coverICH  WILL MALEN!


              Das Leben der Artemisia Gentileschi

                 Roman

                   von

                 Michael Hatry



                 Mit einem Anhang von Susanna Partsch


                       Dazu eine Analyse der Gerichtsakten im Verfahren Orazio Gentileschi vs. Agostino Tassi









Impressum:

Ich will malen!
Michael Hatry/Susanna Partsch
Copyright: ©  2015 Michael Hatry/Susanna Partsch
published by: epubli GmbH, Berlin
www.epubli.de
ISBN 978-3-7375-3279-2
Foto: Saint Louis Art Museum Missouri (Selbstporträt als Allegorie der Malerei)



 

    

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Nach dem 1563 beendete Konzil von Trient, das sich mit den Konsequenzen aus der Reformation beschäftigt hatte, ging die katholische Kirche daran, ihre Gegenreformation zu organisieren.

Die Stadt Rom, ein Städtchen von knapp 100.000 Einwohnern, sollte zur strahlenden Metropole ausgebaut werden und mehr denn je von Glanz und Glorie der Heiligen Mutter Kirche künden. Das war der Gegenentwurf zu den Ideen der prachtempfindlichen, bilderfeindlichen, protestantischen Ketzer. Rom, die Ewige Stadt.

Vor allem Papst Sixtus V. verordnete Rom einen Bauboom sondergleichen. Enorme Summen wurden in den Neubau der Stadt gepumpt, Denkmäler und Trümmer der Antike wie schon früher zum neuen Rom recycelt. Die Stadt, die um 1600 etwa einhunderttausend Einwohner hatte, glich zeitweilig einer riesigen Baustelle.

Einige Kilometer neuer gerader Straßen wurden angelegt mit der Kirche Santa Maria Maggiore im Zentrum, um den Pilgern den Weg zu den sieben Hauptkirchen (drei davon außerhalb der Stadtmauer) leichter zu machen. Den zahlreichen Pfarrkirchen wurden neue Kirchen hinzugebaut. Den vorhandenen Palästen prächtigere, darunter die künftige päpstliche Residenz auf dem Quirinal, einem der sieben Hügel Roms und Die Erneuerung antiker Aquädukte, die die Wasserversorgung sicher stellen sollte, begleitete Sixtus mit dem Bau neuer Brunnen, z.B. auf der Piazza del Popolo. Er starb im Jahr 1590, nach nur fünf Jahren Amtszeit. In den Jahren 1590/91 gab es drei Nachfolger, die alle nach jeweils ein paar Monaten starben. Weil das Geld für all diese hehren Unternehmungen nicht ausreichte, erhöhte der Papst die Steuern und erließ neue. Die Kluft zwischen Arm und Reich vergrößerte sich dramatisch. 1591 wurde in Rom das Brot knapp, ein Hungerjahr für die Armen, und die Brotversorgung blieb problematisch, obwohl stets große Vorräte gespeichert und der Brotpreis subventioniert wurden.1592 kam erneut ein starker Papst auf den Thron. Clemens VIII. (1592-1605) begnügte sich allerdings damit, das einmal Angefangene zu Ende zu führen. Sein Hauptinteresse galt Restaurierungsvorhaben in Hinblick auf das Heilige Jahr 1600. Kirchen und Paläste wurden ausgemalt, alte Gebäude ausgebaut und aufgefrischt. Schon in den 80er Jahren hatte es Maler aus ganz Italien und aus vielen Ländern Europas nach Rom gezogen, die meisten ins Künstlerviertel der Altstadt zwischen Tiber und Pincio. Unter ihnen war Orazio Lomi aus Pisa, Sohn eines Goldschmieds, der sich bald nach seiner Mutter Gentileschi nannte. Oder nach seinem Onkel, bei dem er in den ersten Jahren wohnte, einem respektablen Hauptmann der Wachen in der Engelsburg.      

                  

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

TEIL 1: ROM

 

 

 1. Wie Artemisias Geburt ihren Vater Orazio fast ins Gefängnis brachte

 

Die Kneipe von Pasquale dem Pisaner war brechend voll. Vor der Tür standen sie, Becher in den Händen, und schwatzten, der lange Tisch im Gärtchen war bis auf den letzten Platz besetzt. Im Wirtsraum staute sich die Hitze, Schweiß hing in der Luft. Die Männer saßen und standen in ihren bunten Jacken und Hosen, aus denen buntbestrumpfte Waden in ledernen Schuhen ragten. Die Federn an den Hüten wippten, wenn sie Karten ausspielten oder aneinander stießen. Würfel klapperten auf Holzbrettern. Becher klirrten. Rufe, Begrüßungen und Bestellungen schwirrten hin und her.

Orazio Gentileschi drängte sich nach allen Seiten grüßend vor zur Theke, hinter der Pasquale und sein Gehilfe den Wein zapften. Orazio nickte dem Wirt zu, sie kannten sich schon lange. Der nickte zurück und schob Orazio einen Becher Rotwein hin. Der Schweiß lief ihm von der Stirn.

„Fertig?“, fragte er.

Orazio nickte. Er kam aus der Basilika Santa Maria Maggiore, einer der sieben Hauptkirchen Roms, wo er an der Ausmalung des Mittelschiffs beteiligt war. Die Beschneidung Christi war knapp vor Einbruch der Dunkelheit fertig geworden.

Er nahm einen kräftigen Schluck und lehnte sich mit dem Rücken an die Theke. Die meisten der Männer hier kannte er, lauter Maler, deren Nebenbeschäftigung darin bestand, über die Bilder anderer Maler und ihre Frauengeschichten herzuziehen, wozu sie heftig gestikulierten oder ihre Bärte strichen. Der Geräuschpegel war danach. Orazio nahm noch einen kräftigen Schluck, als er seinen Namen von einem der Tische hörte. Er sah Giuseppe Cesari winken und schob sich durchs Gedränge.

Cesari, ein junger Mann Mitte zwanzig, spielte mit zwei Männern Karten; den andern Teil des Tisches belegten zwei Würfelspieler. Ein paar Männer mit Bechern in der Hand standen um den Tisch herum und sahen den Spielern zu.

„Und?“, fragte Cesari und rückte auf seinem Stuhl ein wenig zur Seite, was Orazio als Aufforderung begriff, sich auf die andere Hälfte zu setzen.

„Kann nicht mehr lange dauern“, sagte er.

„Halbe Backe, halber Einsatz?“, fragte der Mann ihnen gegenüber. Sein Bauch stülpte sich herausfordernd über die Tischplatte.

„Ich bleib nicht lange“, sagte Orazio.

Er spielte nicht. Jedenfalls nicht mehr. Jedenfalls nicht um Geld, und anders ging es nicht. Wenn er es täte und dabei verlöre, würde Prudenzia ihn zur Schnecke machen, so jung sie auch war. Prudenzia war achtzehn Jahre alt, zwölf Jahre jünger als er, und zum ersten Mal schwanger. Hochschwanger.

