der Regel auf einem Bogen gedruckt, hatten einen Umfang von 8 Seiten und enthielten neben amtlichen Bekanntgaben vor allem Kleinanzeigen der regionalen Wirtschaft. Daneben wurden auch Nachrichten aus den Herzogtümern, aus Dänemark und der Welt gedruckt sowie Anekdoten und kurze Erzählungen. Die regelmäßigen lyrischen Beigaben setzten eine populäre Mode des 18. Jahrhunderts fort und stehen mit ihren Themen wie Liebe, Geselligkeit, Wein, Gesang und Tanz in der Nachfolge der Anakreontik, einer sich an antiken Vorbildern orientierenden Dichtungstradition der Barockzeit. Sie verweisen auf ein sorgenfreies Leben, lassen allerdings auch einen eher scherzhaften Gedanken an den Tod zu. Solche Gedichte standen noch um 1830 hoch in der Gunst der Leser; manche enthalten ritualisierte Anspielungen auf nur Eingeweihten bekannte Persönlichkeiten, ohne aber wirklich individualisierte Empfindungen zum Ausdruck zu bringen. Ihre Funktion besteht allein in der Beschwörung eines längst im Niedergang befindlichen Geselligkeitskultes. Man findet da Gedichte zu den Jahreszeiten, Widmungen an allerhöchste Persönlichkeiten aber auch Erbauliches. In den späten zwanziger Jahren und vor allem nach 1830 kamen Rätselgedichte zum Abdruck, durch die das Publikum zum Mitmachen angeregt wurde.

Im Wochenblatt las auch der junge Theodor Storm solche lyrischen Ergüsse, die ihn zur Nachahmung anregten. Seine ersten Gedichthandschriften datieren von 1833; in den beiden folgenden Jahren hat er eine ganze Reihe von kleinen Dichtungen verfasst, bei denen er sich an Vorbildern im „Husumer Wochenblatt“ orientierte. Hier fand er Gereimtes von Christian Ulrich Beccau (1809-1867), einem jungen Advokaten in Husum, der auch Schüler der Gelehrtenschule war. Beccaus Gedichte erschienen 1836 im Verlag des Husumer Wochenblattes sogar als Buch. In den 1840er Jahren entwickelte sich zwischen den beiden Juristen eine enge Freundschaft.

Aber auch an anderen Vorbildern orientierte sich der angehende Poet, so an Henriette Freese, deren Texte in schleswig-holsteinischen Wochenblättern veröffentlicht wurden. Sie war 1801 auf Gut Dollroth in Angeln bei Schleswig geboren, lebte in Hamburg und Altona, wo sie sich in den 1820er Jahren als Schriftstellerin betätigte und mit Amalie Schoppe bekannt war, einer erfolgreichen Autorin aus Hamburg, die den jungen Friedrich Hebbel förderte. Nach ihrer Verheiratung mit dem Zahnarzt Friedrich Neupert in Schleswig (1830) veröffentlichte sie unter ihrem Mädchennamen Gedichte und Erzählungen in schleswig-holsteinischen Zeitschriften. Storm hat Texte von ihr und von ihrem Mann, der ebenfalls dichtete, im „Husumer Wochenblatt“ gelesen; 1833 veröffentlichten die beiden hier sechs Poeme und einige Aphorismen, 1834 zwei Erzählungen und vier Rätselgedichte. Henriette Freese starb 1855 in Schleswig.

Ihre Gedichte müssen einen nachhaltigen Eindruck auf den jungen Storm gemacht haben, denn in seiner Sammelhandschrift findet sich folgendes Widmungsgedicht, das er Anfang des Jahres 1834 eingetragen und „An Henriette Freese bei Übersendung eines Lorbeerzweigs“ überschrieben hat. Darin heißt es: „Nimm hin, o Dichterin, berühmt in Deutschlands Gauen,/ Nimm hin den Musenlohn, bekränze dir das Haupt!“

Die erhaltenen Gedichte aus dieser Zeit zeigen, dass Storm mit allen gängigen Formen und Versmaßen experimentierte; so enthält seine Handschrift Beispiele für alle damals beliebten Rätselgedichttypen, aber auch Paraphrasen von antiken Texten, in denen er verschiedene klassische Versmaße nachahmte. Bis Ende 1835 hat Storm 42 Gedichte in sein Büchlein „Meine Gedichte“ eingetragen; etwa ein Drittel davon lassen Einflüsse des Unterrichts an der Husumer Gelehrtenschule erkennen, die übrigen sind Rätselgedichte und Liebeständeleien, die der Wochenblattpoesie nachempfunden wurden.

