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Brigitte Melzer

Wesen der Nacht

Band 2:
Dämonenblut

Roman

hockebooks

49

Als wir das Zimmer seines Großvaters betraten, umklammerte Nick meine Hand fester. Er war vor ein paar Tagen vom Pflegeheim in ein Hospiz verlegt worden.

Das Zimmer war groß, die Wände in freundlichem Gelb gestrichen, die Böden mit Parkett ausgelegt statt mit hässlichem Linoleum. Die Schwestern und Pfleger, denen wir auf dem Gang begegnet waren, hatten alle ein Lächeln auf den Lippen gehabt und uns gegrüßt. Es war ein schöner Ort, hell und liebevoll gestaltet. Aber es war auch die letzte Station auf der Reise eines Lebens. Des Lebens von Nicks Großvater.

Während ich mich mit meiner Erkältung herumgeschlagen hatte, hatte ich Nick immer wieder fortgeschickt, damit er seinen Großvater besuchte. Ich hatte ihn jedes Mal regelrecht rauswerfen müssen, weil er mich einfach nicht allein lassen wollte. Nach allem, was passiert war, fürchtete er wohl, ich könnte plötzlich nicht mehr da sein, wenn er zurückkam.

Nick hatte weder Salina noch einem der anderen Bewahrer von seinem Großvater erzählt. Nicht dass er nach einem Herzstein suchte oder warum, und auch nicht, dass sein Großvater ein Zauberer war. Er wusste, dass die Bewahrer die Verwendung eines Herzsteins nicht billigen würden. Es gar nicht konnten, wenn sie ihre Aufgabe ernst nahmen. Adam allerdings hatte angeboten, die Suche wiederaufzunehmen.

Bisher ohne Erfolg.

Die Zeit von Nicks Großvater lief ab, und auch wenn Nick die Hoffnung noch nicht vollends aufgeben wollte, so hatte er zumindest gewollt, dass ich den alten Mann kennenlernte, bevor es zu spät war.

Nick stellte zwei Stühle an die Seite des Bettes.

»Grandpa?«, fragte er, sobald wir saßen. »Ich habe heute jemanden mitgebracht.«

Sein Großvater reagierte nicht. Er lag vollkommen reglos da. Die Wangen eingefallen, der Mund leicht geöffnet, die Augen geschlossen. Jeder Atemzug rasselte in seinen Lungen und kroch schwer über seine Lippen. Trotzdem war Nick überzeugt, dass er ihn hörte.

»Das ist Riley. Meine Freundin.«

Zu hören, wie er mich vor einem anderen als seine Freundin bezeichnete, war immer noch ungewohnt. Aber es war ein gutes Gefühl. Während der letzten Tage hatten wir so viel Zeit miteinander verbracht, dass mir seine Nähe längst vertraut war. Als meine Halsschmerzen am schlimmsten waren, hatte er das Reden übernommen, und inzwischen hatte ich das Gefühl, alles über ihn zu wissen. All die Dinge, bei denen er vor etwas mehr als einer Woche nicht im Traum daran gedacht hätte, dass er sie mir jemals erzählen könnte. Der Nick Wolfe, den ich bei unserer ersten Begegnung kennengelernt hatte, schien ein vollkommen anderer zu sein als der, der jetzt neben mir saß. Mein Nick war weder arrogant noch oberflächlich. Er sorgte sich um die Menschen, die ihm nahestanden, auch wenn es nicht viele waren, und er hatte sich sogar bei Pepper dafür entschuldigt, wie er sie behandelt hatte, als er wegen der Séance in den Laden gekommen war. Es würde nicht leicht werden, unsere doch sehr unterschiedlichen Welten zusammenzubringen, aber wenn wir uns beide bemühten, konnten wir es schaffen. Auch wenn mir der Gedanke nicht gefiel, dass er die Kleider und den Schmuck bezahlen musste, wenn ich ihn zu einer seiner Veranstaltungen begleiten sollte.

Ich legte meine Hand auf den Arm seines Großvaters. »Hallo, Mr Wolfe. Schön, Sie kennenzulernen.«

Von Nick wusste ich, dass er seinem Großvater bei jedem Besuch von mir erzählt hatte. Und von dem, was wir während der letzten zwei Wochen erlebt hatten. Die Sache mit meinem Dämonenblut hatte er dabei hoffentlich für sich behalten.

Etwas zog an mir. Ich hatte bereits ein paar Unterrichtsstunden bei Madame hinter mir und kannte die Zeichen. Wie von selbst öffnete ich mich, während ich darauf achtete, keine Energie abzugeben, die ein Geist als Einladung auffassen könnte. Das Ziehen kam von Nicks Großvater. Erschrocken sah ich ihn an und hätte um ein Haar aufgeseufzt, als ich sah, wie sich sein Brustkorb unter rasselnden Atemzügen hob und senkte. Gott sei Dank!

Aber warum hatte ich ihn gespürt? Es war eindeutig von ihm gekommen, dessen war ich sicher. Außer ihm war niemand im Zimmer.

Behutsam öffnete ich meinen Geist ein Stückchen mehr und tastete nach der Quelle des Ziehens. Was ich auch versuchte, es führte mich immer wieder zurück zu Mr Wolfe.

Ich versuchte es zu ignorieren, doch das Zupfen hörte nicht auf. Stattdessen wurde es drängender. Vorsichtig gab ich ein wenig Energie frei, ließ sie aus mir in den Raum fließen, auf der Suche nach dem, der versuchte, mich auf sich aufmerksam zu machen.

Ein hellblauer Schimmer, weit heller als Hughs Aura, löste sich aus Mr Wolfes Brustkorb, erhob sich in die Luft und nahm die Gestalt des Mannes an, der darunter im Bett lag. Nick schnappte hörbar nach Luft.

Mr Wolfes Geist bewegte die Lippen. Ich ließ noch mehr Energie in ihn fließen.

»Noch bin ich nicht tot«, sagte Nicks Großvater. »Aber mir bleibt nicht mehr viel Zeit. Ich bin dem Tod bereits näher als dem Leben. Das ist auch der Grund, warum ich auf diesem Weg Kontakt zu dir aufnehmen kann.«

Nick, der erneut nach meiner Hand gegriffen hatte, lehnte sich vor. »Wir werden ihn rechtzeitig finden!«

Mr Wolfe schüttelte den Kopf. »Deshalb wollte ich mit dir sprechen. Es gibt so vieles, das ich dir noch sagen möchte. So viele Dinge, die ich dir erzählen oder erklären will. Aber die Zeit dafür ist vorbei. Am Ende ist es immer zu wenig Zeit, nicht wahr?«

Seine Erscheinung flackerte und ich gab ein wenig mehr Energie. So viel, bis ich die Schwäche in mir aufsteigen spürte, dann hörte ich auf.

