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DER SEE, DEN sie Totensee nannten, lag wie ein Brunnen zwischen steilen Berghängen, und wenn man hineinwatete, versank man bis zu den Knien in dem modrigen Schlamm. Am Ufer stand, zum Teil von Tannen verdeckt, eine Blockhütte. Axel Frimann lehnte sich gegen den Fensterrahmen und sah hinaus. Es war der 13. September, Mitternacht, und der Mond warf sein blauweißes Licht über das Wasser, es hatte etwas Magisches. Jeden Moment, dachte Axel, könnte der Wassergeist Nöck aus der Tiefe aufsteigen. Kaum hatte er das gedacht, da schien das Wasser sich zu bewegen, ein leichtes Kräuseln, als würde gleich etwas an der Oberfläche erscheinen. Aber mehr passierte nicht, und ein Lächeln, das niemand sah, huschte über Axels Gesicht. Er schlug den anderen vor, eine Runde mit dem Boot rauszufahren. Habt ihr dieses Licht gesehen?, fragte er, das ist der glatte Wahnsinn.

Philip Reilly war in ein Buch vertieft. Er warf seine langen Haare nach hinten.

»Ja, warum nicht!«, sagte er. »Eine Runde über den See. Was meinst du, Jon?«

Jon Moreno war in den Anblick des Kaminfeuers vertieft. Die Flammen wärmten sein Gesicht und machten ihn benommen. In der Hand hielt er eine Packung Antidepressiva, alle vier Stunden presste er eine Pille aus der Folie und steckte sie sich in den Mund.

Ob er mit aufs Wasser hinauswollte?

Er sah Axel und Reilly an. Irgendetwas stimmt mit ihren Augen nicht, sie weichen mir aus, dachte er, aber ich bin ja auch nicht ganz ich selbst, ich bin krank und bekomme Medikamente, ganz ruhig bleiben, das sind meine Freunde, die wollen nur mein Bestes. Aber er wollte nicht auf den See, nicht mitten in der Nacht, nicht in diesem kalten Mondlicht. Er traute sich selbst nicht über den Weg. Hier am Kamin fühlte er sich sicher, in den vier Holzwänden, zusammen mit guten Freunden, denn Freunde waren sie doch? Er versuchte, Reilly in die Augen zu sehen, aber Reilly war aufgestanden, er machte sich an etwas in einem Regal zu schaffen.

»Es ist wichtig, dass du in Bewegung bleibst«, sagte Axel. »Die Angst wird nur schlimmer, wenn du still sitzt. Du musst das Blut durch den Körper jagen und Sauerstoff in alle Zellen bringen lassen, also komm jetzt.«

Jon wollte sie nicht enttäuschen, schließlich machten sie das hier alles für ihn, sie wollten ihm Abwechslung bieten, denn das hatte er im Krankenhaus nicht gerade. Im Gegenteil, nur lange, ereignislose Tage, eine nicht enden wollende Wanderung durch die Gänge. Jetzt lächelten sie ihm aufmunternd zu, Axel mit seinen dunklen Augen, Reilly mit seinen grauen. Deshalb erhob er sich mühsam aus dem Sessel und steckte zugleich die Medikamente in die Tasche, ohne sie ging er keinen Schritt. Er griff nach seinem Handy auf dem Tisch, legte es dann aber wieder zurück. Die Angst summte in seinem Körper wie elektrischer Strom, irgendwo sitzt ein Teufel und drückt auf einen Schalter, dachte er, an und aus, an und aus, bis ich sitzen bleibe und nach Luft schnappe.

»Zieh die Jacke an«, sagte Axel. »Es ist kühl.«

Jon suchte seine Jacke, er wusste nicht mehr, wohin er sie gelegt hatte, Axel half und kam damit auf ihn zu. Reilly blies eine Petroleumlampe aus, und jäh senkte sich die Dunkelheit über die drei Männer. Jon fiel auf die Knie, um seine Stiefel zuzuschnüren. Zuerst einen Knoten und eine Schleife, dann noch einen Knoten. Axel und Reilly warteten.

»Was ist mit dem Kamin?«, fragte Jon.

»Wir bleiben nicht lange weg, das ist nicht gefährlich«, sagte Axel. »Komm jetzt.«

»Sollen wir nicht lieber das Kamingitter davorstellen?« Axel zuckte mit den Schultern. »Von mir aus.«

Er verschwand in der Küche, sie hörten ein lautes Scheppern, dann kam er mit dem Kamingitter zurück und stellte es vor den Kamin. Das Kamingitter war aus Schmiedeeisen und dekoriert mit zwei zähnefletschenden Wölfen.

Jon sah die Wölfe an, dann seine beiden Freunde.

»Dann sind wir jetzt so weit?«, fragte Axel.

Reilly nickte. Jon steckte die Hände in die Taschen. Axel klopfte ihm auf die Schulter, seine Hand war warm und schien Geborgenheit zu verheißen, verlass dich auf uns, sagte die Hand, wir wollen nur dein Bestes, du bist bei deinen Leuten.

