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Wolfgang Habel wurde am 30.März 1951 in Seligenthal, Thüringen, geboren. Nach Verlassen der DDR Ende der 50er Jahre und Übersiedlung nach NRW, studierte er nach Abschluss des Gymnasiums Chemie an der Universität Dortmund mit anschließender Promotion. Anfang der 70er Jahre war er bei R.W. Oberhausen Fußballprofi in der Bundesliga. 2016 beendete er seinen Hochschuldienst an der Universität Duisburg-Essen.

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Urworte, orphisch

ΔAIMΩN, Dämon

Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,

Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,

Bist alsobald und fort und fort gediehen

Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.

So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen,

So sagten schon Sibyllen, so Propheten;

Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt

Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.

Johann Wolfgang von Goethe

Wolfgang Habel

Auf der Straße ins Ungewisse

1.Teil

Die Flucht

© 2018 Wolfgang Habel

Umschlag, Illustration:

Lektorat, Korrektorat:

Weitere Mitwirkende: Erhard Habel

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN:

Paperback: 978-3-7469-0145-9

Hardcover: 978-3-7469-0146-6

e-Book: 978-3-7469-0147-3

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhalt

Prolog

Mikosch

Die Dienstreise

Der Funktrupp

Die Flucht

Unterwegs

Kleopatra

Lida

Im “Fidelen Ochsen“

Die Eulenburg

Zwei Todeskandidaten

Die Henkersmahlzeit

Zwischenstation

Das Panzerjagdkommando

Die Fahrt ins Blaue

Vera

Endstation

Miroslav Tschulinsky

Stellungswechsel

Die Rückkehr

Vorab

Nicht eine Flaschenpost, kein Zufallsfund vergilbter Blätter in einer vergessenen Speicherecke oder ein seltsames Testament mit der Bitte ein deponiertes Skript zu veröffentlichen, nein, erzählte Geschichten meines Vaters sind der Antrieb und Anlass des vorliegenden Buches, besser gesagt der beiden Bücher.

Seine Erzählungen haben mich schon in frühester Jugend gebannt und gefesselt, sowohl durch die Kunst seines Erzählens, als auch durch den spannenden und durchaus optimistisch unernsten Inhalt. Unernst trifft eher zu als komisch, denn komisch war das Erlebte im tieferen Sinne bei weitem nicht. Geschildert werden seine Erlebnisse der letzten Monate des zweiten Weltkrieges und des folgenden halben Jahres im weiteren Umfeld seiner Geburtsstadt Ostrau. Erlebnisse, die immer wieder gehört, sich zu einem Ganzen zusammenfügten und einen chronologischen Sinn und nicht nur chronologischen Sinn bekamen. Hilfreiche Aufzeichnungen erlaubten es ein Gesamtbild zu entwerfen und den Versuch zu wagen, einen Charakter im Umgang mit dem unvermeidlichen Ungewissen in menschlichen Grenzsituationen deutlich werden zu lassen. Dies war ich meinem Vater und seinem nicht so häufig Erlebten schuldig.

Prolog

Mit voller Wucht ließ ich den Gewehrkolben auf den Stein hinuntersausen. Den Gewehrlauf mit beiden Händen ergreifend, die Arme hoch über dem Kopf gestreckt, den Oberkörper weit nach hinten gebeugt, so hatte ich mit allen mir zu Verfügung stehenden Kräften zugeschlagen. Nun musste der Kolben in tausend Stücke zerbersten und das Gewehr für immer und ewig unbrauchbar machen. Er musste, aber er tat es nicht. Mit lautem Krachen traf das Holz den Stein, rutschte ab und setzte seinen Weg unbeirrt und mit der gleichen Geschwindigkeit fort. Sehr zu meinem Verdruss, denn es riss mir die Füße vom Stein, und ich klatschte der Länge nach in das eiskalte Wasser, das ich mir zur Gewehrvernichtung ausgesucht hatte.

Während ich völlig überrascht über diese Heimtücke im schadenfroh plätschernden Wasser des munteren Bächleins liegen blieb, warf ich einen Hilfe suchenden Blick zum jenseitigen Ufer. Dort musste mein edler Freund Mikosch weilen, der jetzt sicherlich, durch mein trauriges Missgeschick aufgeschreckt, herbeieilen würde, um mir aus dem nassen Element zu helfen.

Aber nichts dergleichen geschah. Ich sah mit meinen vom Wasser getrübten Augen nur verschwommen eine menschliche Gestalt am Ufer herumturnen, und hin und wieder drang durch das Rauschen des Baches seine Stimme in meine wassergefüllten Ohren.

„Du willst nicht", hörte ich ihn keuchen, „du willst nicht, aber verlass dich drauf, du wirst noch wollen!" Als ob er den Baum fällen wollte, so schmetterte er den Kolben seines Schießprügels an den Stamm. „So, du willst immer noch nicht! Aber jetzt kriege ich dich klein, pass nur auf!" Er nahm erneut Anlauf, um seinen Vorsatz endgültig wahr zu machen. Meine unsanfte Wasserlandung hatte er in seinem Eifer überhaupt nicht zur Kenntnis genommen,

Als ich mich reichlich abgekühlt und vor Kälte klappernd hoch rappelte und aus dem Wasser watete, erwischte es auch ihn. Mit lautem Wehgeschrei ließ er das Gewehr auf seinen Fuß fallen.

„Meine Hand, mein Händchen!" schrie er aus Leibeskräften und begann, am Ufer herumzuhüpfen und mit den Händen zu schlenkern. „Meine Händchen, aua, aua ! Herr Doktor, die Schmerzen!"

Triefend vor Nässe stand ich, als er sich umdrehte, hinter ihm. Ohne meinen bedauerlichen Zustand zur Kenntnis zu nehmen, hielt er mir seine Hand unter die Nase.

„Guck doch mal da, sie ist schon ganz rot. Die kann ich bestimmt nie wieder zu etwas gebrauchen" Und nach einer kurzen Pause, in der er mich mit einem seiner melancholischen Blicke gemustert hatte, fuhr er fort: „Du bist ja so nass! - Da, sie schwillt schon an, fühl mal!"

Langsam riss der Geduldsfaden. Und als er mir zum zweiten Mal sein Händchen vor die Nase hielt, wurde ich wütend. „Einen großen Schmarren werde ich fühlen!“ brüllte ich los, „Da stößt sich der Kerl ein kleines bisschen an seiner Dreckpfote und erhebt ein Geschrei, als ob der ganze Kopf ab wäre. Sieh mich doch mal an! Klatschenass bin ich, bis auf die Knochen durchweicht, und das bei dieser Kälte! Was mach' ich jetzt nur?"

Das mit der Kälte war bestimmt nicht übertrieben, denn der April hatte es wieder einmal in sich. Hatte gestern noch die Sonne geschienen, so wehte heute ein eisiger Wind aus dem Osten und beutelte an meiner durchnässten Uniform. Er schien auch an meiner Haut nicht Halt zu machen, sondern drang mir durch Mark und Bein. Ich schlotterte vor Kälte. Mit klappernden Zähnen begann ich den Hang zum Bach hinaufund hinunterzulaufen, wobei ich meine Arme wie Windmühlenflügel kreisen ließ.

