Dr. Daniel – Jubiläumsbox 7 – E-Book: 35 - 40

Dr. Daniel
– Jubiläumsbox 7–

E-Book: 35 - 40

Marie Francoise

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-197-1

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Sie wussten nichts von ihrer Schuld

Roman von Marie-Francoise

  »Du mußt hier endlich mal raus!«

  Verena Seiler lauschte den Worten ihrer Freundin Dora Eichner nach. Genau das hatte sie sich selbst auch schon tausendmal gesagt. Raus aus dieser Wohnung, weg von München, von der Vergangenheit, von den Erinnerungen und – weg von Kurt!

  »Hörst du überhaupt zu?«

  Verena seufzte. »Ja, Dora, aber wo soll ich denn hin?«

  »Komm mit mir nach Hawaii«, schlug Dora spontan vor. »Eine finanzielle Frage dürfte das für dich ja kaum sein.«

  Damit hatte Dora vollkommen recht. Verena stammte aus recht wohlhabenden Verhältnissen; am Geld würde eine solche Reise also sicher nicht scheitern.

  »Hawaii«, wiederholte sie dennoch gedehnt und dachte dabei unwillkürlich an Fotos vom total überfüllten Waikiki-Strand. »Ich weiß nicht, ob das das Richtige für mich ist. Ich möchte einmal meine Ruhe haben.«

  »Ja, damit du über Kurt nachgrübeln kannst.« Doras Stimme klang vorwurfsvoll. »Mensch, Verena, du bist auch keine siebzehn mehr. Hör auf, dich wie ein Teenager zu benehmen.«

  »Das hat mit dem Alter gar nichts zu tun!« brauste Verena auf, und ihre blauen Augen sprühten dabei wahre Zornesblitze.

  »Ich liebe Kurt… habe ihn geliebt«, verbesserte sie sich.

  Aufmerksam betrachtete Dora ihre Freundin. Verena hatte alles, was sich Dora insgeheim wünschte: Charme, Intelligenz und gutes Aussehen. Ihr zartes, leicht gebräuntes Gesicht war von dichten goldblonden Locken umrahmt, die bis weit über ihren Rücken fielen. Die großen tiefblauen Augen blickten meistens verträumt in die Gegend, und um ihren sanft geschwungenen Mund lag ein Hauch von Melancholie, doch das wirkte sich eher vorteilhaft auf ihr Aussehen aus.

  Wie schon so oft fragte sich Dora auch heute wieder, warum Verena ein solches Pech mit Männern hatte. Nun, vielleicht nahm sie jede Beziehung zu ernst. Verena hatte nicht Doras unbeschwerte Art.

  Mit ihren Sommersprossen auf dem Stupsnäschen und dem etwas zu dünnen dunklen Haar war Dora keine ausgesprochene Schönheit, aber sie war lieb und anschmiegsam. Sie kostete jede Beziehung zu einem Mann voll aus, machte keine Zukunftspläne, sondern lebte von heute auf morgen.

  »C’est la vie«, war ihr einziger Kommentar, wenn wieder einmal eine Beziehung zerbrach.

  Aber wahrscheinlich habe ich noch nie wirklich geliebt, dachte Dora, und das stimmte sie ein wenig melancholisch, doch dieser Anflug von Traurigkeit war nur von kurzer Dauer.

  »Verena, du sollst auf Hawaii ja keinen Mann aufreißen«, erklärte Dora endlich. »Du sollst dich ablenken, flirten und dein Selbstbewußtsein ein bißchen aufmöbeln. Vor allem aber sollst du dich erholen. Bitte, komm doch mit, sonst muß ich ja ganz allein fliegen.«

  Verena mußte Doras Dackelblick belächeln. Und im Grunde hatte die Freundin ja auch recht. Seit Kurt mit ihr – Verena – Schluß gemacht hatte, war sie wirklich kaum noch aus ihren vier Wänden herausgekommen. Sie hatte sich regelrecht verkrochen, sämtliche Kontakte abgebrochen, und der einzige Mensch, den sie in den letzten Wochen – abgesehen von Arbeitskollegen – gesehen hatte, war Dora gewesen.

  »Also gut«, stimmte sie schließlich zu. »Ich wollte dem kalten Winter dieses Jahr sowieso entfliehen.« Sie lächelte. »Wahrscheinlich wäre ich auf den Kanaren gelandet, aber bevor ich allein dorthin fliege, begleite ich dich lieber nach Hawaii.«

  »Prima!«

  Begeistert klatschte Dora in die Hände, ihr Gesicht strahlte vor Freude.

  »Eigentlich wollte ich ja mit Jürgen fliegen«, erzählte sie jetzt, »aber seit einer Woche ist Schluß zwischen uns.«

  »Wie kannst du das nur so leicht nehmen?« fragte Verena kopfschüttelnd.

  Ein Schulternzucken war Doras einzige Antwort.

*

  »Guten Morgen. Mein Name ist Nico Gerstner«, stellte sich der junge Mann in nahezu akzentfreiem Englisch vor.

  Betont langsam sah der Hotel-manager Alan Chambers von seinen Papieren auf und musterte den Dreiundzwanzigjährigen, der vor seinem Schreibtisch stand, dann lehnte er sich zurück, zündete sich gelassen eine Zigarette an und inhalierte mehrere Male tief, ehe er Nico mit einer lässigen Handbewegung Platz anbot.

  »Sie wurden mir schon angekündigt«, erklärte der Manager, dann sah er Nico mit scharfem Blick an. »Warum wollen Sie hier arbeiten?«

  »Ich habe in München eine Ausbildung als Hotelfachmann absolviert und möchte jetzt ein wenig Erfahrung in der Praxis sammeln.«

  Wieder betrachtete Alan Chambers Nico sehr eingehend. Er war ihm irgendwie unsympathisch, doch das hatte nichts zu bedeuten, denn Chambers fand jeden Menschen unsympathisch, der das hatte, was ihm fehlte – Jugend und Schönheit. Und Nico war nicht nur ein junger, sondern auch ein ausgesprochen gutaussehender Mann.