Es war Freitag, der 13. September. Sie gingen hinaus in die schwarze Nacht und holten die Ruder aus dem Schuppen.

Ein schmaler Weg führte zum Ufer des Totensees hinunter.

Imagestar

DAS BOOT LAG mit dem Rumpf nach oben im Schilf, grün und rundlich wie eine Erbsenhülse. Axel und Reilly drehten es gemeinsam um. Von innen war es schmutzig und glitschig, und im Mondlicht sahen sie ein kleines Tier über den Rand huschen und verschwinden.

»Eine Eidechse«, sagte Axel.

Jon bohrte die Hände in die Jackentasche. Er starrte das Boot skeptisch an, er hatte keine Lust, sich auf die verdreckten Ruderbänke zu setzen. Axel las seine Gedanken und fuhr mit dem Ärmel über eine Bank.

»Setz dich nach hinten«, befahl er.

Jon stieg gehorsam ins Boot. Er schaute hinaus auf den schwarzen See, vielleicht hatte der nicht einmal einen Grund, sondern nur eine Unendlichkeit aus schwarzem, modrigem Schlamm. Vielleicht wäre es das Richtige, darin zu versinken, dachte er, den ewigen Strudel aus Angst in meinem Körper für immer versiegen zu lassen. Ein großer Druck im Kopf, ein Brennen in den Lungen, dann hätte er es hinter sich. Axel und Reilly schoben das Boot ins Wasser, es glitt problemlos durch das Schilf. Jon spürte, wie es dabei von einer Seite zur anderen schaukelte. Er saß ganz ruhig auf der Ruderbank, ein dünner Junge mit zarten Händen. Sein Blick wanderte über die Landschaft, die steilen Berge, die den See umgaben. Axel und Reilly griffen nach den Rudern, es dauerte ein wenig, ehe sie einen gemeinsamen Rhythmus gefunden hatten. Das Boot wurde zügig schneller.

»Seht euch dieses Licht an«, sagte Axel.

Das Mondlicht war kalt und weiß, alles um sie herum hatte einen metallischen Schimmer. Reilly konzentrierte sich auf das Rudern, das Boot glitt ruhig über den See, das Wasser tropfte wie Silberperlen von den Ruderblättern. Jon klammerte sich mit beiden Händen an die Ruderbank. Er war umgeben von Dunkelheit und schwarzem Wasser, und die Angst bohrte sich in ihn wie ein Stachel.

Axel brach das Schweigen.

»Und dein Psychologe, Jon? Kannst du mit dem reden?«

»Mit ihr«, korrigierte Jon. »Sie heißt Hanna Wigert. Ja, mit ihr kann ich reden.«

»Alt?«, wollte Axel wissen.

»Vierzig vielleicht«, sagte Jon. »Außerdem ist sie Psychiaterin.«

»Das kommt doch wohl aufs selbe raus«, meinte Axel.

»Nein«, sagte John, »das kommt nicht aufs selbe raus.« Die Männer ruderten mit langen, kräftigen Schlägen.

»Und ihr redet über alles Mögliche?«, fragte Axel.

Jon schaute in eine andere Richtung. »An sich schon. Vor allem über meine Kindheit«, sagte er. »Aber in meiner Kindheit ist ja eigentlich nichts schiefgelaufen.«

Ihm war schwindlig. Im Mondlicht leuchtete Axels Gesicht blauweiß, und seine Augen waren wie zwei schwarze Löcher.

»Aber dein Vater hat sich abgesetzt«, sagte Axel. »Das war doch sicher nicht leicht?«

Jon krümmte sich auf der Ruderbank zusammen.

»Die Menschen verlieren einander die ganze Zeit«, flüsterte er, »aber sie leben trotzdem weiter. Das habe ich auch getan. Das ging ganz gut, wir sind gut zurechtkommen.«

Axels Ruder durchschnitt das Wasser wie ein Messer.

»Nein«, widersprach er. »Das ist totaler Unsinn. Wir wissen doch alle drei, was Sache ist. Los, sag was, Jon!«

Im Boot wurde es totenstill.

Jon ließ den Kopf hängen, das Atmen fiel ihm schwer. Hanna hatte ihm erklärt, was er dann tun sollte. Steh auf, hatte sie ihm geraten, damit deine Lunge sich weiten kann. Aber er traute sich nicht, jetzt aufzustehen, deshalb blieb er vornübergebeugt sitzen und rang nach Luft.

Reilly murmelte einen Spruch, den er auswendig gelernt hatte.

»Und wollte Allah die Menschen für alles bestrafen, was sie tun, würde Er nicht ein einziges Lebewesen auf der Erdoberfläche übrig lassen, doch Er gewährt ihnen Aufschub bis zu einer bestimmten Frist; und wenn ihre Frist um ist, dann durchschaut Allah seine Diener.«

»Mannometer«, sagte Axel, »ich muss schon sagen. Du kennst dich ja echt aus in deiner Bibel.«

»Im Koran, Axel, im Koran.«

»Das kommt ja wohl aufs selbe raus?«

»Nein«, sagte Reilly, »das kommt nicht aufs selbe raus.« Axel schob die Hand in die Jackentasche und zog eine Packung Marlboro hervor. Die Feuerzeugflamme ließ sein Gesicht rot auflodern.