Mikosch verfolgte meine verzweifelten Bemühungen, dem Erfrierungstod zu entrinnen, mit anklagenden, vorwurfsvollen Blicken. Als ich an ihm vorbeilief, bemerkte er, dass ihm inzwischen auch die rechte große Zehe sehr weh täte und er nicht mehr wüsste, welche Schmerzen die größeren seien.

Ich nahm sein Gewinsel überhaupt nicht zur Kenntnis. Nachdem ich so an die zehnmal den Hang hinauf- und hinuntergehastet war, wurde mir allmählich ein wenig wärmer. Keuchend trat ich an meinen Freund heran.

„Hör mal, Mikosch, ich glaube, du hast wohl nicht alle Tässchen im Schränkchen, so ein Lamento anzustimmen! Hast du denn ganz vergessen, aus welchem Grund wir uns hier versammelt haben?“

„Ach ja, du hast ja recht. Aber mir war dieser Gedanke für einen Moment entschlüpft, total entfleucht, weißt du.“ Mikosch erhob sich stöhnend. Er hatte soeben seine große Zehe betastet und anscheinend beruhigt festgestellt, dass dieselbe noch in voller Größe und am vorgesehenen Platz vorhanden war. Mikosch erhob sich also, klimperte mehrere Male mit seinen Augendeckeln und erklärte feierlich: „Hiermit erkläre ich den…den…, äh…, den…, wie heißt das doch gleich?"

„Den Krieg", soufflierte ich.

„Ach ja, richtig, Krieg hieß das. Also, hiermit erkläre ich den Krieg für beendet."

„Auch ich erkläre den Krieg mit allem Drum und Dran für beendet", wiederholte ich.

Und zur Bekräftigung versetzte Mikosch seinem Gewehr noch einen kräftigen Tritt, zu seinem Leidwesen mit der lädierten Zehe, was einen erneuten Tanz auslöste.

„Mann, Mikosch, ich weiß zwar, wie schwer dir das fällt, aber sei doch ausnahmsweise ein einziges Mal vernünftig! Wenn die uns hier erwischen, sind wir geliefert. Meine Flinte im Wasser, deine total verbogen. Also verduften wir von hier, und das so schnell wie möglich!"

„Du hast recht, edler Freund. Schreiten wir also gleich zu Punkt drei unseres Planes und verduften wir.“

Mikosch

An dieser Stelle muss ich ein wenig zurückgreifen, um unsere Lage verständlich zu machen.

Es begann eigentlich bereits im Dezember 1944. Damals lag ich in einem Lazarett in Wlaschim, einem kleinen Städtchen ungefähr 60 Kilometer südlich von Prag. "Lag" ist eigentlich nicht der richtige Ausdruck, "lief herum" klingt da schon besser. Diesen Aufenthalt hatte ich einer Erfrierung beider Füße zu verdanken, die ich mir auf der sonnigen Krim zugezogen hatte. Der Heilungsprozess hatte sich glücklicherweise über ein ganzes Jahr erstreckt. Nunmehr erwartete ich lediglich ein Paar orthopädische Schuhe, und ich durfte geheilt und frisch gestärkt wieder auf das Schlachtfeld ziehen.

In der Zwischenzeit war ich dank meiner kümmerlichen Kenntnisse in Stenographie und Schreibmaschine als Schreiber beim Stationsarzt gelandet und versuchte, ihn durch heftiges Humpeln davon zu überzeugen, dass mit mir auf dem Schlachtfeld so viel wie gar nichts anzufangen war. Leider hielt ihn mein derart zur Schau getragener körperlicher Defekt nicht im Geringsten davon ab, sich nach einem neuen Schreiberling umzusehen. Und wenn ich manchmal das Hinken vergaß, dann erinnerte er mich daran.

Aus besagten Gründen war meine Laune nicht die beste, als ich eines Tages zwischen den Krankenbaracken durchmarschierte, um einen Stapel Krankenpapiere auf die Schreibstube zu bringen. Es war bitterkalt, und auf den verschneiten Wegen war kein Mensch zu sehen. Frierend klappte ich den Mantelkragen hoch, als plötzlich eine hoch gewachsene, klapperdürre Gestalt um die Ecke bog.

Es war, das konnte ich schon von weitem erkennen, ebenfalls ein Schreibstubenbulle, denn auch er schleppte einen Stoß Krankenpapiere mit sich herum. Was mir aber noch mehr auffiel, war sein Gang. Er hinkte nämlich fürchterlich. Dagegen war das Watscheln einer altersschwachen Ente der reinste Parademarsch. Das lag an seinem rechten Fuß, der fast haltlos herumbaumelte, wäre er nicht von seinem Besitzer mit einem Schnürsenkel am Schienbein angebunden worden.

Während ich bewundernd diese geniale Konstruktion betrachtete, humpelte der Dürre immer näher heran. Plötzlich blieb er stehen, stieß einen unartikulierten Schrei aus, warf die Krankenpapiere achtlos in den Schnee und fiel mir um den Hals. Dabei brüllte er noch einmal los, viel lauter und in unmittelbarer Nähe meiner Ohrmuschel.

War ich zuerst bei der unerwarteten Umarmung wie erstarrt stehen geblieben, so hatte ich nun das Gefühl, mir würde das Trommelfell ins Gehirn geblasen. Entsetzt riss ich mich los und sprang einen Meter zurück, um das Gesicht des Schreiers näher in Augenschein zu nehmen. Ein einziger Blick genügte und meine Krankenpapiere landeten ebenfalls im Schnee.

„Der zwölfköpfige Tatzelwurm soll mich mit Haut und Knochen zum Frühstück verspeisen, wenn du nicht mein Freund Hardi bist, den ich in den Armen halte!“

„Ich bin es, Mikosch, Freund und Zwetschkenröster, ich bin es", rief ich, über alle Maßen erfreut.

Wir hieben uns auf die Schultern, dass der Schnee nur so stäubte und führten wahre Freudentänze auf, wobei vom Hinken keine Rede mehr war. Schließlich warfen wir uns in den Schnee und wälzten uns darin herum. Dabei stimmten wir zu zweit ein derartiges Freudengebrüll an, dass einige Fenster der umstehenden Baracken aufgingen, hinter denen erstaunte Gesichter auftauchten.

Schon einmal hatten wir uns im Schnee getroffen. Im Jahre 1942 war es, als wir gemeinsam einige Wintertage in der Wochenendhütte meiner Eltern verbrachten. Damals fuhren wir auf Skiern aufeinander zu, wobei “fahren“ nicht ganz der richtige Ausdruck ist. Als blutige Anfänger des Skisports purzelten wir eher aufeinander zu und bargen gerührt unser Antlitz in den Schnee, als wir zusammenprallten.

Drei Jahre lang hatten wir nichts mehr voneinander gehört, und nun wälzten wir uns wieder einmal im Schnee herum.

Gemeinsam hatten wir die Schulbänke des ehrwürdigen Gymnasiums in Ostrau mit unvergänglichen Schnitzereien, versehen, hatten gemeinsam so manches Pensum nicht gelernt und waren gemeinsam bei so manchem Streich nicht erwischt worden.

Mikosch hieß eigentlich Theo, aber dieser Name war weder bekannt, noch passte er zu ihm. Alle, sogar die Lehrer, nannten ihn Mikosch. Früher dachte ich, er hieße so, weil er dauernd Witze vom Grafen Mikosch erzählte. Er versicherte mir aber, dass er die Witze nur deshalb zum Besten gäbe, weil ihn alle Mikosch nannten. So blieb die Entstehung seines Spitznamens auf ewige Zeiten unergründet.

