817496_Tuff_Groesser_als_der_Schmerz_S003.pdf

Kapitel 3

Einen Moment lang dachte ich, der Bewaffnete hätte auf uns geschossen. Ich erwartete, Lou zu Boden gehen zu sehen oder vielleicht mich selbst. Aber keiner von uns fiel hin. Der Bewaffnete hatte einen halben Meter rechts von uns den Gang entlanggezielt und ein einziges Mal geschossen.

Der Schuss war unglaublich laut. Ich hörte, wie die Kugel vom Boden abprallte und durch den Raum querschlug. Ich wusste nicht, dass Kugeln querschlagen. Aber ich hörte, wie diese Kugel in der Luft pfiff, eine andere Wand traf und wie die Patronenhülse in die Ecke zu meiner Linken fiel und dort liegen blieb. All das geschah im Bruchteil einer Sekunde. Der strenge Geruch, der bei einem Schuss entsteht, lag in der Luft.

Ich drehte mich zu Lou um und sah, dass er sich an die Brust fasste, als hätte er einen Herzinfarkt. Es hätte mich nicht überrascht, wenn es so gewesen wäre. Der Lärm des Gewehrschusses hob das Maß des Schreckens auf eine ganz neue Ebene. Dieser Mann hielt nicht nur eine tödliche Waffe in der Hand, er war auch mehr als gewillt, sie zu gebrauchen. Ich fühlte, wie sich mein Herz in meiner Brust verkrampfte, als hätte es jemand in die Hand genommen und würde nicht aufhören, es zusammenzupressen. Kalt und geradezu erdrückend wurde mir erneut klar: Ich konnte jeden Moment sterben.

Jetzt stützte Lou sich auf den Tisch, während er noch immer an seine Brust fasste. Ich konnte nicht sagen, ob er gerade einen Herzinfarkt erlitt oder nicht. Ich vermute, Lou konnte das auch nicht.

„Sie“, sagte der Bewaffnete und richtete sein Gewehr auf Lou. „Gehen Sie jetzt, und sagen Sie allen, was hier gerade geschieht.“

Lou sah mich an. Seine Fröhlichkeit war nun verflogen, und sein Blick war der gleiche, den mir zuvor meine Freundin Belinda zugeworfen hatte. Einer, der sagte: „Ist es in Ordnung, dich hier zurückzulassen?“

„Gehen Sie!“, wiederholte der Bewaffnete. „Gehen Sie jetzt!“

Lou sah mich ein letztes Mal an.

„Tu, was er sagt“, sagte ich zu ihm. „Geh!“

Lou ging zur hinteren Tür und beeilte sich, aus dem Raum zu kommen. Auf einmal bewegte er sich schnell. Die Tür schloss sich hinter ihm und wieder waren da nur der Bewaffnete und ich. Er fing wieder damit an herumzulaufen. Ich saß unruhig auf meinem Stuhl. Meine Hände zitterten so sehr, dass ich keinen Stift hätte ruhig halten können.

Der Schuss hatte alles geändert. Wenn ich zuvor noch irgendwelche Zweifel daran gehabt hatte, was der Bewaffnete vorhatte, waren sie nun weg. Doch wenigstens war bislang noch niemand getötet worden.

Der Mann blieb stehen und wandte sich zu mir, wobei er noch immer nach unten sah und den Blickkontakt mied.

„Gehen Sie an die Haussprechanlage, und sagen Sie allen, was hier vor sich geht“, sagte er.

Ich ergriff das Mikrofon und schaltete die Sprechanlage ein. Das Mikrofon zitterte in meiner Hand, ich versuchte, es ruhig zu halten.

„Wir haben einen Eindringling im Gebäude“, brachte ich in einem ruhigen und angemessenen Ton heraus. Ich vernahm das Echo meiner eigenen Stimme aus den Lautsprechern in den nahe gelegenen Räumen. „Das ist keine Übung! Folgen Sie den Anweisungen, die für einen Eindringlingsalarm zu treffen sind. Bleiben Sie alle ruhig und alles wird gut werden. Ich wiederhole: Wir haben einen Eindringling im Gebäude. Das ist keine Übung!“

Ich stellte das Mikrofon wieder hin. Der Bewaffnete schien mit meiner Ankündigung zufrieden zu sein. Ich war nur froh, dass nun alle im Gebäude wussten, dass sie in Gefahr waren. Hoffentlich würden die Lehrer anfangen, die Kinder irgendwie aus dem Schulgebäude zu bringen. Je länger der Bewaffnete bei mir blieb, desto mehr Zeit würden sie dafür haben.