»Warum halten wir an?«, fragte Jon.

»Will nur kurz eine rauchen«, antwortete Axel.

Jon starrte auf seine Füße, jetzt war ihm auch noch schlecht. Er war so weit von der Hütte entfernt und noch weiter vom Krankenhaus. Ich stehe ihnen im Weg, dachte er, ich bin der schwache Punkt. Ich bin dem Ganzen nicht so gewachsen, wie sie es sind. Axels Blick glüht wie seine Zigarette, diese Augen werden mich niemals in Ruhe lassen. Reilly sah zu Boden. Er schien sich auch nicht wohl in seiner Haut zu fühlen, er war einfach zu groß, seine Arme und Beine waren zu lang. Die großen Hände ruhten auf seinen Knien. Sie hörten ein Rascheln am Ufer, vielleicht ist da gerade ein Vogel aufgeflogen, dachte Jon.

Axel zog wieder an seiner Zigarette, Jon sah diese sich wiederholende Bewegung, er folgte der Glut mit den Augen, sie hatte auf ihn eine fast hypnotische Wirkung. Warum sagen sie nichts, dachte er, worauf warten sie? Wollen sie mich aus dem Weg räumen, haben sie mich deshalb aus dem Krankenhaus geholt, wollten sie deshalb unbedingt auf den See hinausfahren, in der Dunkelheit? Die Angst kam angeschlichen. Aber was für ein dummer Gedanke, sie waren doch seine Freunde, nicht seine Feinde, schimpfte er sich aus, hier herumzusitzen und sich wie ein Kind zu ängstigen, so ein Quatsch. Reiß dich zusammen, Jon Moreno.

Aber er konnte sich nicht zusammenreißen. Wenn ich doch einfach in die Luft fliegen könnte, wie der Vogel, dachte er, und vor allem davonfliegen, vor der Angst und den Vorwürfen. Langsam erhob er sich, wie ein Schlafwandler. Dann kippte er über den Bootsrand.

Alles das geschah still und leise, nur ein verhaltenes Aufschwappen war zu hören, das im Wasser bescheidene Ringe auslöste. Dann war er verschwunden.

Reilly fuhr hoch, das Boot schaukelte heftig, er wollte hinterherspringen, aber Axel zog ihn zurück auf die Ruderbank.

»Lass das«, rief er. »Das schaffst du nicht. Du kannst ihn nicht wieder ins Boot holen, die Klamotten saugen sich voll Wasser, und dann ertrinkt ihr beide. Lass es!«

»Jon kann nicht schwimmen«, schrie Reilly.

Axel hielt ihn fest. Langsam kam das Boot wieder zur Ruhe.

Das Wasser lag blank und still da.

Sie zogen das Boot an Land.

Alles war so schnell gegangen. Reilly hatte kaum Zeit gehabt, einen klaren Gedanken zu fassen. Aber jetzt tat er es. Auch Jon hatte Gedanken gehabt, während er das kalte, moderige Wasser verschluckt hatte und auf den Grund sank. Er wusste, dass es jetzt ein Ende hatte. Für ihn war es zu Ende. Aber ich bin noch immer hier, dachte Reilly, und schrecke jeden Morgen mit einem Keuchen aus dem Schlaf auf. Sie betraten die Hütte. Axel zündete die Petroleumlampe an, das Kaminfeuer war erloschen, die Glut schwelte nur noch. Er entfernte das Kamingitter mit den zwei Wölfen und warf ein neues Holzscheit in den Kamin, das Feuer loderte sofort wieder auf. Reilly ließ sich in einen Sessel fallen und legte seine Pranken auf die Oberschenkel. Kurz darauf zog er eine kleine Flasche aus der Jackentasche. Die sah aus wie eine kleine Shampooflasche aus einem Hotelzimmer, und sie war mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt. Reilly goss ein wenig in den Verschluss und trank es.

»Was ziehst du dir denn da rein?«, wollte Axel wissen.

»Jib.«

»Und was ist Jib?«

Reilly schloss die Augen.

»Nichts, worüber du dich aufregen musst. Es ist eine Substanz, die im Gehirn vorkommt. Ich erhöhe nur die Dosis.«

Er saß still da und wartete auf den Rausch, der gleich seinen Kopf und seinen Körper erfassen würde, dann fühlte er sich leicht wie ein Korken, und eine Welle hob ihn hoch und wiegte ihn hin und her. Und der Schmerz, sein ständiger Begleiter, versickerte wie Schmelzwasser.

»Was sollen wir tun?«, fragte er.

Axel wartete lange, bis er antwortete.

»Ich habe einen Vorschlag«, sagte er. »Wir tun gar nichts. Wir warten bis morgen, dann rufen wir an. Wir sagen, dass Jon weggegangen ist, während wir geschlafen haben. Wir sind aufgestanden, und sein Zimmer war leer. Das macht alles ein wenig leichter. Es ist mitten in der Nacht, und sie brauchen Stunden, bis sie hier sind. Sie können jetzt ohnehin nicht nach ihm suchen. Was meinst du, Reilly?«

Reilly schüttelte den Kopf.