Mikosch war im gleichen Alter wie ich, also bei unserer schicksalhaften Begegnung 20 Jahre alt. Er war mindestens 1,90 Meter groß und überaus schlank, so dass er eher das Attribut dürr verdiente. Sein Gang wirkte schlaksig, kein Wunder, mussten doch seine unglaublich dünnen, behaarten Beine ein paar überdurchschnittlich große Füße tragen, die er beim Gehen schlurfend nach innen setzte.

In seinem schmalen Gesicht fielen vor allem die leicht hervortretenden, braunen Augen auf, die meist ein wenig melancholisch in die Welt blickten. Bei jeder Erregung, gleichgültig, ob sie von erfreulicher oder unerfreulicher Natur war, pflegte Mikosch seine Augenlider mehrmals herauf- und herunterzuklappen. Dabei zog er seine Augenbrauen so hoch, dass sie fast unter den struppigen Haarbüscheln verschwanden, die ihm trotz eifrigen Kämmens und Bürstens widerspenstig auf die Stirn herunterhingen. Seine Nase hatte in der Mitte eine leichte Ausbuchtung, die Nasenspitze zeigte ein wenig nach links. Bei einem Schulsportfest hatte ihm ein leichtsinniger und äußerst unvorsichtiger Sportskamerad beim Kugelstoßen die Kugel genau an die Nase geworfen. Da Nasen im Allgemeinen eine derartige Behandlung nicht gewöhnt sind, nahm auch Mikoschs Riechorgan diesen Stoß übel. Das Nasenbein ging entzwei, die Nasenspitze neigte sich nach links und verharrte nunmehr in dieser Lage. Mikoschs besonderer Stolz waren seine makellosen Zähne, auf deren Pflege er sein ganzes Augenmerk richtete, während er beim Waschen die Zeit wieder einsparte, die er beim Zähneputzen überzogen hatte. Sein Kinn war spitz und genau in der Mitte mit einem kecken Grübchen versehen, auf das er sich allerhand einbildete. Der lange Hals trug in der Mitte einen unübersehbaren Adamsapfel, der ständig in lebhafter Bewegung war und oft wie ein Frosch auf- und ab hüpfte. Mikoschs Kopf war mit borstigen Haaren überwuchert, die sich trotz Haaröl und Pomade nicht zu einer ansehnlichen Frisur bannen ließen. Für lange Jahre hatte der Krieg uns verschlungen, aber wie es der Zufall wollte, er spuckte uns wieder aus, und das noch auf denselben Fleck.

Wir sollten uns später noch zweimal und ebenso unverhofft wieder sehen, aber das ist eine andere Geschichte, und der möchte ich nicht vorgreifen.

Mikosch hatte einen Sehnendurchschuss am rechten Fuß aufzuweisen.

Dieser Körperteil hing daher haltlos herunter, wenn Mikoschs Erfindergabe nicht gewesen wäre. Er hatte vorerst diesen Schaden mit Hilfe eines Schnürsenkels soweit repariert, dass er jetzt so halbwegs gehen konnte.

„Ich hinke überhaupt nicht mehr", behauptete er stolz. Ich dachte an die altersschwache Ente und pflichtete ihm bei. Im Stillen tat es mir unendlich leid, dass der arme Kerl so hinken musste. Unser unerwartetes Wiedersehen wurde natürlich am Abend gebührend gefeiert.

Als ich am nächsten Morgen die Schreibstube betrat, in der mein Freund seine Arbeitszeit zu verschlafen pflegte, saß er zu meiner grenzenlosen Überraschung an der Schreibmaschine und hämmerte wie wild auf die Tasten ein. „Ja, Mikosch, Menschenskind, ich traue meinen Pupillen nicht, du arbeitest ja!" rief ich erstaunt aus.

Diesmal aber tat ich ihm wirklich unrecht, denn er schrieb gerade einen Brief an seine Mutter, in dem er ihr sein Wiedersehen mit mir schilderte.

„Liebe Mama, “ schrieb er, „heute will ich Dir von einer Begegnung berichten, die ich gestern hatte. Also setz Dich lieber erst mal hin, ehe Du weiter liest! Stell Dir vor, ich gehe da so ahnungslos fürbass, da sehe ich plötzlich auch so einen Schreibtischhocker auf mich zukommen. Das jedenfalls musste ich annehmen, denn er schleppte einen ganzen Stoß Krankenpapiere mit sich herum. Was mir an dem Kerl besonders auffiel: Er hinkte. Ich kann Dir sagen, so etwas von einer Hinkerei habe ich in meinem ganzen Erdendasein noch nicht gesehen! Er humpelte, als wäre sein linkes Bein um mindestens 10 Zentimeter kürzer, und setzte seine Füße auf, als hätte er Knick-, Spreiz- und Senkfuß auf einmal. Als dann dieser hatscherte Plattfußindianer näher kam und ich sein vom vielen Humpeln schmerzverzerrtes Antlitz näher betrachtete, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Weißt Du, wer da auf mich zu hatschte? Jetzt halte Dich fest: Niemand anders als Hardi, dieser alte Gauner! Natürlich erkannte ich ihn zuerst. Dann fielen wir uns in die Arme. Dabei schrie mir Hardi dauernd “Ach du Scheiße, der Mikosch“ so laut in meinen Gehörgang, dass ich dachte, mein armes Trommelfell würde auf der Stelle seinen Dienst aufgeben."

Soweit Mikoschs Schreiben, aus dem klar ersichtlich ist, dass mein Freund gerne zu maßlosen Übertreibungen und Verdrehungen der Tatsachen neigte. Aber ich will ihm verzeihen, denn er hinkt so fürchterlich, mein bedauernswerter Freund, als ob sein rechtes Bein um mindestens 15 Zentimeter langer wäre.

Nach diesem historischen Zusammentreffen waren die grauen Wolken, die drohend über unseren Häuptern schwebten, mit einem Schlag hinweggefegt. Ein strahlendblauer Himmel lachte auf uns herab, und alles erglänzte in hellem Licht.

Verständlicherweise galt es nun, unser Beisammensein so lange wie nur möglich in die Länge zu ziehen. Aus diesem Grunde arbeiteten wir einen so genannten Lazarett-Aufenthalts-Verlängerungsplan aus, um zumindest über die kalten Wintermonate von herumschwirrenden Granatsplittern oder Gewehrkugeln verschont zu bleiben.

Mikosch bereitete dieses Problem keinerlei Schwierigkeiten, ihm stand nach seinem Nervendurchschuss noch eine Operation bevor. Da er allerdings Nerven wie Stahlseile besaß, blieb es mir unverständlich, wie eine harmlose Gewehrkugel bei ihm gleich einen ganzen Nervenstrang durchzutrennen vermochte. Gleichzeitig konnte ich mir gut vorstellen, wie schwierig es sein würde, dieses durchtrennte Stahlseil wieder zu einem Ganzen zusammenzufügen. Mikosch war also fein heraus.