„Jetzt rufen Sie die Notrufnummer 911 an“, befahl der Bewaffnete. „Rufen Sie 911 an – und einen Nachrichtensender. Sagen Sie denen, dass ich zu schießen beginnen werde.“

Ich nahm das Telefon und wählte 911 und wartete auf die Notrufleitstelle. Nach wenigen Sekunden meldete sich eine Frau.

„Um was für einen Notfall handelt es sich bei Ihnen?“

„Ja, guten Tag, ich bin in der Second Avenue in der Schule und hier ist ein bewaffneter Mann. Er sagt, er wird zu schießen anfangen.“

„In Ordnung, bleiben Sie dran“, sagte die Frau am anderen Ende.

„Lassen Sie niemanden ins Gebäude, auch nicht die Polizei“, sagte ich, und ich wiederholte es mit mehr Nachdruck: „Lassen Sie niemanden ins Gebäude, auch nicht die Polizei.“

„Wo befinden Sie sich?“, fragte die Dame.

„Ich bin an der Rezeption.“

Bevor ich noch irgendetwas sagen konnte, sah ich den Bewaffneten, wie er einen der Kunststoffstühle hinter der Rezeption hervorholte, die Tür Richtung Eingang öffnete und den Stuhl so hinstellte, dass sie offen blieb. Danach ging er ein paar Schritte auf den Haupteingang der Schule zu. Von meinem Schreibtisch aus konnte ich sehen, wie er eine der Eingangsglastüren aufstieß. Dann sah ich, wie er sein Gewehr anlegte und nach draußen zielte.

Er begann zu schießen.

Ein Schuss, noch einer und immer mehr. Peng, peng, peng, peng. Es war so unglaublich laut – wie in einem Kriegsfilm. Ich hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können.

„Oh“, fuhr ich erschreckt am Telefon zusammen, „er ist gerade nach draußen gegangen und hat angefangen zu schießen.“

Und dann, so als würde ich um Erlaubnis bitten, fragte ich: „Kann ich wegrennen?“

„Können Sie an einen sicheren Ort gelangen?“, fragte die Leitstellentelefonistin.

Ich fragte sie erneut, ob ich gehen oder ob ich bleiben sollte, weil der Bewaffnete mich sehen würde, wenn ich den Gang hinunterging und dann vielleicht das Feuer eröffnen könnte. Instinktiv stand ich auf. Nur ein paar Meter entfernt schoss der Bewaffnete noch immer. Ich behielt ihn im Blick. Das war meine Chance, durch die Hintertür hinauszulaufen, hoffentlich bevor er mich bemerkte und sein Gewehr auf mich richtete. Ich versuchte, meine Beine zu bewegen, doch nichts geschah. Ich versuchte es wieder, doch sie rührten sich einfach nicht. Jetzt oder nie. Wenn ich jetzt nicht wegrannte, bekäme ich vielleicht keine weitere Chance.

Der Bewaffnete hörte auf zu schießen, kam zurück zur Rezeption und schlug die Tür hinter sich zu, schnaubend vor Wut.

Ich stand noch immer an meinem Schreibtisch. Anscheinend sollte ich nicht wegrennen.

***

Nachdem ich herausgefunden hatte, dass Terry meinen Verlobungsring dazu benutzt hatte, einer anderen Frau einen Antrag zu machen, hätte ich ihn auf der Stelle verlassen können. Doch das tat ich nicht. Denn in Wahrheit liebte ich Terry mehr als mich selbst. Sogar mehr, als ich Gott liebte. Ich konnte selbst nicht verstehen, wie das möglich war, doch es war so. Ich vergab Terry und blieb bei ihm.

Anscheinend sollte ich da auch nicht wegrennen.

Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Es war keineswegs so, dass ich diese Neuigkeiten gut aufgenommen hätte. Auf meinem Gesicht schmerzte die harte Ohrfeige des Betrugs. Und ich spürte das hässliche Gefühl, minderwertig zu sein, das sich dann einstellt, wenn man missachtet wird. Ich hatte diese Erfahrung schon einmal gemacht, denn ich fing erst an zu verstehen, wie groß die Wunde war, die mein Vater in meiner Kindheit verursacht hatte, nachdem er uns verlassen hatte. Und jetzt war da Terry, der womöglich das Gleiche tat. Der Anblick meines Rings am Finger einer anderen Frau löschte alles andere aus meinem Kopf. Ich konnte an nichts anderes denken als den Schmerz und die Qual, die ich empfand. Doch in mir war noch etwas anderes: Zorn. Ich fühlte mehr Zorn auf Terry als auf irgendjemand anderen, seit mein Vater mich mit einem Besenstil geschlagen hatte.