  Er brachte es zwar kaum auf mehr als einssiebzig, war aber schlank und sehnig, sein Körper wirkte muskulös und durchtrainiert. Das dichte schwarze Haar umrahmte ein gutgeschnittenes Gesicht, in dem die sanften rehbraunen Augen dominierten, und der gepflegte Schnauzbart ließ ihn ein wenig älter erscheinen, als er war.

  »Also gut, Herr Gerstner«, erklärte Alan Chambers wie beiläufig. »Sie können als Portier arbeiten.«

  Chambers hatte kaum ausgesprochen, da vertiefte er sich wieder in seine Schriftstücke, die wild verstreut auf seinem Schreibtisch lagen. Er machte den Eindruck eines schwer arbeitenden Managers, doch Nico verstand die Geste so, wie sie gemeint war. Chambers wollte seine Ruhe haben.

  Ein wenig befremdet drehte sich Nico um und verließ das Büro. So kalt und herzlos war er noch nie empfangen worden, und fast wünschte er, die drei Monate, die er hier würde arbeiten müssen, wären schon vorbei.

  »Na, wie findest du den Alten?«

  Der Portier Tom Chary stand grinsend vor Nico. Ein wenig hilflos zuckte der junge Mann die Schultern. Da gab Tom ihm einen sanften Stoß.

  »Nimm’s nicht so schwer, Junge. Der mag nur einen Menschen – sich selbst. Daran mußt du dich gewöhnen. Chambers wird dir den Aufenthalt hier schwermachen, aber das Personal hält felsenfest zusammen. Da stehen im Zweifelsfall alle hinter dir. Das weiß Chambers, und er weiß auch, daß er gegen diese Übermacht nichts ausrichten kann. Er hat’s schon versucht, aber ohne Erfolg. Und jetzt komm, Kollege.«

  Tom grinste wieder, und nun brachte auch Nico ein Lächeln zustande. Vielleicht würde der Aufenthalt hier doch nicht so schlimm werden, wie es anfangs noch ausgesehen hatte.

*

  »So, und jetzt nichts wie runter an den Strand!« erklärte Dora unternehmungslustig.

  Vor einer Stunde waren sie auf der Hawaii-Insel Oahu gelandet, und jetzt standen sie in dem Zimmer, das sie in den nächsten drei Wochen bewohnen würden.

  »Ich finde, wir sollten erst mal auspacken«, meinte Verena mit einem nachsichtigen Lächeln.

  Doch Dora winkte ab. »Ach was, das machen wir später. Ich muß jetzt einfach sofort ins Meer hüpfen! Bitte, Verena, komm doch mit.«

  Da konnte die Freundin nicht widerstehen.

  »Also schön«, stimmte sie zu. »Gehen wir erst mal baden.«

  Kurz darauf liefen die beiden mit je einem Handtuch bewaffnet am hoteleigenen Swimming-pool vorbei und erreichten kurz darauf den belebten Waikiki-Strand. Minuten später waren sie im Wasser und schwammen weit hinaus. Sie waren erstklassige Schwimmerinnen, denen auch verhältnismäßig hohe Wellen nicht viel anhaben konnten.

  »Na, nun bist du doch froh, daß du mitgekommen bist«, stellte Dora grinsend fest.

  »Stimmt«, antwortete Verena wahrheitsgemäß, dann blinzelte sie in die Sonne. »Nur die Zeitumstellung macht mir noch ein wenig zu schaffen.«

  »Daran wirst du dich schon gewöhnen«, entgegnete Dora. »Du wirst sehen, dieser Urlaub tut dir sicher gut.«

  Verena war versucht, ihr zu glauben. Schon im Flugzeug hatte sie sich so leicht und frei gefühlt, nicht mehr so bedrückt wie in ihrer Wohnung in München. Und die Sonne hier auf Oahu, das Meer, Doras gute Laune – das alles tat ihr wirklich gut.

  Verena ließ sich in den Sand fallen und sah zum strahlend blauen Himmel.

  »Ich glaube, du hast recht, Dora«, meinte sie.

  »Natürlich habe ich recht«, bekräftigte die Freundin. »Weißt du was, jetzt sind wir so toll erfrischt, da könnten wir eigentlich doch noch die Koffer auspacken.«

  »Du bist eine Kanone!« lachte Verena. Ja, sie lachte – und das zum ersten Mal seit Monaten.

*

  »Du bist wirklich ein echtes Sprachgenie«, erklärte Tom Chary bewundernd. Gerade hatte er ein Gespräch zwischen Nico und einer französischen Familie, die hier im Hotel abgestiegen war, mitbekommen.

  »Ach was«, murmelte Nico verlegen.

  Er hatte sich sein Leben lang für Sprachen interessiert, und er wußte auch, daß er tatsächlich eine ausgesprochene Begabung besaß, fremde Sprachen zu erlernen. Aus diesem Grund hatte er den Beruf eines Hotelfachmannes ergriffen. Und irgendwann…

  »Bist du eigentlich gebunden?« Toms Frage riß Nico aus seinen Gedanken. »Ich meine, hast du drüben in Deutschland eine feste Freundin?«

  Nico schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe andere Pläne. In den nächsten Jahren werde ich noch keine Zeit zum Heiraten haben.«

  Tom lachte. »Aber, Junge, wer spricht denn gleich vom Heiraten?«

  »Ich«, erwiderte Nico kurz, und als Tom einen Einwand machen wollte, hob er abwehrend die Hand. »Ich weiß, was du sagen willst, und ich kenne auch deine Einstellung gegenüber den Mäd-chen. Du bist hier der Hotelcasanova, das habe ich in den vergangenen zwei Monaten schon gemerkt.«

  »Aber daß du dabei bist, mir den Rang als bestaussehender Mann im Hotel abzulaufen, das hast du wohl noch nicht bemerkt.«

  Erstaunt sah Nico den jungen Portier an.

  »Jetzt bist du sprachlos, was?« Tom lachte. »Ich glaube, du weißt gar nicht, wie gut du aussiehst und wie sehr dich alle Mädchen anhimmeln.«

  »Mich?« fragte Nico entgeistert.