Mir hingegen bereitete mein Zustand ernste Sorgen. Wie bereits berichtet, fehlte mir etwas. Es ist zwar nicht viel und daher fast unnötig, ich möchte sagen, beinahe peinlich, von dieser Lappalie überhaupt zu sprechen. Nach der Erfrierung, die ich mir auf der Krim geholt hatte, war alles soweit gut verheilt. Lediglich die linke große Zehe hatte die Strapazen des russischen Winters nicht wohlbehalten überstanden. Sie verweigerte ihren Dienst, wurde schwarz und starb ab. Sie wäre einfach abgefallen, wenn sie nicht noch am Knochen gehangen hätte. Es gelang mir, dieses abtrünnige Körperteil abzubrechen. Ich schickte ihn, schön in Watte gewickelt, meiner Mutter nach Hause. Als die Arme las, um was es sich bei dem merkwürdigen Gebilde handelte, das sie neugierig zwischen den Fingern herumdrehte, wäre sie vor Schreck beinahe in Ohnmacht gefallen.

Nach dem Eintreffen der orthopädischen Schuhe, die ich unverständlicherweise erhalten sollte, würde meine Galgenfrist ablaufen. Aus besagten Gründen sah ich der Enduntersuchung mit absoluter Hoffnungslosigkeit entgegen.

„Na, dann wollen wir uns ihre Füße noch einmal ansehen", sagte der Stabsarzt lässig und sah mich mit seinen wasserblauen Augen spöttisch an. Er betrachtete es als reine Formsache, den Zehenstummel noch einmal zu betasten. Doch dann pfiff er erstaunt durch die Zähne. „Der Knochen stößt ja bald durch", murmelte er, „da muss noch etwas gemacht werden, hm, eine kleine Nachoperation." Er musterte mich prüfend.

Ich machte ein völlig gleichgültiges Gesicht, obwohl ich ihm vor Freude am liebsten um den Hals gefallen wäre.

„Merken Sie das in ihren Papieren vor", ordnete er an. Und nach einer kurzen Pause, in der er in meinem Antlitz vergeblich eine Regung der Freude suchte, fügte er hinzu: „Und ich dachte, Sie machen mir mit Ihrer Hinkerei etwas vor."

Es lag mir fern, ihm auch nur im Geringsten zu widersprechen. Hätte er aber meinen Freudentanz miterlebt, den ich aufführte, als er das Untersuchungszimmer verlassen hatte, ich glaube nicht, dass er dann noch eine Nachoperation für notwendig gehalten hätte.

Somit hatten Mikosch und ich ausreichende Gründe, unserer Freude freien Lauf zu lassen. Und wo konnten wir das besser als in der Pawlowitzer Knödelfabrik. Sie war wohl der markanteste Punkt des Wlaschimer Lazaretts. Diese Gaststätte war im wahrsten Sinne des Wortes ein Industrieunternehmen, pflegten doch alle Patienten des Lazaretts, sobald sie nur irgendwie kreuchen und fleuchen konnten, nach dem kärglichen Abendbrot in die Knödelfabrik zu pilgern, um dort die noch verbliebenen Magenhohlräume mit den Produkten der Fabrik zu füllen. Hinzu gab es noch Kraut, Blutwurst und, wenn der Fall eintrat, dass die Knödeln nicht langten, konnte man immer noch in ausreichenden Mengen Bratkartoffeln mit Dünnbier bestellen.

So saßen wir an diesem Abend äußerst unbeschwert an unserem Stammtisch und bestellten eine Portion nach der anderen. Maltschi, die Serviererin, schüttelte ungläubig mit dem Kopf, als wir die vierte Portion Knedliki kommen ließen. Natürlich sprachen wir auch fleißig dem Dünnbier zu, wobei die Betonung ausschließlich auf dem Wort "dünn" liegen muss.

„Mikosch“, sagte ich, nachdem ich mir den 14. Kloß einverleibt und damit den bestehenden amtlichen Hausrekord eingestellt hatte, „Mikosch", sagte ich also, „es ist an der Zeit, dass wir uns über unsere weiteren Pläne den Kopf zerbrechen."

„Das wollte ich auch gerade sagen." Mikosch schluckte schnaufend und mit hervorquellenden Augen ebenfalls den 14. Kloß hinunter. „Wenn ich jetzt nichts nach trinke, ersticke ich“, japste er nach Luft. „Maltschi, schnell, bring noch zwei Dünne!“

Und Maltschi enteilte, denn für uns tat sie alles. Schließlich bedienten wir uns perfekt ihrer Muttersprache, und das war ein Vorteil, der mit nichts wettzumachen war.

„Also, hör mal zu", fuhr ich fort und stocherte mit der Gabel im 15. Knödel herum, „wenn wir aus dem Lazarett entlassen werden, ich rechne so … März bis April, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder der Krieg ist aus; dann ist alles klar. Oder der Krieg ist immer noch nicht aus; dann ist gar nichts klar. In diesem Fall schlage ich vor, dass wir unseren bevorstehenden Genesungsurlaub in Ostrau so lange hinausziehen, bis der ganze Käse überstanden ist."

„Verstanden und einverstanden", sagte Mikosch, „ aber da du gerade Käse sagtest, ich will mir noch schnell ein paar Olmützer Quargeln holen. Gehst du mit?“

Ich griff mir an den Kopf und stöhnte. „Mensch, ich rede da von hochwichtigen Dingen, und du fängst mit deinen stinkigen Quargeln an! Aber gut, holen wir welche.“

Neben der Knödelfabrik stand noch ein kleines Kolonialwarengeschäft, in dem es die besagten Twaruschki in Stangenform gab. Hier war Mikosch Stammkunde. Er brauchte nur zu erscheinen, und schon legte ihm die Verkäuferin auf sein „Wie immer" vier Päckchen Quargeln auf den Ladentisch.

Ich muss dazu etwas bemerken. Ich habe nie in meinem Leben einen Menschen so viele Quargeln verzehren sehen wie Mikosch. Er kaufte sie weich, sehr weich. Sie waren ihm aber noch lange nicht weich genug. Aus diesem Grunde pflegte er den gekauften Handkäse in seinem Spind bis zur völligen Weichwerdung zu stapeln. Das allerdings hatte zu häufigen und äußerst heftigen Konflikten geführt. Es begann damit, dass der Stabsarzt während seiner Visite allen Stubeninsassen dringend nahe legte, sich gründlicher die Füße zu waschen.

In den folgenden Tagen ging es auf Mikoschs Stube so zu: Jeder, der das Zimmer betrat, rümpfte die Nase und sagte: „Mann, das stinkt aber hier so merkwürdig" oder: „Wer hat denn hier einen toten Vogel in der Tasche?" oder: „Da muss doch irgendwo eine uralte Leiche liegen!"

Merkwürdigerweise war noch niemand in der Stube auf den nahe liegenden Gedanken gekommen, der wahren Ursache des Gestankes auf den Leib zu rücken. Bis der Arzt zum zweiten Mal, aber diesmal mit strengstem Nachdruck, eine sofortige, allgemeine und gründliche Fußwaschung anordnete. Da erst ging die umfassende Sucherei los. Alle suchten. Nur einer suchte nicht! Und während dieser eine ahnungslos auf der Schreibstube saß und Krankenpapiere reichlich mit Tippfehlern versah, erfüllte sich sein Schicksal.