»Wir müssen jetzt anrufen«, sagte er. »Aber wen sollen wir eigentlich anrufen«, fügte er hinzu, »und wer würde dann kommen?«

»Taucher«, sagte Axel. »Und Polizei und Rotes Kreuz. Und vielleicht bringen sie Hunde mit. Hier wird das totale Gedränge herrschen. Außerdem ist mir noch etwas eingefallen«, sagte er. »Ich habe keine Lust, Ingerid zu erzählen, dass wir zugesehen haben, wie Jon ertrunken ist. Ich will nicht tiefer in die Sache reingezogen werden als unbedingt nötig. Es war Jons Wahl.«

»Aber er war gar nicht in der Lage, eine Entscheidung zu treffen«, widersprach Reilly.

»Er war krank«, nickte Axel.

Schweigend saßen sie vor dem Kamin. Der Rausch trug Reilly davon.

Außerdem war es ihm nur recht, dass Axel alles bestimmte.

»Wir müssen bei den wichtigen Details einig sein«, sagte Axel. »Ich stehe also als Erster auf. Ich sehe, dass Jon nicht da ist. Ich stürze an dein Bett und wecke dich. Wir rennen in den Wald und rufen nach ihm, aber nach einer Stunde geben wir auf und verständigen die Polizei.«

»Sie werden fragen, wie Jons Verfassung war«, sagte Reilly. »Ob wir etwas bemerkt haben.«

»Uns ist nichts Besonderes aufgefallen«, sagte Axel. »Jon war wie immer. Und wir haben keinen Brief gefunden. Wir müssen seinen Schlafsack ausrollen, der liegt doch noch im Windfang. Wir sagen, dass er um zwölf Uhr schlafen gegangen ist, und seither haben wir ihn nicht mehr gesehen.«

Sie gingen in die kleinste Kammer, in der Jon immer geschlafen hatte. Reilly rollte den Schlafsack aus und legte ihn aufs Bett, er öffnete den Reißverschluss und machte im Bett ein wenig Unordnung. Axel legte ihm einen Arm um die Schulter.

»Komm, lass uns ein Bier trinken.«

»Er ist sofort untergegangen«, murmelte Reilly.

»Das weiß ich«, sagte Axel.

Sie setzten sich wieder vor das Feuer. Ihre Blicke trafen sich im flackernden Schein der Flammen.

»Dir kommt das doch wie gerufen, dass er nicht mehr da ist, oder?«

Axel biss die Zähne zusammen.

»Pass auf, was du sagst«, warnte er ihn.

»Mir ist aufgefallen, wie du ihn angesehen hast«, sagte Reilly. »Ich glaube, Jon hat sich von dir bedroht gefühlt. Und die ganze Zeit das Gefühl gehabt, dass du ihn durchschaust.«

»Deine Phantasie geht mit dir durch«, sagte Axel. »Jetzt nicht noch mehr Dope, du wirst so unsachlich davon. Du brauchst morgen einen klaren Kopf, wenn die Leute kommen.«

Sie saßen eine Weile schweigend da.

»Wollen wir wirklich nicht anrufen?«, fragte Reilly. »Wollen wir nicht sofort anrufen und Hilfe holen?«

Axel sprang auf und lief im Zimmer auf und ab.

»Selbstmord zu begehen, ist eine Entscheidung, die man allein trifft«, dozierte er. »Und ich will dabei im wahrsten Sinne des Wortes kein Zuschauer sein.«

»Aber wir waren doch Zuschauer. Und wir müssen mit seiner Mutter sprechen. Sie wird uns eine Menge Fragen stellen. Sie wird uns Vorwürfe machen, weil wir nicht besser aufgepasst haben.«

»Deshalb will ich der Polizei doch die andere Geschichte erzählen«, sagte Axel. »Er ist allein losgegangen. Wir waren machtlos, wir haben doch geschlafen. Aber natürlich sind wir total am Boden zerstört, kannst du das auf Knopfdruck sein?«

Reilly warf ihm einen düsteren Blick zu.

»Ja«, sagte er. »Am Boden zerstört sein, das mach ich doch mit links.«

Imagestar

REILLY WURDE FRÜH wach.

Das Licht bohrte sich durch einen Spalt in der Gardine, und mit einem Schaudern fiel ihm ein, was letzte Nacht passiert war. Er dachte, dass Jon für ihn und Axel in den Tod gegangen sei, dass er die Schuld auf sich genommen habe, weil er der Schwächste war, das Glied der Kette, das zu zerbrechen drohte. Aber keiner von uns verdient den Tod, dachte er, wir sind keine bösen Menschen. Jetzt fiel der Tag wie eine Lichtsäule durch das Fenster und drückte ihn in die Matratze. Sein erster Impuls war, sich gegen die Wand zu pressen und die Augen zu schließen, nie mehr aufzustehen, sich um nichts kümmern zu müssen. Aber dann kroch er aus dem Schlafsack, zog seine alte Cordhose an und öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Dort stand Axel Frimann und starrte aus dem Fenster.