Wenn Prudenzia in Fahrt geriet, dachte er manchmal, so, blitzenden Zorn in den Augen, müsste er sie malen. Aber daran war nicht zu denken. Er malte Prudenzia auch sonst nicht, ein paar Zeichnungen, das war alles, für später. Zeichnen war billiger als Malen und Malen war Zeitverschwendung. Wer würde seine Bilder denn kaufen? Er malte Fresken, damit kam er über die Runden. Bevor er anfangen konnte, in Öl zu malen, musste er sich erst einen Namen machen.

„Ich leih dir was“, sagte Cesari und spielte eine Karte aus. Er besaß trotz seines jugendlichen Alters bereits eine eigene Werkstatt und schien gut zu verdienen.

„Spielen macht das Warten leichter“, sagte der dicke Mann. Seine Stimme war hoch und gequetscht, mit einem Stich ins Falsett. Er strich die Karten, die auf dem Tisch lagen, ein. Er hatte gewonnen und sie rechneten ab.

Orazio schüttelte den Kopf. Der Mann war ein Streithammel, nicht gerade mit Begabung gesegnet, aber das machte er mit Worten wett. Orazio kannte ihn aus der sixtinischen Bibliothek, bei deren Ausmalung sie vor ein paar Jahren mitgearbeitet hatten. Seinen Namen hatte er vergessen, sie konnten sich nicht leiden. Der Mann wollte ihn abzocken, das war alles.

„Feiglinge richten die Welt zugrunde“, sagte der Dicke. Er grinste seinem Nachbarn zu, der grinste zurück. Er grinste zu allem, was der Dicke sagte.

„Maulhelden, meinst du?“, fragte Orazio. Er schwitzte jetzt auch.

Cesari gluckste.

Der Dicke warf beiden einen gehässigen Blick zu. Mischte die Karten neu.

So einen Blick müsste man malen können, dachte Orazio und trank seinen Becher aus.

„Wenn ich jemanden einlade, mit mir zu spielen“, maulte der Dicke, „und noch dazu zum halben Einsatz, dann spielt er auch mit mir, bei der Mutter Gottes!“

Beim dreigeschwänzten Teufel, dachte Orazio und sagte: „Halber Einsatz ist Beleidigung!“

„Dann eben zum doppelten“, sagte der Dicke und begann die Karten auszuteilen.

Sein grinsender Nachbar riss seine an sich, als wollte er sie verschlingen.

Ich muss schleunigst weg hier, dachte Orazio. Der Kamerad will Streit.

„Willst du die Karten nicht aufheben, Gentileschi?“

Der Grinsemann starrte in seine Karten und fletschte die Zähne.

„Ich warte nicht mehr lange!“

„Spielen erleichtert das Warten“, sagte Orazio.

Cesari gluckste vor Vergnügen.

Der Dicke legte die Karten auf den Tisch, erhob sich halb und stützte seine Handflächen auf den Tisch, wobei sein Bauch über den Tisch schwabbelte. Sein Becher kippte um, der Wein ergoss sich über den Tisch und über seine Hose.

Der Grinsemann lachte. Der Dicke holte mit der Hand aus und schlug sie ihm quer übers Gesicht.

„He!“, sagte Cesari. „Aufhören!“

Die Würfelspieler am Tisch unterbrachen ihr Spiel.

„Was soll das, du Hurensohn?“, fragte der eine, ein blasser bartloser junger Mann mit lombardischem Akzent, den Orazio noch nie gesehen hatte. „Kannst du das Wasser nicht halten?“

Seine dunklen traurigen Augen loderten aggressiv.

Der Dicke stand ganz auf. Er schwankte ein wenig. Der Grinsemann fiel ihm in den Arm.

In diesem Augenblick drängte sich ein Junge, vielleicht elf Jahre alt, zu Orazio an den Tisch.

„Messer Gentileschi“, sagte er atemlos. „Messer Gentileschi!“

„Ja?“

Orazio stand auf. Es war der hinkende Nachbarsjunge, barfüßig, das Hemd hing ihm über die Hose, beides hinreichend schmuddelig.

„Es ist da! Es ist da!“, rief er. „Ich hab euch überall gesucht! Sie haben mich geschickt, aber ich ...“

„Wann?“

„Vor einer Stunde, glaub ich.“

„Und?“

„Eine Tochter! Es ist eine Tochter, soll ich Euch sagen!“

„Eine Tochter?“, fragte Orazio heiser.

„Eine Tochter!“, brüllte der schwankende dicke Mann ihm gegenüber.

„Eine Tochter“, sagte der Junge verwirrt. „Ich soll Euch holen.“

Der Dicke brach in ein unmäßiges Lachen aus.

„Eine Tochter!“, brüllte er, konnte sich nicht einkriegen. „Manche Männer können nur Töchter machen, habt ihr das schon gewusst?“

„Und manche Männer gar keine Kinder!“, sagte Orazio eisig und wünschte sich, dass man Worte zurückholen könnte.

Der Dicke verschluckte sich an seinem Lachen, seine Augen funkelten voller Hass. Dann nahm er den Tisch mit beiden Pranken, kippte ihn, warf ihn zur Seite und stürzte sich auf Orazio.

Orazio wich zurück und bekam einen Stoß in den Rücken. Gleichzeitig spürte er die Faust des Dicken im Bauch. Der Schwung warf den Dicken gegen den Tisch. Sein grinsender Nachbar wollte ihm aufhelfen und erntete dafür einen Schwinger gegen den Hals. Giuseppe Cesari, sonst ein Muster an Zurückhaltung, warf sich todesmutig zwischen Orazio und den Dicken und wurde von einem auffallend geschniegelt aussehenden Zuschauer zurückgezerrt.

Orazio sah, wie sich der junge Würfelspieler dieses Herrn annahm, dann spürte er einen Schlag ins Gesicht und knickte mit den Knien ein. Einen Augenblick wurde ihm schwarz vor Augen. Er hörte Gebrüll und krachendes Holz. Jemand beugte sich zu ihm. Orazio öffnete die Augen und sah wie hinter einem Schleier Cesari, der aber sofort wieder aus seinem Blickfeld verschwand. Ein wildes Handgemenge tobte, Becher und Stühle flogen, anscheinend hatten sich Parteien gebildet. Vielleicht kämpfte aber auch jeder gegen jeden. Wie sonst auch.

Orazio überlegte, ob er sich besser tot stellen sollte. Er hasste Schlägereien. Schloss die Augen, als könne er sich dadurch unsichtbar machen, wie ein Kind, und fühlte, wie ihn jemand am Ärmel zerrte. Ganz gegen seinen Willen wehrte er sich, aber der unbekannte Gegner fasste seinen Arm und zog an ihn ihm. Er öffnete die Augen und erkannte den fremden jungen Würfelspieler.

