Dr. Daniel – Jubiläumsbox 5 – 6er Jubiläumsbox

Dr. Daniel
– Jubiläumsbox 5–

6er Jubiläumsbox

E-Book: 23-28

Marie Francoise

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-952-7

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Karina wird zum Sorgenkind

Roman von Marie-Francoise

  Wie gebannt starrte Karina Daniel auf das Hochzeitsfoto, das ihr Bruder Stefan ihr in seinem letzten Brief mitgeschickt hatte. Sie selbst hatte ihn um dieses Foto gebeten, doch jetzt…

  Karinas Finger zitterten, während sie das Bild betrachtete. Sie wollte es aus der Hand legen… es zerreißen… und doch – sie konnte keinen Blick davon wenden.

  Wie zärtlich der Mann mit den dunklen Locken und den sanften, rehbraunen Augen seine bezaubernde blonde Braut doch anlächelte. Karina haßte ihn beinahe für dieses Lächeln und wußte dennoch gleichzeitig, daß sie nie wieder einen Mann so sehr lieben würde wie ihn.

  »Wolfgang«, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme, dann stand sie auf, holte einen Bilderrahmen aus der untersten Schublade des

Sideboards und schob das Foto unter das Glas. Einen Augenblick betrachtete sie es noch, dann stellte sie es auf das Sideboard, und es schien, als würde die Likörkaraffe nur zufällig die Seite des Fotos verdecken, die die junge Braut zeigte.

  Der sich im Schloß drehende Schlüssel riß Karina in die Wirklichkeit zurück.

  »Liebes! Bist du da?« erklang im nächsten Moment die Stimme ihres Verlobten Jean Veltli.

  »Ja, ich bin hier!« antwortete Karina und versuchte verzweifelt, die letzten Tränenspuren zu beseitigen.

  Jetzt trat er herein – ein großer, schlanker Mann Ende Zwanzig mit dichtem, dunklem Haar und strahlend blauen Augen. Ein Lächeln spielte um seinen sensiblen Mund, und Karina wußte, daß es eine Menge Frauen gab, die ihr Leben dafür gegeben hätten, wenn sie von Jean nur einmal so angelächelt worden wären. Der junge Schweizer hatte sich nämlich durch sein beispielhaftes Können auf dem Klavier einen Namen gemacht, den Kenner mit Ehrfurcht aussprachen. Jean Jacques, wie sein Künstlername lautete, war in beinahe allen Konzertsälen auf der ganzen Welt ein Begriff, und nicht nur Frauen lagen ihm zu Füßen, wenn er spielte.

  Zärtlich nahm er Karina in die Arme.

  »Du hast mir gefehlt«, gestand er leise, während seine Lippen ihr goldblondes Haar berührten.

  Karina brachte es nicht über sich, etwas zu erwidern. Eine Lüge wollte sie nicht aussprechen, und die Wahrheit… die konnte sie ihm auch nicht sagen.

  Doch Jean war feinfühlig genug, um zu bemerken, daß mit seiner Verlobten etwas nicht in Ordnung war. Prüfend sah er sie an.

  Sie schüttelte den Kopf. »Nur ziemlicher Streß an der Uni. Das Medizinstudium ist schwieriger, als ich dachte.«

  Jean spürte, daß das nicht die Wahrheit war, doch er wußte auch, daß er jetzt nicht näher auf dieses Thema eingehen durfte. In diesem Moment fiel sein Blick auf das Foto. Und er begriff sofort, weshalb die Braut von der Likörkaraffe verdeckt war. Abrupt löste er sich von Karina.

  »Du liebst ihn also immer noch«, stieß er hervor, und dabei schwang in seiner Stimme unüberhörbare Bitterkeit mit. »Wirst du ihn denn niemals vergessen?«

  Karina vergrub das Gesicht in den Händen und schluchzte auf.

  »Jean, verzeih mir«, bat sie leise. »Ich habe alles versucht, aber…« Hilflos zuckte sie die Schultern.

  Jean griff nach dem Bilderrahmen und betrachtete das Foto eingehend.

  »Dr. Wolfgang Metzler«, erklärte er, dann sah er Karina an. »Was fasziniert dich so an ihm? Daß er siebzehn Jahre älter ist als du? Ein reifer, erfahrener Mann? Oder daß er sich so lange im Ausland aufgehalten hat? Damit kann ich allerdings auch konkurrieren. Sogar mehr als das. Ich habe mit Sicherheit mehr von der Welt gesehen als er. Oder reizt er dich nur, weil er bereits vergeben ist? Und seine Frau ist auch noch überaus hübsch.«

  Karina schluchzte auf. »Wie gemein du sein kannst!«

  Mit ungewohnter Heftigkeit stellte Jean den Bilderrahmen wieder auf das Sideboard.

  »Karina, ich liebe dich!« rief er aus, und in seiner Stimme klang Verzweiflung mit. »Ich habe dich vom ersten Augenblick an geliebt – damals, als du in das Musikzimmer gekommen bist, weil dich der Klang meines Kaviers hergelockt hatte. Mozart und Chopin. Erinnerst du dich?« Er senkte den Kopf. »Ich wandte dir den Rücken zu, und da hast du mich für Wolfgang gehalten.« Jetzt blickte er wieder auf, und in seinen Augen lag eine solche Qual, daß es Karina ins Herz schnitt. »Seitdem steht er zwischen uns. Du bist mit mir zusammen, aber du denkst an ihn.«

  »Das ist nicht wahr«, widersprach Karina ohne große Überzeugungskraft. »Ich denke nicht ständig an ihn. Es ist doch nur… ich weiß nicht, wie ich es erklären soll.«

  »Eine Erklärung ist nicht nötig«, entgegnete Jean mit unüberhörbarer Bitterkeit. »Ich habe keine Kraft mehr, um noch länger gegen ihn zu kämpfen. Ich bin am Ende, Karina, und ich fürchte, unsere Beziehung ist es auch.«

*

  Die Vormittagssprechstunde war ausnahmsweise einmal früher beendet als sonst, und so hatte Dr. Robert Daniel noch vor dem Mittagessen Zeit, seine Post durchzusehen. Ein Brief im DIN-A-5-Format erregte sofort seine Aufmerksamkeit.