  »Ja, Nico, dich. Seit einer Woche hatte ich kein Rendezvous mehr, geschweige denn…« Tom deutete mit einem vielsagenden Blick an, was er meinte, aber Nico hätte ihn auch so verstanden. »Und stell dir vor, als ich mit der kleinen Schwedin von 412 letzte Woche aus war, da fragte sie mich doch tatsächlich nach dir. Damit war der Abend natürlich gelaufen. Mein ganzer Charme hat nichts genutzt. Die Kleine wollte nur dich.«

  Völlig fassungslos schüttelte Nico den Kopf.

  »Jeden Tag könntest du…«

  »Hör auf, Tom«, unterbrach Nico ihn heftiger, als er es eigentlich gewollt hatte. »Auf solche Bekanntschaften lege ich keinen Wert. Für mich ist Liebe mehr als nur ein Wort.«

*

  »Mann, bin ich jetzt satt«, stöhnte Dora.

  »Ich auch«, stimmte Verena zu, dann schlug sie vor: »Machen wir doch einen kleinen Strandspaziergang.«

  »O ja!« rief Dora begeistert. »Und nachher setzen wir uns dann noch auf die Hotelterrasse.«

  Daß das Doras eigentliches Ziel war, bemerkte Verena sehr rasch, denn der Sparziergang hätte kaum kürzer ausfallen können, da zog es Dora auch schon wieder zurück.

  »Du bist vergnügungssüchtig«, hielt Verena ihr lächelnd vor, doch wirklich böse war sie nicht. Im Grunde freute auch sie sich auf einen dieser tropisch-bunten Cocktails und auf die fremdartige Musik, die von einer hawaiianischen Band gespielt wurde.

  Zusammen traten sie auf die Terrasse und setzten sich an einen der freien Tische. Neugierig sah sich Dora um, betrachtete die anderen Hotelgäste und begann schon kurz darauf mit einem jungen Mann zu flirten, der mit seinem Freund an einem Nebentisch saß.

  »Der sieht doch unheimlich süß aus«, flüsterte sie Verena zu.

  »Du bist wirklich unmöglich«, gab ihre Freundin zurück. »Wir sind gerade ein paar Stunden hier, und du versuchst schon…«

  »Dürfen wir uns zu euch setzen?«

  Der Süße stand grinsend neben den beiden Mädchen und sein Freund war ihm dicht gefolgt.

  »Natürlich«, stimmte Dora bereitwillig zu.

  Mit wenigen Blicken hatte sie die Erscheinung der beiden Männer in sich aufgenommen. Der Süße war groß, schlank, hatte glattes blondes Haar und blaue Augen, die unternehmungslustig blitzten. Sein Freund war nur wenig kleiner als er, schwarzhaarig und dunkeläugig.

  Jetzt setzten sich die beiden jungen Männer, und der Blonde winkte sofort einem Ober.

  »Vier Mai-Tai«, bestellte er, dann wandte er sich an die beiden Mädchen. »Ich heiße Raimund, und das ist mein Freund Kurt.«

  Wie elektrisiert fuhr Verena hoch.

  »Entschuldigt mich bitte«, stammelte sie hastig, dann stürzte sie ins Hotel.

  Verblüfft sahen Raimund und Kurt ihr nach.

  »Was hat sie denn?« wollte Raimund wissen.

  Sekundenlang kämpfte Dora mit sich. Sollte sie nun die Wahrheit sagen oder doch besser eine Ausrede für Verena erfinden? Sie kannte die beiden Männer ja gar nicht. Trotzdem entschloß sich Dora spontan für die Wahrheit.

  »Verena hat Liebeskummer. Ihr Freund hat sie vor ein paar Wochen sitzenlassen, und – er hieß Kurt.«

  Raimund und sein Freund wechselten einen vielsagenden Blick. Ein trauriges Seelchen auf Hawaii, das war eigentlich das Letzte, was sie hier kennenlernen wollten.

  Langsamer Rückzug, signalisierte Raimund.

  Währenddessen war Verena zur Rezeption gelaufen.

  »329«, verlangte sie leise.

  In ihren großen Augen glitzerten Tränen, und mit einer Mischung aus Erstaunen und Besorgnis musterte sie der junge Portier.

  »Alles in Ordnung, gnädiges Fräulein?« fragte er in einem Deutsch, aus dem man den bayerischen Dialekt nur ganz schwach heraushörte. Verblüfft sah Verena den jungen Mann an, dann nickte sie knapp, griff hastig nach dem Schlüssel und lief die Treppe hinauf.

  Minuten später warf sie sich in ihrem Zimmer auf eines der beiden Betten und begann haltlos zu schluchzen. Die Hawaii-Inseln – das Paradies auf Erden. Was sollte sie hier? Sie hätte wissen müssen, daß das nicht das Richtige für sie war. Hawaii war etwas für Verliebte oder aber für so unbeschwerte Mädchen wie Dora. Sie würde sich hier bestimmt amüsieren, und sekundenlang wünschte sich Verena, daß sie ein bißchen so sein könnte wie ihre Freundin. Dora nahm alles so leicht – das Leben, die Liebe…

  Wenn ich das doch auch könnte, dachte Verena verzweifelt.

  Nur langsam wurde sie wieder ruhiger. Das heftige Schluchzen verebbte, die Tränen liefen nicht mehr unaufhörlich über ihr zartes Gesicht.

  Entschlossen stand Verena auf, wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser, dann trat sie auf den kleinen Balkon. Ohne große Anstrengung konnte sie ihre Freundin beobachten, die sich mit den beiden jungen Männern amüsierte. Im Moment tanzte sie fröhlich und ausgelassen mit dem blonden Raimund, und wieder fühlte Verena etwas wie Neid aufsteigen. Natürlich gönnte sie Dora diese Verliebtheit und einen glücklichen Urlaub von Herzen, aber sie wünschte auch, daß sie etwas von Doras Leichtlebigkeit und Unbeschwertheit haben könnte.