Mr Wolfe sah zu mir, dann wieder zu seinem Enkel. »Ich bin froh, dass du nicht mehr allein bist.«

»Das war ich nie. Ich habe schließlich dich.«

»Nick, wir wissen beide, dass es nicht ewig so weitergehen kann.« Die schimmernde Gestalt seines Großvaters kam näher. Er hob die Hand und streckte sie nach Nicks Gesicht aus, ohne ihn zu berühren. »Ich bin alt«, sagte er. »Ich hatte ein langes und glückliches Leben. Wenn du mich jetzt rettest, kaufst du mir ein paar Jahre. Aber was dann? Das Leben lässt sich nicht aufhalten. Ebenso wenig der Tod. Ich werde weiter altern, vielleicht wieder krank werden. Was willst du dann tun? Wieder auf Dämonenjagd gehen?« Er schüttelte den Kopf. »Es ist an der Zeit. Lass mich gehen, Nick. Bitte.«

Der Druck von Nicks Fingern um meine Hand wurde stärker. Sein Zittern übertrug sich auf mich, und als ich ihn ansah, sah ich die Tränen in seinen Augen schimmern. Er rang mit sich, kämpfte um Worte und um eine Entscheidung. Dann sah er mich an. Als könnte ich ihm sagen, was er tun sollte.

Als er schließlich wieder zu seinem Großvater sah, liefen Tränen über seine Wangen. »Willst du das wirklich? Willst du wirklich gehen?«

Mr Wolfe nickte. »Deine Großmutter wartet auf mich.«

Nick streckte die Hand nach ihm aus, doch seine Finger glitten durch den Arm seines Großvaters. Daran, dass er nicht materiell war, konnte auch die weitere Energie nichts ändern, die ich in ihn fließen ließ.

»Du wirst deinen Weg gehen«, sagte Mr Wolfe. »Das weiß ich, so wie ich weiß, dass ich dich liebe.« Dann sah er mich an. »Pass auf ihn auf, ja?«

Ich schluckte den Kloß herunter, der mir im Hals saß. »Das werde ich.«

Mr Wolfe lächelte und verschwand.

Zurück blieb der reglose Körper im Bett. Das Rasseln, das ich zuvor vernommen hatte, war fort. Er atmete jetzt lautlos. Als würde es ihm nicht länger Mühe bereiten.

»Ich liebe dich«, sagte Nick, und ich wusste, dass er nicht nur seinen Großvater meinte.

Epilog

Ulysses Thorne, ehemals der Oberste Bewahrer, stand in seinem Zimmer, in das sie ihn eingesperrt hatten, und blickte aus dem Fenster. Dabei sah er weder den Garten noch die dahinterliegende Straße – sein Blick war in die Zukunft gerichtet.

In ein paar Tagen würden sie über ihn zu Gericht sitzen. Er kannte das Urteil bereits, vor gar nicht allzu langer Zeit hätte er selbst ganz genau so geurteilt.

Heute jedoch wusste er es besser.

Seine Magie blockieren, damit er nicht mehr darauf zugreifen konnte. Sie hatten ja keine Ahnung!

Er hob die Hand und betrachtete seinen Handrücken. Dort, wo die Haut vor einigen Tagen noch faltig und gezeichnet von beginnenden Altersflecken gewesen war, war sie nun straff und ohne Makel. Auch sein Gesicht hatte sich verändert, so wie sein gesamter ganzer Körper. Als der Antersoman zerborsten und die freigesetzte Magie in ihn geflossen war, ihn durchdrungen hatte, all die Magie, die er im Laufe der letzten Jahre gesammelt hatte, war etwas mit ihm passiert. Er fühlte sich jung. Fit. Die anderen hatten es auch bemerkt, schoben es in ihrer Einfalt aber darauf, dass der Zirkel wieder geschlossen war.

Narren!

War ihnen nicht aufgefallen, dass er der Einzige war, der sich auf so drastische Weise verändert hatte? Meine Güte, er sah aus wie ein Vierzigjähriger in Bestform.

Und er wollte mehr! Mehr Jugend. Mehr Leben. Und vor allem: mehr Magie!

Sie hatten ihn nicht aus dem Zirkel geworfen, das konnten sie nicht. Sie brauchten ihn. Er würde auch nichts unternehmen, um sich von ihnen zu lösen – wer konnte schon wissen, wozu ihm diese Verbindung eines Tages noch nutzen konnte? Aber ganz sicher würde er auch nicht warten, bis sie kamen, um ihn von seiner Magie abzuschneiden.

Die Macht, die in ihn geflossen war, hatte ihm die Augen geöffnet. All die Jahre hatten sie alles darangesetzt, die Magie vor den Menschen verborgen zu halten und zu verhindern, dass einzelne Zauberer zu viel Macht anhäuften. Das war ein Fehler gewesen. Das wusste er jetzt.

Es war an der Zeit, die Zauberer in ein neues Zeitalter zu führen. Eines, in dem sich seinesgleichen nicht mehr vor den Menschen zu verstecken brauchte, sondern den Platz einnahm, der ihnen gebührte. An der Spitze.

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Band 1: Geistwandler

978-3-95751-250-5

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978-3-95751-078-5

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978-3-95751-079-2

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978-3-95751-068-6

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978-3-95751-069-3

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Die Autorin

Melzer Brigitte
Brigitte Melzer © Lalo Jodlbauer

Brigitte Melzer wurde 1971 geboren. Schon früh entdeckte sie ihre Liebe zur Fantasy, die sie schließlich auch zum Schreiben führte. Bereits ihr Debütroman Whisper – Königin der Diebe wurde ein außergewöhnlicher Erfolg. Der Roman schaffte es unter die drei besten Manuskripte, die für den Wolfgang-Hohlbein-Preis 2003 eingereicht wurden. Mit Vampyr erfolgte ihr Durchbruch. Von Brigitte Melzer sind mittlerweile zahlreiche Bücher erschienen, mit denen die Autorin ihr Publikum stets aufs Neue begeistert. Brigitte Melzer lebt und arbeitet in München.

Prolog

Fackelschein erfüllte das alte Gemäuer. Ein Luftzug fuhr mit leisem Raunen durch den Raum und ließ die Flammen tanzen. Schatten zuckten über die Wände und wuchsen zu Monstern aus undurchdringlicher Dunkelheit an, nur um einen Augenblick später wieder in sich zusammenzufallen, ehe sie sich erneut erhoben.

Der Oberste Bewahrer stand reglos in der Mitte des Raumes. Feuchte Kälte kroch durch den Stoff seines Anzuges, fraß sich durch die Haut und nistete sich in seinen Knochen ein. Früher einmal hatte ihm die Kälte nichts ausgemacht, mittlerweile jedoch spürte auch er den voranschreitenden Verfall. Einen Verfall, der mit dem Tod des Mannes begonnen hatte, dessen Leichnam in dem steinernen Sarkophag vor ihm lag.