„Raus hier!“, zischte der Fremde.

Orazio kam irgendwie auf die Beine, der junge Mann zerrte ihn durchs Getümmel zur hinteren Tür, wo schon mehrere Männer versammelt waren, drauf und dran, sich in die Schlacht zu stürzen. Orazio bemerkte, dass kaum noch jemand an dem langen Tisch im Gärtchen saß. Der Gedanke flatterte durch sein Hirn, das sei eine gute Gelegenheit, einen Platz an der mehr oder weniger frischen Luft zu ergattern, aber der Fremde zog ihn gnadenlos mit sich fort. Er war eine Puppe an der Hand eines großen Bruders, der aber merkwürdigerweise zehn Jahre jünger war als er, und stolperte ins Nichts.

Es war stockdunkel, nur wenige Fenster in den umliegenden Häusern gaben ein wenig Licht.

Dann kamen sie an eine Mauer.

„Es reicht“, sagte Orazio erschöpft und machte sich steif.

„Es gibt eine Tür“, sagte der Fremde und schleifte ihn mit sich.

Sie fanden die Tür und standen im Nachbargarten. Aus der Kneipe kam Schlachtenlärm.

Der Fremde ließ Orazio los. Es gelang Orazio, auf den Beinen zu bleiben. Durch einen Hof gelangten sie in ein Haus, das leer stand. Es roch nach Kalk. Anscheinend wurde es renoviert.

Orazio lehnte sich gegen eine Wand.

„Woher wusstet Ihr von dem Haus?“, fragte er mühsam.

„Ich halte die Augen offen.“

Orazio dachte, dass er das auch tun sollte, und schüttelte den Kopf, als wollte er ihn auslüften.

„Geht’s wieder?“, fragte der Fremde.

„Ich glaube“, antwortete Orazio.

Er folgte dem Fremden. Sie kamen auf die Straße, in der niemand war. Hinter ein paar Fenstern war Licht. Zwei Kater schrien in verbissenem Zweikampf.

Der Fremde und Orazio gingen in Richtung Corso.

Eine Tür wurde geöffnet, eine dicke Frau trat auf die Straße und warf einen Eimer voll stinkender Fischreste in die Gosse. Im Nu wimmelte es von Katzen, die im Lichtschein des Hausflurs fauchend über die Reste herfielen. Die Frau ging ins Haus zurück und zog die Tür hinter sich zu.„Warum habt Ihr das getan?“, fragte Orazio, als sie den Corso erreicht hatten, der wie immer voller Leben war.

„Ach, wisst Ihr! Dieser Ritter vom Schmerbauch war auf Krawall aus und wir haben ihn beide gereizt, zufällig kann ich diese Art von Zeitgenossen nicht leiden.“

Er lachte trocken. Sie gingen den Corso entlang

„Ich hielt ihn für einen Maulhelden“, sagte Orazio.

„Und wolltet den Helden spielen?“

„Gewiss nicht.“

„Seht Ihr! Ich auch nicht. Ich gehe zwar sonst keinem Streit aus dem Weg, aber mit der Polizei ...“

„Der Polizei?“

„Habt Ihr nicht gesehn, wie der Wirt seinen Jungen geschickt hat?“

„Nein.“

„Aber ich. Ich halte, wie gesagt, die Augen offen.“

Sie erreichten die Via dei Greci, in der sich die Kneipe befand. Jetzt war der Schlachtenlärm wieder zu hören. Irgendwo bellte ein Hund. Eine schrille Frauenstimme schrie gegen ihn an.

„Übrigens, falls Ihr ein Taschentuch habt ...“, sagte der Fremde. „Eure Nase blutet.“

Orazio blieb stehen. Er zog ein Taschentuch aus dem Ärmel und hielt es sich unter die Nase.

„Zu schade, dass man immer nur Heiligenbilder malt und all das“, bemerkte der Fremde sichtlich angetan von Orazios Anblick. „So einer wie Ihr, das ist das Leben! Oder Christus, wie er sich am Kreuz krümmt, dass man sieht, der hat wirklich Schmerzen!“

Was redet der da?, dachte Orazio und sagte: „Um Gottes willen, hört auf, so zu reden. Das ist Gotteslästerung!“

„Macht Euch keine Sorgen um mich!“

Sie sahen ein paar Gestalten die Kneipe in Richtung Via di Ripetta verlassen. Eine Gruppe von Polizeidienern, die Sbirren, in ihren flatternden braunen Umhängen kam ihnen entgegen. Einige trugen Fackeln, so dass ihre Schatten auf der Straße und den Hauswänden mit ihnen um die Wette liefen. Die Gestalten machten kehrt.

Orazio ging er Richtung Kneipe.

„Da doch nicht!“

Orazio drehte sich zu ihm: „Aber ich wohne in der Ripetta!“

„Dann nehmt wenigstens das Tuch von der Nase und befehlt ihr, das Bluten einzustellen!“

Sie sahen, wie einige der Sbirren die Kneipe stürmten. Zwei rannten hinter den Männern her, die aus der Kneipe gekommen waren.

„Geht weiter, verdammt!“

Der Fremde ging weiter. Orazio folgte ihm. Die beiden Sbirren beachteten sie nicht und folgten den flüchtenden Männern.

„Habt Ihr zufällig diesen Lackaffen bemerkt?“, fuhr der Fremde munter fort. „Der hinter Cesari stand?“

„Der Kiebitz?“

„Ja, der Komplice des Ritters vom Schmerbauch. Ich sah, wie er ihm Zeichen machte und ihm das Blatt von Cesari signalisierte. Ein Falschspieler ist der Schmerbauch also auch noch und mit Falschspielern muss ich nicht eine Zelle teilen.“

Orazio blieb stehen.

„Trotzdem vielen Dank“, sagte er.

„Keine Ursache. Ihr habt heute eine Tochter bekommen und verdient es nicht, die Nacht mit einem Schmerbauch und Falschspieler im Gefängnis zu verbringen. Und zufällig hatte ich heute noch nichts für mein Seelenheil getan.“

Sie hatten die Kneipe erreicht und Orazio konnte es sich nicht verkneifen, im Vorbeigehen einen Blick auf die wogende Masse in der Wirtsstube zu werfen. Als er den Kopf wieder zur anderen Seite wandte, war der Fremde verschwunden.

Orazio versuchte, sich sein Gesicht in Erinnerung zu rufen. Vielleicht konnte er es eines Tages für einen Engel gebrauchen. Aber es wollte ihm nicht gelingen. Bloß die traurigen Kohleaugen mit der plötzlich aufflammenden Glut waren noch vorhanden. Aber die taugten womöglich gar nicht für einen Engel, höchstens für den mit dem Flammenschwert.