Am 27. Juli 1834 erschien im „Husumer Wochenblatt“ „Sängers Abendlied“, bei dem es sich nach dem heutigen Stand der Forschung um das erste gedruckte Gedicht des damals sechzehn Jahre alten Schülers handelt. Dieses und weitere Gedichte hat er mit dem Kürzel „St“ versehen, wohl weil sein Vater regelmäßig Anzeigen schaltete, die im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Advokat und Koogschreiber der Südermarsch standen und sein noch nicht erwachsener Sohn als Poet die Anonymität zu wahren hatte.

Sängers Abendlied

Meiner Leier frohe Töne schweigen

Bald in stille Todesnacht gehüllt;

Dort, wo sich die Zweige trauernd neigen,

Find ich Ruh’; mein Sehnen ist gestillt.

Wenn des Lebens zarte Fäden reißen,

Streut Zypressen auf des Sängers Grab,

Singt noch einmal mir die alten Weisen,

Senkt mir meine Leier mit hinab.

Dort entfliehen eitle Erdensorgen,

Unsre Seele strebt dem Höhern nach. –

Sieh’ es dämmert schon im Ost der Morgen,

Doch mein Morgen ist erst jenseit wach.

Dieses Lied ist – wie viele andere Gedichte in den Wochenblättern auch – an der Lyrik des späten 18. Jahrhunderts orientiert, und imitiert die Literatur des Rokoko. Natürlich schrieb Storm auch eine Reihe von Liebesgedichten, darunter mehrere, die vielleicht fiktiven, vielleicht auch wirklichen Geliebten gewidmet waren. Dass der Dichter zu diesem Zeitpunkt bereits versuchte, seine jugendliche Verliebtheit in konventionellen literarischen Gesellschaftsspielen zu überhöhen, zeigen weitere Spuren im „Husumer Wochenblatt“. Im „Briefkasten“, einer das Heft mit dem Impressum abschließenden Spalte mit oft nur für den entsprechenden Einsender von Gedichten und Erzählungen verständlichen Nachrichten, findet sich im Mai 1835 folgender Hinweis: „‚Der Entfernten‘ soll nächstens das volle Herz des Sängers zu Füßen gelegt werden.“ Das Gedicht selber hat der Buchdrucker Heinrich August Meyler aber erst 1836 veröffentlicht. Da befand sich Storm bereits in Lübeck und besuchte die Prima des dortigen Katharineums. Die erste Strophe lautet: „Eilende Winde/ Wieget euch linde/ Säuselt mein Liedchen der Lieblichen vor;/ Vögelein singet,/ Vögelein bringet/ Töne der Lust an ihr lauschendes Ohr.“

Schon im Jahrgang 1835 des Blattes finden sich zwei Rätselgedichte Storms, und zwar Scharaden, also Silbenrätsel, bei dem das zu erratende Wort in mehrere, für sich selbständige sinnvolle Silben zerlegt wird. Der Sinn der einzelnen Silben und des ganzen Wortes wird durch Umschreibungen angedeutet. Und am 26. Juli 1835 folgte ein Silbenrätsel, das an eine „Auguste“ gerichtet und mit „Theodor“ unterschrieben ist: „Wie mancher fühlt‘ als Dich er sah/ Das Erste schon dem Zweiten nah‘,/ So sehr bei minderer Gefahr/ Er von Natur das Ganze war.“

Charaden sind Rätsel in Gedichtform; gesucht ist ein Wort, das aus mehreren Silben besteht. Das Gesuchte ist derart verschlüsselt, dass die Auflösung zwar Scharfsinn und ein gewisses Sachwissen erfordert, aber grundsätzlich möglich ist. Die Verschlüsselungen beruhen oft auf einer semantischen Mehrdeutigkeit oder Paradoxie. Im 18. Jahrhundert wurde das Rätsel vor allem Gegenstand der Kinderliteratur, gewann aber dann noch einmal im frühen 19. Jahrhundert eine gesellschaftliche Funktion wie unser Beispiel aus Husum. Die Lösung dieser Charade lautet „Herzhaft“, wie das Wochenblatt seinen Lesern eine Woche später mitteilte.

