Olivia Seger

ALLES ODER
NICHTS

PROLOG

Die Dunkelheit der Nacht hatte sich wie ein schützender Mantel um die Welt gelegt und der Mond thronte einer riesigen, reifen Zitronenscheibe gleich über dem tief schwarzen, kleinen See. Lediglich ein schmaler, hell erleuchteter, etwas unförmiger Streifen ließ sich auf der Oberfläche erkennen. Es sah so aus, als habe die riesige Frucht am Himmel ein paar Tropfen ihres Saftes verloren und das Gewässer hatte sie aufgefangen. Das zierliche Mädchen, das durch den dunklen Wald schritt, hielt kurz inne um der Erhabenheit dieses Momentes volle Aufmerksamkeit zu zollen. In dieser Stille schien die Vergangenheit nur eine vage Erinnerung zu sein und die Zukunft noch nicht greifbar. Einzig das immerwährende Jetzt war in seiner ganzen Herrlichkeit klar und deutlich präsent. Ein lauer Wind wehte vom See her landeinwärts und kühlte die schwüle, angestaute Luft etwas ab. Sanft liebkoste er die zarte Haut ihres feinen Gesichtes und umspielte ihre langen Haare. Sie hätte noch stundenlang so verharren können. Doch plötzlich durchdrang ein unheimliches Knacken die Stille, das ihr trotz der warmen Temperaturen einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließ und sie unbewusst dazu drängte, weiterzugehen. Instinktiv zog sie ihren extravaganten Frack wie zum Schutz enger um ihren Körper und setzte sich wieder in Bewegung. Doch obwohl sie normalerweise einen beschwingten Gang hatte, schien sie in diesem Moment nicht vom Fleck zu kommen. Der Regen der vergangenen Tage hatte das Terrain an dieser Stelle so stark aufgeweicht, dass ihre schweren Stiefel bei jedem Schritt ein Vakuum bildeten und ein schnelles Vorankommen unmöglich machte. Aufgrund der Gefahr, die in der Dunkelheit lauerte, beschlich sie ein ungutes Gefühl. Obwohl sie nichts sehen konnte, spürte sie, dass sie beobachtet wurde. Sie zwang sich selbst, Ruhe zu bewahren und ihr Augenmerk nur auf das Schöne und Wahre zu richten, wie sie es bereits die meiste Zeit ihres Lebens getan hatte, wenn ihr die Kontrolle über ihre Empfindungen zu entgleiten drohte. So blieb ihr Blick an der mächtigen Trauerweide, die am Rande des Teiches stand, hängen. Einige vereinzelte Zweige der großen Pflanze ragten bis ins Wasser und der leichte Wellengang schaukelte die feinen Äste so zärtlich hin und her wie eine Mutter ihr Kind, wenn sie es in den Schlaf wiegte. Doch trotz dieser verletzlich anmutenden Szene, strahlte das gewaltige Sinnbild des Lebens eine solch majestätische Erhabenheit aus, dass die restlichen Bäume, die sich links und rechts dem Gestade entlang vorfanden, ziemlich unscheinbar wirkten. Dieses Schauspiel löste eine solch tiefe Zuversicht in ihr aus, die jegliche Furcht mit einem Mal vertrieb. Ihre Muskeln entspannten sich und auch das Terrain unter ihren Füssen wurde wieder fester. Eine verspätete Ente tauchte im Mondlicht auf und verschwand schnatternd im Schutz der sich, vom Wind vor und zurückneigenden Schilfrohre, die sich am Ufer entlang ausgebreitet hatten. Es erweckte den Anschein, als hätte das Universum eine feine Melodie erklingen lassen, nach der sich die ganze Natur im Einklang bewegte. Ohne weitere Anstrengung erreichte das Mädchen den mächtigen Baum innerhalb weniger Minuten, setzte sich hin und lehnte ihre filigrane Gestalt daran, ohne sich der harmonischen Darbietung zu entziehen. Ein Rascheln wurde hörbar. Ein