  »Alexandra Deinhardt«, las er den Absender, dann erinnerte er sich auch schon. Die junge Frau hatte bis vor einem Jahr in Steinhausen gelebt, dann war sie mit ihrem Mann und dem damals knapp einjährigen Christoph nach Norddeutschland gezogen. Seitdem hatte Dr. Daniel nichts mehr von ihr gehört, und es erstaunte ihn ein wenig, daß sie ihm jetzt plötzlich schrieb.

  Entschlossen riß er den Umschlag auf und hielt im nächsten Moment das Foto einer glückstrahlenden Familie in der Hand. Alexandra Deinhardt, ihr Mann Günther und der mittlerweile zweijährige Christoph. Dr. Daniel lehnte sich auf seinem Sessel zurück und betrachtete das Bild eingehend. Dabei glitten seine Gedanken unwillkürlich zurück. Wie dramatisch die Geburt des kleinen Christoph damals verlaufen war!

  Alexandra Deinhardt hatte unbedingt zu Hause entbinden wollen, obwohl Dr. Daniel ihr davon abgeraten hatte. Er hatte keinen Grund dafür angeben können, es war mehr so ein ungutes Gefühl gewesen, das sich schließlich auch bewahrheitet hatte.

  Die Einleitungsphase hatte sich lange hingezogen. Bei Erstgebärenden rechnete Dr. Daniel ja immer mit acht bis zehn Stunden, doch als sich nach dieser langen Zeit der Muttermund immer noch nicht vollständig geöffnet hatte, war seine Besorgnis noch gewachsen. Und dann waren die Wehen plötzlich ausgeblieben.

  »Ist es… vorbei?« füsterte Alexandra schwach.

  »Nein, ich fürchte, jetzt fängt es erst richtig an«, meinte Dr. Daniel und stand auf, um sofort einen Krankentransport zu organisieren. Dann injizierte er seiner Patientin ein wehenförderndes Medikament, doch es schlug nicht an. Und die Herztöne es Ungeborenen begannen zu holpern.

  Mit Blaulicht und Martinshorn war Alexandra in die Klinik von Dr. Daniels bestem Freund, Dr. Georg Sommer, transportiert worden. Hier war schon alles vorbereitet, denn Dr. Daniel hatte die Patientin natürlich telefonisch angekündigt, obwohl er später nicht mehr hätte sagen können, wann er die Zeit dafür gefunden hatte.

  Es dauerte keine fünf Minuten, bis das Baby per Kaiserschnitt entbunden worden war.

  Allein der Gedanke daran ließ Dr. Daniel noch heute frösteln, dann legte er das Foto beiseite und griff nach dem beigefügten Brief.

  Lieber Herr Dr. Daniel, stand da. Sie werden sich wundern, so unerwartet von mir zu hören, aber ich wollte Ihnen endlich einmal zeigen, wie groß unser Christoph schon geworden ist. Außerdem gibt es Neuigkeiten, die ich unmöglich für mich behalten kann. Wir werden nämlich in Kürze wieder nach Steinhausen zurückkehren. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich darüber freue. Auf diese Weise wird nämlich das Baby, das ich erwarte, in meinem Heimatort geboren…

  Dr. Daniel blickte von dem Brief auf. Alexandra Deinhardt erwartete also wieder ein Kind. Und das schon nach verhältnismäßig kurzer Zeit. Dabei hatte er ihr ganz eindringlich geraten, sich mit einer zweiten Schwangerschaft Zeit zu lassen.

  Er schüttelte den Kopf.

  »Sie hat ja noch nie auf mich gehört«, murmelte er, und dabei war er ganz froh, daß sie nach Steinhausen zurückkam. Auf diese Weise konnte er wenigstens dafür sorgen, daß auch ihr zweites Baby gesund zur Welt kommen würde, denn schließlich wußte er nicht nur von Alexandras erstem Kaiserschnitt, sondern auch von der bestehenden Wehenschwäche. Die mußte bei der zweiten Geburt zwar nicht zwangsläufig eintreten, aber wenn es doch geschehen sollte, dann war er wenigstens darauf vorbereitet.

  Er seufzte. »Hoffentlich wird es nicht wieder so dramatisch wie bei Christoph werden.«

*

  Das Klingeln an der Tür schreckte Karina Daniel aus dem leichten Schlaf, in den sie gefallen war. Mühsam erhob sie sich von ihrem Sofa und versuchte wieder Leben in ihre Glieder zu bekommen. Das Sofa war wirklich nicht gerade der bequemste Schlafplatz, aber so in halbsitzender Lage war ihr wenigstens nicht ganz so übel.

  Mit langsamen, fast scheppenden Bewegungen ging sie zur Tür und öffnete sie, doch ihre leise Hoffnung, Jean wäre vielleicht zurückgekehrt, erfüllte sich nicht. Vor ihr stand Martin Wegmann, ein Studienkollege.

  »Sag mal, Karina, was ist mit dir los?« wollte er wissen und verzichtete dabei auf eine Begrüßung. »Seit zwei Wochen warst du nicht mehr in der Uni. Bist du krank?«

  Karina zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht.« Sie öffnete die Tür ganz. »Komm doch herein, Martin. Wir müssen uns ja nicht hier so zwischen Tür und Angel unterhalten.« Daß sie das Gefühl hatte, keine Sekunde länger mehr stehen zu können, verschwieg sie lieber.

  »Du siehst ja ganz entsetzlich aus«, entfuhr es Martin, als sie das Wohnzimmer betraten und mehr Licht auf Karinas blasses Gesicht fiel.

  »Danke für das Kompliment«, meinte sie mit offenem Sarkasmus in der Stimme. »Ich weiß selbst, daß ich schon bessere Tage gesehen habe.« Mit einem tiefen Seufzer ließ sie sich auf das Sofa fallen. »Ich fühle mich wirklich nicht besonders, aber das liegt nicht an einer Krankheit.«

  »Sondern?« hakte Martin nach, während er neben ihr Platz nahm.

  Wieder zuckte Karina die Schultern. »Private Probleme.«

  »Mit deinem Verlobten«, ergänzte Martin.