Jupp, natürlich ein waschechter Kölner und Mikoschs Bettnachbar, war mit geblähten Nüstern an Mikoschs Spind herangetreten und hatte festgestellt, dass in der Nähe dieses Möbelstücks die Geruchsintensität um ein Erkleckliches zunahm. Kurz entschlossen und auf das Schlimmste vorbereitet, hatte er Mikoschs Spind aufgerissen, um sogleich entsetzt zurückzuweichen. Ihm strömte nämlich der Atem raubende Mief eines umfangreichen Stapels völlig erweichter Stangenquargel entgegen. „Wat dat denn?" stieß Jupp mit weit aufgerissenem Mund hervor, „wat dat denn?" Mehr brachte er nicht heraus.

Die anderen Stubeninsassen eilten auf seinen Hilferuf herbei und umstanden tief ergriffen den offenen Schrank. „Da wird doch der Hund in der Pfanne verrückt", fand einer seine Sprache wieder. „Und ich Dussel habe mir gestern Abend tatsächlich noch meine Füße gewaschen!"

Die empörten Zimmerinsassen beschlossen einstimmig die sofortige und radikale Vernichtung sämtlicher Quargelpakete. Sie wurden in dickes Zeitungspapier eingewickelt, Jupp ergriff das Paket, eilte zur Latrine und warf Mikoschs Lieblinge mitleidslos in den gähnenden Abgrund. „Da wären sie sowieso hingekommen", brummte er grinsend, als er von unten den dumpfen Aufprall vernahm.

Als Mikosch nach Feierabend sein Zimmer betrat, fielen ihm sogleich die feierliche Stille und die grinsenden Gesichter seiner Stubengenossen auf. Nachdem er gegessen hatte, wobei ihm alle unentwegt zusahen, schlenderte er wie gewöhnlich an seinen Spind, um als Nachtisch schnell und heimlich das unterste Paket seiner Leibspeise zu verzehren. Wie zu einer Salzsäule erstarrt, stand er dann vor seinem Schrank und blickte mit weit aufgerissenen Augen auf die gähnende Leere. Seine Augendeckel und sein Adamsapfel bewegten sich mit unglaublicher Geschwindigkeit im gleichen Takt auf und ab. „Wo sind", stotterte er, „wo sind denn meine Quargeln geblieben‚ he?“

„Da, wo sie sowieso hinkommen", vernahm er hinter sich Jupps schadenfrohe Stimme.

„Ach, ihr Banausen, ihr hinterlistigen Tröpfe, das sollt ihr mir büßen!" Wütend hieb Mikosch seine Zähne in einen unschuldigen Apfel, der von der Säuberungsaktion verschont worden war. Am gleichen Abend noch stiefelte er nach Pawlowitz, um sich Nachschub zu holen. Aber was half's! Wann immer er vor seinen Spind trat, immer grinste ihm makellose Leere entgegen.

Aber Mikosch war ein findiger Kopf. Er beschloss, seine Vorräte anderweitig unterzubringen. Mit kundigem Blick entdeckte er einen Raum, in dem die Putzfrau ihre Säuberungsgeräte aufbewahrte. Hier stand ein schmaler Schrank, dessen Fächer bis auf einige Schürzen von einladender Leere waren. Wie der Kuckuck seine Eier, so legte Mikosch jetzt seine Pakete im fremden Spind ab. Bis er auch hier mit Entsetzen feststellen musste, dass seine Lieblinge wiederum spurlos verschwanden.

Der Tat dringend verdächtig erwies sich diesmal natürlich die Putzfrau, an die sich mein Freund heranpirschte, um Näheres zu erfahren. Und was er erfuhr, war niederschmetternd genug. „No, was glauben Sie, wer ich bin. Stecken mir Ihre Stinkatores in meinen Schrank. Die ganzen Schürzen haben gestunken! Das ist ein Schkandal, wissen Sie! Ich bin auch nur ein Mensch.“

„Und .… wohin …?" hauchte Mikosch und in seiner Stimme glomm nur noch ein winziges Fünkchen Hoffnung.

„No, wohin schon. In den Dreckeimer hab' ich das Zeug geschmissen.“

Das Fünkchen erlosch.

Soweit war Mikoschs Quargelgeschichte gediehen, als er wieder einige Pakete erstand.

Ich stieß ihn beunruhigt an. „Mikosch, du kaufst ja schon wieder so einen Haufen von diesen Dingern! Wo willst du sie denn jetzt verstauen?“

Mikosch strahlte. „Mikoschek hat jetzt einen wunderbaren Plan. Einen wahrhaft genialen Plan. Der wird gelingen!“

„Da bin ich aber gespannt wie ein Regenschirm, wohin du deine Eier diesmal legen willst."

Er grinste verschmitzt. „Ich lege sie in deinen Spind", jauchzte er, „ist das nicht eine grandiose Idee?"

Auch ich lachte, bis mir einfiel, dass er ja von meinem Spind gesprochen hatte. „Sagtest du in meinem Spind?“ vergewisserte ich mich daher noch einmal.

„Gewiss, ich erwähnte deinen Spind."

„Das kommt überhaupt nicht in Frage", wehrte ich mich entschieden, „glaubst du vielleicht, wir wollen den ganzen Tag in diesem Gestank herumlaufen?“

„Ja", entgegnete Mikosch schlicht, „das glaube ich."

„Wie kannst du denn so einen Blödsinn glauben?" „Hör mal, Hardi, das ist doch ganz einfach! Bei euch in der Bude stinkt es doch sowieso. Da fällt mein bisschen Käse gar nicht auf!“

Womit mein Freund gar nicht so Unrecht hatte. Wer schon einmal eine Stube betrat, in der 15 Patienten mit Erfrierungen liegen, der muss meinem Freund unumschränkt Recht geben. Oft haben wir erlebt, dass ahnungslose Besucher bereits nach wenigen Minuten Aufenthalt totenbleich das Zimmer fluchtartig verließen. Für die wären Mikoschs Quargeldüfte die reinste Erholung gewesen. Ich gab nach. „Gut, ich bin einverstanden. Stopfe von mir aus meinen ganzen Spind voll!"

„Wusst' ich's doch! Du bist ein wahrer Freund, mein Freund!" rief Mikosch enthusiastisch. Und ehe ich zurückweichen konnte, hatte er mich umarmt und mir einen schmatzenden Kuss auf die Wange gedrückt. Da er aber soeben eine ganze Stange Quargeln vorgekostet hatte, blieben auch einige Krümel an meiner Wange hängen, was ich mit Missmut zur Kenntnis nahm.

Somit waren wir an diesem Abend nicht mehr dazu gekommen, unseren zweiten Plan näher zu besprechen. Der Lazarett-Aufenthalts-Verlängerungsplan war zu unserer vollsten Zufriedenheit gediehen. Nunmehr galt es, einen zweiten Plan auszuarbeiten, der in seiner Wichtigkeit dem ersten in nichts nachstand. Wir nannten ihn Kriegsüberlebensplan, kurz KÜP, hatten aber bis dahin nicht die geringste Ahnung, wie wir diesen Plan realisieren wollten. Zeit zum Überlegen hatten wir genug, denn einige Monate Lazarettaufenthalt waren uns sicher. In wenigen Wochen war Weihnachten, dann kam das neue Jahr; wer wollte denn in dieser Zeit noch weiter in die Zukunft denken.