Seinesgleichen war nicht unsterblich, doch dank der ihnen gegebenen Macht – der Macht des Zirkels – spürten sie die Last des Alters weit weniger als andere. Sie alterten langsamer, was ihnen eine längere Lebensspanne bescherte. Es war noch gar nicht so lange her, da waren dem Obersten Bewahrer Krankheiten gänzlich unbekannt gewesen. Das war nun anders. Rheuma und eine Neigung zu erhöhtem Blutdruck hatten sich eingestellt. Neulich hatte ihn sogar eine Grippe befallen!

Das alles wäre undenkbar gewesen, wäre Severius noch am Leben. Sein Tod hatte den Zirkel gebrochen und eine Lücke hinterlassen, durch die die Macht der Bewahrer nun Stück für Stück zu versickern drohte, wie Milch, die aus einem leckgeschlagenen Karton rann.

Das musste ein Ende finden! Bevor es zu spät war und sie nicht länger imstande waren, ihrer Aufgabe nachzukommen.

Er streckte die Hand nach dem Sarkophag aus und strich bedächtig über den Rand. Der Stein fühlte sich unter seinen Fingerspitzen kalt und rau an. So leblos wie der Körper, der sich darunter verbarg.

»Bald«, flüsterte der Oberste Bewahrer. »Bald wirst du deinen Platz in unserer Mitte wieder einnehmen.«

All die Jahre der Vorbereitung, all die Mühen und Opfer, die er auf sich genommen hatte, näherten sich ihrem Ende. Nur noch ein bisschen mehr Essenz …

1

Die Augen des Totenkopfes leuchteten auf. Zwei rot glühende Höllenschlünde, die mich ebenso zu verhöhnen schienen wie das gehässige Gelächter, das aus seinen klaffenden Kiefern schallte.

Könnte er sprechen, hätte er mir vermutlich vorgehalten, dass mein Leben in etwa so spannend war wie das einer Leiche. Oder eines Totenschädels. Aus meiner Clique war ich die Einzige, die ihre Sommerferien zu Hause verbrachte. Alle schienen das zu wissen – sogar dieser blöde Plastikschädel vor mir im Regal.

Riley Summers, die Daheimgebliebene.

Hahaha!

Seufzend stieß ich mit dem Stiel des Staubwedels gegen den Kippschalter. Schlagartig verstummte das Lachen, das rote Licht in den Augen erlosch. Egal, wie oft ich das dusslige Ding auch abstaubte, es war mir noch nie gelungen, den Schalter zu verfehlen, der es zum Leben erweckte.

Ich drehte dem Regal den Rücken zu und ließ den Blick durch den Laden wandern.

In ein paar Minuten würden wir aufsperren und im Laufe des Tages das übliche Pensum an Touristen abfertigen, für die wir schwarze Hexenhüte, krumme Pappnasen, Warzen zum Aufkleben und Totenschädel aus Plastik auf Lager hatten; alles wahlweise in Originalgröße, als Kühlschrankmagneten oder Schlüsselanhänger. Zusätzlich zu Postkarten und Tassen mit verschiedensten magischen Motiven verkauften wir eine große Auswahl an bunten »Zaubertränken« in hübsch verzierten Glasfläschchen. Obwohl es sich dabei nur um gefärbtes Zuckerwasser handelte, gehörten die Tränke zu unseren Verkaufsschlagern. Allen voran natürlich der Liebestrank.

Das Zeug für die Touristen und Neugierigen war ein Kompromiss, wie Madame Veritas, die Besitzerin des Hexenkessels, immer betonte. Einer, der dafür sorgte, dass die Kasse klingelte.

Neben dem ganzen Kitsch führten wir auch echten Hexenbedarf, der den heimeligen Verkaufsraum in ein Zauberland aus dunklem Holz, blutrotem Samt und geheimnisvollen Büchern und Gegenständen verwandelte. Alles überlagert vom würzigen Geruch der Räucherstäbchen, die neben der Kasse vor sich hin kokelten.

Jonah, Madames rechte Hand und der Einzige, der neben ihr Vollzeit arbeitete, kam mit einer Kiste aus dem Lagerraum, stellte sie hinter dem Kassentresen ab und betrachtete mich mit gerunzelter Stirn. »Du machst ein Gesicht, als hätte dich jemand zu einer zwölfstündigen Diavorführung eingeladen.«

»Dias? Aus welchem Jahrtausend stammst du denn?«

Lachend fuhr er sich mit der Hand durch das kurze blonde Haar. »Dann eben irgendwas anderes, ähnlich Ödes.«

Ich ließ den Staubwedel sinken. Es war gerade einmal Dienstag, die Ferien hatten erst begonnen – und gingen mir schon auf die Nerven. »Diese Ferien werden absolut be… scheiden.« Ich verdrehte die Augen. Eigentlich hatte ich beschissen sagen wollen, aber wie üblich war mir meine Unfähigkeit, Schimpfwörter auszusprechen, in die Quere gekommen. Dabei funktionierte es in Gedanken bestens. Ich wusste immer genau, was ich sagen wollte. Dummerweise schien ich über eine Art natürlichen Filter zu verfügen, der die Unflätigkeiten, die durch meinen Kopf spukten, zensierte und durch harmlosen Kinderkram ersetzte, ehe sie mir über die Lippen kamen. Selbst dann, wenn ich wirklich richtig stinkig war.

Jonah setzte eine entrüstete Miene auf. »Langweilig? Hier? In diesem Paradies der Merkwürdigkeiten? Niemals!«

»Die meisten meiner Freunde sonnen sich in Spanien und schlagen sich die Nächte in Clubs um die Ohren und ich hänge hier fest und verkaufe …« Mein Blick fiel auf eines der Bücher, die auf dem Tisch vor mir ausgestellt waren. »Ratgeber zur Erweiterung Ihrer transzendentalen was-auch-immer.«

Meine Clique hatte beschlossen, dieses Jahr gemeinsam für drei Wochen nach Ibiza zu fliegen und es dort so richtig krachen zu lassen. Alle außer denen, die mit ihren Eltern in den Urlaub mussten. Und mir. Ich wäre gern mitgefahren, doch abgesehen davon, dass ich erst seit ein paar Wochen hier arbeitete und nicht schon um Urlaub bitten wollte, konnte ich es mir schlicht nicht leisten.