  Jetzt verließen Dora und Raimund Hand in Hand die Tanzfläche. Die Musik schwieg für kurze Zeit. Fröhliches Geplauder und ausgelassenenes Lachen drangen zu Verena herauf. Traurig wandte sie sich um, ging in ihr Zimmer zurück und zog sich aus, dann legte sie sich wieder auf das Bett. Sie schloß die Augen, aber an Schlaf war nicht zu denken. Zuviel schwierte ihr im Kopf herum.

  Irgendwann in der Nacht schlich Dora ins Zimmer. Verena hörte sie zwar, stellte sich aber schlafend. Mit einem wohligen Seufzer rollte sich Dora auf dem anderen Bett zusammen und war schon bald darauf eingeschlafen.

  Hätte ich diesem Urlaub nur nie zugestimmt, dachte Verena, und eine entsetzliche Traurigkeit überfiel sie, die ihr wieder die Tränen in die Augen trieb. Ganz fest preßte sie ihr Gesicht in das Kopfkissen, damit Dora ihr herzzerreißendes Schluchzen nicht mitbekam.

*

  »Verena Seiler«, stand in flüssiger Schrift auf dem Anmeldeformular.

  »Verena Seiler.«

  Sehr langsam und deutlich sprach Nico den Namen aus, und dabei sah er wieder dieses zarte Gesicht vor sich, die großen tiefblauen Augen, in denen Tränen geglitzert hatten. Tränenfeuchte Augen im Urlaub – so etwas hatte Nico noch nie gesehen, und er fragte sich, was die junge Frau wohl so sehr bedrücken mochte, daß sie im Urlaub weinte.

  »Verena Seiler.«

  Unbemerkt war Tom hinter ihn getreten, hatte ihm über die Schulter gesehen und den Namen ausgesprochen. Nico erschrak zutiefst und errötete.

  »Oho«, grinste Tom. »Der Eisblock taut allmählich.«

  »Unsinn«, widersprach Nico ein wenig zu heftig.

  »Gib’s zu, du bist verliebt«, bohrte Tom weiter.

  Nico gab nicht sofort Antwort – vor allem, weil er die Antwort selbst nicht so genau wußte. War

er wirklich verliebt? Ausschließen konnte er es jedenfalls nicht, aber das mußte Tom ja nicht unbedingt erfahren.

  »Sie hatte Tränen in den Augen«, wich er daher aus.

  Tom seufzte und hob theatralisch beide Hände. »O Gott, Nico, an dir ist ein Dichter verlorengegangen.« Dann schüttelte er den Kopf. »Sei realistisch, Junge, das war bestimmt der Alkohol.«

  »Unsinn!« brauste Nico auf. »Ich bin doch kein Idiot, Tom! Ich kann Traurigkeit von Alkohol unterscheiden, verlaß dich darauf! Dieses Mädchen hat Probleme! Und nun laß mich bitte in Ruhe!«

  Ein wenig erschrocken wich Tom zurück. Nico schien wirklich wütend zu sein. Die buschigen Brauen zogen sich bedrohlich zusammen, die sanften braunen Augen wurden fast schwarz und funkelten dabei gefährlich.

  »Tut mir leid, Nico«, murmelte Tom. »So war’s nicht gemeint.«

  Plötzlich schämte sich Nico, daß er den jungen Amerikaner so angefahren hatte. Es war unnötig gewesen. Tom war ein Pfundskerl und ein hilfsbereiter, netter Kollege.

  »Du hast gar keinen Grund, dich zu entschuldigen«, entgegnete Ni-co leise. »Ich bin manchmal ein bißchen jähzornig. Tut mir leid, Tom.«

  Da grinste Tom wieder und streckte die rechte Hand aus. Lächelnd schlug Nico ein.

*

  Es ist schon beinahe eine Kunst, auf Oahu einsam zu sein, dachte Verena bitter, aber wenn das so ist, dann habe ich zweifellos das Zeug zur Künstlerin.

  Ja, sie war einsam. Inmitten von Touristen und Einheimischen fühlte sie sich grenzenlos einsam, und Tag für Tag bereute sie aufs neue, daß sie diesem trostlosen Urlaub zugestimmt hatte.

  Dora bemerkte davon nichts. Sie und Raimund waren unzertrennlich. Ursprünglich hatte er sich am ersten Abend – nach Verenas Flucht – ja zurückziehen wollen, doch dann hatte er statt dessen genau das Gegenteil getan. Diese Dora schien glücklicherweise nicht wie ihre Freundin zu sein. Sie war fröhlich und unbeschwert, daher ging Raimund das Abenteuer einer Urlaubsliebe ein. Und Dora wußte, daß es nur eine Liebe auf Zeit war, aber diese Zeit wollte sie in vollen Zügen genießen. Sie war verliebt in Raimund, und sie würde drei Wochen lang in ihn verliebt sein, dann würden sie sich trennen und eine herrliche Erinnerung mit nach Hause nehmen. Aus diesem Grund war Dora rundherum glücklich – so glücklich, daß sie Verenas Einsamkeit gar nicht bemerkte.

  Verena litt stumm. Sie wollte Dora den Urlaub nicht verderben, also verschwieg sie ihre Traurigkeit über die empfundene Einsamkeit.

  Ein einziges Mal hatte Raimunds Freund Kurt versucht, sich ihr zu nähern, doch Verenas Einsilbigkeit und ihr offensichtliches Desinteresse hatten ihn nach kurzer Zeit wieder verscheucht. Inzwischen hatte er sich ein anderes Mädchen angelacht, wie Verena bald feststellte.

  Und mit nahezu selbstquälerischer Neugier sah sie sich am Strand um. Nein, es gab wirklich niemanden, der allein hier war. Um sich herum entdeckte sie lauter verliebte Paare. Seufzend ließ sich Verena wieder auf ihre Liege sinken und schloß die Augen. Sie wollte nichts mehr sehen; es tat so weh. Doch ihre Ohren konnte sie nicht verschließen, und so schnitt ihr das fröhliche Lachen, Plaudern und Scherzen nur noch tiefer ins Herz.