Er beschleunigte seinen Schritt. Er hatte eine Tochter, das war Fakt. Sie hatten noch keinen Namen für sie. Für einen Sohn hätten sie einen gehabt. Er wollte einen Sohn haben. Musste.

Der hinkende Nachbarsjunge tauchte plötzlich an seiner Seite auf.

„Wie bist du ihnen entkommen?“, fragte Orazio irritiert.

„Ich bin Euch gefolgt“, sagte der Junge.

„Die ganze Zeit?“

„Die ganze Zeit“, bestätigte er.

„Wie heißt du eigentlich?“

„Giovanni Battista.“

So, nach Orazios Vater, hätte sein Sohn heißen sollen.

Was sollte er mit einer Tochter?

Es fiel ihm nichts ein. Es mussten noch ein paar Jungen her.

 

 

2. Wie Artemisia richtige Engel sah

 

Prudenzias und Orazios Tochter wurde am 10. Juli 1593, zwei Tage nach ihrer Geburt, in der kleinen Kirche San Lorenzo in Lucina auf den Namen Artemisia getauft. Die Kirche, einer der ältesten Kirchen Roms, lag nicht weit von der kleinen Wohnung der Gentileschis in der lebhaften Via di Ripetta im Künstlerviertel, in dem die Maler so zahlreich waren wie die Katzen. Keine schöne Gegend, aber hier waren die Mieten mit am billigsten. Artemisias Mutter, die aus gediegenen bürgerlichen Verhältnissen kam (wie Orazio auch), schimpfte dann und wann über das Hungerleiderdasein, das sie zu dieser Gegend verurteilt hatte. Aber das war nicht so ohne Weiteres zu ändern. Tatsächlich lebten die Gentileschis von der Hand in den Mund. Brot war nirgendwo in Europa so teuer wie in Rom. Fertige Pasta noch dreimal so teuer. Und Prudenzia lernte das Kunststück, jeden giulio zweimal auszugeben.

Als Artemisia ein Jahr und fünf Monate alt war, wurde ihr erster Bruder geboren, der auf den Namen getauft wurde, den sie bekommen hätte, wenn sie ein Junge gewesen wäre: Giovanni Battista.

Ihre kleine Welt beschränkte sich auf ein paar Straßenzüge zwischen der Via di Ripetta, der Via del Corso und der Via Paolina, die alle in die Piazza del Popolo mündeten, den großen Platz mit der Kirche Santa Maria del Popolo und dem nördlichen Stadttor. Durch dieses Tor hatte ihr Vater, wie er ihr erzählt hatte, zusammen mit seinem sieben Jahre älteren Bruder Aurelio (der später in die Toskana zurückgekehrt war), als Junge Rom betreten.

Die Straßen mit ihren vielen kleinen Läden waren schmal, die Mietshäuser auch, zwei, drei Stockwerke hoch, eng aneinander gedrückt. Dazwischen, als sei die Stadt aus ganz verschiedenen Baukästen zusammengesetzt, protzige Kirchen, edle Paläste, Hotels und Herbergen für Pilger und Touristen, Gemüsemärkte, in den Hinterhöfen Gemüsegärten und Bordelle zum kleinen Hafen, dem Porto di Ripetta, hin. Überall war ein Geruch von Abfall und Unrat, in den sich aktuelle Gerüche mischten. Bauern steuerten ihre Eselskarren durchs Gewimmel, schrien und fluchten. Schreie und Flüche antworteten ihnen. Junge und alte Händler priesen ihre Waren an: Zuckerwerk, Gebäck, Melonen. Scharenweise Bettler und beinamputierte Invaliden diverser Kriegszüge hielten die Hand auf. Taschen- und Melonendiebe ließen ihre Hände spazieren gehen. Huren boten sich an Fenstern feil oder standen gleich auf der Straße, obwohl das verboten war. Entlassene Söldner und andere Habenichtse machten die Straßen unsicher, schwer bewaffnete Banden, zum Teil im Dienst verfeindeter römischer Adelsfamilien, bekriegten sich, Jugendbanden machten sich einen Spaß daraus, die Huren zu provozieren, und die Sbirren durchkämmten auf der Suche nach Waffen und potentiellen oder tatsächlichen Verbrechern nachts die Straßen. Artemisias Vater Orazio war Freskenmaler.

„Ich male Wände an“, sagte er zu Artemisia. Das kann ich auch, dachte Artemisia und verschönerte mit einem von Orazios Holzkohlestiften die Wand seines Zimmers. Daraufhin verbot er ihr bei Androhung des Fegefeuers, Holzkohle je wieder in die Hand zu nehmen. Da war sie drei Jahre alt.

Ein andermal zeigte er ihr Entwürfe zu einem Altarbild auf Leinwand, das die Bekehrung des Paulus (für eine Benediktinerkirche außerhalb der Stadtmauern) darstellen sollte: das Pferd des Apostels, den fallenden Apostel selbst, Soldaten.

Die meisten Entwürfe und Skizzen waren mit Holzkohlestiften gezeichnet, manche aber auch mit Kreide. Und Artemisia juckten wieder die Finger. Als sie in einer stillen Stunde eine der Skizzen mit eigenen Kreidezutaten bereichert hatte, kam ihr Vater erneut wie ein Donnerwetter über sie. Teils, weil er seine Skizze nicht wiedererkannte, teils weil Kreide teuer war. Und deshalb verbot er ihr, Kreide je wieder in die Hand zu nehmen, wieder bei Androhung des Fegefeuers.

 

Als die Bekehrung des Paulus fertig war, erteilte ihm der Benediktinerorden einen zweiten, weit größeren Auftrag und schickte ihn samt ein paar Mitarbeitern in die Sabiner Berge, wo er die berühmte, aber renovierungsbedürftige Abtei Santa Maria di Farfa durch Tafelbilder und Fresken auffrischen sollte. Zwei Tagesreisen von der Via di Ripetta entfernt. (Mit einem guten Pferd, das Orazio selbstverständlich nicht hatte, vielleicht auch nur eine Tagesreise.)

Unter anderm sollte Orazio die heilige Ursula malen (auf dem Entwurf, den er Artemisia zeigte, hatte sie einen Pfeil im Hals und sah wie Prudenzia aus) und die Allegorien der Stärke (eine gewaltige Dame in schwerer Rüstung, mit Helm) und der Gerechtigkeit (eine genauso gewaltige Dame mit einem Schwert über der Schulter).

Eine Heilige sei beinahe ein Engel, erläuterte er kühn, und Gerechtigkeit sei, wenn alle ihr Recht bekämen. Artemisia fand es aber höchst ungerecht, dass Farfa so weit weg war.