»Kannst du das ausräumen?« Jonah deutete auf den Karton, den er aus dem Lager geschleppt hatte. »Dann kümmere ich mich ums Schaufenster.«

Dankbar, dass er mir das Herumklettern in der höher gelegenen Auslage ersparte, wo mir jeder Passant unter das Kleid glotzen konnte, drückte ich Jonah den Staubwedel in die Hand. Während ich die Bücher – allesamt angeblich wahre Geistergeschichten – aus dem Karton räumte und in den Drehständer neben der Kasse einsortierte, beobachtete ich Jonah, der sich geschickt zwischen all dem Dekokram im Schaufenster hindurchschlängelte und dabei den Staubwedel schwang. Von Zeit zu Zeit hielt er inne, um etwas gerade zu rücken. Zwei Teenies blieben vor dem Fenster stehen, hatten jedoch mehr Augen für Jonah als für unser Angebot. Verdenken konnte man es ihnen nicht, denn mit seinem muskulösen Körper, dem kurzen blonden Haar und den grünen Augen, die durch seine Sonnenbräune regelrecht zu leuchten schienen, war er durchaus was fürs Auge. Witzig und nett war er obendrein. Nur leider nicht mein Typ.

Ich zerlegte den leeren Karton und brachte ihn ins Lager, als hinter mir die Glöckchen über der Tür Amok liefen. Ich fuhr herum, um zu sehen, wer es so eilig hatte, dass er fast die Kette mit den Glöckchen herunterriss, und erblickte Pepper, die die Tür wieder hinter sich abschloss, ehe sie mit großen Schritten und fliegenden roten Locken auf den Tresen zustürmte.

»’Tschuldige, ich bin zu spät!«, keuchte sie und versenkte ihre Handtasche mit einem gezielten Wurf in einem der offenen Fächer unter der Kasse. »Ich war noch mit Serena und ihrer Mom am Bahnhof.«

»Dann fahren sie heute in die Highlands? Zu Serenas Dad?«

Pepper grinste. »Und zu ihrem Freund.«

Ich zog eine Augenbraue hoch. »Sind die beiden jetzt offiziell zusammen? Mit dem Segen ihrer Mom?«

Vor ein paar Wochen hatte ich Serena, Peppers bester Freundin, ein Attest mit dem Stempel und der Unterschrift meines Dads besorgt, damit sie sich vor einer Klassenfahrt drücken und stattdessen heimlich zu ihrem Freund fahren konnte. Einem Freund, von dem ihre Mutter nichts wusste und mit dem sie wohl auch nicht einverstanden gewesen wäre.

Es war das erste Mal, dass ich Dad derart hintergangen hatte, und ich fühlte mich selbst jetzt, wenn ich nur daran dachte, nicht gut dabei. Natürlich hatte ich Serena helfen wollen – allerdings nicht unbedingt in diesem Ausmaß. Unter anderen Umständen hätte ich mich auch niemals darauf eingelassen. Dummerweise hatte ich kurz zuvor erfahren, dass das Café, in dem ich nach der Schule jobbte, geschlossen werden sollte. Als Pepper mir im Gegenzug für das Attest anbot, ein gutes Wort bei ihrer Chefin für mich einzulegen, konnte ich nicht Nein sagen. Ich brauchte einen Job. Vor allem aber brauchte ich das Geld. Dad arbeitete als Arzt im Krankenhaus und verdiente gut, war aber nach ein paar verpatzten Börsengeschäften so hoch verschuldet, dass wir gerade eben über die Runden kamen und ich nicht sicher sein konnte, ob das Geld für mein geplantes Studium reichen würde. Deshalb war ich mit Pepper ins Geschäft gekommen.

Als Dad von meinem neuen Job hörte, zeigte er sich zu meiner Überraschung wenig begeistert. Ich hatte damit gerechnet, dass er sich für mich freuen würde, stattdessen hätte er mir um ein Haar verboten, hier im Laden anzufangen. Verboten! Er hatte sich aufgeführt, als müsste ich fürchten, dass mir hier Blitze und Feuerkugeln um die Ohren flogen und mich dreimal täglich jemand verhexte. Dass alles ganz harmlos war, konnte ich ihm nur beweisen, indem ich ihm den Laden mit all seinem Tand gezeigt hatte. Sogar zu einer Séance war er gegangen! Das – und die Trickeffekte, die Madame nach meiner Vorwarnung deutlich zur Schau gestellt hatte – hatte ihn schließlich davon überzeugt, dass es im Hexenkessel alles andere als magisch zuging. New-Age-Kram und Budenzauber nannte er es seitdem und den Laden taufte er nach seiner Begegnung mit Madame kurzerhand in Schrecksenkessel um.

»Ich werde Serena echt vermissen. Aber nachdem sie jetzt wochenlang von Cale getrennt war, gönne ich es ihr, ihn wiederzusehen.« Pepper seufzte dramatisch. »Ich wünschte, ich hätte auch so einen Kerl.«

»Was denn, ich dachte, du stehst auf Sergej Darkov?«

»Oh ja, der ist heiß.« Sofort vergaß sie ihre Schwermut und schaltete in den gewohnten Pepper-Plapper-Modus um. »Habe ich dir schon von seinem letzten Abenteuer erzählt? Als Sergej sich mit den Teufelsfeen angelegt hat?«

»Dreimal«, lachte ich. Wenn es um den Vampir aus ihrer Lieblingsromanreihe Hearts of Darkness ging, war Pepper kaum zu bremsen. Ich hatte die Bücher selbst verschlungen, konnte aber nicht einmal ansatzweise mit Peppers Hingabe für Sergej mithalten.

»Ist Madame schon da?«, erkundigte sie sich.

Ich deutete in Richtung des Perlenschnurvorhangs. »In ihrem Reich.«

Pepper drängte sich an mir vorbei zur Kaffeemaschine und schenkte sich eine Tasse ein. Es war gerade mal zehn, aber so rührig, wie Pepper war, hatte ich den Verdacht, dass das heute nicht ihr erster Kaffee war. Ich wollte mich wieder dem Bücherständer zuwenden, als ich sah, wie ihre Tasche ins Rutschen geriet. Unwillkürlich griff ich danach, um zu verhindern, dass sie aus dem Fach fiel, als ich das Wesen sah, das sich durch den halb geöffneten Reißverschluss zwängte.

Ach du Scheiße! »Meine Güte, was ist das denn?«

»WAS?«, mokierte sich die Kreatur im Strickpullover. »Ich bin doch kein WAS!«

Fasziniert starrte ich den Kerl an, der wie die fünfzehn Zentimeter große Ausgabe eines knorrigen Kapitäns aussah, mit buschigem, grauem Backenbart und von Wind und Wetter gegerbter Haut. »Du kannst ja sprechen.«

Das Wesen verzog verächtlich das Gesicht. »Du doch auch. Bei Großmutters Bart, natürlich kann ich sprechen! Was glaubst du, wozu ich diese Öffnung in meinem Gesicht habe?«

Definitiv nicht nur zum Sprechen, wenn man den beachtlichen Bauchumfang betrachtete, den der dunkelblaue Strickpullover nicht vollends bedecken konnte.