  Plötzlich hielt sie es nicht mehr aus. In fliegender Hast packte sie ihre Sachen zusammen und flüchtete ins Hotel auf ihr Zimmer. Dort herrschte brütende Hitze, doch das war immer noch besser, als das lustige Strandleben.

*

  Seit Tagen beobachtete Nico das junge Mädchen, von dem er nur wußte, daß es Verena Seiler hieß, dreiundzwanzig Jahre alt war und aus München kam. Ja, und daß sie wunderschön war und – offensichtlich sehr einsam.

  »So, Feierabend.«

  Toms fröhliche Stimme riß Nico aus seinen Gedanken, die wieder einmal um diese Verena Seiler gekreist waren. Vor einer halben Stunde hatte sie die Hotelbar betreten – allein, und sie war noch nicht wieder herausgekommen.

  »Na, komm schon, Nico«, drängte Tom. »Oder willst du etwa Überstunden machen? Wir wollten doch noch…«

  »Tut mir leid, Tom«, unterbrach Nico ihn. »Ich habe heute schon was vor.«

  Aus Toms Augen blitzte der Schalk, als er seinen Kollegen anschaute. »Na endlich! Lange genug schmachtest du sie ja schon an.«

  »Laß das, Tom«, knurrte Nico ärgerlich.

  »Schon gut, Junge«, besänftigte Tom ihn rasch. »Ich weiß, es ist nur Mitleid bei dir.«

  Nico senkte den Kopf. Er wußte ja schon längst, daß es kein Mitleid war… Er hatte sich auf den ersten Blick in dieses engelsgleiche Mädchen verliebt.

  Jetzt spürte er Toms forschenden Blick.

  »Willst du nicht endlich nach Hause gehen?« fragte er ein wenig gereizt.

  »O nein«, grinste Tom. »Da du mich im Stich läßt, versuche ich heute auch wieder mal mein Glück. Die kleine Französin aus 211.« Tom verdrehte schwärmerisch die Augen, so daß Nico plötzlich lachen mußte.

  »Du alter Don Juan«, erklärte er. »Also, mach’s gut.«

  »Ich tue mein Bestes«, versprach Tom, dann verschwand er in den Personalräumen, um sich umzuziehen. Nico warf noch einen Blick zur Tür der Hotelbar, bevor er Tom folgte.

  Als er wenig später in weißer Leinenhose und buntem Hawaii-Hemd herauskam, drehten sich wie auf Kommando etliche Mädchen nach ihm um, doch Nico bemerkte es gar nicht. Mit einer bangen Hoffnung im Herzen betrat er die Hotelbar. Es dauerte einige Sekunden, bis sich seine Augen an das dämmrige Licht gewöhnt hatten, aber dann sah er sie. Ganz allein saß sie an einem der kleinen Tischchen und nippte immer wieder an ihrem Getränk. Nico atmete tief durch, dann trat er an ihren Tisch.

  »Guten Abend«, grüßte er höflich. »Darf ich mich zu Ihnen setzen?«

  Desinteressiert, fast ein wenig angewidert, schaute sie zu ihm auf.

  »Von mir aus«, entgegnete sie mit einer Gelassenheit, die schon beinahe unhöflich wirkte, doch Nico ließ sich nicht davon abschrecken. Er hatte gerade Platz genommen, als auch schon ein Ober kam.

  »Ja, sag mal, Nico, hast du dich verlaufen?« fragte er grinsend. »Es ist das erste Mal, daß du…«

  »Ich weiß«, schnitt Nico ihm das Wort ab. »Bring mir bitte eine Cola.«

  Er spürte den Blick der jungen Frau auf sich gerichtet.

  »Sie scheinen hier ja recht bekannt zu sein«, erklärte sie mit einer Spur Sarkasmus. Die beiden Männer hatten sich auf Englisch unterhalten, und obwohl sie diese Sprache selbst einigermaßen beherrschte, hatte sie doch nur einzelne Worte verstanden – wohl hauptsächlich wegen des starken amerikanischen Akzents. Doch gleichgültig, worüber sich die beiden unterhalten hatten – daß sie sich kannten, war offensichtlich gewesen.

  »Ja«, antwortete Nico nun lächelnd. »Ich arbeite hier.«

  Im selben Moment erkannte Ve-rena in ihm den Portier, der sie am ersten Abend angesprochen hatte. Sie hatte ihn seitdem öfter gesehen, aber nie sonderlich beachtet.

  Der junge Mann erhob sich kurz.

  »Nico Gerstner«, stellte er sich vor.

  Der deutsche Name hätte Verena eigentlich stutzig machen müssen, doch sie war so sehr darum bemüht, diesem Annäherungsversuch zu entkommen, daß sie seine Worte gar nicht richtig registrierte.

  »Verena Seiler«, gab sie statt dessen widerwillig ihren Namen preis, dann drehte sie demonstrativ ihren Kopf zur Seite, um ihm zu zeigen, daß sie an einem weiteren Gespräch nicht interessiert war. Doch so schnell gab Nico nicht auf.

  »Darf ich Ihnen etwas spendieren?« erkundigte er sich, als sie ihr inzwischen leeres Glas zurückschob.

  »Nein«, antwortete sie knapp, holte ein paar Münzen aus ihrer Geldbörse und legte sie auf den Tisch.

  »Auf Wiedersehen.«

  Damit stand sie auf und verließ die Bar.

  »Mit der verschwendest du nur deine Zeit«, erklärte der Ober und stellte das Glas Cola vor Nico auf den Tisch. »Die ist kalt wie Eis. Unnahbar. Charly hat es schon versucht und ich auch.«

  Ärgerlich warf Nico einige Geldstücke auf den Tisch.

  »Ja, das glaube ich«, erwiderte er mit mühsam unterdrücktem Zorn. »Und wahrscheinlich ist sie genau deshalb so… ach, wie solltest ausgerechnet du das verstehen!«

  Völlig fassungslos sah der Ober dem jungen Mann nach, der nun mit auffallender Eile die Bar verließ.

  »Jetzt ist er völlig übergeschnappt«, sagte er Sekunden später zu seinem Kollegen Charly.