Gemächlich trotteten wir heimwärts, und Mikosch vergaß natürlich nicht, erst einmal meinen Spind aufzusuchen, um hier seine Pakete abzuladen.

Somit hatte das Quargeldrama ein für alle befriedigendes Ende gefunden. Übrigens, in unserer Stube merkte kein Mensch etwas, im Gegenteil, unser Stabsarzt stellte bei seiner nächsten Visite fest, die Luft im Raum sei zwar nicht besser, der Gestank dafür aber etwas würziger geworden.

Die Dienstreise

Ich überspringe nun einige Monate. Wir wurden beide noch einmal operiert. Wenige Tage nach meiner Operation konnte ich wieder aufstehen und, wenn ich zwei Krücken unter die Achseln klemmte, fast normal gehen. Bei Mikosch sah die Sache anders aus, denn er hüpfte trotz seiner Krücken auf einem Bein herum wie ein Känguru mit Hühneraugen. Als ich ihm das unverblümt sagte, war er zutiefst beleidigt, dann aber bemerkte er mit einem Seitenblick auf meine Krücken in hämischem Tonfall, ich sollte mich einmal im Spiegel betrachten, wenn ich angetaumelt käme wie ein Storch auf Stelzen.

Mich konnte er damit nicht ärgern. Ich kannte meinen Freund sehr gut. Wenn er einmal wirklich die Wahrheit sagte, pflegte er dabei derart maßlos zu übertreiben, dass alles schon nicht mehr wahr war.

Zu unserem Leidwesen machte bei beiden der Heilungsprozess unglaubliche Fortschritte, so dass im Frühjahr eigentlich nur ein Grund den Stabsarzt daran hinderte, die Ostfront um zwei Helden reicher zu machen: Er hatte für uns noch keinen Ersatz gefunden. Und ehe er die Krankengeschichten selbst schrieb, diktierte er uns jede Woche erneut in unsere Papiere, dass die Wunden noch nicht völlig ausgeheilt seien. Bei mir kam zum Glück noch hinzu, dass eine Sendung orthopädischer Schuhe spurlos verloren ging, unter denen sich auch die für mich bestimmten befanden. Nebenbei gesagt, habe ich die Schuhe bis heute nicht erhalten.

Aber es gibt ja so vieles im Leben, worauf man vergeblich wartet.

Dann kam etwas auf uns zu, das unsere ganzen Pläne über den Haufen warf und uns völlig neue, ungeahnte Möglichkeiten eröffnete.

Mikosch war es, der eines Tages in meine Schreibstube gefegt kam, in der ich mich tagsüber aufzuhalten pflegte. Mit einem Gesicht, als hätte er soeben höchstpersönlich den Krieg gewonnen, setzte er sich nach alter Gewohnheit auf die Bank, legte seine Füße auf den Tisch und begann mörderisch zu pfeifen, wobei er mit den Schuhen auf der Tischplatte so heftig den Takt stampfte, dass meine Schreibmaschine im gleichen Rhythmus zu hüpfen begann.

Ich hielt mit dem Schreiben inne und rückte etwas zur Seite, denn einige Dreckklumpen hatten sich bereits von Mikoschs Schuhsohlen gelöst und sich auf der Tischplatte und den Krankenpapieren breitgemacht. „Mikosch, du bist ein altes Ferkel“, konstatierte ich und schnippte den Dreck mit spitzen Fingern vom Tisch.

Mein Freund unterbrach sein schrilles Gepfeife. „Was ist denn schon Dreck", bemerkte er lässig, „Dreck ist lediglich Materie am ungewohnten Platz, mehr nicht." Dann knallte er sich plötzlich auf seine Schenkel, sprang auf und begann wie ein Veitstänzer im Zimmer herum zu springen.

Ich folgte dem Tänzer mit besorgten Blicken.

Dann begann er auch noch zu singen, laut und krumm, wobei es ihn keinesfalls störte, dass ich meine Zeigefinger tief in die Ohren stopfte.

Dennoch konnte ich seine Worte verstehen. Und was ich da hörte, veranlasste mich, trotz des graulichen Gesanges die Finger schleunigst aus meinen Gehörgängen herauszuziehen und Mikosch entgeistert anzustarren. „Was hast du da soeben gebrüllt, brüll das doch noch einmal!"

„Ich habe gesungen, dass wir morgen nach Ostrau fahren, wir beiden zwei zusammen! - Jetzt guckst du endlich einmal etwas intelligenter drein als sonst, besonders, wenn du deinen Mund noch weiter aufmachst", fügte er noch hinzu und setzte sein unverschämtes Grinsen auf.

Langsam reichte es mir. Ich begann, mit den Fäusten auf dem Tisch herumzuhämmern und schrie: „Ich - will - endlich wissen, was - los - ist!"

Mikosch setzte sich ausnahmsweise normal hin. „In Baracke III liegt ein Beinamputierter. Du kennst ihn! Es ist dieser kleine Dicke, weißt du, der Oskar, der glaubt, dass er so gut jodeln kann. Er ist auch aus Ostrau und soll jetzt auf seinen Wunsch in ein Ostrauer Lazarett verlegt werden. Und da wir beide ja gebürtige Ostrauer sind, sollen wir als Begleitpersonen mit. Ein Tag Hinfahrt, ein Tag Rückfahrt, dazwischen ein Tag Aufenthalt. Kapiert?"

Und ob ich kapiert hatte! Diese überraschende Nachricht riss mich vom Stuhl. Das war endlich einmal ein Sonnenstrahl in der grauen Einöde unseres Lazarettdaseins! Nun hüpften wir zu zweit in der Stube herum, und es störte uns wenig, dass mehrere Patienten eingetreten waren, die unserem Treiben stumm und höchst verwundert zusahen.

Wie gut, dass der Mensch nicht in die Zukunft sehen kann! Denn hätten wir geahnt, was uns beiden alles bevorstand, wir hätten uns schleunigst in die Betten gelegt und uns die nächsten 24 Stunden nicht vom Fleck gerührt. So aber ist dem Menschen diese Sehergabe leider nur in den seltensten Fällen gegeben. Und da weder Mikosch noch ich mit dieser beneidenswerten Fähigkeit behaftet waren, ahnten wir nichts Böses und genossen die Stunden ungetrübter Vorfreude.

Es kam auch damals schon vor, dass Formalitäten schneller als erwartet erledigt wurden. In unserem Fall traf dies glücklicherweise zu, oder auch unglücklicherweise, wie man später sehen wird.

Mit sämtlichen Papieren ausgerüstet, standen wir bereits am nächsten Morgen an der Bushaltestelle. Zwischen uns stand Oskar, der Jodler, von allen Ossi genannt. Da wir sein Gepäck tragen mussten, war ich nur mit dem Notwendigsten ausgerüstet. Ich hatte lediglich einen Brotbeutel umgeschnallt.

Mikosch dagegen schleppte eine gewaltige Pappschachtel mit sich herum, über deren Inhalt er sich in geheimnisvolles Schweigen hüllte.

In der Nacht hatte es ein wenig gefroren, und es war auch jetzt noch reichlich kalt. Nur zaghaft drang das Dämmerlicht des werdenden Tages durch die nasskalten Nebelschwaden.

Ossi hatte sich auf seine Krücken gestützt und bibberte still vor sich hin.