»Du kannst ihn sehen?« Pepper war neben mir aufgetaucht. Ihr Blick wanderte zwischen mir und der Kreatur hin und her, die bis zur Hüfte aus ihrer Tasche ragte. Fast schon wirkte sie ein wenig beleidigt. »Serena hat Tage gebraucht, bis sie ihn davon überzeugen konnte, sich mir zu zeigen, und bei dir lässt er sich einfach so blicken. Freiwillig.«

»Freiwillig?«, schnaubte der Winzling. »Du hast echt keine Ahnung.«

»Wie auch immer«, winkte sie ab. »Das ist jedenfalls Drizzle. Er ist ein Gnom.«

»Gnom?!« Das Wesen stieß eine Reihe von Schimpfwörtern aus, bei denen der Unflätigkeitszensor in meinem Hirn vermutlich in Rauch aufgegangen wäre. »Hast du überhaupt schon mal einen Gnom gesehen, Rotschopf? Knubbelnase, Warzen im Gesicht. Hässlich wie der Arsch meiner … Na, eben hässlich. Ich«, er warf sich stolz in die Brust und sah mich an, »bin ein Kobold. Drizzle Ebb, der Dritte, um genau zu sein. Und wer bist du, Puppe?«

Puppe? Ich bin die, die sich gerade fragt, ob ihr der lachende Plastiktotenkopf nicht lieber ist als ein großmäuliger Kobold. Oder Gnom. Oder was immer dieser Wicht auch sein mag.

»Das ist Riley«, kam Pepper mir zuvor.

Allmählich sickerte zu mir durch, was Pepper vorhin gesagt hatte. Was meinte sie damit, es hätte Tage gedauert, ihn dazu zu bringen, sich zu zeigen? Doch sicher nur, dass er sich versteckt hatte, oder? Er konnte sich doch wohl nicht … Nein, das war lächerlich. »Kann er sich unsichtbar machen?« Mein Filter für Schimpfwörter sortierte leider keine dummen Fragen aus.

Entgegen meiner Befürchtung brachen weder Pepper noch Drizzle Ebb der Dritte in Gelächter aus. »Er kann«, bestätigte Pepper das Unglaubliche. »Und wenn er es tut, ist es wirklich die Pest.«

»Das sagst du nur, weil ich deine Erdnüsse gefuttert habe, bevor du es gemerkt hast«, gab der Kobold mit liebenswürdigem Grinsen zurück.

»Und meine Cola getrunken«, ergänzte Pepper.

»Das auch.«

»Beißt der?«

»Worauf du wetten kannst!« Obwohl ich die Frage an Pepper gerichtet hatte, war es Drizzle, der mir die Antwort gab. Er befreite sich aus der Tasche und kletterte auf den Tresen. »Habt ihr was zu trinken?« Pepper schob ihm ihre Kaffeetasse hin, doch Drizzle verzog nur das Gesicht. »Was Richtiges.«

»Ich hab dir gesagt, dass es hier keinen Whisky gibt. Und keine Zigarren.«

»Werden wir ja sehen.«

Der Kobold sprang auf den Boden, zog seine Hosen zurecht, die von einem Stück Paketschnur an Ort und Stelle gehalten wurden, und stapfte durch den Durchgang davon, der zu unserem Aufenthaltsraum und den Toiletten führte.

Ich konnte nichts anderes tun, als ihm hinterherzustarren. »Woher …? Was …? Wie …? Du weißt schon!«

Diesen Moment suchte sich Jonah aus, um aus dem Schaufenster zu klettern und sich zu uns zu gesellen.

Pepper griff nach ihrer Kaffeetasse. »Erzähle ich dir heute Abend. Pizza bei dir?«

Mit unzähligen Fragen im Kopf und voller Erstaunen über das Wesen, das da aus ihrer Tasche gestiegen und davongestiefelt war, brachte ich nicht mehr als ein Nicken zustande. Meine Gedanken waren noch immer bei Drizzle, als ich mich daranmachte, die restlichen Bücher einzuräumen, während Pepper zur Tür ging, um aufzusperren. Auch wenn uns die Kunden nicht sofort überrannten – tatsächlich wartete niemand darauf, eingelassen zu werden –, lief das Geschäft gut. Der große Andrang begann meistens um die Mittagszeit, wenn die Touristen die Seitenstraßen der Oxford Street erkundeten, die Möchtegernhexen ihren Betten entstiegen waren und die Teenager, die sich aus Neugier im Laden herumtrieben, die Innenstadt unsicher machten.

Ich mochte die Arbeit hier, auch wenn ich bei der Hälfte der Sachen noch immer keine Ahnung hatte, wozu jemand sie brauchen sollte. Immerhin kannte ich mich mittlerweile gut genug aus, um zu wissen, wo das Zeug lag, nach dem die Leute fragten. Eine Hexe würde ich allerdings wohl nur dann von einem Touristen unterscheiden können, wenn Erstere auf einem Besen zur Tür hereingeflogen käme.

Tatsächlich gehörten auch echte Hexen zu unserer Kundschaft. Zumindest behaupteten sie, Wiccaner zu sein. Ob sie tatsächlich zaubern konnten, wagte ich allerdings zu bezweifeln.

»Darum geht es auch gar nicht«, hatte Jonah einmal gesagt. »Wicca ist eine Religion, aus der ihre Anhänger Kraft schöpfen.«

Pepper, die neben ihm gestanden hatte, schnaubte. »Wicca hat ungefähr so viel mit Religion und Zauberei zu tun wie ein Donut mit einer Hochzeitstorte. Wenn ihr mich fragt, geht es denen nur um eine Form der Zusammengehörigkeit. Ihr wisst schon, die Kinder, denen man früher ein Steak um den Hals binden musste, damit wenigstens der Hund mit ihnen spielt.«

»Du arbeitest in einem Hexenladen und glaubst nicht an Wicca?«, entfuhr es mir.

»Du doch auch nicht.«

Punkt für sie.

Erst ein paar Wochen später erfuhr ich, dass sie zwar nicht an den Hexenkram, wie sie es nannte, glaubte, aber durchaus davon überzeugt war, dass es Dinge gab, die nicht von dieser Welt waren. Näheres wollte sie mir dazu aber nicht sagen, und um sie nicht in die Verlegenheit zu bringen, eine lächerliche und haltlose Erklärung für irgendwelchen übersinnlichen Kram abgeben zu müssen, hatte ich beschlossen, nicht weiter nachzubohren. Ein Entschluss, der sich mit dem Auftauchen dieses Kobolds in Luft auflöste.