*

  Verena glaubte ihren Augen nicht zu trauen, als der junge Mann aus der Bar kurz nach ihr die Hotelterrasse betrat und wieder zielsicher auf ihren Tisch zusteuerte.

  Der ist aber hartnäckig, dachte sie wütend. Soll ich ihm ins Gesicht sagen, daß ich kein Mädchen für eine Nacht bin?

  Ohne zu fragen setzte sich Nico zu ihr, und als sie wortlos aufstehen und gehen wollte, hielt er sie sanft zurück.

  »Bitte, Verena, laufen Sie nicht wieder davon«, bat er leise. »Sie sind einsam, das sehe ich doch.«

  »Aber nicht so einsam, daß ich auf Ihre zweifelhafte Gesellschaft angewiesen wäre«, entgegnete sie heftig.

  »Sie beurteilen mich falsch«, erklärte Nico schlicht. »Es gibt sogar hier Männer, die nicht nur auf das eine aus sind. Kommen Sie, Verena, setzen Sie sich wieder. Was wollen wir trinken? Einen Mai-Tai?«

  Verena war verblüfft. Diese Offenheit hatte sie nicht erwartet. Und ein Blick in die ausdrucksvollen dunklen Augen zeigte ihr, daß dieser junge Mann die Wahrheit sagte. Er schien wirklich nicht an einem flüchtigen Abenteuer interessiert zu sein. Langsam ließ sich Verena wieder auf ihren Stuhl sinken.

  »Es tut mir leid, daß ich so… so…« Sie kam nicht mehr weiter, zuckte nur ein wenig hilflos die Schultern.

  »Ich kann Sie schon verstehen«, entgegnete Nico ernst. »Zwei Ober aus der Hotelbar haben schon ihr Glück bei Ihnen versucht, und ich weiß nicht, wer noch alles Ihnen zugesetzt hat.«

  Verena nickte. »Wenn man als Mädchen allein ist, dann gilt man praktisch als Freiwild.«

  Sie schwiegen minutenlang, dann fragte Verena mit einem entschuldigenden Lächeln: »Würden Sie mir Ihren Namen noch einmal sagen? Ich war vorhin so wütend, weil ich dachte…« Sie stockte kurz. »Es tut mir leid, aber…«

  »Schon gut, Verena«, unterbrach er sie lächelnd. »Ich heiße Nico. Nico Gerstner.«

  »Sie sind Deutscher?« fragte sie erstaunt.

  Er nickte. »Ja, und ich komme sogar aus derselben Gegend wie sie – aus Bayern. Ich lebe in einem kleinen Vorgebirgsort. Steinhausen am Waldsee.« Er seufzte leise. »Leider war ich in den letzten Monaten nur sehr selten zu Hause. Wissen Sie, Verena, ich habe in München eine Hotelfachschule besucht und wollte im Anschluß daran so viele Kenntnisse wie möglich sammeln. Dazu gehören auch Sprachen. Deshalb arbeite ich seit fast einem Jahr in verschiedenen Ländern und zwar jeweils für drei Monate. Den Anfang machte ich in Italien, dann war ich in Frankreich und schließlich in Spanien.« Er lächelte. »Die Hawaii-Inseln hätten nicht unbedingt sein müssen, aber… na ja, ich wollte auch das Paradies irgendwann kennenlernen.«

  Verena lächelte. »Es ist wirklich ein Paradies – allerdings nur in der richtigen Gesellschaft.«

  Und dabei hatte sie das untrügliche Gefühl, daß auch sie diesen Menschen, mit dem Hawaii zum Paradies würde, endlich gefunden hatte.

*

  Als Verena lange nach Mitternacht ihr Hotelzimmer betrat, lag Dora schon im Bett, doch sie richtete sich sofort auf.

  »Mein liebes Kind, du hast vielleicht eine Eroberung gemacht«, erklärte sie neidlos. »Raimund und ich haben euch auf der Terrasse gesehen. Der Bursche sieht ja fabelhaft aus. Also, an den kann nicht mal dein Kurt heranreichen.«

  Verena lachte. »Ach, Dora, was du schon wieder denkst. Wir haben uns ja nur unterhalten.«

  »Ja, ja, so fängt’s an«, bemerkte Dora weise, dann drängte sie die Freundin. »Nun komm schon, Ve-rena, erzähl! Der Junge kommt mir irgendwie bekannt vor. Wohnt er auch hier im Hotel? Wie heißt er? Und wo kommt er her? Ist er…?«

  »Gnade!« flehte Verena in komischer Verzweiflung. »Bitte nicht alles auf einmal.« Dann setzte sie sich zu Dora aufs Bett. »Also, meine liebe, neugierige Freundin. Er heißt Nico Gerstner und kommt aus Bayern.«

  »Das paßt ja ausgezeichnet«, urteilte Dora, dann schränkte sie jedoch ein: »Wenn ich es genau überlege… so gut ist es eigentlich auch wieder nicht, wenn der Urlaubs-flirt…«

  »Es ist kein Urlaubsflirt«, fiel Ve-rena ihr ins Wort, »sondern eine ganz harmlose Freundschaft. Außer-dem macht Nico hier nicht Urlaub. Er arbeitet im Hotel als Portier.«

  »Ach, du Unglücksrabe«, stöhnte Dora auf. »Da hat er ja nie Zeit für dich. Sag mal, kann’s bei dir nicht auch mal problemlos gehen? Hättest du dir denn keinen Urlauber angeln können?«

  »Aber, Dora, ich wollte mir nie etwas angeln, schon gar keinen Mann. Mit Nico… es ist anders, es… es ist kein Urlaubsflirt, sondern nur, ja, nur eine Freundschaft.«

  »Eine Freundschaft mit dem Hotelportier«, seufzte Dora kopfschüttelnd. »Du bist wirklich ein hoffnungsloser Fall, Verena. Seht ihr euch denn wenigstens noch einmal, bevor wir abreisen?«

  »Dora, du bist unmöglich! Wir reisen erst in zehn Tagen ab. Außerdem hat Nico übermorgen einen freien Tag.«

  Ja, und diesen Tag hatten sie auch schon verplant. Verena freute sich unsagbar darauf und verstand sich dabei selbst nicht mehr. Es war doch nur eine ganz harmlose Freundschaft, die sie mit Nico verband. War sie das überhaupt schon? Sie kannten sich doch erst seit ein paar Stunden.