Ihre Mutter war wieder einmal hochschwanger und bestand unter Einsatz von Tränen und anderen erpresserischen Mitteln darauf, aus dieser schrecklichen Gegend, also aus der Via di Ripetta wegzuziehen. Durch den Auftrag in Farfa sei die Finanzierung des Umzugs sicher gestellt, behauptete sie, und also zogen sie, gerade rechtzeitig zur Geburt von Artemisias zweitem Bruder, der den Namen Franceso bekam, in eine etwas größere Wohnung in etwas besserer Lage. An die Platea Santissima Trinità am Fuße des Pincio. Aber auch von hier aus konnte Artemisia das große Stadttor auf der Piazza del Popolo noch sehen. Das war ein wenig Sicherheit in einer unsicher gewordenen Welt.

Im Juni 1597 nahm Orazio Abschied. Alle weinten, nur er nicht, und manche Träne netzte seinen schwarzen, gepflegten Bart, ehe Artemisia und Gianni und ihre Mutter ihn endlich fortließen.

Prudenzia fand sich damit ab. Sie hatte genug zu tun. Das Baby Francesco, hing in einem fort an ihrer Brust, Giovanni Battista an ihrem Rock. Alles drehte sich nur noch um die Brüder. Artemisia fühlte sich an den Rand gedrängt.

Einmal kam Orazio aus Farfa für ein paar Tage zu Besuch.

Er sagte: „Die Farbe trocknet. Dabei will ich sie nicht stören.“

Und dann fuhr er wieder weg und blieb weg bis Anfang 1599.

 

Etwa ein halbes Jahr später, an Artemisias sechstem Geburtstag, fuhr ihre Patin Artemisia Capizucchi, eine ziemlich vornehme Dame aus der besten römischen Gesellschaft, die zu den Bekannten von Prudenzias Eltern gehörte, die sie aber nicht oft zu Gesicht bekam, mit der Kutsche vor.

„Die arme Kleine hat ja keinen Namenstag den man feiern könnte!“, schnaubte sie. Sie hatte eine prächtige Nase und schnaubte sehr eindrucksvoll.

„Da muss es notgedrungen der Geburtstag sein!“

Dass sie nicht nach einer Heiligen hieß, wusste Artemisia natürlich längst. Der Name kam von Artemis, der griechischen Göttin der Jagd. Außerdem hießen ihre Patin und sie wie die persische Königin, die ihrem verstorbenen Mann, dem König Mausolos, ein gigantisches Grabmal hatte bauen lassen und jeden Tag, wie die Patin auch an diesem Tag erzählte, eine kleine Prise seiner Asche in ihren Wein gemischt hatte, die verrückte Person.

Die Patin schnaubte verächtlich.

Dann brachen sie auf.

Die Fahrt führte durch nie gesehene Gegenden. Zuerst den Corso hinunter bis zur Piazza Venezia mit ihrem klotzigen Palast, in dem der Gesandte der Republik Venedig residierte.

„Glaub ja nicht, dass es hier immer so ausgesehen hat“, plauderte die Patin. „Als ich noch klein war, sogar, als meine Kinder noch klein waren, gab es diese gerade Straße, durch die wir jetzt fahren, noch gar nicht! Seine Heiligkeit, Papst Sixtus V., hatte Angst, die vielen Pilger könnten sich verlaufen, deshalb fand er es am besten, wenn man die großen Kirchen auf geraden Straßen erreichen konnte. Naja, wir Römer fanden uns ja eigentlich schon zurecht, aber die Pilger ... pople bitte nicht in der Nase, Artemisia, ich weiß, dass das sonst niemand was ausmacht, aber ich ... Da hinten wohne ich übrigens!“

Sie zeigte nach rechts in ein vornehmes Wohnviertel.

Dann kamen sie am verwahrlosten, von den päpstlichen Baumeistern seit Jahrhunderten geplünderten Forum Romanum vorbei, an all den grün überwucherten Tempelresten und Säulenstümpfen aus der Zeit der Antike, eingerahmt von Zypressen und Pinien. Davor war der Viehmarkt im Gange.

Gleich dahinter die gleichfalls begrünte Ruine des Colosseums, vor dem Schafe weideten. Und zum Quietschen der Wagenräder und Trappeln der Pferdehufe erzählte die Patin nun von blutigen Gladiatorenkämpfen, Löwen und christlichen Märtyrern, so dass Artemisia den Kopf ganz voller Bilder hatte, als sie schließlich am Ziel ihres Ausflugs ankamen. Da schnaubte die Patin zufrieden, die Pferdchen schnaubten ein Echo und sie stiegen aus.

Vor ihnen, direkt an der Stadtmauer, dahinter freies Feld und eine schöne Hügellandschaft, erhob sich riesenmächtig die Basilika San Giovanni in Laterano, die Mutter aller Kirchen der Stadt und des Erdkreises, die alte Bischofskirche der Päpste, die päpstliche Kirche überhaupt, so benannt nach dem angrenzenden Lateranpalast. Auf dem Platz vor der Basilika stand ein ägyptischer Obelisk.

„Aus dem Circus Maximus“, sagte die Patin. „Seine Heiligkeit, Papst Sixtus V., hat den Obelisken hier aufstellen lassen. Obelisk ist griechisch und heißt Bratspieß.“

Artemisia lachte.

„Ich sage aber lieber: Zeigefinger Gottes.“

Der Platz wimmelte von Leuten: Besuchern, fliegenden Händlern, Bettlern und zwischen ihnen hin- und her flitzenden Kindern.

Sie gingen auf die Kirche zu und je näher sie kamen, desto gewaltiger erschien sie Artemisia. Sie hielt die Hand ihrer Patin fest umklammert, um nicht davon zu fliegen. Hohe Säulen ragten empor und gliederten himmelwärts das Portal. Sie betraten den Vorbau und durch eine schwere Tür den Kirchenraum.

Und dann war alles auf einmal ganz anders. Ihr Kopf war plötzlich ganz leer. Die große Stille, die sie umgab, erschlug sie fast.

Lichtbahnen fielen durch weit oben eingelassene Fenster in den riesigen Raum, als kämen sie direkt aus dem Himmel. Daher kamen sie ja auch, aber es schien Artemisia, als schwebten Engel, auch wenn sie unsichtbar waren, auf ihnen auf und nieder, schwebten und rutschten und purzelten, stiegen hinauf und hinab wie auf einer Himmelsleiter, man konnte bloß die Stufen nicht sehen. Aber als sie die Augen schloss, sah sie auf einmal die Engel und auch die Leiter.

Metallen klangen ein paar Stimmen durch den Raum, aber das waren nicht die Engel, die geräuschlos auf und nieder stiegen. Und als Artemisia ihre Augen wieder öffnete, sah sie die Gerüste. Auf einem entdeckte sie ihren Vater.