  Karina zog die Augenbrauen hoch. »Du bist ja glänzend informiert.«

  »Nein, ich kann nur zwei und zwei zusammenzählen. Schau mal, dein Verlobter hat dich seit fast vier Wochen nicht mehr von der Uni abgeholt, und zufällig weiß ich, daß er nicht auf Konzertreise ist.«

  Karina kam aus dem Staunen wirklich nicht mehr heraus. Martin schien ihr anzumerken, was sie dachte.

  »Ich sehe vielleicht schon so aus, aber ich interessiere mich für klassische Musik«, gestand er mit einem fast verlegen wirkenden Lächeln. »Und ich bin auch nicht blind. Als ich deinen Verlobten zum ersten Mal gesehen habe, wußte ich sofort, wer er ist. Jean Jacques ist ein Begriff bei Liebhabern der klassischen Musik.«

  »Das stimmt«, gab Karina zu. »Und du hast auch vollkommen recht. Zwischen Jean und mir hat es einen tiefen Riß gegeben.«

  »Einen, der sich nicht mehr kitten läßt?«

  »Ich weiß es nicht.« Karina senkte den Kopf. »Ich bin an allem, was passiert ist, selbst schuld, aber…« Sie stockte einen Moment. »Ich glaube, ich muß erst wieder richtig zu mir finden, bevor ich einen Versöhnungsschritt unternehmen kann.«

  Da zog Martin einen dicken Ordner aus seiner Aktentasche hervor. »Hier sind meine Notizen über die Vorlesungen der letzten zwei Wochen.« Er lächelte. »Natürlich fein säuberlich abgetippt, denn meine Handschrift will ich dir nicht zumuten. Und auch in Zukunft kann ich dich zumindest insoweit mit dem Wichtigsten versorgen, bis du dich wieder imstande fühlst, die Uni zu besuchen.« Er schwieg einen Moment, dann setzte er hinzu: »Vielleicht solltest du Freiburg für ein paar Tage den Rücken kehren und zu deinem Vater nach Steinhausen fahren.«

  Karina nickte. »Das habe ich auch vor.« Dann lächelte sie. »Danke, Martin. Es ist lieb von dir, daß du mir hilfst.«

  »Schon gut«, wehrte er bescheiden ab. »Vielleicht werde ich über deine Hilfe einmal genauso froh sein.«

*

  Dr. Daniel erschrak ein wenig, als Alexandra Deinhardt sein Sprechzimmer betrat. Nach ihrer schriftlichen Mitteilung, daß sie ein Baby erwarten würde, hatte er gedacht, sie stünde erst am Anfang ihrer Schwangerschaft, dabei mußte sie mindestens schon im achten Monat sein.

  »Guten Tag, Herr Doktor«, grüßte sie, dann brachte sie ein verlegenes Lächeln zustande. »Ich war nicht sehr folgsam.«

  Dr. Daniel nickte. »Das scheint mir auch so, Frau Deinhardt.« Er bot ihr mit einer einladenden Geste Platz an. »Eine Schwangerschaft zu diesem Zeitpunkt ist nicht gerade günstig.«

  Alexandra nickte. »Ich weiß, und ich habe mich auch immer bemüht zu verhüten, aber…« Ein wenig hilflos zuckte sie die Schultern. »Es ist einfach so passiert.«

  Einfach so, das schien Dr. Daniel dann doch eine Untertreibung zu sein. Heutzutage mußte eine Frau normalerweise nicht mehr schwanger werden, wenn sie es nicht wollte.

  »Es läßt sich nun ja nicht mehr ändern«, meinte Dr. Daniel. »Allerdings erwarte ich von Ihnen, daß Sie regelmäßig alle zwei Wochen zu mir kommen.«

  »Bei meinem bisherigen Gynäkologen war ich einmal im Monat«, wagte Alexandra zu erwidern.

  »Ihr bisheriger Gynäkolog wußte vermutlich auch nichts von den dramatischen Umständen bei Christophs Geburt«, vermutete Dr. Daniel.

  Alexandra schwieg, doch ihr Erröten allein war Antwort genug.

  »Darf ich Ihren Mutterpaß sehen?« bat der Arzt.

  »Selbstverständlich«, murmelte Alexandra und gab ihm das Heft.

  Gewissenhaft betrachtete Dr. Daniel die Eintragungen seines norddeutschen Kollegen. Bisher war die Schwangerschaft problemlos verlaufen, aber das war bei Christoph genauso gewesen.

  »Zwei Wochen vor dem Geburtstermin werden wir einen Kaiserschnitt vornehmen«, erklärte Dr. Daniel.

  »Nein!« widersprach Alexandra energisch. »Ich möchte so gern normal entbinden. Günther und ich üben schon für die natürliche Geburt.«

  Dr. Daniel schüttelte den Kopf. Wie konnte Alexandra nur so unvernünftig sein!

  »Frau Deinhardt, Sie wissen genau, was bei Christophs Geburt passiert ist. Sie hatten eine plötzliche Wehenschwäche, der mit keinem Medikament beizukommen war. Das muß bei dieser zweiten Schwangerschaft nicht zwangsläufig wieder passieren, aber die Wahrscheinlichkeit ist dennoch sehr groß. Dazu kommt, daß Sie vor nicht einmal zwei Jahren mit Kaiserschnitt entbunden wurden, und ich habe große Zweifel daran, daß die Naht jetzt schon einer natürlichen Geburt standhalten würde.«

  Alexandra erschrak. »Heißt das, mein Bauch kann einfach aufplatzen?«

  »Nein, Frau Deinhardt, so, wie Sie es sich jetzt vorstellen, sicher nicht. Die Naht, mit der die Gebärmutter damals geschlossen wurde, kann nachgeben. Wenn das passiert, dann rutscht ihr Baby in die Bauchhöhle, und das wäre sein Todesurteil. Darüber hinaus könnten die entstehenden Blutungen auch für Sie lebensgefährlich werden.«

  Alexandra war nun ganz blaß geworden. »O mein Gott. Ich habe nicht gedacht, daß diese Schwangerschaft ein solches Risiko in sich birgt.«