  Nico.

  Sehr deutlich formten ihre Lippen seinen Namen. Nico…

*

  Verena war von einer solchen Vorfreude erfüllt, daß sie gar nicht wußte, wie sie die vielen Stunden, die bis zu Nicos freiem Tag noch vergehen würden, ohne ihn überstehen sollte. Am liebsten hätte sie die ganze Zeit nur in der Hotelhalle gesessen und Nico bei der Arbeit zugeschaut, doch sie wollte nicht aufdringlich wirken, und so zwang sie sich dazu, etwas zu unternehmen. Gelangweilt schlenderte sie durch den Ort und wartete nur darauf, daß dieser endlose Tag endlich vergehen würde.

  Abends, als Nicos Dienst beendet war, trafen sie sich wieder auf der Hotelterrasse und plauderten bis tief in die Nacht hinein. Es gab so vieles, was sie sich zu erzählen hatten, und beide hatten dabei das Gefühl, als würden sie sich schon ewig kennen.

  Die Trennung fiel ihnen schwer, obwohl sie wußten, daß sie sich am nächsten Tag wiedersehen würden. Und dieser Tag sollte ihnen dann ganz allein gehören.

  Für neun Uhr hatten sie sich verabredet, aber Verena war natürlich viel zu früh im Foyer und wartete auf Nico. Doch es schien, als hätte auch er die vereinbarte Zeit nicht mehr erwarten können, denn kurz nach Verena erschien auch Nico in der Hotelhalle.

  Und dann zeigte er Verena all das, was auch er erst seit kurzem kannte – eine Insel von atemberaubend vollkommener Schönheit. Steil abfallende Felswände boten eine zauberhafte Kulisse zu den kilometerlangen weißen Stränden. Dann erreichten sie den Aussichtspunkt bei Nuuanu Pali, der ihnen einen Ausblick von den Klippen über den tiefblauen Pazifik ermöglichte. Verena jauchzte begeistert auf, als sie am North Shore die großartigen Brecher sah, die gegen die Strände schlugen. Geschickte Wellenreiter tummelten sich in diesem Gebiet, das zu den großartigsten der Welt zählt.

  Zu guter Letzt entführte Nico Verena zu einer abgeschiedenen Sandbucht.

  »Das ist ja wunderbar, Nico!« rief Verena begeistert aus. »So herrlich klares Wasser habe ich noch nie gesehen!«

  Nico lächelte nur. Es tat gut, die schöne Verena so fröhlich zu sehen. Und diese Fröhlichkeit hielt auch weiterhin bei ihr an. Ausgelassen alberten sie im Wasser herum und genossen es, einmal völlig allein zu sein.

  »Wollen wir zum Strand schwimmen?« fragte Nico schließlich, und Verena stimmte ganz erfreut zu.

  Wenig später ließen sie sich in den weichen, warmen Sand fallen. So lagen sie da, während ihre Beine von den sanften Wellen umspült wurden. Langsam wandte Verena den Kopf zur Seite und betrachtete den neben ihr liegenden Nico.

  Er hatte die Augen geschlossen, sein gepflegte Schnauzbart war ebenso naß wie die schwarzen Haare. Auf seiner braungebrannten Brust glitzerten helle Wassertropfen, und plötzlich fühlte Verena das unwiderstehliche Bedürfnis, Nico zu berühren. Wie unabsichtlich drehte sie ihren Arm so, daß er Nicos Hand streifte.

  Nico fühlte die Berührung bis ins Herz. Sekundenlang blieb er reglos liegen, dann öffnete er die Augen und schaute Verena an. Sie schlief offensichtlich, und so ließ sich Nico mit der Betrachtung Zeit. Ganz langsam glitt sein Blick über Vere-nas schlanke Gestalt. Die Sonne hatte ihre Haut leicht gebräunt, und der pinkfarbene Bikini bot dazu einen bezaubernden Kontrast. Lange, seidige Wimpern lagen wie dunkle Halbmonde unter ihren geschlossenen Augen, und ihr ungeschminkter Mund übte eine starke Anziehungskraft auf Nico aus. Nur zu gern hätte er sich jetzt über sie gebeugt und sie geküßt, doch das durfte er nicht, wenn er nicht alles, was er mühsam aufgebaut hatte, zerstören wollte.

  Gewaltsam zwang Nico seinen Blick aufs Meer hinaus, doch es half nichts. Nur zu deutlich war er sich Verenas Nähe bewußt. Die Stelle, an der ihr Arm seine Hand berührte, brannte wie Feuer.

  »Nico.«

  Obwohl Verena ganz leise gesprochen hatte, erschrak der junge Mann zutiefst.

  »Ich… ich dachte, du schläfst«, brachte er mühsam hervor.

  »Besuchst du mich, wenn du einmal in München bist?« fragte sie, ohne auf seine Bemerkung einzugehen.

  »Wenn ich darf.«

  »Du mußt es sogar, Nico«, erklärte sie lächelnd.

  Für Sekunden versanken ihre tiefblauen Augen in seinen dunkelbraunen, und sie hielten sich fest und trennten sich schließlich ein wenig verwirrt mit dem seltsamen Gefühl sich ausbreitender Leere.

*

  »Was hältst du davon, wenn wir heute gemeinsam zu Abend essen?« schlug Nico vor, als Verena vom Strand kam und sich an der Rezeption ihren Zimmerschlüssel holte. »Du hast zwar Halbpension gebucht, aber ich könnte heute ein bißchen früher von hier weg, und da möchte ich dir gern etwas ganz Besonderes zeigen.«

  Verena lächelte ihn an. »Glaubst du wirklich, dieses Essen hier im Hotel wäre mir so viel wert, daß ich dafür auf einen gemeinsamen Abend mit dir verzichten würde?«

  »Gut, dann hole ich dich in einer Stunde ab.« Nico grinste. »Die Zimmernummer kenne ich ja.«

  »Ach, wirklich?« scherzte Vere-na. »Woher denn bloß?«

  »Keine Ahnung. Irgend jemand muß sie mir verraten haben.«

  Sie lachten beide, dann winkte Verena ihm noch einmal zu, bevor sie beschwingt die Treppe hinauflief. Pünktlich eine Stunde später klopfte es an ihrer Tür, und als Ve-rena öffnete, stockte ihr sekundenlang der Atem, denn Nico sah einfach umwerfend aus.