Sie stieß einen Kiekser aus und hielt eine Hand vor den Mund.

„Wir wollen ihn überraschen“, sagte die Patin.

Artemisia nickte begeistert.

Sie durchquerten das Längsschiff. Und als sie und ihre Patin am Fuß des Gerüsts angekommen waren, sah sie ihren Vater direkt auf die Wand malen, an einer sehr großen Figur. Der Umriss war schon zu erkennen, überhaupt war die Figur schon halb zu sehen, aber ob es ein Engel oder ein Heiliger oder sonst wer war, konnte Artemisia noch nicht erkennen.

Sie standen eine Weile stumm.

„Papà!“, piepste Artemisia schließlich.

Aber Orazio reagierte nicht. Eigensinnig pinselte er auf ein und demselben Fleck.

„Papà!“, piepste Artemisia. Es gelang ihr einfach nicht, zu rufen.

Dennoch wurde ein anderer Maler aufmerksam. Er trug den bemerkenswertesten Bart, den Artemisia jemals gesehen hatte: einen Schnurrbart mit stirnwärts gezwirbelten Enden.

„Meine Verehrung, Frau Capizucchi!“, rief er.

„Messer Baglione!“, antwortete Artemisia, die Ältere, und verrenkte huldvoll ihren Kopf, indem sie ihn gleichzeitig neigte und die Augen nach oben drehte, wo Giovanni Baglione stand.

„Orazio!“, rief er. „Besuch!“

Orazio wandte den Kopf Baglione zu.

„Zu deinen Füßen!“

Orazio sah nach unten.

„Papà!“, jubelte Artemisia.

„Artemisia“, sagte Orazio verwundert.

„Deine Tochter?“, fragte Baglione.

„Ja.“

„Die Patin hat mir eine Kutschfahrt zum Geburtstag geschenkt!“, krähte Artemisia.

„Sie hat Geburtstag, Orazio!“, schmetterte Baglione. „Hast du das vergessen? Ist sie wirklich von dir?“

„Natürlich nicht!“

„Nicht?“

„Nicht vergessen, du Hurensohn!“, brüllte Orazio wütend.

Baglione lachte. In sein Lachen mischte sich Gelächter aus anderen Ecken der Kirche.

„Wie alt bist du?“, hallte eine Stimme durch den weiten Kirchenraum. Aber es war nicht auszumachen, woher sie kam.

Aus dem Himmel vielleicht?

Artemisia schaute sich um, sah aber niemanden, dem die Stimme hätte gehören können.

„Sechs!“, piepste sie sicherheitshalber.

„Vor sechs Jahren war ich mit deinem Vater zusammen, als er von deiner Geburt erfuhr!“, rief die Stimme. „Da war vielleicht was los, in der Kneipe des Pisaners! Nun steig schon runter, Orazio, und begrüße sie!“

Orazio hasste Überraschungen. Und peinlich war ihm außerdem, dass sich sein Freund Giuseppe Cesari, der hier die künstlerische Leitung hatte, wie Gottvater persönlich einmischen musste. Aber er riss sich zusammen, stieg vom Gerüst, begrüßte Artemisia, die Ältere, und nahm dann die Jüngere auf den Arm.

„Willst du ihr keinen Kuss geben?“, rief Cesari, als könne er durch Mauern sehen.

Und Orazio küsste seine Tochter auf die Wange. Dann ließ er sich herab, ihr und ihrer Patin ein bisschen was zu erklären. Dass Seine Heiligkeit, Papst Clemens VIII., seine Bischofskirche für das Heilige Jahr 1600 etwas aufmöbeln wollte und dass sie Szenen aus dem Leben des römischen Kaisers Konstantin malten, der diese Basilika hatte bauen lassen, vor mehr als tausend Jahren, und außerdem einige Heilige. Er selbst malte einen überlebensgroßen Apostel Thaddäus, einen der Jünger Jesu.

„Keine Engel?“, fragte Artemisia enttäuscht.

„Engel nicht.“

„Aber ich habe sie trotzdem gesehen!“

Und sie zeigte auf die Lichtbahnen vom Himmel her.

Sie sah sie den ganzen Tag immer wieder und selbst im Einschlafen noch.

 

 

 

3. Wie eine junge Frau ihren Kopf verlor und Artemisia sich ihren Reim darauf machte

 

Es war halb neun Uhr morgens, in der vormittäglichen Schwüle des römischen Spätsommers 1599, und die Via Condotti war voller Leute, die fast alle in dieselbe Richtung gingen, Richtung Tiber nämlich. Vorm Gefängnis Tor di Nona, in dem die Cenci-Brüder saßen, hatte sich schon eine größere Menschenmenge versammelt, sodass Orazio, Prudenzia und Artemisia abbogen und über ein paar Nebenstraßen schließlich das Haus erreichten, in dem Freunde von Prudenzias Eltern wohnten. Orazio verabschiedete sich. Prudenzia, die zum vierten Mal schwanger war, und Artemisia gingen hinein und stiegen in den dritten Stock hinauf.

In der Wohnung fanden sie Prudenzias Mutter, Artemisias Großmutter, mit der Frau des Hauses und einer weiteren Frau, die Artemisia nicht kannte, beim Plausch in der Küche .Sie aßen frisches Gebäck. Zwei Jungen standen an einem der geöffneten Fenster.

„Weiß man schon, wie der Papst sich entschieden hat?“, fragte Artemisias Großmutter zur Begrüßung.

„Ich hab nichts gehört“, sagte Prudenzia.

Artemisia ging zu den Jungen ans Fenster. Ihre Großmutter schleppte einen Schemel hinter ihr her und Artemisia stellte sich darauf und ihre Großmutter stellte sich neben sie und legte ihr den Arm um ihre magere Schulter.

Der Blick ging auf die Engelsbrücke und, am anderen Tiberufer, die Engelsburg, die Stadtmauer, das freie Feld dahinter und einige Weinberge, und linkerhand auf den Bezirk Borgo und die vor zehn Jahren vollendete Kuppel der Peterskirche.

Auf dem Platz direkt unter ihnen, auf den drei Straßen mündeten, vor der Engelsbrücke, hatte man wie üblich das Schafott errichtet. Soldaten und Sbirren waren aufmarschiert. Hierher strömten die Menschen.

„Wann fängt es an?“, wollte Artemisia wissen.

„Das dauert noch etwas“, sagte ihre Großmutter.

„Und warum sind wir dann so früh gekommen?“

„Weil deine Mutter fürchtete, ihr würdet sonst nicht mehr durchkommen, nehme ich an.“

Artemisia lief in die Küche und nahm sich einen Zuckerkringel.

„Erinnert ihr euch noch an die Hinrichtungen, die Seine Heiligkeit, Papst Sixtus V., gleich am Tag seiner Thronbesteigung vornehmen ließ?“, fragte gerade die Frau, die Artemisia nicht kannte.