Da weder im Freundeskreis noch im „Husumer Wochenblatt“ der Name Theodor noch einmal vorkommt, ist die Autorschaft Storms sehr wahrscheinlich, denn es war üblich, derartige spielerische Tändeleien mit den Vornamen der beteiligten Personen zu zeichnen, um eine gewisse Pikanterie im Freundes- und Bekanntenkreis zu erzeugen. Wer mit „Auguste“ gemeint war, wussten nur Eingeweihte. Vermutlich handelte es sich um Auguste von Krogh, die Tochter des Husumer Amtmanns, zu deren Familie die Storms eine sehr herzliche Beziehung hatten.

Hans Ernst Godsche von Krogh war seit 1826 Amtmann der Ämter Husum und Bredstedt mit Sitz in Husum sowie Oberstaller von Eiderstedt. Aus seiner Ehe mit Agnes von Warnstedt – sie starb 1829 – waren vier Kinder hervorgegangen. Ferdinand Christian Hermann von Krogh (geboren 1815) war Mitschüler Storms an der Gelehrtenschule; Auguste (geboren 1811) war die älteste von drei Schwestern (Louise, geb. 1819 und Charlotte, geb. 1827). Zu Auguste muss der junge Theodor Storm eine tiefe Zuneigung empfunden haben. Die Freundschaft mit den Kindern der Familie von Krogh setzte Storm auch nach seinem Studium in Kiel fort; in den 1840er Jahren organisierte die Jugend der beiden Familien gesellige Veranstaltungen, und man traf sich in Storms Gesangverein.

Ob Storm sich später, als er 1870 seine autobiographische Skizze „Der Amtschirurgus – Heimkehr“ für die „Zerstreuten Kapitel“ konzipierte, an diese Auguste erinnert hat, muss Vermutung bleiben, jedenfalls beschreibt er seinen eigenen Auftritt bei den alljährlich Ende September zu Michaelis stattfindenden Redefeierlichkeiten der Husumer Lateinschüler und erzählt dort von einer ganz persönlichen Wahrnehmung: „unter den Zuhörerinnen hatte ich ein Paar wohlbekannte vergißmeinnichtblaue Augen entdeckt, die mit dem Ausdruck zarter Fürsorge auf mich gerichtet waren.“

Neun Jahre später, am 5. Mai 1844, heiratete „Guste“, wie sie im Freundeskreis genannt wurde, den zweiten Stadtsekretär von Altona, Johann Christian Hilmers. Anlässlich dieser Hochzeit widmete Storm, der zu diesem Zeitpunkt bereits mit Constanze Esmarch verlobt war, ihr das Gedicht „An Auguste von Krogh“, in dem es heißt: „Doch darfst du nicht so leicht von hinnen gehen,/ So leicht erwerben nicht dein neues Glück;/ Den Himmel mußt du erst durch Tränen sehen;/ denn viele Liebe läßt du hier zurück.“

Allerdings war Auguste von Krogh sechs Jahre älter als Storm und wird im Jahre 1835 die Zuneigung des noch nicht achtzehnjährigen Primaners kaum erwidert haben. Denkbar als Adressatin ist daher auch ein anderes Mädchen gleichen Namens, nämlich Auguste Hedwig Rehder, die Tochter des Kaufmanns, Ratsherren und Abgeordneten der Schleswigschen Ständeversammlung, Peter Heinrich Rehder. Auch dieses Mädchen gehörte zu Storms Bekanntenkreis, ihr Vater war mit Storms Vater befreundet und ihr Bruder Franz Heinrich Simon besuchte die Husumer Gelehrtenschule. Welche nun von den Husumer Mädchen oder Frauen dieser Zeit gemeint war, wird wohl für immer ein Rätsel bleiben.

DER GRIEPER vignette

Husum hat einen Marktplatz, den Kenner für einen der schönsten Plätze im nördlichen Deutschland halten. Seit vielen Jahrhunderten schon findet auf ihm donnerstags der Wochenmarkt statt, und Theodor Storm hat diese Tradition seinen Lesern in mehreren Novellen lebendig vor Augen gestellt. In einem seiner frühen Schwänke aus dem Jahr 1845, „Der Grieper und sein Herr“, erzählt er uns von so einem Donnerstag, an dem die Marktordnung bestimmte, dass auf dem Wochenmarkt bis 11