»Ich war unten am Wasser«, sagte er.

»Warum das denn?«

»Wollte nur nachsehen. Ob alles in Ordnung ist.«

Reilly sah ihn verstört an. Seine langen Haare waren vom Schlaf zerzaust, er sah aus wie ein Troll aus einem Märchen, mit einem Kinn wie König Drosselbart und einer Hakennase.

»Nichts ist in Ordnung«, sagte er.

»Sag so was nicht«, bat Axel.

»Aber das ist doch die Wahrheit.«

Axel ließ sich aufs Sofa fallen und legte die Beine auf den Tisch.

»Das mit der Wahrheit haben wir doch schon diskutiert«, sagte er ungeduldig. »Es gibt viele Wahrheiten, die in Ruhe gelassen werden sollten. Stell dir vor, alle sagten plötzlich nur noch die Wahrheit, das würde doch nicht gehen. Die Gesellschaft würde auseinanderbrechen. Wir müssen jeden einzelnen Tag individuell entwerfen«, behauptete er. »So, dass die Menschen ihn sehen und ertragen und daran glauben können.«

»Du kannst nicht für alle sprechen«, sagte Reilly. »Andere haben andere Ansichten als du.«

Axel musterte ihn herausfordernd.

»Dann denk an Jons Mutter, wenn sie erfährt, dass sie ihn verloren hat. Überleg mal, wie schrecklich das für sie ist. Und überleg dir, wenn sein guter Name noch dazu in den Schmutz gezogen würde und sie erfahren müsste, dass ihr Sohn nicht der war, für den sie ihn gehalten hat. Wie sollte sie damit fertigwerden? Erzähl mir also nichts von der Wahrheit, die Menschen können damit nicht umgehen. Sie wollen sie auch gar nicht wissen. Und jetzt hör mir zu!«

Er sprang mit einem Satz auf und lief in die Küche. Reilly hörte, wie er Kaffee aufsetzte und dafür Wasser aus einem Eimer schöpfte. Reilly selbst ging in sein Schlafzimmer und zog ein T-Shirt an. Er trat ans Fenster und starrte zum Totensee hinunter, der wie ein grünschwarzer Spiegel vor ihm lag. Vielleicht hatte sich über Jons dünnen Körper schon eine Schlammschicht gezogen, so dass die Taucher ihn im Licht ihrer Lampen gar nicht finden würden. Jon war klein und dünn, Jon könnte als Stock durchgehen, als unscheinbare Unebenheit auf dem Seegrund. Reilly riss sich von dem Anblick los und stürzte aus der Hütte. Dort sank er auf der Treppe, die aus zwei großen Steinquadern bestand, in sich zusammen.

Axel lief zu ihm.

»Alles easy«, sagte er. »Jon war schon lange krank. Wir haben es kommen sehen.«

Reilly hatte den Kopf mit den Händen gestützt, außerstande, ein Wort hervorzubringen. Er brauchte unbedingt etwas zur Beruhigung, aber Axel hatte ihm verboten, sich zuzudröhnen, bis alles überstanden war. Das Wort »überstanden« hallte in seinem Kopf wider, als hätten sie etwas verbrochen, als hätten sie Jon aus dem Boot gestoßen.

»Ich habe mir natürlich so meine Gedanken gemacht«, fuhr Axel fort, »das gebe ich zu. Was glaubst du, was Jon auf der Station gemacht hat? Er ist zur Therapie gegangen, und er hat geredet, vier Wochen lang. Sie haben ihn aufgefordert, alles zu erzählen, von seinen Gefühlen zu berichten, von den Dingen, die ihn quälen und die zu dem Zusammenbruch geführt haben. Früher oder später wäre die Wahrheit ans Licht gekommen. Das hätte uns vernichtet, und wir hätten dann nicht hier am Wasser sitzen können. Verstehst du, was ich sage?«

»Wir wissen überhaupt nicht, wie er damit umgegangen wäre«, sagte Reilly. »Du kannst das nur vermuten. Menschen bewältigen das Unglaublichste.«

Axel griff nach einem Stöckchen und scharrte vor der Treppe im Boden herum.

»Jetzt wird es wohl kaum großes Gerede geben«, sagte er. »Jon war wegen seiner Angstzustände und Depressionen in Ladegården eingewiesen worden, und er stand unter Medikamenten. Die Polizei wird da ziemlich schnell einen Zusammenhang sehen. Und inzwischen sollten wir uns über unsere Freiheit freuen.«

»Wenn diese Freiheit eine Qual ist«, sagte Reilly, »dann ist sie nicht viel wert. Aber du empfindest Schmerz nicht so wie andere«, fügte er hinzu.

Danach starrte er in den Wald hinein. Von dort, wo er saß, sah dieser mit seinen schwarzen Tannen dunkel und geheimnisvoll aus. Das Licht fiel in Form von langen schrägen Säulen durch die Wipfel. Eine Kiefer war umgestürzt, die Wurzel spreizte sich dramatisch wie eine Klaue. Und dann sah er etwas zwischen den Bäumen blinken, etwas Weißes. Axel folgte mit dem Blick der ausgestreckten Hand.