Während der ersten Jahre unserer Partnerschaft war Terry mehr als einmal fremdgegangen, aber damals waren wir jünger, und ich wusste, dass er am Ende immer zu mir zurückkommen würde. Das tat er auch. Aber jetzt waren die Dinge anders. Wir waren Eltern. Nicht nur das: Er hatte mich öffentlich betrogen. Jeder außer mir wusste davon. Er hatte mich vor der ganzen Gemeinde blamiert. Ich dachte, ich hätte mehr Respekt verdient als das. Und ich war dabei, ihn nun einzufordern.

„Jetzt reicht’s“, sagte ich zu Terry, als ich endlich unter vier Augen mit ihm sprechen konnte. „Genug ist genug. Entweder wir heiraten jetzt oder es ist vorbei.“

Und Terry machte, was er immer machte: Er entschied sich für mich. Verstehen Sie, ich glaubte an Terry und ich glaubte an uns. Selbst wenn Terry das noch nicht tat, so war mein Glaube dennoch stark genug für uns beide. Mit meinem ganzen Sein glaubte ich, dass Terry ein guter Mann war, der mich immer gut behandeln würde, auch wenn er hin und wieder strauchelte. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, Terry zu verlassen. An seiner Seite war der einzige Platz in der Welt, wo ich sein wollte.

Terry machte mit dem Mädchen aus dem Chor Schluss, doch als er etwas darüber erzählte, den Ring zurückzubekommen, erklärte ich ihm, dass ich diesen Ring nie wieder sehen wollte; sie konnte ihn behalten. Stattdessen gingen wir in den Juwelierladen und kauften zwei neue Ringe, einen für jeden von uns. Teure Ringe übrigens. Wir kauften sie mit einer kleinen Anzahlung und bezahlten sie in Raten über viele, viele Jahre ab. Aber ich glaubte, dass es das wert war, denn ich hatte vor, nur ein einziges Mal zu heiraten. Ich war dreiundzwanzig und ich kannte Terry jetzt seit zehn Jahren. Ich war mir absolut sicher, alle seine Dummheiten lägen nun hinter uns.

Trotzdem weigerte sich die für unsere Hochzeit zuständige Kirchenkoordinatorin, unsere Trauung vorzubereiten, weil sie sagte, dass Terry mich nicht wirklich lieben würde und es ihm mit der Heirat nicht ernst sei. Ich dachte, sie läge absolut falsch; das sagte ich ihr auch. Nicht lange danach kam auf der Straße eine Frau auf mich zu und sagte mir, ich solle nicht heiraten, weil der Mann, den ich zu heiraten beabsichtigte, kein guter Mann wäre. Ich hatte keinen Schimmer, wer diese Frau war, und beachtete sie auch nicht weiter. Im Rückblick verstehe ich, warum sie sagte, was sie sagte, und warum die Kirchenkoordinatorin so Position bezogen hatte. Wie meine Großmutter uns immer gesagt hatte, verfügen Erwachsene über viel mehr Weisheit als Kinder. Und vielleicht war diese Frau auf der Straße ein Engel, den Gott gesandt hatte und der versuchen sollte, mich auf einen anderen Weg zu bringen. Waren das vielleicht alles böse Vorzeichen, auf die ich mehr hätte achten sollen? Terry, der meinen Ring einer anderen Frau ansteckte? Unsere Kirchenkoordinatorin, die sich weigerte, unsere Trauung vorzubereiten? Eine Fremde, die mir sagte, dass er kein guter Mann sei? Vielleicht waren es böse Vorzeichen und vielleicht hätte ich sie beachten sollen. Aber das tat ich nicht. Wie bereits gesagt: Ich liebte Terry mehr als mich selbst.

Terry und ich warteten, bis wir einen Scheck über die Einkommensteuerrückzahlung erhielten. Dieses Geld verwendeten wir für ein bescheidenes Hochzeitsfest. Freundinnen von Terrys Mutter bereiteten das ganze Essen zu – jamaikanisches Hühnchen, Curry-Gerichte und sogar chinesisches Essen – und wir hielten die Zeremonie im Garten hinter dem Haus einer der besten Freundinnen seiner Mutter in Maryland ab. Jemand schmückte den Garten mit einem kleinen Torbogen und Blumen und wir stellten hundert weiße Klappstühle auf.