  »Ich habe es Ihnen damals aber gesagt«, entgegnete Dr. Daniel ernst. »Und zwar in aller Deutlichkeit. Ich hatte Ihnen geraten, mindestens zwei Jahre zu warten.« Er zuckte die Schultern. »Aber daran läßt sich ja nun nichts mehr ändern. Und soweit es in meiner Macht steht, werden sowohl Sie als auch Ihr Baby Schwangerschaft und Geburt ohne Schaden überstehen.«

*

  Die plötzlichen Schmierblutungen erschreckten Karina Daniel zutiefst. An die tägliche Übelkeit hatte sie sich mittlerweile schon fast gewöhnt, und auch das Spannen der Brüste hatte sie hingenommen. Daß das alles Zeichen einer beginnenden Schwangerschaft sein könnten, verdrängte sie. Sie nahm die Pille, also konnte sie nicht schwanger sein. In ihrem Körper mußte etwas anderes nicht in Ordnung sein.

  Nach langem Zögern suchte sie einen Frauenarzt auf, der in der Nähe ihrer Studentenwohnung praktizierte. Von ihrem Vater und auch von dem Arzt, den sie in München immer konsultiert hatte, war sie eine moderne und penibel saubere Praxis gewohnt, daher war sie von den Räumen dieses Dr. Behrens nicht sehr angetan. Einen Augenblick war sie versucht, die Praxis wieder zu verlassen, doch ihre Angst, daß die Schmierblutungen etwas Ernstes… vielleicht sogar etwas Bösartiges bedeuten könnten, hielt sie davon ab.

  »Frau Daniel.«

  Die Sprechstundenhilfe begleitete Karina ins Untersuchungszimmer. Auch das war ihr fremd. Ihr Münchner Arzt hatte sie immer zuerst zu einem Gespräch in sein Ordinationszimmer gebeten, bevor er eine Untersuchung vorgenommen hatte, und auch von ihrem Vater wußte sie, daß er es mit seinen Patientinnen ebenso handhabte.

  Jetzt wurde die Tür forsch aufgerissen, und ein großer, hagerer Arzt trat herein. Mißbilligend musterte er seine Patientin.

  »Warum haben Sie sich noch nicht freigemacht?« wollte er in barschem Ton wissen.

  Karina erschrak vor dieser unfreundlichen Anrede.

  »Ich… ich dachte, Sie würden erst mit mir sprechen… ich meine, Sie wissen ja gar nicht, was mir fehlt«, brachte sie mühsam hervor.

  »Das können Sie mir auch erzählen, wenn Sie auf dem Stuhl liegen«, meinte der Arzt. »Und nun beeilen Sie sich bitte. Ich habe hier noch andere Patientinnen zu versorgen.«

  Mit bebenden Händen kam Karina dieser Aufforderung nach, und jetzt bereute sie es wirklich, daß sie hierhergekommen war. Noch nie war sie von einem Gynäkologen derart grob behandelt worden.

  Währenddessen fragte Dr. Behrens sie über ihre Beschwerden aus, und kaum hatte sie auf dem gynäkologischen Stuhl Platz genommen, da rückte er mit seinem fahrbahren Stuhl auch schon näher und begann mit der Untersuchung.

  Nun war Karina beileibe nicht empfindlich, doch was sie hier erlebte, hätte kaum unangenehmer sein können. Zum Teil war die Untersuchung so schmerzhaft, daß sie regelrecht zusammenzuckte.

  »Seien Sie doch nicht so wehleidig!« herrschte Dr. Behrens sie an. »Sie sind ja wohl nicht zum ersten Mal beim Frauenarzt.«

  Tränen schossen Karina in die Augen. Die psychische Belastung war ohnehin groß genug, seit Jean sie verlassen hatte. Dazu kamen ihre schlechte körperliche Verfassung und nun die Blutungen, die ihr solche Angst bereiteten.

  »Da ragt ein Polyp in den Gebärmutterhals«, erklärte Dr. Behrens jetzt. »Der verursacht allem Anschein nach die Blutungen.« Da stand er auf. »Ich werde ihn gleich entfernen.«

  Karina erschrak. »Aber… tut das nicht sehr weh?«

  »Meine Güte, sind Sie empfindlich«, meinte Dr. Behrens. »Nur keine Angst, Sie bekommen eine örtliche Betäubung, und in ein paar Minuten ist alles vorbei.«

  Ergeben schloß Karina die Augen und hoffte inständig, daß der Arzt recht behalten möge. Ihre Hände waren feucht vor lauter Angst, und wieder wünschte sie, sie wäre niemals hierhergekommen.

  »So, dann wollen wir mal«, erklärte Dr. Behrens, nahm die örtliche Betäubung vor und entfernte dann den Polypen. Anschließend schickte er Karina gleich nach Hause.

  Und hier erlebte sie sofort eine böse Überraschung, denn als sie ihre kleine Studentenwohnung betrat, fühlte sie schon Blut über ihre Beine laufen. Ihr Slip war blutgetränkt, und jetzt, da die Wirkung der Lokalanästhesie nachließ, setzten beinahe unerträgliche Schmerzen ein.

  »Papa,«, schluchzte Karina. »O Gott, Papa, hilf mir.«

*

  Die Sprechstunde bei Dr. Daniel hatte gerade begonnen, als eine sehr extravagant gekleidete Dame von Ende Vierzig ins Vorzimmer stürmte.

  »Wo ist meine Tochter?« fragte sie mit befehlsgewohnter Stimme.

  Die junge Empfangsdame Gabi Meindl sah sie erstaunt an. Mit derart unhöflichen Patientinnen wurde sie nur selten konfrontiert.

  »Wer sind Sie bitte?« fragte sie höflich, aber betont kühl.

  Die Dame reckte sich in die Höhe, als könne sie es nicht fassen, daß man ihr eine solche Frage überhaupt stellte.

  »Gräfin Henriette von Gehrau«, verkündete sie und betonte dabei jede einzelne Silbe.