»Da ist jemand«, flüsterte Reilly.

»Nein, halt jetzt die Fresse«, schnitt Axel ihm das Wort ab. Reilly hatte sich hingestellt, er schirmte die Augen mit der Hand ab. Er bezweifelte keine Sekunde, dass sich zwischen den Bäumen etwas bewegte.

»Du hast doch nichts eingeworfen?«, fragte Axel.

»Da kommen Leute«, sagte Reilly. Plötzlich wurde er ganz nervös.

»Stell dir vor, wenn uns heute Nacht jemand gesehen hat! Hier oben stehen bestimmt noch andere Hütten, uns könnte jemand mit dem Fernglas beobachtet haben. Dieser verdammte Mond hat doch wie verrückt geschienen.«

»Die Krähen haben uns gesehen«, sagte Axel. »Und die sagen es sicher den Elstern weiter, und schwupp, schon weiß es der ganze Wald.«

Reilly stakte unruhig auf seinen langen Beinen umher.

»Da kriecht irgendwas rum«, er ließ nicht locker. »Im Heidekraut dahinten, neben der Kiefer. Verdammt, da wimmelt es.«

Sie überquerten den Platz vor der Hütte, schlichen an einigen Büschen vorbei und schauten zwischen den Tannenstämmen hindurch. Reilly wurde immer schneller, er sprang über Stock und Stein, seine langen Haare flatterten wie eine Pferdemähne. Am Fuße eines Baumes lag eine tote Katze. Und neben der Katze vier Kätzchen, auch sie waren tot. Ein fünftes dagegen krabbelte durch das Gras und hatte sich schon ein ganzes Stück entfernt.

In diesem Augenblick geschah etwas mit Philip Reilly. Der Anblick des hilflosen, durchs Heidekraut kriechenden Kätzchens bewegte ihn. Er hatte noch nie ein so kleines, verlassenes und verdammtes Wesen gesehen. Die Ereignisse der Nacht hatten ihn verletzlich werden lassen, und er schmolz wie Butter in der Sonne.

»Hast du das gesehen«, fragte er, »was für ein kleiner Wurm!«

Verwundert stand Axel daneben und beobachtete das Geschehen. Der riesige Reilly bückte sich und hob das Kätzchen mit seinen riesigen Pranken hoch, es war weiß und hatte graue Flecken. Aus dem zahnlosen Mäulchen war ein leises Wimmern zu hören. Die Augen waren nur einen Spalt geöffnet, auffällig blau, der Schwanz war nur ein fadendünner Stummel.

»Ich nehm ihn mit rein«, sagte Reilly. »Der braucht was zu essen.«

Axel streckte die Hand aus, um ihn wachzuschütteln.

»Du«, sagte er. »Wir haben einiges zu erledigen, wir müssen bei der Polizei anrufen. Du kannst dich jetzt nicht mit kleinen Katzen beschäftigen, du spinnst ja wohl.«

Reilly scheuchte ihn weg. Er lief mit dem Kätzchen in der Hand zur Hütte, das Kleine wog nur ein paar Gramm. In seiner Handfläche kitzelte und kribbelte es.

»Haben wir Milch?«

»Nein«, sagte Axel. »Milch ist auch nicht gut für Katzen, die müssen Wasser kriegen, sonst werden sie fett. Kuhmilch ist zu schwer verdaulich.«

»Fett?«

Reilly öffnete die Hand. »Hast du gesehen, wie mager der ist? Der wiegt doch gar nichts.«

Axel ging an ihm vorbei in die Hütte, Reilly folgte ihm, er hielt das Tierchen wie ein rohes Ei, seine ganze lange, ungelenke Gestalt schien das Tier zu umschließen. Er öffnete einen Schrank. Wühlte zwischen Schachteln und Tüten herum.

»Milchpulver?«, fragte er.

»Nein«, sagte Axel.

»Büchsenmilch?«

»Gibt’s nicht.«

Jetzt schien Reilly den Mut zu verlieren.

»Wir haben Jon nicht retten können«, sagte er, »aber diesen Knaben hier werden wir retten. Ein Leben wiegt das andere auf. So steht es im Koran. Wir brauchen einen Schuhkarton und ein Handtuch«, fügte er hinzu. »Haben wir einen Karton?«

»Jetzt setz das Viech irgendwohin«, befahl Axel. »Wir müssen miteinander reden. Wir müssen uns einigen, kannst du versuchen, dich fünf Minuten lang zu konzentrieren? Warum hast du das Kätzchen mitgenommen, so kannst du doch nicht weitermachen. Hast du irgendwas genommen?«

Reilly achtete nicht auf ihn.

»Wasser«, sagte er. »Hol eine Schüssel. Ich kann einen Brei aus Brotkrümeln machen. Hast du nicht ein Weißbrot mitgebracht?«

Er setzte das Kätzchen auf den Küchentisch, wo es auf zitternden Beinen stehenblieb. Im obersten Regalfach fand er eine leere Keksdose mit Disneymotiven, er erkannte Aschenputtel, Schneewittchen und Pinocchio.