Einer dieser Stühle – so unwahrscheinlich das jetzt auch klingen mag – war übrigens reserviert für meinen Vater.

Ich hatte meinen Vater nicht mehr gesehen, seit er mich vor zehn Jahren verprügelt hatte. Doch trotz allem, was er mir angetan hatte, trotz der Tatsache, dass er nicht für mich da gewesen war, war in meiner Vorstellung immer er es gewesen, der mich zum Altar führen sollte, wenn ich eines Tages heiraten würde. Ich wollte eine traditionelle Hochzeit und das gehörte eben dazu. Also fasste ich mir ein Herz und rief ihn ein paar Wochen vor dem Hochzeitstermin an.

„Ich werde heiraten“, sagte ich zu ihm, „und ich will, dass du mich zum Altar führst.“

Einen Moment lang schwieg er. Dann sagte er: „In Ordnung, mich würde es auch freuen.“ An seiner Stimme erkannte ich, dass er es ernst meinte – er war froh, dass ich ihn gefragt hatte.

LaVita, die damals drei Jahre alt war, wurde unser Blumenmädchen. Sie trug das allerhübscheste fliederfarbene Kleid und eine Schleife in ihrem Haar. Terry trug einen Smoking in passendem Flieder und Weiß. Seine Mutter hatte mir im Vorfeld angeboten, mir ein Hochzeitskleid zu kaufen. Sie ging sogar in den Laden mit. Das Kleid, das wir dann ausgesucht haben, war wunderschön – glatter und seidener als alles, was ich bis dahin berührt hatte. Dazu trug ich einen kleinen weißen Hut und einen handgemachten Schleier.

Als der Tag der Trauung gekommen war, ging LaVita den Mittelgang entlang. Sie streute dabei Rosenblüten und weinte auf dem ganzen Weg. Sie hielt erst an, als ihr Papa sie vor dem Altar auf den Arm nahm. Danach war ich an der Reihe. Ich schritt am Arm meines Vaters zum Altar, während ein romantisches Lied erklang. Pastor Harper, mein Pastor von der Mentrotone Baptist Church in Washington, hielt die Trauung. Und Terrys Onkel, Pastor Tuff, sprach ein Gebet für unsere Eheschließung.

Wir gaben einander das Trauversprechen. An einem warmen und sonnigen Augusttag wurden Terry und ich Mann und Frau.

Eine Freundin von Terrys Mutter arbeitete bei der örtlichen Zeitung und so prangte am nächsten Tag ein Bild von unserer Hochzeit auf der Titelseite. Es zeigte Terry und mich, wie wir einander festhielten und im Sonnenlicht lachten. Wir sahen aus wie die zwei glücklichsten Menschen auf der Welt.

Ich glaube, an diesem Tag waren wir das auch.

***

Terry arbeitete bei einer Spedition als Lastwagenfahrer und ich fand eine Arbeit in der Verwaltung einer Behörde in Virginia. Wir mieteten eine Wohnung in Alexandria und begannen unser Leben als Familie.

Nach ein paar Jahren beschlossen wir, noch ein weiteres Kind zu bekommen. Terry wollte unbedingt einen Sohn. Er sagte mir, falls wir wieder ein Mädchen bekämen, müssten wir immer weiter Kinder bekommen, bis wir einen Jungen bekämen, selbst wenn wir letzten Endes genug Kinder für eine Basketballmannschaft haben würden. Ich sagte ihm, er solle besser meinen Bauch streicheln und feste beten, denn das war das letzte Kind, das ich zu bekommen geplant hatte.

Seine Gebete müssen gewirkt haben, denn das Ultraschallbild zeigte, dass wir einen Sohn bekommen würden. Wir beschlossen, dass sein Name Derrick sein sollte.

Terry war bei mir im Krankenhaus, als die Wehen einsetzten. Sie dauerten nicht lange, nur zwei Stunden. Als ich das Kind zum ersten Mal sah, fiel mir direkt auf, dass es sich sehr zu einer Seite hin neigte. Das sah irgendwie unnatürlich aus. Als eine Krankenschwester es mir dann auf den Arm gab, versuchte ich, seinen Kopf gerade auszurichten, doch er fiel gleich zurück auf die Seite. Der Arzt kam, untersuchte das Kind und sagte ein Wort, das ich nie zuvor in meinem Leben gehört hatte.