  »Ach, du Schande«, entfuhr es Gabi, dann stand sie auf und bemühte sich um besondere Förmlichkeit. Das war bei einer Dame von so hohem Stand sicher angebracht. »Ich werde Ihre Tochter sofort von Ihrem Hiersein in Kenntnis setzen.« Sie überlegte, wie man eine Gräfin wohl am besten betitelte, kam aber dabei zu keinem Ergebnis, und so fügte sie nur hinzu: »Einen Augenblick bitte, gnädige Frau.« Mit diesen Worten konnte man wohl kaum etwas falsch machen.

  Dann verschwand sie blitzschnell im Labor.

  »Sarina, Ihre Mutter ist draußen«, flüsterte sie hastig.

  »Ich hab’s gehört«, knurrte die junge Sprechstundenhilfe unwillig, dann schlug sie mit der flachen Hand auf die Arbeitsfläche, daß die Reagenzgläser klirrten. »Wie hat sie das nur herausbekommen?«

  Gabi – normalerweise durch nichts zu erschüttern – wurde ein wenig unruhig.

  »Ich glaube, Sie sollten Ihre Mutter nicht zu lange warten lassen«, meinte sie. »Sie scheint mir doch recht…« Gabi suchte vergeblich nach einem passenden Wort für den Eindruck, den Gräfin Henriette auf sie gemacht hatte.

  »Sie ist eine Schreckschraube«, urteilte Sarina kalt, dann seufzte sie. »Vergessen Sie’s, Gabi. Das war nicht so gemeint, aber… meine Mutter hat es seit jeher sehr gut verstanden, mir das Leben schwerzumachen.« Sie zuckte die Schultern und brachte dann sogar ein schiefes Lächeln zustande. »Trotzdem liebe ich sie… irgendwie.«

  Das konnte sich Gabi nur schwer vorstellen, aber das alte Sprichwort ›Blut ist dicker als Wasser‹ schien sich gelegentlich eben doch zu bewahrheiten.

  »Sarina«, hielt sie ihre Kollegin zurück, die eben das Labor verlassen wollte. »Wie spricht man eine Gräfin denn eigentlich an? Ich habe da nämlich keine Erfahrung.«

  »Schlicht und einfach mit ›Durchlaucht‹«, antwortete Sarina mit unüberhörbarem Sarkasmus in der Stimme, denn damit hatte sie bewußt etwas zu hoch gegriffen. Dann verließ sie das Labor endgültig und trat ihrer Mutter unter die tadelnden Augen.

  »Mama, schön, dich zu sehen«, behauptete Sarina.

  »Das ist ja wohl nicht dein Ernst«, entgegnete Gräfin Henriette bissig. »Hättest du mich wirklich sehen wollen, dann wäre ich nicht gezwungen gewesen, extra einen Detektiv zu bemühen.« Sie schüttelte den Kopf. »Welch eine Blamage!«

  »Ach weißt du, Mama, ich mußte doch erst ein bißchen Fuß fassen«, versuchte Sarina sich herauszureden. »Anfangs hatte ich hier doch ziemliche Probleme… mit der Arbeitssuche, meine ich.«

  Angewidert sah sich Gräfin Henriette in dem Vorzimmer der Praxis um, dann fiel ihr Blick auf den weißen Kittel, den ihre Tochter trug. Ein abgrundtiefer Seufzer entrang sich ihrer Brust.

  »Wie kannst du mir nur so etwas antun, Sarina«, stöhnte sie. »Bei einem Frauenarzt… also wirklich.«

  »Die Arbeit hier ist sehr interessant, und Dr. Daniel ist ein wundervoller Chef«, erklärte Sarina voller Begeisterung. »Wenn du ihn erst kennengelernt hast, wirst du ihn bestimmt auch mögen.«

  »Ich werde ihn ganz sicher nicht kennenlernen«, erwiderte Gräfin Henriette sehr von oben herab. »Und du, meine Teure, wirst auf der Stelle kündigen und mit mir nach Hause kommen. Da gibt es genügend Beschäftigung für ein junges Mädchen. Standesgemäße Beschäftigung, wohlgemerkt.«

  »Mama, daran habe ich kein Interesse, und das weißt du auch«, entgegnete Sarina entschieden. »Bei Antiquitäten kenne ich mich nicht aus, die Pferdezucht ist Papas Revier, und die Brauerei in München untersteht meinem werten Bruder Harro. Also, was soll ich auf Gut Gehrau?« Mit weitausholender Handbewegung deutete sie auf die Praxis. »Hier werde ich gebraucht. Die Arbeit interessiert mich, und sie füllt mich aus. Und es kommt noch etwas hinzu – vielleicht sogar der wichtigste Punkt überhaupt. Ich denke nämlich nicht daran, Dr. Daniel im Stich zu lassen.«

  »Das ist doch Unsinn«, entgegnte Gräfin Henriette. »Dein Chef findet auch eine andere Sprechstundenhilfe. Und jetzt komm endlich.«

  »Du scheinst mich nicht verstanden zu haben, Mama«, erklärte Sarina. »Ich kehre nicht nach gut Gehrau zurück. Hier ist mein neues Zuhause. Ich fühle mich wohl in Steinhausen, und ich habe nicht die geringste Sehnsucht nach dem steifen Leben, das mich auf Gut Gehrau erwarten würde.«

  »Darüber sprechen wir noch«, prophezeite Gräfin Henriette, dann drehte sie sich hocherhobenen Hauptes um und öffnete die schwere eichene Eingangstür. Aber bevor sie die Praxis verließ, wandte sie sich Sarina noch einmal zu. »Ich bleibe hier in Steinhausen, bis du bereit bist, mit mir nach Hause zu kommen.«

*

  Karina Daniel brauchte nicht einmal eine halbe Stunde, um sich darüber klar zu werden, was sie jetzt tun mußte. Zu Dr. Behrens würde sie kein zweites Mal gehen, und um einen anderen Arzt aufzusuchen – dazu fehlte ihr nach dem eben Erlebten der Mut. Mit den heftigen Schmerzen und der nicht zu stillenden Blutung hätte sie eigentlich unverzüglich in die Freiburger Uni-Klinik fahren müssen, doch sie sehnte sich nach der Geborgenheit bei ihrem Vater.