Uns beide dagegen kümmerte die Kälte wenig. Wir hatten genug damit zu tun, uns an den Gedanken zu gewöhnen, dass wir tatsächlich nach Ostrau fuhren. Immer wieder betrachteten wir unseren Dienstreiseausweis. Da stand es schwarz auf weiß: Dienstreise für den Gefreiten Erhard Habel, geboren am 22., Mai 1924, und den Gefreiten Theodor Anders, geboren am 6. März 1924. Von Wlaschim nach Ostrau und zurück. Grund: Begleitung des Beinamputierten. Oskar Benda, Unteroffizier.

Erst als wir im Bus saßen, tauten wir im wahrsten Sinne des Wortes allmählich auf. Jetzt erst wurde die Reise zur Gewissheit. Was uns wie ein Traum erschienen war, begann sich zu erfüllen.

Mikosch war der erste, bei dem die Freude durchbrach. Mit einer Lautstärke, die die wenigen, milde dahindösenden Fahrgäste zusammenfahren ließ, begann er zu singen. Nur, um ihn nicht zu kränken, will ich die Urlaute, die aus seinem Munde quollen, noch mit Singen bezeichnen. Anhand des Textes stellte ich fest, dass er das schöne Volkslied "Muss i' denn, muss i' denn, zum Städtele hinaus" angestimmt hatte. Ich schloss mich seinem Grölen an, und da ich über eine sehr angenehme Stimme verfüge, gelang es mir, etwas mehr Melodie in unseren Gesang zu bringen. Und die Hauptperson, der Ossi aus Ostrau, brachte an allen passenden und unpassenden Stellen seine Jodler an.

Als wir ungefähr 15 Minuten die anderen Fahrgäste mit unserem Gesang erfreut hatten, blieb der Bus plötzlich mitten auf der Straße stehen. Der Busfahrer stand auf und blickte wutentbrannt zu uns herüber. „Svatà Maria", schrie er, was so viel wie heilige Maria bedeutet, riss seine Fahrermütze vom Kopf und schmetterte sie auf den Boden. „Aufhörän da hintän, sonst ich kann nicht fahrän. Ich auch hab' Nerven, kruzifixalleluja!“

Wir schwiegen ergriffen und zutiefst beleidigt.

Die Weiblein aber, die zum Markt nach Stiepenau fuhren, atmeten erleichtert auf. Ein Mütterlein bekreuzigte sich sogar und murmelte dankbar ihr “chvàla bohu (Gott sei Dank)", wobei sie nicht ahnen konnte, dass wir ihren Stoßseufzer sehr gut verstanden.

Wir unterbrachen also unseren Gesang, und die Fahrt konnte weitergehen.

Der Busfahrer hob seine Dienstmütze vom Boden auf, klopfte den Dreck an seiner Hose ab, warf uns noch einen langen, bitterbösen Blick zu, stülpte sich die Kopfbedeckung auf sein Haupt und ergriff wieder das Steuer. Der Bus setzte sich in Bewegung.

Mikosch sah mich vorwurfsvoll an. „Daran bist du schuld, nur du mit deinem entsetzlichen Gegröle!" murrte er. "Das war ja nicht zum Anhören, was du da an Gesang verzapft hast."

Für einen Moment verschlug es mir die Sprache, dann aber platzte mir der Kragen. „Das musst gerade du sagen! Dabei quakst du herum, als ob du statt der Stimmbänder rostige Sägeblätter eingebaut hättest! Du kannst ja fast noch schlechter singen als gehen!"

Jetzt kam Mikosch auf Touren. „Das muss ausgerechnet so ein krummes Hinkebein behaupten. Wo zwei Töne von dir genügen, um einen ausgewachsenen Elefanten umzuwerfen!"

„Hört doch auf mit eurer Streiterei!" warf Ossi schlichtend ein, „ihr habt doch beide so schön gesungen, no, schöner geht's gar nicht mehr."

Mikosch zeigte auf mich, ich zeigte auf Mikosch, und dann fragten wir beide wie aus einem Mund: „Er auch?“

„Ich hab’ doch gesagt, ihr singt beide schön. Außerdem sind wir schon da!"

Das hatten wir im Eifer des Gefechts gar nicht gemerkt. Ich riss mein dürftiges Gepäck und die Koffer unseres Schützlings aus dem Gepäcknetz, Mikosch ergriff sein gewaltiges Bündel, dann stützten wir Oskar gemeinsam von beiden Seiten und verließen den Bus, nicht ohne dem Fahrer ein freundliches Lebewohl zuzurufen.

Der Zug stand schon da und wartete auf uns. Platz war in allen Waggons reichlich vorhanden. Im Nu hatten wir das Gepäck im Abteil verstaut, Ossi in die Ecke gesetzt und die Bank gegenüber für unsere Zwecke reserviert. Es konnte also losgehen.

Nun darf sich der Leser eine Zugreise in diesen Zeiten nicht so vorstellen wie eine Fahrt heute.

Heute hast du deine Platzkarte telefonisch vorbestellt. Ehe der Zug kommt, nimmst du im Wartesaal Platz und verzehrst dein Abendbrot. Etwas Leichtes für die Fahrt, ein Steak vielleicht oder ein Jägerschnitzel mit Champignons, dazu ein großes Helles. Pünktlich auf die Sekunde kommt dein Zug an. Der Gepäckträger hat dein Gepäck schon zu deinem Abteil gebracht. Du nimmst auf der weich gepolsterten Bank Platz, lehnst dich bequem zurück und zündest dir genüsslich eine Zigarette an. Wohlige Wärme umgibt dich. Das sanfte Rattern der Räder schläfert dich langsam ein. Du klappst ein Zwischenteil hoch, lehnst dich auf die weiche Rückenlehne zurück und streckst die Beine aus. So schläfst du tief und ungestört, bis die ersten Sonnenstrahlen durch das Abteilfenster dringen und dich verwegen an der Nase kitzeln. Du stehst auf, reckst und streckst dich, gähnst ein paar Mal herzhaft, dann öffnest du das Fenster, beugst dich weit hinaus und lässt dir den frischen Morgenwind um die Ohren wehen. Dann erinnert dich der Hunger daran, dass im Speisewagen ein eifriger Kellner es gar nicht erwarten kann, dir den Morgenkaffee mit frischen Brötchen, Wurst, Käse und Marmelade zu servieren. Du wirfst einen gelangweilten Blick in die Zeitung. Dann blickst du auf deine stoßfeste goldene Automatik-Armbanduhr. Noch 18 Minuten, dann musst du aussteigen. Also noch genügend Zeit, um eine nikotinarme Filterzigarette zu rauchen. Pünktlich auf die Minute hast du dein Reiseziel erreicht. Ein Taxi wartet schon, um dich weiterzubefördern.

Ja, und damals? Damals sah alles ganz anders aus. Du kommst pünktlich auf den Bahnhof, aber von deinem Zug ist keine Spur zu sehen. Eine plärrende Stimme aus dem Lautsprecher verkündet irgendetwas völlig Unverständliches. Du stehst auf dem Bahnsteig, wartest und frierst. Aber dein Zug kommt nicht. Schließlich fragst du voller Ungeduld einen vorbeieilenden Schaffner. Er bleibt gar nicht stehen. „Haben Sie denn nicht gehört?" sagt er im Vorbeigehen, „ihr Zug hat doch zwei Stunden Verspätung!"