Stein löste sich und rollte den Abhang hinunter. Am Fuße der Böschung traf er mit einem solch, durch die Lautlosigkeit der Nacht verstärkt, ohrenbetäubenden Knall auf einen etwas größeren seiner Artgenossen, dass sie zusammenzuckte und gerade noch mitbekam wie er in die Dunkelheit hinauskatapultiert wurde. Er tanzte über die Oberfläche und berührte nur leicht und beinahe unmerklich das kühle Nass, ehe er sich wieder in die Lüfte abhob, um schlussendlich für immer in der Dunkelheit zu verschwinden. Im selben Augenblick zeigte sich ein Stern am Himmel. Der Stein hatte seine Gestalt getauscht. Gleich einem Menschen, der nach seinem Tod die menschliche Hülle ablegte. Der Wind drehte und der leicht modrige Duft von feuchter Erde und Pilzen lag in der Luft. Nur ab und an schwang ein leichter Hauch von Verwesung mit. Wobei nicht genau ersichtlich war, ob dieser Geruch von dem nassen Boden herrührte, oder doch eher von den verrottenden Überresten des kleinen Ruderbootes, das auf der gegenüberliegenden Seite der Bucht an einem eingestürzten Steg lehnte und sie im Nu in ihre Kindheit zurückversetzte. Sie erinnerte sich, wie sie als sechsjähriges Mädchen zusammen mit ihrem älteren Bruder und dessen besten Freund oft hierhergekommen waren. Sie hatten sich in das hölzerne Boot gesetzt und waren auf den See hinaus gerudert, obwohl sie nicht wussten, wem es gehörte. Diese kleinen Abenteuerreisen vermittelten ihnen ein unbeschreibliches Gefühl der Freiheit und der Wagnis. Doch seit diesen Tagen waren gute zwölf Jahre vergangen. Sie war längst nicht mehr dieselbe und auch die Gestalt des kleinen Schiffchens ließ nur noch erahnen, wie es einmal ausgesehen haben musste. Der Zahn der Zeit hatte erheblich daran genagt, was zur Folge hatte, dass nur noch der Bug aus dem Wasser ragte. Mittlerweile glich es einem Ertrinkenden, der händeringend nach Halt suchte. Dieses Bild rief den Gedanken an die unabwendbare Vergänglichkeit hervor. Unweigerlich zwang sich ihr dieser ungeliebte melancholische Beigeschmack auf und ihr wurde wieder bewusst, wieso sie sich dieser Stelle seit damals nicht mehr allzu oft ausgesetzt hatte. Auf unerklärliche Weise vermochte dieser Platz es, ihre innersten und verborgensten Gefühle zu offenbaren, was sie auch jetzt wieder in Angst und Schrecken versetzte. Sie fragte sich, wieso sie ausgerechnet heute hierher kommen musste. Doch ehe sich Panik in ihr breit machen konnte, entdeckte sie die winzige Sonnenblume, die einige Meter von dem eingefallenen Kahn entfernt im Sand stand. Die Hässlichkeit des Vergänglichen schien sich im Glanz des neuen Lebens aufzulösen, denn allein durch ihr Vorhandensein bezeugte die Blume nicht nur den Neubeginn, sondern auch die tröstliche Wirkung der Schönheit. Sie fühlte sich zutiefst mit diesem kleinen Gewächs verbunden, da sie es als ihre Pflicht erachtete, ihre Grazie als Mitgift in die Welt bringen zu müssen. Angesichts der vielen abstoßenden Dinge, die sich tagtäglich abspielten, war sie sich jedoch mitunter nicht mehr bewusst, wieso ihr dies ein solches Anliegen war, da es ja offensichtlich einem Tropfen auf den heißen Stein gleichkam. Aber genau der Anblick dieser Blume und der damit einhergehende aufmunternde Gemütszustand zeigten es ihr deutlich und vermochten, alle Zweifel hinwegzufegen. Niemals hatte sie sich mehr eins mit dem Universum gefühlt, wie in diesem