2

»Riley!« Madames dröhnende Stimme schien geradewegs durch die Wände zu dringen und riss mich aus meinen Gedanken. »Ich brauche dich mal eben hier hinten!«

Das konnte nur bedeuten, dass meine Ausbildung weitergehen sollte. Seit meinem ersten Tag im Laden hatte Madame mich unter ihre Fittiche genommen, damit ich in Zukunft die eine oder andere Séance für sie übernehmen konnte. Die Séancen waren der Teil des Jobs, der mir am meisten Spaß machte. Eine Mischung aus geschickt platzierten Licht- und Geräuscheffekten und einer Menge Schauspielerei. Madame hielt mich für ein Naturtalent, und wer war ich, ihr da zu widersprechen?

Ich verließ den Verkaufsraum durch den klappernden Vorhang aus Perlenschnüren. Dahinter lag ein kleiner Warteraum, an dessen Ende Madames Reich begann. Wie jedes Mal, wenn ich durch die Tür ins Hinterzimmer kam, hatte ich das Gefühl, eine andere Welt zu betreten. Wenn Madame Kunden hatte, waren die Fenster mit bunten Stoffen verhängt, die das Tageslicht zu einem abgeschwächten Zwielicht dämpften. Jetzt jedoch waren die Vorhänge zur Seite gezogen und ließen die Morgensonne hinein. Eines der Fenster stand sogar ein Stück weit offen.

Die Luft war vom Geruch der unzähligen Räucherstäbchen erfüllt, die im Laufe der Jahre hier abgebrannt worden waren. Der exotische Duft, der sich in den Stoffen und Polstern festgesetzt hatte, gehörte ebenso hierher wie der Rest der Einrichtung. Hätte es ein Lehrbuch gegeben, wie das Zimmer eines Mediums auszusehen hätte, wäre vermutlich ein Foto von Madames Reich darin gewesen. Lediglich den riesigen geblümten Sessel in der hintersten Ecke hätte der Herausgeber wohl wegretuschiert. Warme Farben, bunte Stoffe und jede Menge kitschiger Dekogegenstände aus farbigem Glas. Von der Decke wölbten sich Stoffbahnen, hinter denen sich Lautsprecher verbargen, und die Wände waren mit orientalisch gemusterten Tapeten geschmückt. Mehrere Spiegel in verzierten Messingrahmen verliehen dem Raum eine ungeahnte Tiefe und ließen ihn aus manchen Blickwinkeln beinahe endlos erscheinen. Auf einer Kommode ruhte die obligatorische Kristallkugel in einer Halterung und im Zentrum des Raumes stand ein runder Tisch, dessen dunkles Holz von unzähligen Scharten zerfurcht war. Einige davon erinnerten an Kratzspuren – als hätten die Toten, zu denen Madame hier Kontakt aufnahm, versucht, eine Nachricht zu hinterlassen.

Wenn sie denn Kontakt zu ihnen aufgenommen hätte.

An eben jenem Tisch saß Madame Veritas, eine Tasse Kaffee vor sich, an deren Rand die Spuren ihres knallroten Lippenstiftes hafteten, und blätterte in einer Zeitschrift.

»Guten Morgen, Madame.« Ich sprach das Madame französisch aus. Wer es wagte, die englische Aussprache zu benutzen, bekam es mit ihrem berühmten Blick zu tun. Dem Blick, von dem ich mir beinahe sicher war, dass er auch Stahl schmelzen konnte. Vielleicht lag es auch an den dunkel geschminkten Augen, die das Konzept der Smokey Eyes auf eine vollkommen neue Ebene brachten. Was ihren Namen anging, hatte sich jedenfalls niemand ein zweites Mal versprochen.

»Nimm dir einen Kaffee und setz dich zu mir.« Ihre Armreifen klirrten melodisch, als sie in Richtung Kaffeemaschine deutete, die in einer Nische durch eine breite Stoffbahn vom Rest des Raumes abgetrennt war.

Während ich mir Kaffee einschenkte, sagte sie kein Wort. Vermutlich hatte sie das Magazin wieder zur Hand genommen. Sie liebte diesen Frauenkram. Besonders die Modeseiten hatten es ihr angetan, was wirklich mehr als seltsam war, wenn man bedachte, wie wenig sie mit Mode am Hut hatte. Madame Veritas sah genau so aus, wie ich mir eine Wahrsagerin immer vorgestellt hatte: Ihr Haar war von einem künstlichen Dunkelrot, mit Locken, wie man sie nur mit Hilfe von Wicklern zustande brachte. Sie liebte Röcke und Blusen und trug die wildesten Kombinationen an Mustern und Farben mit einer Selbstverständlichkeit, die mir allen Respekt abnötigte.

Ein leises Klirren weckte meine Aufmerksamkeit. Die winzigen Kristalle, die an Schnüren von einem Lampenschirm herabhingen, wehten im Wind. Es dauerte ein bisschen, bis ich begriff, dass es kein Luftzug war, der sie in Bewegung versetzt hatte, sondern Drizzle, der darunter entlangmarschierte und dabei seine Hand über die Schnüre zog wie über die Seiten einer Harfe.

Ich warf einen Blick zu Madame. Was würde sie sagen, wenn sie den Kobold in ihrem Allerheiligsten entdeckte? Die Frage erübrigte sich, denn Madame sah lediglich kurz auf und richtete ihre Aufmerksamkeit beinahe sofort wieder auf ihre Zeitschrift. Die Sache mit der Unsichtbarkeit war offensichtlich nicht gelogen.

Un-sicht-bar-keit. Es war dieses eine unglaublich klingende Wort, das mir plötzlich bewusstmachte, wie seltsam das alles war. Ein unsichtbarer Kobold. Ein Wesen, das nur in Geschichten existieren sollte, stand hier vor mir und benahm sich, als wäre es das Normalste der Welt. Gut, für ihn mochte seine Existenz normal sein, für mich war sie das nicht. Tatsächlich hatte ich Mühe, ihn nicht mit offenem Mund anzustarren.

Als hätte er mein Erstaunen bemerkt, blieb Drizzle stehen und warf mir ein spöttisches Grinsen zu, ehe er auf die Kommode kletterte. Vor der Kristallkugel, die so groß war wie er selbst, blieb er stehen. Die Hände auf die glatte Oberfläche gestützt, beugte er sich vor und betrachtete sein Spiegelbild, ehe er die Hand hob und gegen das Glas klopfte. Wieder sah Madame kurz auf und wieder bemerkte sie nichts.

Mein Blick zuckte zwischen Madame und Drizzle hin und her, als sich der Kobold zu mir umdrehte. »Stinknormales Glas«, sagte er, ohne dass Madame ihn hören konnte. »Nicht mehr wert als das Glasauge meiner Großmutter. Das ist dir doch hoffentlich klar, oder?«

Um ein Haar hätte ich ihm geantwortet. Gerade noch rechtzeitig erinnerte ich mich daran, dass ich im Gegensatz zu ihm deutlich zu hören sein würde. Also beschränkte ich mich auf ein Nicken, das Drizzle ein Schnauben entlockte.