„Er hat ,Torticollis‘.“

Noch bevor ich wusste, was das bedeutete, hatte ich schon das Gefühl, vor Trotz laut aufschreien zu müssen. Es war ein medizinischer Fachbegriff, und in den ersten Augenblicken, wenn dein Kind geboren ist, willst du einfach keine medizinischen Fachbegriffe hören, nur Worte wie: „Was für ein schönes, gesundes Kind Sie da haben.“ Ich hatte das Gefühl, den Arzt anschreien zu müssen: „Nein, nein, hat er nicht. Er hat nichts dergleichen. Hören Sie auf so zu reden und lassen Sie mich und mein Kind in Ruhe.“

Schon kurz darauf sollte ich erfahren, dass Torticollis eine Anomalie bedeutet, welche die Nackenmuskulatur betrifft und dazu führt, dass der Kopf des Kindes sich aus der üblichen Position zu einer Seite, nach vorn oder nach hinten neigt. Man nennt diese Anomalie auch „Schiefhals“. Dieser kann zum Beispiel durch muskuläre Fibrose oder angeborene Anomalien der Wirbelsäule oder durch irgendeine Art von Verletzung verursacht sein. Mir war es egal, wie mein Sohn dies bekommen hatte. Ich wollte nur wissen, wie man es in Ordnung bringen konnte.

Das Krankenhaus besorgte uns einen Physiotherapeuten, der in den ersten paar Monaten mit Derrick arbeitete. Seine Nackenmuskulatur wurde ein bisschen stärker, doch sein Kopf war noch immer nicht gerade. Jedes Mal, wenn ich ihn ansah, spürte ich, wie meine Freude durch Furcht gedämpft wurde. Es war die Furcht, nicht zu wissen, was geschehen würde. Aber ich sagte mir auch, dass es noch schlimmer hätte kommen können. Abgesehen von dem Schiefhals war Derrick nämlich ein fröhlich verspieltes Baby. Er war neugierig und aufgeweckt. Bereits in dem Moment, als ich ihn zum ersten Mal erblickte, wusste ich, dass er ein Segen war, und ich hörte nie auf, das zu glauben. Ich wünschte ihm nur so verzweifelt, dass er gesund sein möge.

Als er sechs Monate alt war, brachte ich Derrick in eine Einrichtung, in der er mehr Physiotherapie erhielt. Als er dann zu sprechen begann, bemerkten wir, dass er die Worte undeutlich artikulierte. Er versuchte, bestimmte Worte zu sagen, doch er brachte sie nicht richtig hervor. Also zogen wir einen Logopäden hinzu, der seinen Physiotherapeuten ergänzte. Das war schon ein toughes Programm, was unser kleiner Junge da zu bewältigen hatte, aber Derrick meisterte es großartig. Er verlor nie seine Fröhlichkeit. Und ich betete zwischenzeitlich einfach nur weiter für ihn.

Als Derrick ein Jahr alt wurde, hatte er noch immer nicht zu gehen begonnen, und ich betete darum, dass er nur ein Spätentwickler sei. Aber als er dann endlich anfing, sich auf seine kleinen Füße zu stellen und zu versuchen, einen Schritt nach vorn zu machen, hatte er dabei große Probleme. Es war, als wären seine Beine zu schwach, um ihn zu tragen. Wochen vergingen, aber es fiel ihm immer schwerer zu gehen. Andere Kinder in seinem Alter rannten bereits umher, doch Derrick konnte keine fünf Schritte gehen, ohne zu stolpern.

Und da dämmerte mir eine schreckliche Wahrheit: Irgendetwas stimmt mit meinem Jungen ganz und gar nicht.

Keiner der Ärzte, die ihn untersucht hatten, hatte geäußert, dass er irgendwelche ernsten Probleme hatte. Wir arbeiteten daher einfach weiter mit ihm und beteten, dass es besser werden möge. Und meist fand Derrick einen Weg, obwohl er nicht normal gehen konnte, wie er um jedes andere Kind herumflitzen konnte – es war nicht wirklich rennen, aber so etwas Ähnliches. Und es war für alle ermutigend, wie er versuchte, mit seinen kleinen Freunden Schritt zu halten.

Als Derrick zwei war, wirbelte er in unserem Wohnzimmer herum und jagte seiner großen Schwester nach. In einer Ecke des Wohnzimmers hatte ich einen Tisch, auf dem alle Kristallglasteller und Gläser aufgestellt waren, die wir zur Hochzeit geschenkt bekommen hatten. Plötzlich ging Derrick in Richtung dieses Tisches los und hielt nicht an. Er landete direkt auf ihm und fiel anschließend zu Boden. Das ganze Kristallglas landete auf ihm und zerbrach überall um ihn herum. Ich eilte hinüber, hob ihn auf meinen Arm und suchte ihn nach Verletzungen ab. Doch ich fand keinen Kratzer an ihm. Er hatte sich überhaupt nicht wehgetan. Als ich ihn wieder auf den Boden ließ, wirbelte er einfach weiter herum, so als wäre nichts passiert.