  Und so saß sie schließlich im Zug nach München und fühlte, wie sie von Minute zu Minute schwächer wurde. Auf der Toilette stellte sie fest, daß die Blutung zwar schwächer geworden war, aber nicht einmal die beiden dicken Monatsbinden vermochten all das Blut aufzunehmen, das sie seit der Abfahrt von ihrer Studentenwohnung verloren hatte. Karina warf die blutgetränkten Binden in den Abfalleimer, legte sich zwei neue Binden an und kehrte in ihr Abteil zurück. Erschöpft ließ sie sich auf ihren Sitz fallen und schloß die Augen. Sie war todmüde, doch die bohrenden Schmerzen in ihrem Unterleib ließen es nicht zu, daß sie einschlief.

  »Ist Ihnen nicht gut, junge Frau?« fragte die ältere Dame, die Karina gegenübersaß.

  »Doch«, behauptete Karina leise. »Doch, es ist alles in Ordnung.«

  Die Dame glaubte ihr offensichtlich kein Wort, ließ die Sache aber zumindest im Moment auf sich beruhen. Trotzdem beobachtete sie Karina ganz genau.

  »Junge Frau, Sie sollten an der nächsten Station aussteigen und sich zu einem Arzt bringen lasen«, erklärte die Dame schließlich.

  »Ich bin auf dem Weg zum Arzt«, entgegnete Karina. Sie wußte, daß sie längst wieder auf die Toilette gehen sollte, doch sie war einfach zu schwach, um aufzustehen. Der starke Blutverlust führte zu Schwindelanfällen und immer größerer Müdigkeit.

  »Und wo ist dieser Arzt?« hakte die Dame nach.

  »In Steinhausen… mein Vater. Dr. Daniel.« Karina hatte Mühe, einen klaren Gedanken zu fassen, trotzdem kam es ihr in den Sinn, daß die Dame vielleicht nicht wußte, wo Steinhausen lag. »In der Nähe von München.«

  »Da ist es aber noch eine ganze Ecke hin«, gab die Dame zu bedenken. »Ich fürchte, so lange werden Sie nicht mehr durchhalten.« Sie zögerte. »Ich will Ihnen nicht zu nahetreten, aber… Sie bluten.«

  Karina warf einen Blick nach unten und sah, daß ein dünner Blutfaden über ihre rechtes Bein lief.

  »O Gott«, stöhnte sie auf, dann begann sie hilflos zu schluchzen. »Ich muß aber nach München. Zu einem anderen Arzt gehe ich nicht mehr.«

  Die Dame stand auf. »Kommen Sie, junge Frau, legen Sie sich erst mal hin.« Dann warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr. »In spätestens einer Stunde müßten wir in München sein. Und dort werden ich Sie sofort in ein Krankenhaus bringen.«

  »Aber… Sie kennen mich doch gar nicht«, wandte Karina ein.

  Die Dame zuckte die Schultern. »Na und? Ist das so wichtig? Sie sind krank, und ich bin gesund, also helfe ich Ihnen. Sie würden im umgekehrten Fall sicher dasselbe tun.«

  Trotz ihrer Angst und der Schmerzen brachte Karina ein Lächeln zustande. »Ja, wahrscheinlich.« Sie schwieg einen Moment. »Ich weiß nicht, ob ich in München noch bei Bewußtsein sein werde. Sie sehen ja, daß ich viel Blut verliere, und ich fühle, wie ich immer schwächer werde. Bitte lassen Sie mich nicht in irgendein Krankenhaus bringen. Ich möchte in die Klinik von Dr. Georg Sommer. Er kennt mich seit meiner Geburt.«

  Die Dame nickte. »Ich werde Sie persönlich dort abliefern. Sie können sich darauf verlassen.« Sie lächelte beinahe mütterlich. »Nur Ihren Namen sollte ich vielleicht noch wissen.«

  »Daniel. Karina Daniel.«

  »Ich heiße Hedwig Klein«, entgegnete die Dame, doch sie war nicht sicher, ob Karina das überhaupt noch gehört hatte, denn unmittelbar nachdem sie ihren Namen genannt hatte, hatte sie die Augen geschlossen.

  »Armes Kind«, murmelte Hedwig. »Was mag nur mit dir geschehen sein?«

  Dann stand sie auf, holte aus ihrem Koffer zwei Handtücher und preßte sie Karina zwischen die Beine.

  »Was ist denn hier los?«

  Der Schaffner, der eben durch die Abteile ging, um bei den neu zugestiegenen Reisenden die Fahrkarten zu kontrollieren, blickte entsetzt auf die Szene, die sich ihm bot.

  »Die junge Frau hat schwere Blutungen«, erklärte Hedwig Klein. »Sie muß in München unverzüglich in ein Krankenhaus.«

  Der Schaffner nickte. »Ich kümmere mich darum.«

  »Warten Sie!« hielt Hedwig ihn noch einmal zurück. »Es muß ein bestimmtes Krankenhaus sein. Die Klinik von Dr. Georg Sommer.«

  Der Schaffner zögerte. »Und wenn dort kein Bett frei ist?«

  »Für diese Patientin ist sicher ein Bett frei. Sie heißt Karina Daniel, und der Doktor kennt sie seit ihrer Geburt.«

  »In Ordnung. Ich werde tun, was ich kann.«

  Es dauerte nicht einmal eine Viertelstunde, bis der Schaffner zurückkam.

  »Am Hauptbahnhof wird ein Krankenwagen warten, der Sie und die junge Frau dann unverzüglich in die Sommer-Klinik bringen wird«, erklärte er und warf einen Blick auf die Uhr. »In einer halben Stunde etwa werden wir München erreichen.«

  Hedwig blickte die jetzt wie tot daliegende Karina besorgt an. »Hoffentlich schafft sie das bis dahin noch.«

*

  Dr. Daniel war gerade mitten in einer Untersuchung, als Gabi Meindl ein Telefongespräch durchstellte.

  »Dr. Sommer aus München ist am Apparat«, erklärte sie hastig. »Und er sagt, es sei dringend.«

  Dr. Daniel warf seiner Patientin, die auf dem gynäkologischen Stuhl lag, einen kurzen Blick zu.