»Alles Humbug hier! In die Zukunft sehen? Mit Geistern reden? Beschiss ist das!«

Er sprang von der Kommode und setzte seinen Erkundungsgang fort, während ich mich wieder dem Kaffee zuwandte, um nicht doch noch in Versuchung zu geraten, vor Madame mit ihm zu sprechen. Nachdem ich ausreichend Milch und Zucker in meinen Kaffee gerührt hatte, nahm ich meine Tasse und setzte mich zu Madame an den Tisch.

Sie schlug ihre Zeitschrift zu und warf sie mit Schwung auf die Fensterbank, wo sie um ein Haar Drizzle damit abgeschossen hätte, der es sich in der Sonne bequem gemacht hatte. Fluchend verpasste der Kobold der Zeitung einen Stoß, sodass sie zu Boden fiel. Madame machte sich nicht die Mühe, sie aufzuheben.

»Ich möchte ein Ritual mit dir durchführen«, eröffnete sie mir stattdessen.

»Wollen Sie etwas ausprobieren, damit Sie es später bei Ihren Kunden machen können?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich möchte das für dich machen.«

Bisher hatte ich lediglich als Versuchskaninchen herhalten müssen, um zu überprüfen, ob ein Schauspiel funktionierte, das sie neu in ihr Repertoire aufnehmen wollte. Meine Aufgabe war es dann, auf Dinge zu achten, die einem Kunden verraten könnten, dass es sich nur um eine gute Show handelte. Tatsächlich hatte ich einmal ein schlecht verstecktes Kabel und ein anderes Mal ein verräterisches Knacken im Lautsprecher entdeckt, das jedes Mal zu hören gewesen war, sobald sie die Geräuscheffekte dazuschaltete.

Aber ein Ritual für mich? »Wozu soll das gut sein?«

Madames Miene veränderte sich zu dem, was ich ihr Wahrsagerinnen-Gesicht nannte, jenem Gesichtsausdruck, den sie aufsetzte, kurz bevor sie ihren Kunden vermeintlich wichtige Erkenntnisse offenbarte. Die steile Falte zwischen ihren Augen und der ernste Blick waren Teil einer sorgfältig einstudierten Dramaturgie.

»Ich möchte deinen Blick schärfen, indem ich dein drittes Auge öffne.«

»Mein was?«

»Dein drittes Auge.« Sie rutschte auf ihrem Stuhl nach vorne. Als wäre mit der Bewegung schlagartig alle Spannung aus ihrem Körper gewichen, glättete sich die Stirnfalte, und auch ihr Blick schien mich nicht länger zu durchbohren. »Das Auge, mit dem du Dinge sehen kannst, die unserem normalen Blick verborgen bleiben.«

Ich hatte Mühe, ernst zu bleiben.

»Das ist ein Test, oder? Sie sind schon mitten im Schauspielmodus.«

»Nicht alles, was ich tue, ist eine Lüge.«

Jetzt konnte ich mir das Grinsen nicht länger verkneifen. »Natürlich.«

Die Stirnfalte kehrte zurück. »Ich kann tatsächlich zu Geistern Kontakt aufnehmen.«

In den paar Wochen, die ich nun schon hier arbeitete, hatte sie nie versucht, mehr zu sein als die Schauspielerin, die sie nun einmal war. Warum wollte sie mir plötzlich weismachen, dass es anders war? »Wenn das stimmt«, überlegte ich laut. »Warum sind Ihre Séancen dann nur Show?«

»Die Menschen, die in meinen Laden kommen, wollen mit der Vergangenheit Frieden schließen«, sagte sie. »Sie kommen zu mir, um einen Abschluss zu finden, nicht um zu hören, dass ihnen ein toter Freund oder Verwandter womöglich gar nicht verziehen hat. Sie wollen belogen werden.«

»Aber Sie könnten es? Sie könnten diesen Menschen wirklich helfen?« Ich wollte es immer noch nicht glauben. Der bloße Gedanke war schon gruselig genug – ganz zu schweigen davon, dass Dad vermutlich ausrasten würde, wenn er davon erfuhr. Nun gut, wenn tatsächlich etwas an Madames Behauptung dran sein sollte, musste er es ja nicht erfahren. »Aber warum dann die Schauspielerei? Ich meine, Sie könnten ja einen Geist rufen und dann einfach die Antwort ein wenig … äh … zurechtbiegen, wenn die Wahrheit die Leute unglücklich machen würde.«

Sie zuckte die Schultern. »Wozu die Ruhe der Toten stören, wenn sich die Menschen mit so viel weniger zufriedengeben?«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Mein Verhältnis zum Übersinnlichen war bisher rein pragmatischer Natur gewesen: Ich konnte akzeptieren, dass ich in einem Hexenladen arbeitete und dass es Menschen gab, die an die Dinge glaubten, die bei uns angeboten wurden. Aber das hieß nicht, dass ich das auch tun musste. Ich wusste nicht einmal, ob ich es konnte. Dafür hatte ich mich bisher zu wenig mit dem Thema auseinandergesetzt.

»Was weißt du über die Toten?«, fragte Madame, bevor ich versuchen konnte, ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken.

Ich runzelte die Stirn. »Sie haben keinen Puls und werden zwei Meter unter der Erde aufbewahrt.«

»Was ist mit der Seele?«, hakte sie nach. »Der Essenz des Menschen, seinem Geist?«

Ich zuckte die Schultern. »Was soll damit sein?«

»Glaubst du daran?«

»Keine Ahnung.« Ich warf einen hilfesuchenden Blick zu Drizzle, doch der grinste nur und murmelte nur irgendwas von wegen Budenzauber. »Ich schätze, darüber habe ich noch nie nachgedacht.«

»Und wenn du spontan antworten müsstest?«

Während der vergangenen Tage und Wochen hatte ich mich oft mit Madame unterhalten. Die meiste Zeit hatte sie mir Dinge erklärt – mir zum Beispiel gezeigt, mit welchen Tricks sie ihre Séancen abhielt, und mich immer wieder selbst das Medium spielen lassen, während sie meine Kundin gemimt hatte. Doch so ausgiebig wir uns auch mit den Séancen beschäftigt hatten, so wenig hatten wir über das Übernatürliche an sich geredet. Jetzt kam es mir fast so vor, als hätte sie mich erst langsam an das Thema heranführen wollen, bevor sie den Holzhammer auspackte.