Trotzdem war etwas passiert: Derrick hatte nämlich den Tisch nicht gesehen.

Auch mit seinen Augen schien etwas nicht in Ordnung zu sein.

***

Wir zogen einen Ergotherapeuten hinzu – Derricks dritte Art von Therapeut –, der ihm beibrachte, wie er Dinge tun konnte, mit denen er Schwierigkeiten hatte. Es stellte sich heraus, dass Derrick fast kein peripheres Sehvermögen besaß, was bedeutet, dass das, was sich nahe bei ihm befand, für ihn aussah, als wäre es hundertfünfzig Meter weit entfernt. Auch hatte er immer mehr Probleme beim Gehen und seine Aussprache wurde schlechter. Es schien, als würde sein Körper verfallen, und wir hatten keinen Schimmer, warum das so war.

Vom Kindergarten bis zur dritten Klasse kam Derrick allein zurecht. Aber in der vierten Klasse waren seine Beine so schwach, dass wir ihm einen kleinen Rollator besorgen mussten. Er ließ nicht zu, dass ihn der Rollator bremste, wenn überhaupt, dann machte er ihn schneller. Aber seine Beine wurden weiterhin schwächer, und als sein Oberkörper wuchs, wurde er zu schwer, als dass seine Beine ihn noch hätten tragen können.

Ab der sechsten Klasse brauchte Derrick einen Rollstuhl.

Von da an wurde alles nur noch schlechter. Derrick begann, sich in der Schule danebenzubenehmen, und es wurde eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) diagnostiziert. Als hätte er nicht schon genug Störungen gehabt. Danach bemerkte ich irgendwann, dass er Schwierigkeiten damit hatte, etwas in die Hand zu nehmen. Ich sah mir seine Hände genauer an und stellte fest, dass seine Finger sich zu krümmen begannen. Mein Gott, dachte ich, was jetzt?

So vieles lief schief bei Derrick, und noch immer konnte uns niemand sagen, was die Ursache dafür war. Eine Zeit lang war ich froh, dass kein Arzt eine schlüssige Diagnose stellen konnte. Ich hatte schreckliche Angst, Derrick zu verlieren. Deshalb dachte ich damals: Keine Neuigkeiten sind gute Neuigkeiten. Denn was auch immer schieflief, wir würden damit klarkommen. Aber womit ich nicht klarkommen könnte, wäre eine Diagnose, die mir mein Kind wegnehmen würde.

Als Derrick so weit war, die siebte Klasse zu besuchen, führte ein Arzt eine ganz umfassende Gewebeuntersuchung durch und bestellte uns in sein Büro, um die Ergebnisse zu besprechen.

„Ihr Sohn hat etwas, das man die ,Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung‘ nennt“, sagte er leise zu uns.

Ich hatte nie von so etwas gehört, und ich fragte mich, was denn seine Zähne (Anm. d. Übersetzers: engl. tooth = „Zahn“) damit zu tun hatten. Aber der Name ist in Wirklichkeit abgeleitet von den Nachnamen der Ärzte, die diese Krankheit entdeckt und beschrieben haben. CMT ist eine vererbte neurologische Störung, die die peripheren Nerven betrifft, welche mit den Muskeln des Körpers und mit den Sinnesorganen verbunden sind. Die Krankheit verursacht Schwäche in Beinen und Füßen sowie den Verlust der Muskelmasse in den unteren Gliedmaßen. Früher oder später befällt sie auch die Hände.

Es ist keine Ursache bekannt, woher die Erkrankung kommt, und es gibt keine Therapie. Wenn man CMT hat, hat man es ein Leben lang.