„Und ob ich mich erinnere!“, sagte Artemisias Großmutter.

„Wir waren gerade hier eingezogen“, erzählte die Hausfrau. „Ich wollte zum Markt gehen, das vergess ich nie, da grinst er mich drunten an der Brücke an, dieser Bandit, diese Teufelsfratze, die sie da ausgestellt hatten ...“

„Der König der Campagna?“, fragte Prudenzia.

„Ja. Ein ehemaliger Priester, das muss man sich mal vorstellen. Aber dieser Papst hat wirklich aufgeräumt!“

„Mein Fischhändler mochte ihn nicht“, sagte Artemisias Großmutter. „Er hat ihn doch tatsächlich mit dem verrückten Kaiser Nero verglichen!“

„Der Pöbel weiß es nicht besser“, behauptete die Hausfrau.

„Nein, wirklich!“, sagte die andere Frau empört. „Das ist doch ein himmelweiter Unterschied! Nero hat die Christen verfolgt, während Sixtus ... Er hat die Stadt verschönert, während Nero ...“

„ ... sie abgebrannt hat“, ergänzte Artemisias Großmutter. „Aber wo du gerade von Fischen redest, Lucia! Der Leichengestank von den Hingerichteten, es waren ja tausende, Gott verzeih mir, war manchmal wirklich schwer zu ertragen, im Sommer, ich rede nur vom Sommer, Gott verzeih mir!“

„Aber es war doch eine Ordnung damals!“, sagte die Hausfrau. „Jetzt haben wir wieder ganz den alten Schlendrian!“

Einer der Jungen am Fenster rief: „Es geht los!“

Alle gingen an die Fenster.

In die Menge unten auf der Straße war Bewegung gekommen. Alle sahen in Richtung Tor di Nona. Offenbar wurde weiter flussaufwärts das Tor des Gefängnisses, das sie nicht sehen konnten, geöffnet. Entfernter Gesang war zu hören.

„Was passiert da?“, fragte Artemisia.

„Sie holen wohl Giacomo und Bernardo dort ab“, sagte Prudenzia.

„Wenn sie sie nicht gleich hierher zum Schafott bringen ...“, überlegte die Hausfrau.

„... werden die Todesurteile vollstreckt!“, rief die andere Frau. „Seine Heiligkeit kennt keine Gnade!“

„Himmel!“, rief Prudenzia. „Das kann doch ...“

„Sie holen die Frauen im Gefängnis von Corte Savella ab!“, unterbrach sie die Hausfrau. „Und kommen nachher von der andern Seite wieder.“

„Die arme Beatrice“, sagte Artemisias Großmutter.

Das sagte sie schon seit Monaten.

Und dazu bekreuzigte sie sich. Und das auch schon seit Monaten. Seit Anfang des Jahres, als die Cencis erst mit Hausarrest belegt, dann verhaftet worden waren, Angehörige einer sehr alten, aber auch sehr heruntergekommenen Adelsfamilie. Seit allmählich die Gerüchte über den Prozess in Umlauf gekommen waren, seit die Leute sich die Mäuler zerrissen.

„Es ist eine Schande! Es ist wahrhaftig eine Schande!“, rief die Hausfrau.

Die Frauen pflichteten ihr bei.

Was konnte Beatrice denn dafür, dass ihr Großvater ein Betrüger gewesen war und die päpstliche Kasse um ein paar hunderttausend scudi erleichtert hatte? Was, dass ihr Vater noch viel schlimmer war? Ein Mörder und Vergewaltiger! Traf nicht ihren Vater selbst alle Schuld?

„Dieser Teufel in Menschengestalt!“, rief Artemisias Großmutter und bekreuzigte sich.

Hatte Francesco Cenci nicht jede Menge Blut an den Händen? Hätte er nicht längst hingerichtet werden müssen, wenn er sich nicht, reich wie er war, immer wieder hätte frei kaufen können? Hatte er auf dieser Burg in den Abruzzen nicht seine zweite Frau Lucrezia und seine Tochter Beatrice wie Gefangene in Zimmer gesperrt, deren Fenster bis auf einen kleinen Spalt mit Brettern vernagelt worden waren? Hatte er nicht Beatrice mit einem Ochsenziemer halbtot geschlagen, nachdem er von der Bittschrift erfahren hatte, die sie und ihre Stiefmutter, um ihre Befreiung zu erreichen, an den Papst gerichtet hatten? Hatte nicht eine Magd bezeugt, dass er mit seiner Tochter sogar habe schlafen wollen, dieser Teufel in Menschengestalt?

„Die arme Beatrice“, seufzte Artemisias Großmutter.

Natürlich, sie hatte die Tat nach kurzer Folter endlich auch gestanden. Hatte geschildert, wie sie, ihre Stiefmutter und ihre beiden Brüder sie beschlossen und geplant hatten. Wie die gedungenen Mörder, von denen der eine später Kopfjägern in die Hände gefallen, der andere an den Folgen der Folter gestorben war, den Tyrannen erschlagen und versucht hatten, die Tat als Unfall zu kaschieren. Was misslungen war, zum Bedauern der Großmutter, die sich sicherheitshalber schon wieder bekreuzigte. Tyrannenmord freilich schien nicht nur ihr und den anderen Frauen gerechtfertigt, sondern einem großen Teil der römischen Bevölkerung. Beatrice war galt ihnen als Märtyrerin.

Eine Märtyrerin, dachte Artemisia und flüsterte das Wort vor sich hin.

Sie hatte all dies Getratsche und Geratsche zu Hause mit angehört. Es klang ihr wie eine spannende Räuberpistole und begriffen hatte sie vor allem eins: dass einer jungen Frau, die sich gegen einen Tyrannen gewehrt hatte, Unrecht geschehen sollte. Schreiendes Unrecht, hatte ihre Großmutter gesagt.

Die Stimmung war aufgeheizt schon seit Tagen. Und jetzt hatte sich der Menge vor dem Schafott und auf der Brücke eine vibrierende Unruhe bemächtigt. Lärm und Geschrei erfüllten die Luft. Und je weiter der Tag voranschritt, desto heißer wurde es.

Die Zeit kroch dahin.

Artemisia versuchte, ihren Vater in der immer noch anwachsenden Menge zu entdecken. Die breiten Federhüte der Männer wogten, es war unmöglich.

Die Frauen fingen an, sich über Preissteigerungen und die Lebensmittelpreise im Allgemeinen zu unterhalten. Artemisia ging vor lauter Langeweile pinkeln. Gegen Mittag traf die Prozession an der Engelsbrücke ein. Jetzt drängten sich an allen Fenster, in den Loggien und auf den Dächern, in den Vorbauten und Türmen der Burg die Zuschauer, aus Westen und Süden strömten sie nach, auf der gegenüberliegenden Tiberseite waren die Straßen von Menschen und Kutschen verstopft.