Also bleibt dir nichts anderes übrig, als in den Wartesaal zu gehen. Doch der ist voll besetzt. Überall sitzen oder liegen müde Gestalten herum. Weit nach vorne gebeugt, versuchen sie zu schlafen. Zwischen den Stühlen liegen in wirrem Durcheinander Gepäckstücke herum, Kisten, Schachteln, Säcke, Bündel und verbeulte Pappkoffer. Auch diese sind besetzt. Bleiche Frauen mit abgezehrten Gesichtern, plärrende Kinder, müde Soldaten, sie alle warten. Worauf? Das wissen manche gar nicht mehr. Vielleicht auf den nächsten Zug, der gar nicht kommt?

Du wuchtest dein Gepäck hoch und steigst mühsam und vorsichtig über die schlummernden Gestalten, trittst trotz aller Vorsicht mal da einem auf den Fuß, mal da einem auf die Hand, stößt unsanft an ein Tischkante und stolperst über irgendwelche Gepäckstücke. Endlich hast du ein Eckchen gefunden, wo du dein Gepäck abstellen und dich ein wenig niederlassen kannst. Es ist etwas wärmer hier, die vielen Menschenleiber haben dazu beigetragen. Die Luft ist stickig, der Tabaksqualm beißt in die Augen, es riecht nach Leder und Schweiß. Du kannst nichts zu essen oder zu trinken holen oder gar bestellen. Du hockst nur da, starrst trübe vor dich hin und wartest. Du willst rauchen, aber deine Finger sind zu klamm, um die groben Tabakkrümel in das zerknitterte Zigarettenpapier zu wickeln. Endlich, nach drei qualvollen Stunden, kommt der Zug. Man sieht ihn schon von weitem, denn eine Wolke glühender Funken stiebt aus dem Schornstein der Lok.

Nehmen wir an, du hast das Glück, auf der harten Bank Platz zu finden. Du sitzt da und frierst, denn die Abteile sind aus Gründen der Sparsamkeit nicht beheizt. Die eisige Kälte dringt dir durch Mark und Bein. Du schlägst den Kragen hoch, vergräbst deine Hände tief in den Manteltaschen und versuchst zu schlafen. Die Scheiben des Abteilfensters sind fest zugefroren, nur in der Mitte hat jemand ein kleines Loch frei gehaucht, durch das du draußen die glühenden Funken vorbeihuschen siehst.

Dann bleibt der Zug plötzlich stehen. Draußen herrscht pechschwarze Nacht. Im Abteil verbreitet eine trübe, abgedunkelte Funzel gerade so viel Licht, dass man verschwommene Umrisse erkennen kann. Der Zug steht und steht. Kein Mensch weiß, warum. Endlich, nach stundenlangem Warten, fährt der Zug ruckartig wieder an. Die Reise geht weiter. Du ziehst den Mantel aus, legst dich auf die Bank, deckst dich zu und versuchst zu schlafen. Aber der Mantel ist zu kurz, und die Kälte wird immer unerträglicher. Also stehst du fluchend auf, gehst im Abteil hin und her, kreist mit den Armen, um dich wieder etwas aufzuwärmen. Vergeblich. Die Kälte hat sich in dir festgesetzt und lässt sich durch nichts vertreiben.

Wenn es dann heller wird, wage ja nicht, das Fenster zu öffnen, um einen Blick nach draußen zu werfen, denn du kannst gewiss sein, dass dir dann einer der vielen Funken tief ins Auge dringt.

Müde, verschlafen, halb ausgehungert und durchfroren, erreichst du endlich dein Reiseziel mit vielen Stunden Verspätung. Taxen gibt es nicht, und die letzte Straßenbahn ist längst abgefahren. Müde, wie du bist, schleppst du dich mit deinem Gepäck durch die dunklen, menschenleeren Straßen und kommst halbtot dort an, wohin dich deine Reise führte.

In dieser Beziehung hatten wir allerdings etwas mehr Glück. Unser Zug fuhr pünktlich ab, so dass wir in Prag sogar den Anschlusszug erreichten.

„Wenn alles klappt, sind wir gegen 17 Uhr zu Hause", sagte ich aufatmend, nachdem wir ein völlig leeres Abteil in Beschlag genommen hatten. Wir konnten uns in aller Ruhe ausbreiten, denn umzusteigen brauchten wir bis Ostrau nicht mehr. So konnten wir es uns bequem machen, soweit man von bequem überhaupt reden konnte. Es war unangenehm kalt und zog aus allen Ecken.

„Junge, Junge, da werden wir was zusammenfrieren, ehe wir in Ostrau sind", klapperte Oskar und steckte sich seine Pfeife an, um sich wenigstens innerlich aufzuwärmen. Ein Sonnenstrahl verirrte sich durch das Abteilfenster und ließ ein Tröpfchen an Ossis Nase wie einen Diamanten aufblitzen.

Nun aber kam Mikoschs große Stunde. Er erhob sich und zerrte vom Gepäcknetz sein riesiges Bündel herunter. „Nun sollt ihr mal sehen, was euer Mikoschek für ein schlaues Kerlchen ist", übertrieb er wieder einmal.

Was soll ich viel erzählen! Mikoschs Bündel entblätterte sich zu drei Decken, jede mit der dicken Schrift "Reservelazarett Wlaschim" versehen.

„Mein lieber Mikoschek, ich bewundere dich", rief ich entzückt aus, „ich nehme alles zurück, was ich je Böses über dich gesagt habe. Du bist ja ein wahres Genie!"

Ossi blies eine dicke Rauchwolke in die kalte Abteilluft.

„Ja, das ist er, ein wahrer Genius der Menschheit!" bekräftigte er meine Worte.

Mikoschs Brust schwoll zusehends. „Es ist aber auch allerhöchste Zeit, dass ihr geistigen Kleingärtner das erkennt!" Dabei warf er jedem von uns lässig eine Decke zu.

Wir wickelten uns ein, so gut es ging, und warteten ungeduldig auf die Abfahrt des Zuges.

Aber dieser rührte sich nicht vom Fleck. Außer uns dreien rührte sich überhaupt nichts. Es verging eine geschlagene Stunde, und unser Zug stand immer noch.

Allmählich verlor ich die Geduld. Wütend schlug ich die wärmende Decke zurück und sprang auf. „Ich geh' mal fragen, was eigentlich los ist."

„Vielleicht ist die Lok eingefroren", rief mir Mikosch nach.

Steifbeinig humpelte ich den Gang entlang und kletterte aus dem Wagen. Der Bahnsteig war wie leergefegt. Die paar Eisenbahnwagen standen da wie bestellt und nicht abgeholt. Von einer Lok war weder vorne noch hinten etwas zu sehen. Neben dem geschlossenen Zeitungsstand entdeckte ich eine Tür mit der Aufschrift "Stationsvorsteher". Ohne zu klopfen, trat ich ein.

In der Mitte des Raumes stand ein riesiger Kanonenofen, der eine angenehme Wärme verbreitete. An diesem vorsintflutlichen Ungetüm saß der Stationsvorsteher und wärmte sich die Hände.

„Sagen Sie mal, wann fährt denn der Zug nach Ostrau endlich ab?" fragte ich.