»Das passt doch gut«, redete er mit sich selbst. »Diese Dose schreit ja geradezu nach einem Bewohner.«

Axel hielt sein Telefon in der Hand. Er sah hektisch aus.

»Die Frage ist, wen wir anrufen«, sagte er, »die Polizei oder das Krankenhaus? Oder seine Mutter? Was meinst du, Reilly? He! Kannst du dich einen Moment zusammenreißen, ich versuche hier, deine Haut zu retten.«

»Meine Haut zu retten?«

»Du hättest die Klappe halten können mit diesem Islamscheiß«, sagte Axel. »Du hast gesagt, dass die Frist zu Ende geht. Und dass das Urteil naht.«

»Aber du wolltest auf den See rudern«, verteidigte sich Reilly.

Er wandte sich von Axel Frimann ab und gab dem Kätzchen etwas zu trinken. Dann nahm er ein Geschirrtuch von einem Haken und drapierte es in der Keksdose wie ein kleines Nest. Vorsichtig legte er das Kätzchen darauf, und sofort rollte es sich zusammen. Eine Weile bewunderte er das kleine Tier, das jetzt seinen Durst gelöscht hatte und zur Ruhe gekommen war. Er hatte nicht gewusst, dass er ein so ausgeprägtes fürsorgliches Talent besaß. Das fand er sehr befriedigend.

»Was sollen wir mit der Katzenmutter machen«, fragte er.

»Und den toten Jungen?«

»Müssen wir etwas mit denen machen?«

Axel hielt ihm das Telefon hin. »Kannst du mal versuchen, dich hier zu beteiligen?«

»Sonst holt sie doch der Fuchs«, sagte Reilly traurig.

»Natürlich. Von so was lebt er doch.«

»Wir könnten sie doch bedecken. Oder begraben.«

»Der Fuchs hat eine Nase«, sagte Axel. »Falls du das noch nicht gewusst hast.«

Reilly bewunderte das Kätzchen in der Keksdose. Ein graues und weißes Wuschel auf einem karierten Geschirrtuch. Ein pelziges kleines Wunder.

»Führ du das Gespräch«, murmelte er. »Du kannst so was am besten.«

Axel wählte die Nummer der Station, auf der Jon seit vier Wochen behandelt worden war. Seine Stimme klang ungeheuer besorgt, als er erzählte, was geschehen war.

»Wir sind um neun Uhr aufgestanden«, sagte er. »Und da war sein Zimmer leer.«

Imagestar

WÄHREND SIE WARTETEN, streiften sie durch den Wald.

Reilly musterte Axel, seine Art zu laufen, er machte energische Schritte, so als würde er Kraft tanken für die Rolle, die er bald spielen müsste. Die Rolle des bedächtigen, aber besorgten Freundes von Jon Moreno.

»Ich hätte ihn vielleicht an Land ziehen können«, begann Reilly erneut. »Wenn du mich nicht daran gehindert hättest.«

Axel protestierte.

»Jon hätte wie ein Wilder um sich geschlagen«, widersprach er. »Er hatte eine dicke Wolljacke und schwere Schnürstiefel an, und du einen Pullover, der so groß war wie ein Mantel. Außerdem war das Ufer ziemlich weit weg. Das hättest du nicht geschafft, und es geht auch nicht, einen Mann in ein so kleines Boot zu hieven, ihr wärt beide ertrunken. Mach das Tor hinter dir zu«, fügte er hinzu. »Hier laufen Schafe rum. Ich höre ihre Glocken.«

Reilly schloss das Tor mit einer Schlinge aus Stahldraht. Mit schweren Schritten ging er hinter Axel her, der See mit seiner stillen, schwarzen Oberfläche lag zu ihrer rechten Seite, und Jon lag auf seinem Grund mit der Lunge voll Wasser. Dann dachte er wieder an das Kätzchen, und so wirbelten die Gedanken in seinem Kopf umher: das Kätzchen und Jon, das Kätzchen und Jon.

Philip Reilly war fast zwei Meter groß und ziemlich mager. Er hatte lange sandfarbene Haare, die wachsen durften, wie sie wollten, und er trug einen langen Mantel mit tiefen Taschen.

»Wenn ich einen Obstgarten hätte, würde ich dich als Vogelscheuche anheuern«, sagte Axel.

Reilly reagierte nicht auf diese Beleidigung.

Wenn Axel meinte, er habe Ähnlichkeit mit einer Vogelscheuche, dann war ihm das egal, er kümmerte sich nicht um solche Dinge. Außerdem war er aufgewühlt. Er versetzte dem Boden Tritte, Sand und Erde stoben auf. Jon, dachte er. Jonni, Jonnijunge.

»Zieh mich nicht runter«, sagte Axel. »Ich bin kein Verbrecher, und du bist auch keiner. Du musst lernen, nach vorn zu blicken, und du musst lernen, dich durchzusetzen.«

Er gestikulierte heftig.