  Er trug weiße Jeans und ein Hemd, das Verena noch nie an ihm gesehen hatte. Der Untergrund war rubinrot, und der Hawaii-Druck, bestehend aus Blumen und Federn, war in Schwarz, Türkis und Zitronengelb gehalten. Nico hatte das Hemd nur so weit zugeknöpft, daß ein Teil seiner braungebrannten, behaarten Brust sichtbar blieb. Das goldene Kreuz, das er ständig trug, blitzte im Licht der durch das Fenster hereinfallenden Sonne.

  Doch auch Nico war von Verenas Erscheinung hingerissen. Bewundernd musterte er die zierliche Schönheit, die da vor ihm stand. Sie trug ein weißes Sommerkleid mit V-Ausschnitt, der mit zarten Spitzen verziert war. Das enganliegende Oberteil schmiegte sich an ihren schlanken Körper, der schwingende Tellerrock umschmeichelte ihre wohlgeformten Beine. Die schmale Taille hatte sie mit einem breiten scharlachroten Gürtel betont. Dazu trug sie Sandalen in der gleichen Farbe und eine passende Umhängetasche.

  Verenas ungeschminktes Gesicht wirkte frisch, wozu nicht zuletzt die leichte Röte auf ihren Wangen beitrug. Ihre langen, dichten Locken umschmeichelten ihre schmalen Schultern, und mit einer Mischung aus Schüchternheit und Freude lächelte sie Nico jetzt an – es war ein Lächeln, das auch ihre tiefblauen Augen erreichte.

  »Bin ich hübsch genug?« wollte sie wissen.

  »Hübsch genug?« wiederholte Nico fragend und gab sich die Antwort gleich selbst. »Verena, du bist das schönste Mädchen von Oahu – ach was, von der ganzen Welt.«

  Verena lachte und versuchte damit ihre Verlegenheit zu überspielen. »Übertreib mal nicht, Nico.«

  Galant bot der junge Mann ihr seinen Arm und begleitete sie nach unten, wo er sein Auto auf dem Hotelparkplatz abgestellt hatte. Er half ihr beim Einsteigen, dann setzte er sich hinter das Steuer.

  Verena sah zu, wie Nico den Wagen startete, und dachte dabei unwillkürlich, welch ein faszinierender Mann er doch war. Allein seine Hände, die ruhig und sicher auf dem Steuer des Autos lagen, strahlten unendliche Sicherheit und Geborgenheit aus.

  Wie es wohl wäre, von diesen Händen gestreichelt, von diesen starken Armen gehalten, von dem sensiblen Mund geküßt… von diesem Bild eines Mannes geliebt zu werden?

  »So, hier sind wir.«

  Verena erschrak, als Nicos plötzlich ausgesprochene Worte sie in die Wirklichkeit zurückholten. Unwillkürlich errötete sie, Nico schien es nicht zu bemerken. Er geleitete sie in das kleine, im hawaiianischen Stil eingerichtete Lokal und wählte einen ruhigen Nischentisch.

  »Darf ich für dich bestellen?« fragte er, als der Ober die Speisekarte gebracht hatte.

  Verena nickte ohne zu zögern. »Du lebst schon ein bißchen länger auf Oahu und weißt sicher besser als ich, was hier gut schmeckt.«

  Ohne auch nur einen Blick auf die Speisekarte zu werfen, gab Nico auf hawaiianisch die Bestellung auf. Bewundernd sah Verena ihn an. Sie hatte nicht gewußt, daß er auch die Landessprache beherrschte. Als sie ihn darauf ansprach, wurde er tatsächlich ein wenig verlegen.

  »Ich habe dir ja schon gesagt, daß Hawaii für meinen weiteren Berufsweg nicht unbedingt nötig gewesen wäre, aber ich hege da eine stille Leidenschaft, die mich auch bewogen hat, die Landessprache zu erlernen«, erklärte er und war dann froh, daß der Ober die Getränke servierte, denn er war viel zu bescheiden, um die offene Bewunderung seiner Begleiterin einfach genießen zu können.

  »Wie heißt das?« wollte Verena wissen, als der Ober nun auch das bestellte Essen auftrug.

  »Lomi Lomi«, antwortete Nico. »Es ist ein Lachsgericht, das nirgends so gut zubereitet wird wie in diesem Lokal.« Er lächelte. »Ein Geheimtip von meinem Kollegen Tom Chary.«

  »Das schmeckt wirklich ganz vorzüglich«, urteilte Verena, nachdem sie zuerst sehr vorsichtig dieses fremdartige Gericht probiert hatte.

  »Sie waren schon eine ganze Weile mit dem Essen fertig, als Nico auf die Uhr sah und meinte: »Machen wir uns langsam auf den Weg.« Er lächelte geheimnisvoll. »Ich habe da nämlich noch eine Überraschung für dich, und da möchte ich keinesfalls zu spät kommen.«

  Verena genoß die Fahrt zur Westküste der Insel. In diese Gegend war sie noch nie gekommen. Dann hielt Nico den Wagen am Straßenrand an, denn den Rest des Weges mußten sie zu Fuß zurücklegen. Ein schmaler Pfad führte sie zwischen schlanken Palmen hindurch bis zum Pazifik. Sie waren gerade zur rechten Zeit gekommen.

  Die Sonne hatte bereits ein breites, wie Gold glitzerndes Band aufs Meer gezaubert. Langsam senkte sie sich und zeigte dabei die ganze Farbenpracht, deren sie fähig war – von Bernsteingold über Orange bis hin zu kupfernem Glanz.