»Ich weiß es wirklich nicht.«

Sie nickte. »Lass uns das Ritual durchführen. Es ist vollkommen harmlos.« Die Armreifen an ihren Handgelenken klirrten zustimmend. »Es wird nicht das Geringste passieren.«

»Warum müssen wir es dann überhaupt machen?«

»Weil es dir das Leben und deine Arbeit hier erleichtern wird.« Ein Lächeln streifte über ihre Züge und ließ ihre Augen aufblitzen. »Ich habe von Anfang an gespürt, dass du etwas Besonderes bist. Du strahlst von innen heraus, Riley. In dir ist Magie.«

Die meisten hätten es vermutlich bedrohlich gefunden, das zu hören – oder wären vor Freude vollkommen aus dem Häuschen gewesen. Mich beruhigten ihre Worte, denn in meinen Ohren waren sie nichts weiter als das übliche Hellseher-Blabla, mit dem sie auch ihre Kundschaft einwickelte. Fast hätte ich gelacht, als mir klar wurde, dass sie wahrscheinlich wirklich nur etwas ausprobieren, mich aber nicht einweihen wollte, damit ich unvoreingenommen an die Sache heranging. Für Unvoreingenommenheit war es jetzt zu spät. Aber das musste Madame ja nicht erfahren.

Kaum hatte sie meine stumme Zustimmung erkannt, wurde sie geschäftig. Ich erwartete, dass sie die Stoffbahnen vor die Fenster ziehen würde, um eine geheimnisvolle Atmosphäre zu schaffen. Stattdessen ging sie zu einem Standregal, das eine Ecke des Raumes einnahm, griff nach einer dicken blauen Kerze und einem Glasgefäß und kehrte damit zurück. Die Kerze verursachte einen dumpfen Laut, als Madame sie auf den Tisch stellte. Aus einer verborgenen Tasche in ihrem Rock fischte sie ein Feuerzeug und entzündete den Docht. Sofort stieg das intensive Aroma von Lavendel in die Luft.

»Zieh deinen Stuhl hier herüber«, wies sie mich an. »Stell ihn so, dass wir uns gegenübersitzen können, ohne den Tisch zwischen uns zu haben.«

Obwohl ich mich ein bisschen unbehaglich fühlte, folgte ich ihrer Aufforderung. Ich wusste, dass sie nichts tun würde, das mir schaden konnte, und mir würde sicher kein Zacken aus der Krone brechen, wenn ich ihr den Gefallen tat und mitspielte. Abgesehen davon war ich auch neugierig geworden. Ich war zwar schon häufiger Zeuge ihrer Séancen geworden, aber noch nie bei einem Ritual dabei gewesen. Und offen gestanden interessierte es mich brennend, wie so etwas ablief.

Würde sie blutrote Pentagramme auf den Boden malen? Einen Schutzkreis, in den wir uns setzen mussten, umgeben von schwarzen Kerzen? Vielleicht war der blaue Wachsstumpen auf dem Tisch ja nur der Anfang. Vielleicht sollte ich aber auch einfach meinen Fernsehkonsum einschränken, der mich auf ziemlich beknackte Ideen zu bringen schien.

Tatsächlich holte Madame weder Kreide noch weitere Kerzen oder Pülverchen. Kein Zauberbuch, kein geweihtes Kreuz. Nicht einmal ein Räucherstäbchen zündete sie an. Stattdessen setzte sie sich mir gegenüber auf den Stuhl und hielt das Glas in die Höhe.

»Die Paste in diesem Tiegelchen wird dir helfen, dich zu konzentrieren.«

Tiegelchen? Für mich sah das Ganze verdächtig nach einem handelsüblichen Einmachglas aus. Zudem hatte der Inhalt große Ähnlichkeit mit Aprikosenmarmelade. Als Madame den Deckel abschraubte, stieg allerdings nicht das erwartete fruchtig-süße Aroma in die Luft, sondern ein ölig-würziger Geruch.

»Müssten wir den Raum nicht verdunkeln?«, fragte ich.

»Für ein Ritual ist es unerheblich, ob es hell oder dunkel ist.«

»Nur für die Kunden nicht, die Ihre Tricks bei Licht durchschauen könnten.«

Madame nickte. »Ich habe dir ja schon einmal gesagt, dass die Beobachtungsgabe in meinem Beruf das wichtigste Werkzeug ist.«

Einmal? Unzählige Male. Jeden Tag.

»Unglücklicherweise bin ich nicht die Einzige, die beobachtet.« Sie tauchte die Fingerspitze in die gelbe Masse und begann, mir damit verschlungene Zeichen auf die Stirn zu malen. Es fühlte sich klebrig an. »Ein Besuch bei einem Medium ist nichts Alltägliches«, fuhr sie fort, während sie die Pampe auf meine Stirn kleisterte. »Und wenn etwas nicht alltäglich ist, sehen die Leute genauer hin.« Sie schraubte das Glas wieder zu und stellte es neben die Kerze auf den Tisch. Dann leckte sie sich den Finger ab.

»Wenn das Licht unerheblich ist, wozu dann die Kerze?«

»Ich mag den Geruch.«

Ich deutete auf das Tiegelchen. »Und von der Pampe mögen Sie wohl den Geschmack?«

Lachend schüttelte sie den Kopf. »Die Paste ist gut für die Konzentration. Es sind die ätherischen Öle darin, die deinen Geist öffnen sollen. Dass sie so lecker nach Mango und Gewürzölen schmeckt, ist nur ein angenehmer Nebeneffekt.«

Obwohl ich ebenfalls lachen musste, verspürte ich auch einen Anflug von Unbehagen. Wenn Madame mich wirklich als Versuchskaninchen für ihre Show benutzte, warum war das Zimmer dann so wenig showmäßig präpariert? Das viele Licht, die fehlende Musik, keine geheimnisvollen Gesten, mit denen sie ihre Auftritte sonst so gern untermalte. War das hier wirklich echt? Führte sie tatsächlich gerade ein Ritual mit mir durch? An mir? Mein Magen ballte sich zu einem Klumpen zusammen. Fast fühlte es sich an, als hätte die Paste meinem Unbehagen Nahrung gegeben, es gestärkt und ihm erlaubt, tiefere Wurzeln zu schlagen. Mit diesem Ritual würde sich mein Leben für immer verändern!

Ich hielt den Atem an. Was dachte ich da für einen Quatsch? Nichts würde sich verändern! Das war doch nur Spielerei! Aber ganz gleich, wie sehr ich mir auch einzureden versuchte, dass nichts dabei war – das Gefühl, dass ich im Begriff war, einen entscheidenden, unumkehrbaren Schritt zu tun, wollte sich nicht abschütteln lassen.

Ich sah zu Drizzle, der noch immer auf dem Fensterbrett hockte und alles interessiert beobachtete. »Heb mir was von dem Mangokompott auf, ja? Nicht dass die Alte alles allein futtert oder es in noch mehr Gesichter schmiert. Was für eine Verschwendung!«