Dass nun mein Junge diese Krankheit hatte, war schmerzvoller als alles, was ich je empfunden habe. Solange es keinen Namen für das gab, was er hatte, konnte ich wohl an irgendeiner Hoffnung festhalten, aber jetzt wusste ich, dass es meinem Sohn wahrscheinlich niemals mehr besser gehen wird. Er war nicht nur behindert, er hatte mehr als nur eine Behinderung, und er würde immer Schwierigkeiten damit haben, einfache Dinge zu tun, die andere Menschen ohne nachzudenken taten. Der Gedanke daran, wie viel Schmerz und Leid mein Sohn würde ertragen müssen, war für mich fast mehr, als ich bewältigen konnte. Ich versuchte, stark zu sein, und ich versuchte, nicht auf Gott zornig zu sein. Ich betete um Weisheit und Stärke, um mit alledem umgehen zu können, das uns widerfahren war. Aber es war schwierig. All das waren sehr harte Zeiten für mich. Wenn ich doch nur all die Probleme, mit denen mein Sohn zu kämpfen hatte, auf mich hätte nehmen können – ich hätte sie mit Kusshand genommen. Aber das konnte ich nicht.

Insofern fiel es mir zu, von nun an stark zu sein, damit Derrick nicht sehen würde, dass ich am Boden zerstört war. Meistens gelang mir das, aber nicht immer.

Es gab viele Tage, an denen ich sah, wie Derrick herumhumpelte oder mit seinen kaputten Augen zum Himmel starrte oder einen Stift fallen ließ, den er nicht mehr festhalten konnte. Dann hatte ich keine Kraft mehr, meine Tränen zurückzuhalten. Ich fing direkt vor ihm zu weinen an, und ich versuchte verzweifelt, mein Schluchzen zu unterdrücken.

Trotz allem, was bei meinem Sohn nicht in Ordnung ist: Sein Verstand ist völlig in Ordnung. Er ist ein heller Kopf und klarer Denker, und er ist empfindsamer, gefühlvoller und aufmerksamer als viele andere. Er komponiert Musik, schreibt Lieder, und er singt diese, um mir dabei zu helfen, dass ich mich besser fühle. Er schien immer genau zu wissen, wann ich traurig war. Und er wusste auch immer, warum ich traurig war.

Dann schob er sich mit seinem Rollator oder in seinem Rollstuhl zu mir herüber, nahm meine Hand in seine kleine, sich schließende Hand und flüsterte mir folgende lieben Worte zu:

„Mami“, sagte er, „es ist in Ordnung. Wenn du siehst, dass ich weine, dann kannst du auch weinen. Aber ich weine nicht – weil ich weiß, dass Gott mich heilen wird. Also kannst du dich heute an meinen Glauben anlehnen.“

Derrick glaubte so sehr an sich selbst und an Gott, dass es für uns beide reichte.

Der Bewaffnete kam zurück an die Rezeption, während sein Gewehr noch rauchte. Er schnaubte vor Wut. Sein Gesicht glich einer Maske aus Raserei und Irrsinn. Er verlor die Kontrolle über sich selbst. Als er wieder zurück zu mir eilte, dachte ich, dass er jetzt, nachdem er draußen wie wild um sich geschossen hatte, hier drinnen zu schießen beginnt. Er wird die Kinder umbringen. Ich fasste mir ein Herz und wendete mich ihm zu, mit derselben Stimme wie zuvor.

„Die Notrufleitstelle nimmt jetzt Kontakt zur Polizei auf“, sagte ich, den Telefonhörer noch immer in meiner Hand. „Sie richtet denen von Ihnen aus, dass sie sich im Hintergrund halten sollen, in Ordnung?“ Ich sagte das, als hätte er nicht gerade sein Sturmgewehr abgefeuert.

„Sagen Sie denen, die sollen sofort aufhören, sich zu bewegen!“, schrie er.

„In Ordnung, stellen Sie alle Bewegungen auf dem Gelände ein“, richtete ich der Dame bei der Leitstelle aus. „Stellen Sie alle Bewegungen auf dem Gelände ein.“

„Sagen Sie denen, die sollen nicht den Polizeifunk oder die Schulsprechanlage verwenden, nur im Notfall“, sagte er.

Ich wiederholte seine Worte.

„Sprechen Sie mit dem Bewaffneten?“, fragte die Vermittlerin.

„Ja, was er mir sagt, erzähle ich Ihnen“, antwortete ich. Dann wandte ich mich an den Bewaffneten.

„Was soll ich ihr von Ihnen ausrichten?“

„Legen Sie auf!“, brüllte er. „Legen Sie jetzt auf!“

Ich nahm den Hörer herunter und legte ihn in die Schale – doch zuvor drückte ich die Taste, um das Gespräch zu halten. Die Verbindung wurde dadurch nicht unterbrochen. Die Notrufleitstelle war noch immer in der Leitung. Ich hatte mir nicht überlegt, das so zu machen, ich tat es einfach. Diese Telefonleitung war nun wie eine Rettungsleitung nach draußen, ich wollte sie offen halten. Außerdem wusste ich, dass der Bewaffnete das Telefon hinter der Theke auf dem Schreibtisch nicht sehen konnte. Vermutlich war das der Grund dafür, dass es mir dabei einigermaßen gut ging, während ich das tat. Nur Gott weiß, was passiert wäre, wenn er das blinkende Lämpchen für den gehaltenen Anruf gesehen hätte.