  »Ich muß diese Untersuchung noch zu Ende bringen«, meinte er. »Dr. Sommer möchte sich bitte eine Minute gedulden.«

  Gewissenhaft und rücksichtsvoll wie immer nahm Dr. Daniel die Untersuchung bei der Patientin vor, und während sie hinter den Wandschirm trat, um sich wieder anzukleiden, entschuldigte er sich für einen Augenblick und ging in sein Sprechzimmer hinaus. Erst hier nahm er den Anruf seines besten Freundes entgegen.

  »Schorsch? Tut mir leid, daß es so lange gedauert hat, aber ich hatte eine Patientin auf dem Stuhl«, entschuldigte er sich, bevor er Dr. Sommer zu Wort kommen ließ.

  Sein Freund ging aber gar nicht darauf ein.

  »Robert, kannst du zu mir nach München kommen?« fragte er nur. »Jetzt gleich?«

  »Wie stellst du dir das vor? In meinem Wartezimmer sitzen zwei Patientinnen und weitere fünf erwarte ich noch – unangemeldete gar nicht erst mitgerechnet.«

  »Hör zu, Robert, ich habe gerade einen Anruf bekommen«, erklärte Dr. Sommer in merkwürdig ernstem Ton. »Und zwar aus dem Zug, der in einer halben Stunde aus Freiburg im Münchner Hauptbahnhof ankommt.«

  Der Schreck fuhr Dr. Daniel in alle Glieder.

  »Karina«, stieß er hervor. »Ist etwas mit Karina?«

  »Es scheint so. Etwas Genaues weiß ich leider noch nicht. Der Schaffner konnte mir nur sagen, daß sie starke Blutungen hat und möglicherweise ohne Bewußtsein ist. Eine ältere Dame kümmert sich um sie.«

  »O mein Gott«, stöhnte Dr. Daniel, dann stand er auf. »Ich komme sofort. Ich weiß zwar noch nicht, wie ich das alles auf die Reihe kriegen soll, aber jedenfalls bin ich in einer halben Stunde bei dir.« Dann wollte er auflegen, doch Dr. Sommers Stimme hielt ihn zurück.

  »Robert! Fahr um Himmels willen vorsichtig. Und wenn du es dir nicht zutraust, dann laß dich von Stefan fahren.«

  »In Ordnung«, stimmte Dr. Daniel zu, dabei wußte er jetzt schon, daß er seinen Sohn nicht um diesen Gefallen bitten würde. Stefan war schließlich als Assistenzarzt in der Steinhausener Waldsee-Klinik beschäftigt, und da konnte er ihn nicht einfach aus dem Dienst wegholen.

  Es kostete Dr. Daniel einige Mühe, sich an das zu erinnern, was er unmittelbar vor dem Anruf seines Freundes gemacht hatte, doch dann fiel ihm die Patientin wieder ein, die noch immer im Nebenzimmer saß und darauf wartete, daß er das Untersuchungsergebnis mit ihr besprechen würde.

  Dr. Daniel versuchte, das Gespräch mit der gleichen Freundlichkeit zu führen wie immer, doch es wollte ihm nicht so recht gelingen. Die Sorge um seine Tochter nahm ihn viel zu sehr mit, und so war er froh, als sich die Patientin endlich verabschiedete.

  Rasch folgte er ihr nach draußen und wandte sich dann gleich an seine Sprechstundenhilfe.

  »Fräulein Sarina, ich muß dringend nach München«, erklärte er ohne große Umschweife. »Würden Sie die beiden Damen, die noch im Wartezimmer sind, bitten, ein anderes Mal wiederzukommen? Und auch die restlichen Termine müßten verlegt werden. Dringende Fälle kann auch die Waldsee-Klinik übernehmen. Vielleicht sind Sie so lieb und informieren den Chefarzt.«

  Erstaunt sah Sarina von Gehrau ihren Chef an. So nervös, geradezu hektisch kannte sie ihn überhaupt nicht.

  »Herr Doktor, was ist denn passiert?« fragte sie besorgt.

  Dr. Daniel fuhr sich mit einer Hand durch das dichte, blonde Haar. »Wenn ich das so genau wüßte. Es geht um meine Tochter. Sie scheint krank zu sein. Vielleicht hatte sie auch einen Unfall. Jedenfalls ist sie auf dem Weg in die Sommer-Klinik.«

  Tröstend legte Sarina eine Hand auf den Arm ihres Chefs. »Vielleicht ist es ja nichts Ernstes.«

  Dr. Daniel seufzte leise. »Ich fürchte schon.« Dann warf er einen Blick auf seine Armbanduhr. »Ich möchte jedenfalls sofort nach München fahren.«

  »Ich werde mich um die Verlegung der Termine kümmern, aber…« Sarina stockte. Es widerstrebte ihr, Dr. Daniel zurückzuhalten. »Frau Deinhardt wäre die nächste Patientin, und Sie sagten…«

  Wieder fuhr sich Dr. Daniel durch das Haar – ein Zeichen, wie groß die Belastung war, der er in diesem Augenblick unterlag.

  »Sie haben recht, Fräulein Sarina«, erklärte er. »Um Frau Deinhardt muß ich mich noch kümmern. Schicken Sie sie gleich herein.«

  Dr. Daniel brauchte nicht einmal eine Minute zu warten, bis Alexandra Deinhardt sein Sprechzimmer betrat. Sie strahlte über das ganze Gesicht.

  »Herr Doktor, ich fühle mich großartig«, platzte sie heraus, ehe er eine Frage stellen konnte. »Und eigentlich ist es völlig unnötig, daß mich meine Mutter im Haushalt und bei der Arbeit mit Christoph unterstützt. Aber sie läßt es sich nun mal nicht nehmen.«

  »Das freut mich«, meinte Dr. Daniel, dabei kostete es ihn große Mühe, sich überhaupt auf das Gespräch zu konzentrieren. Er nahm den Mutterpaß zur Hand, den Sarina mit zu der Karteikarte gelegt hatte, doch die Eintragungen verschwammen vor seinen Augen. Er konnte nur noch an Karina denken.