»Schieß beim Ausatmen«, sagte er. »Und halt dich in Bewegung. Sei ein Hai, zum Teufel.«

Reilly gab keine Antwort. Es gab nicht viel zu sagen, und ihm war es nur recht, wenn Axel das Reden übernahm.

Sie hatten einen alten morschen Zaun erreicht.

»Da hängt etwas«, sagte Axel. »Ein alter Badeanzug. Also echt.«

»Der ist verschimmelt«, sagte Reilly. »Lass ihn hängen.«

»Ein Badeanzug«, wiederholte Axel.

Der Badeanzug war gelb und hatte schwarze Streifen. Er riss ihn an sich und zog an dem elastischen Stoff.

»Das ist ja das reinste Wespenkostüm«, sagte er.

Er zog immer weiter an dem Badeanzug.

»Kannst du dir das vorstellen, Reilly? Eine riesige Wespe hat sich am Ufer rumgetrieben und den Leuten eine Höllenangst eingejagt.«

»Jon ist tot«, sagte Reilly. »Jetzt benimm dich endlich. Wir gehen nicht mehr in den Kindergarten. Ich weiß wirklich nicht, was für ein Mensch du bist.«

Axel legte den Badeanzug zurück auf den Zaun.

»Du kannst rumheulen«, sagte er, »oder du kannst diese Sache mit mir zu Ende bringen und dein Leben retten.«

Axel Frimann lief weiter. Er war wahrhaftig ein Augenschmaus, das ließ sich nicht leugnen. Seine Glieder arbeiteten geschmeidig miteinander, seine Schultern ließen die Arme rhythmisch schwingen, seine Hüften führten die Beine, sein Gang war federnd, voller Spannkraft und Eleganz, lässig und energisch zugleich. Reilly ging hinter ihm, seine Haare flatterten im Wind, die Mantelschöße blähten sich wie Segel auf, sein Kopf wusste nicht, was seine Beine taten, und er stolperte über den Pfad wie ein mit Stiefeln versehener Holzklotz. Axel hob zu einem Vortrag über den guten Willen an. Dass es ihr Motor gewesen sei, dass der Ausgang der Geschichte ein einziges, großes Unglück sei, das sich ihrer Kontrolle entzogen habe. Eine Laune der Natur habe sie getroffen, in einem schwachen Augenblick. Axel redet und redet, dachte Reilly. Mein Leben hat weder Sinn noch Ziel gehabt, aber ich habe nie jemandem geschadet. Jetzt aber bin ich mir nicht mehr sicher.

Axel legte ihm eine Hand auf die Schultern.

»Repeat ist die größte Werbeagentur in Norwegen«, sagte er. »Ich verdiene pro Jahr siebenhundertfünfzigtausend. Ich habe mein Leben lang auf so einen Job gewartet, und niemand wird ihn mir wegnehmen.«

Reilly streckte die Arme wie ein Gekreuzigter zur Seite.

»Wir werden das niemals abschließen können«, entgegnete er. »Wir müssen das unser Leben lang mit uns herumschleppen. Und ich weiß nicht, ob ich das aushalte.«

»Natürlich hältst du das aus«, sagte Axel. »Denn du bist nicht so ein Weichei wie Jon.«

Reilly war ein friedfertiger Mensch, aber die Äußerung ließ ihn rot vor Wut werden. Er lief zurück zur Hütte und rannte in die Küche, um nach dem Kätzchen zu sehen. Es atmete noch immer.

Imagestar

DIE WAGEN PARKTEN alle in einer Reihe auf der Wiese neben der Hütte. Die Sonne stand mittlerweile höher am Himmel und funkelte in den Fensterscheiben. Die Feuerwehr hatte zwei Taucher und ein orangefarbenes Gummiboot auf einen Anhänger gestellt, das Rote Kreuz kreuzte mit Hund und Suchmannschaften auf. Der Hund war ein Schäferhund, groß und zottig, mit schwarzen intelligenten Augen. Die Polizei war mit zwei Mann vertreten. Konrad Sejer war der Hauptkommissar, eine beeindruckende Erscheinung. Er war groß und schlank, mit dichtem grauem Haar und markanten Zügen. Sein Kollege Jacob Skarre war um einiges jünger und hatte blonde Locken. Immer mehr Leute stiegen aus den Wagen, Axel ging ihnen entgegen, um sie zu begrüßen. Er war ein Mann voller Sorge und Angst, seine Stimme schwebte durch die Luft, man konnte einen leisen Schmerz darin erahnen, einen Kummer hören. Reilly beobachtete den Auftritt seines Freundes, er war beeindruckt, sah das aber nicht zum ersten Mal, Axel konnte auf Knopfdruck die erforderlichen Gefühle aktivieren, und es kostete ihn keinerlei Anstrengung.

»Wir sind um neun aufgestanden, und da war er verschwunden«, sagte Axel. »Das war ein Schock. Es geht ihm doch so schlecht.«

Der Hauptkommissar stellte sich vor. Sein Händedruck ließ Axel Frimann aufkeuchen.

»Haben Sie ihn gesucht?«, fragte Sejer.