Plötzlich legte sich der Lärm. Vom Ende der Prozession her war Gesang zu hören.

Direkt hinter einem großen Kruzifix ging eine schlanke junge Frau, die Hauptdarstellerin dieser monströsen Inszenierung, die Papst Clemens VIII. zu Nutz und Frommen seiner Untertanen befohlen hatte. Neben ihr ging eine ältere, korpulente Frau, Lucrezia Paltroni, ihre Stiefmutter.

„Ist sie das?“, fragte Artemisia. „Die junge?“

„Ja“, sagte Prudenzia. Die beiden Frauen trugen weite dunkle Mäntel. Ihre Arme waren an den Körper gebunden, doch konnten sie kleine Kruzifixe halten und Taschentücher.

Gleich hinter ihnen rumpelten Eselskarren Giacomo und der erst siebzehnjährige Bernardo. Giacomo, ein kräftig gebauter Mann von etwa dreißig Jahren, den Oberkörper nackt, wurde von einem Henkersknecht mit der Zange malträtiert, die Haut hing ihm vom Leib. Eine Gestalt, gehüllt in ein knöchellanges schwarzes Gewand, eine Kapuze über dem Kopf und eine Maske vorm Gesicht, hielt ihm ein Täfelchen vor die Nase.

„Einer von der Bruderschaft der Misericordia“, flüsterte Artemisias Großmutter. „Er wird Trostspender genannt.“

Bernardo war allein auf seinem Karren.

„Er ist begnadigt!“, rief die Hausfrau. „Dem Himmel sei Dank!“

Und alle bekreuzigten sich.

Hinter den Karren schritten gravitätisch wie Friedhofskrähen die bärtigen Herren des Hohen Gerichts, ihnen folgten Abordnungen verschiedener Orden. Sbirren hielten die Straße frei und bahnten der Prozession ihren Weg. Immer mehr Volk drängte nach. Hin und wieder fiel jemand um und wurde davongetragen.

Wind war aufgekommen, wüstenwarmer Scirocco, und wehte den Gesang der Litaneien die Häuser hinauf und über den Fluss. Als die Spitze des Zuges das Schafott erreicht hatte, kam die Prozession zum Stehen. Die Delinquenten verschwanden in der kleinen Kapelle am Brückeneingang.

„Wo gehen sie hin?“, fragte Artemisia enttäuscht.

„Sie dürfen noch einmal zum Herrgott und der Jungfrau Maria beten“, sagte Prudenzia, „dass sie ihnen Stärke verleihen. Das wird sicher etwas dauern.“

Die Luft vibrierte. Sie war wieder von Geschrei erfüllt.

Man setzte sich in der Küche zum Essen zusammen. Jeder hatte etwas mitgebracht. Man aß und trank und ratschte, bis draußen wieder Stille eintrat. Alle stürzten an die Fenster.

Der Scharfrichter und seine Gehilfen hatten das Schafott betreten. Das Hohe Gericht nahm auf Stühlen Platz.

Ein Aufschrei ging durch die Menge, als Bernardo das Schafott bestieg. Ihm folgte seine Stiefmutter, die man halb hinaufschob..

Dem Jungen wurde ein Platz auf einem der Stühle zugewiesen. Er musste den Hinrichtungen offensichtlich zusehen. Das schien seine Strafe zu sein.

Artemisia hielt den Atem an.

Lucrezia wankte und schien ohnmächtig zu werden. Zwei Sbirren fingen sie auf und schleiften sie auf die Richtbank. Das Beil fiel. Lautes Geheul stieg aus der Menge auf. Dann kam Beatrice. Bernardo war in sich zusammengesunken.

Warum läuft sie nicht weg?, dachte Artemisia. Sie könnte sich in der Menge verstecken. Alle würden sie doch schützen und niemand sie verraten!

Aber Beatrice ging stolz und aufrecht.

„Beatrice!“, rief eine Männerstimme.

„Beatrice! Beatrice!“, schlossen sich andere an.

„Beatrice“, murmelte Artemisia. Und plötzlich wurde ihr das Herz eng.

Die junge Frau erklomm das Gerüst und trat vor den Richtblock, machte Hals und Brust frei und legte mit geradezu eleganter Geste ihren Kopf auf den Block,. Ihr langes Haar floss über den Richtblock. Der Scharfrichter hob das Beil, es blinkte grell in der Sonne, und einen schmerzhaften Augenblick lang dachte Artemisia, ein Blitz vom Himmel her würde allem ein Ende machen. Aber das Beil fiel.

Ein Aufschrei der Menge zerriss die schwüle Luft. Der Scirocco trug ihn mit sich fort, Richtung Peterskirche, der Schrei schien sich zu vervielfachen, als echote ihm der Himmel.

Prudenzia hatte den Arm um Artemisia gelegt.

„Es ist ein Skandal“, flüsterte Artemisias Großmutter. „Es bleibt ein Skandal und es wird ein Skandal für alle Zeiten sein.“

Jetzt bestieg Giacomo das Podest. Er wurde nicht mit dem Beil hingerichtet wie die Frauen. Der Scharfrichter schlug ihm so lange mit einer Keule auf den Kopf, bis er tot war. Dann wurde sein Körper in vier Stücke zerhauen, die an Fleischerhaken aufgespießt wurden. Dort blieben sie hängen bis in den späten Abend.

Auch die Leichen der Frauen wurden öffentlich ausgestellt. In einem Zug, der ebenfalls bis in den Abend dauerte, defilierten die Leute trauernd an ihnen vorbei.

Die Großmutter hatte sich mit Artemisia eingereiht, Prudenzia war nach Hause gegangen, um sich um die Jungen zu kümmern, die sie bei einer uralten Nachbarin abgegeben hatte.

Artemisia war stolz darauf, von Beatrice Abschied nehmen zu dürfen. Sie sah sich um, ob da irgendwelche Freundinnen aus der Nachbarschaft wären. Aber sie sah keine. Was würde sie zu erzählen haben! Das hatte sie allen andern Kindern voraus!

Als sie endlich vor dem Blutgerüst angelangt waren, war Beatrices Leiche bereits mit Blumen bedeckt und Artemisia tat es leid, dass sie keine dabei hatte. Die Großmutter neigte den Kopf, Artemisias tat es ihr nach, aber mit halben Augen sah sie doch auf die Leiche.

So will ich werden, dachte Artemisia. So schön und so tapfer.

Sie war beim Tod einer Heldin und Märtyrerin dabei gewesen. Beatrice hatte, das wusste sie, das Böse bekämpft und besiegt. Ihr war Unrecht geschehen.

 

 

 

4. Wie Artemisia den Rauch sah, aber nicht das Feuer