  »Die ganze Schwangerschaft verläuft vollkommen problemlos«, drang Alexandras Stimme wieder in seine Gedanken. »Wäre es nicht doch möglich, daß ich normal entbinde?«

  Dr. Daniel hätte am liebsten laut aufgestöhnt. Warum konnte diese Frau nicht begreifen, in welche Gefahr sie sich und ihr Baby mit einer Spontangeburt bringen würde? Normalerweise hätte Dr. Daniel in einem solchen Fall ruhig und sachlich reagiert, doch heute schaffte er das einfach nicht.

  »Wie oft soll ich es Ihnen eigentlich noch sagen, daß das ganz unmöglich ist?« entgegnete er, und seine Stimme klang dabei ungewohnt scharf.

  Alexandra erschrak. So kannte sie den warmherzigen und immer freundlichen Dr. Daniel nicht.

  »Es tut mir leid, wenn ich dumme Fragen stelle«, murmelte sie mit gesenktem Kopf.

  Dr. Daniel wischte sich mit einer fahrigen Handbewegung über die Stirn.

  »Nein, Frau Deinhardt, ich muß mich entschuldigen«, entgegnete er. »Ich bin momentan in großer Sorge um meine Tochter, deshalb habe ich ein wenig heftig reagiert. Es tut mir leid.« Er atmete tief durch. »Ich verstehe Ihren Wunsch nach einer normalen Entbindung sehr gut, aber ich habe es Ihnen schon einmal gesagt: In Ihrem Fall wäre es ein unnötiges Risiko. Wenn die Naht, mit der die Gebärmutter nach dem ersten Kaiserschnitt geschlossen wurde, der Belastung bei der Geburt nicht standhält, dann würde zumindest für Ihr Baby jede Hilfe zu spät kommen.«

  »Ich verstehe«, meinte Alexandra niedergeschlagen. Sie hätte diese zweite Geburt so gern wach miterlebt. »Dann werden Sie mein Baby nächste Woche also mit Kaiserschnitt holen. Und ich werde dieses wundervolle Ereignis wieder mal verschlafen.«

  Dr. Daniel schüttelte den Kopf. »Das muß nicht sein, Frau Deinhardt. Wir können den Kaiserschnitt unter der sogenannten Periduralanästhesie durchführen. Das ist eine Art örtliche Betäubung, bei der Sie keine Schmerzen haben, die Geburt aber wach miterleben können.« Er warf einen Blick auf die Uhr. »Bitte, verzeihen Sie, aber ich kann Ihnen das jetzt nicht ausführlich genug erklären, weil ich dringend nach München muß. Wenn Sie an dieser Art des Kaiserschnitts Interesse haben, dann kommen Sie doch morgen oder übermorgen noch einmal zu mir – auch ohne Termin. Da können wir dann alles in Ruhe besprechen.«

  Ein Lächeln glitt über Alexandras Gesicht. »Das wäre ja wunderbar, Herr Doktor.« Sie stand auf. »Und Ihr Angebot nehme ich gern an. Ich werde gleich morgen früh hier sein.«

  Dr. Daniel verabschiedete sich von seiner Patientin, dann riß er hastig seinen weißen Kittel herunter und verließ eiligst sein Sprechzimmer. Draußen wartete Sarina mit dem Autoschlüssel in der Hand.

  Erstaunt sah Dr. Daniel sie an. »Fräulein Sarina, was soll denn das?«

  »Ich werde Sie nach München fahren, Herr Doktor«, erklärte die junge Sprechstundenhilfe so entschieden, daß Dr. Daniel sekundenlang sprachlos war.

  »Wie kommen Sie denn auf einen solchen Gedanken?« wollte er nach einer Weile des Schweigens wissen. »Ich fühle mich durchaus in der Lage…«

  »Haben Sie schon in einen Spiegel geschaut?« fiel Sarina ihm ins Wort. Es war das erste Mal, daß sie das getan hatte. »Sie sehen aus, als würden sie jeden Moment umkippen, und ich werde nicht zulassen, daß Sie sich in diesem Zustand ans Steuer setzen. Außerdem habe ich meine Arbeit erledigt. Alle Termine sind verlegt, und wenn heute vormittag wirklich noch etwas anfallen sollte, dann ist Gabi auch noch da.«

  »Sarina hat ganz recht«, mischte sich die Empfangsdame Gabi Meindl jetzt ein. »Es wäre unverantwortlich, Sie mit dem Auto auf die Straße zu lassen. Bitte, Herr Doktor, lassen Sie sich von Sarina fahren.«

  Dr. Daniel war gerührt über soviel Besorgnis.

  »Wahrscheinlich haben Sie recht«, stimmte er zu. »Die Fahrt nach München könnte in meinem momentanen Zustand tatsächlich zu einer Gefahr werden.«

*

  Mit Blaulicht und Martinshorn raste der Krankenwagen die Auffahrt zur Notaufnahme der Sommer-Klinik hinauf. Dort warteten bereits zwei Pfleger, die die besinnungslose Karina in Empfang nahmen und im Laufschritt in die Klinik fuhren. Dann war auch schon Dr. Sommer zur Stelle.

  »In den OP«, ordnete er an, obwohl er noch gar nicht wußte, ob das nötig sei. Aber er wollte kein unnötiges Risiko eingehen.

  Die erste Untersuchung seiner Patientin ließ ihm dann förmlich das Blut in den Adern gefrieren.

  »O mein Gott!« stieß er hervor, und als hätte Karina seine Worte gehört, schlug sie plötzlich die Augen auf.

  Daß sie in dieser Situation wieder zu sich kam, überraschte Dr. Sommer so sehr, daß er zweimal hinschauen mußte, um sich zu vergewissern, daß das junge Mädchen die Augen wirklich offen hatte.

  »Karina, was hast du da getan?« fragte er entsetzt.

  »Ich war bei einem Arzt«, brachte sie leise hervor. »Es war ganz schrecklich, Onkel Schorsch.«

  »Ein Arzt hat das verbrochen?« Dr. Sommer schüttelte den Kopf, als könne er es einfach nicht glauben.

  »Papa«, flüsterte Karina. »Wo ist Papa?«