„Und jetzt rufen Sie einen Nachrichtensender an“, bellte er.

„In Ordnung“, sagte ich. „Welchen Nachrichtensender?“ Ich hatte solche Angst, dass mir nicht einfiel, wo ich hätte anrufen können.

„Rufen Sie einen Nachrichtensender an“, wiederholte der Bewaffnete.

„Ich habe keine Nummer. Haben Sie eine?“

„Ja, ich habe die Nummer“, sagte er, aber er gab sie mir nicht.

Stattdessen setzte er sich auf den Stuhl und öffnete seinen schwarzen Rucksack. Er nahm eine kleine Wasserflasche heraus, schraubte den Verschluss ab, nahm einen langen Zug und setzte den Verschluss wieder drauf. Anschließend griff er wieder in seinen Rucksack. Dieses Mal zog er etwas heraus, das schwarz und sperrig war.

Es war ein weiteres Magazin für seine Kalaschnikow.

Der Bewaffnete machte sich ans Werk, so als hätte er das bereits etliche Male zuvor in einer stillen Kammer geübt. Er griff in seinen Rucksack, zog eine Handvoll loser Munition heraus und lud die Gewehrpatronen ganz methodisch in das Magazin. Nachdem er es befüllt hatte, legte er es hin und griff nach einem weiteren. Wieder schaufelte er eine Handvoll Patronen heraus und füllte auch dieses Magazin. Insgesamt machte er wohl vier oder fünf Magazine fertig, ganz genau kann ich mich nicht mehr daran erinnern. Danach griff er in den Rucksack, holte eine Handvoll Gewehrpatronen heraus und stopfte sich diese in seine Hosentaschen – bis seine Taschen ganz ausgebeult waren.

Während seines Nachlade-Rituals hörte ich mein Mobiltelefon vibrieren.

Ich blickte kurz auf, um zu sehen, ob der Bewaffnete es bemerkt hatte, doch das hatte er nicht. Im Stillen dankte ich Gott, dass ich mein Handy auf Vibrieren gestellt hatte. Eine Regel an der McNair besagt, dass Lehrkräfte und Mitarbeitende ihre Mobiltelefone immer auf Vibrieren gestellt haben müssen, aber natürlich dachten wir nicht immer daran, das zu tun. Glücklicherweise hatte ich aber an diesem Tag daran gedacht. Keiner weiß, was der Bewaffnete getan hätte, hätte ich es vergessen.

Ganz unauffällig sah ich auf mein Mobiltelefon. Es war eine Textnachricht von einer der Lehrerinnen im Gebäude.

„Stimmt das wirklich?“, lautete die Nachricht.

Die Lehrerin hatte meine Ansage über die Hausanlage gehört. Vielleicht sogar die Schüsse. Doch anscheinend konnte sie noch immer nicht vollständig verarbeiten, was hier gerade geschah, denn es war viel zu schrecklich, um wahr zu sein. Ich konnte das allzu gut nachvollziehen. Ich wollte nicht, dass mich der Bewaffnete an meinem Handy sieht, also tippte ich ganz vorsichtig nur zwei Buchstaben ein: „JA.“

Ich sah zu dem bewaffneten Mann. Er stopfte gerade die letzten Patronen in seine Taschen. Insgesamt waren es Hunderte, soweit ich das beurteilen konnte. Dann schnappte er sich sein Gewehr, zog das leere Magazin heraus und ließ es auf den Boden fallen. Er nahm eines der neu geladenen Magazine und schob es ins Gewehr. Es rastete mit einem scharfen metallischen Klicken ein. Ich werde diesen Laut nie vergessen.

Der bewaffnete Mann war jetzt vollends bereit.

Was auch immer sein Vorhaben war: Er war bereit, es durchzuziehen.

Die Schwierigkeiten bedrängen
uns von allen Seiten,
und doch werden wir
nicht von ihnen überwältigt.
Wir sind oft ratlos,
aber wir verzweifeln nicht.
Von Menschen werden wir verfolgt,
aber bei Gott finden wir Zuflucht.
Wir werden zu Boden geschlagen,
aber wir kommen dabei nicht um.
2. KORINTHER 4,8+9