Augenblick. Ein erneutes Knacken gefolgt von einem leisen Rascheln war zu vernehmen und rissen sie aus ihren Gedanken. Obwohl sie etwas erschauderte, verspürte sie keinerlei Angst, sondern amüsierte sich an diesem Nervenkitzel, der ihr dasselbe befreiende Gefühl am Leben zu sein vermittelte wie damals in ihrer Kindheit. So unliebsam ihr dieser Ort auf der einen Seite war, gab es keinen vergleichbaren an dem man sich mehr hätte gruseln können. Das Rascheln wurde lauter. Kam auf sie zu. Ihr Herz pochte noch schneller und lauter und es erweckte den Anschein, als wollte es sich aus ihrer Brust befreien. Sie wagte nicht, sich zu bewegen und genoss es, sich zu fürchten. Letztendlich gab es keine wirkliche Gefahr, sondern nur ihre eigene Phantasie, die diese Reaktion auslöste und sie hatte jederzeit die Möglichkeit, die Show zu beenden. Es überstieg ihren Verstand, dass manche Menschen sich vor etwas ängstigten, das sie, was auf der Hand lag, nur in ihrem Kopf erschaffen hatten. Es schien, als hätten sie vergessen, dass es nur ein Spiel war. Andererseits war es für diese Leute wohl auch schwer nachvollziehbar, weshalb man sich vor seinen eigenen Gefühlen fürchten konnte. Es gab einen Grund, doch daran wollte sie jetzt nicht denken. Schritte wurden hörbar. Ihr angeborener Selbsterhaltungstrieb meldete sich und hielt sie an, sich zu verstecken. Doch sie sah keinen Anlass darin, diesem Hinweis nachzukommen, da dies ihrer Überzeugung zufolge ziemlich unlogisch gewesen wäre. Ihr ängstlicher Verstand ergab sich und machte einer unbeschreiblichen Gelassenheit Platz. Wie von Geisterhand wurden die Zweige zur Seite geschoben und für einen Bruchteil einer Sekunde kehrte ihre furchtsame Vernunft angesichts der Ungewissheit zurück. Die Kreatur betrat die Bühne, doch die Scheinwerfer blieben aus, denn eine Wolke hatte sich in der Zwischenzeit vor den lichtspendenden Himmelskörper geschoben. Sie strengte sich an, etwas zu erkennen. Doch obwohl sich ihre wunderschönen, großen Augen schnell an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte ihr menschliches Sinnesorgan das Geschöpf nicht erfassen. Der Schatten hob sich aus der schwarzen Masse ab und trat an sie heran. Entweder hatte nun wirklich ihr letztes Stündlein geschlagen oder alles löste sich in Wohlgefallen auf. Sie spürte die Wärme, die von dem Unbekannten ausging. Sie wollte sich erheben, doch ihre Glieder gehorchten ihr nicht. Sie fühlte sich wie jemand, dem ein Gift verabreicht worden war, das zwar den gesamten Körper aber nicht den Geist lähmte. Nun würde sich zeigen, ob ihre Überzeugungen immer noch standhielten, angesichts dieser Bedrohung. Es lag also allein in ihrer Macht, sich wirklich einschüchtern zu lassen, oder dem Ganzen eine andere Wendung zu geben. Schließlich war es ihr Theaterstück. Ihr Lebenswerk. Ihr Drama oder ihre Komödie. Sie war Schauspielerin, Regisseurin, Kamerafrau und Produzentin zugleich. Ein Lächeln huschte über ihre vollen, wohlgeformten Lippen, trotz, oder gerade wegen dieser unwirklich erscheinenden Szene, die sich ihr bot. Der mysteriöse Fremde näherte sich ihr. Ihr Herz schlug bis zum Hals.

„Hallo meine Schöne“, flüsterte eine Stimme in ihr Ohr und der gefürchtete Fremde verwandelte sich in den Geliebten. Doch obwohl das Ende dem Wohlgefallen den Vorrang gegeben hatte, fühlte sie mehr denn je die Augen des Beobachters auf ihr ruhen.