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SANNI ARAN

DER BRETONISCHE WOLF

ambiente-krimis

Buch

Im Eurostar von London nach Paris wird ein Mann ermordet. Zufällig sitzt commissaire Julie Roche im selben Wagen. Zurück in der Bretagne erhält sie einen Anruf aus Paris: Da der Tote wie sie aus St. Malo stammt, soll Julie vor Ort die Ermittlungen durchführen. Als wenige Tage später eine weitere Männerleiche von der Flut an den Strand gespült wird, glaubt Julie nicht an einen Zufall. Schnell wird klar: Die beiden Morde hängen zusammen. Es folgen noch weitere Morde, und alle weisen sie eine Gemeinsamkeit auf: Die Körper der Toten sind von zahllosen Bisswunden übersät – Wolfsbissen!

Julie und ihr Team heften sich an die Fersen des Mörders, der eine blutige Spur durch das Land zieht.

Autorin

Die Autorin, die sich hinter dem Pseudonym Sanni Aran verbirgt, ist Reisejournalistin und hat unter ihrem bürgerlichen Namen bereits zahlreiche Bücher verfasst. Mit commissaire Julie Roche schickt sie eine außergewöhnliche Frau in der Bretagne auf Ermittlungstour.

Sanni Aran

Der bretonische Wolf

Commissaire Julie Roches zweiter Fall

Ein Bretagne-Krimi

ambiente-krimis

Prolog

1994

Der tiefe Waldteich lag sanft schimmernd vor ihnen. Kein Windhauch strich über seine glatte, wie aus Wachs gegossene Oberfläche. Am Ufer quakte ein Frosch und kündigte den heran nahenden Abend an. Obwohl es tagsüber warm gewesen war, legte sich nun eine Kühle über den Wald.

Auf einem Baum, dessen Äste sich bis zum Wasser hinab senkten, saß eine Amsel und sang leise eine Melodie. Plötzlich flog ein Stein durch die Luft und traf den Vogel hart. Er verstummte und fiel von dem Ast auf den Boden hinab.

„Guter Wurf. Der singt nicht mehr!“

Gelächter. Sie stießen sich gegenseitig an, schubsten sich herum, johlten. Sie waren alleine in diesem Wald, die Könige über Bäume und Teiche, und niemand konnte ihnen etwas vorschreiben, etwas befehlen. Mit einem langen, vorne zugespitzten Ast ging einer von ihnen zu dem toten Vogel und spießte ihn auf. Triumphierend hielt er seine Beute in die Höhe, was eine erneute Jubelwelle zur Folge hatte.

Freiheit! Sie waren frei. Und niemand würde ihnen das zerstören.

Gegenwart

Bahnhof King’s Cross St. Pancras, London

Sein Atem ging schnell und stoßweise, als er durch die große Abfertigungshalle rannte. Der Schweiß lief ihm in Strömen aus den Poren seiner Stirn, hinab über das Gesicht und tropfte auf seinen steifen Hemdkragen.

Er hatte sich nicht getäuscht. Das wusste er jetzt.

Anfangs hatte er sich noch eingeredet, alles sei ein Irrtum. Ein Hirngespinst. Er hatte versucht zu verdrängen, was immer wieder nach oben kam, aus den dunklen Ecken seiner Erinnerung. Zuerst war es nur eine abstrakte Nachricht gewesen. Ein Anstoß, der die Gedanken ins Rollen gebracht hatte. Dann hatten sich die Hinweise gehäuft. Und nun konnte er sie nicht mehr leugnen.

Planlos rannte er eine Rolltreppe hinauf, die ihn auf eine Art Balustrade führte, wo sich Cafés und Schnellrestaurants aneinander reihten. Für einen kurzen Moment hielt er inne, bremste ab und atmete tief durch. Seine Augen suchten die einzelnen Tische ab, die Verkaufstresen. Aber er konnte nichts entdecken. War es doch nur eine Sinnestäuschung gewesen?

Wurde er etwa verrückt? Doch sogleich verwarf er diesen Gedanken wieder. Er hatte ihn gesehen. Leibhaftig. Zwar aus einiger Entfernung, aber zusammen mit all den Hinweisen konnte es keine Zweifel mehr geben.

Schnell ließ er sich alle Möglichkeiten durch den Kopf gehen. Was sollte er tun? Mit wem könnte er sprechen?

Immer mehr Menschen eilten die Rolltreppen hoch und bevölkerten die Cafés. Er begann sich unwohl zu fühlen. Er könnte sich leicht zwischen all den Menschen verbergen. Ihn beobachten. Ihm auflauern. Kurzerhand beschloss er, wieder zu den Gleisen abzusteigen und dort eine Toilette oder einen Aufenthaltsraum zu suchen. Er musste telefonieren. Es gab nur einen, dem er sich anvertrauen konnte. Inständig betete er, dass derjenige noch über den gleichen Anschluss zu erreichen war wie damals.

Er rannte die Treppe hinab, stolperte und wäre beinahe hinunter gefallen. Doch er fing sich, lief weiter und entdeckte schließlich ein Toilettenzeichen. Mit letzter Kraft drückte er die Tür auf und lehnte sich schweratmend gegen die weißgekachelte Wand.

Dann zückte er sein Handy und wählte eine Nummer, die er seit vielen Jahren nicht mehr angerufen hatte.

276 Fahrgäste und eine Leiche an Bord

Der Zug fuhr ratternd in den Tunnel ein. Julie schloss ihre Augen. Die nächsten zwanzig Minuten würde sie unter dem Meer sein, in einer engen Röhre. Ihr wurde flau im Magen. Obwohl sie bereits mehrere Male mit dem Eurostar nach Großbritannien und wieder zurück nach Paris gefahren war, beschlich sie immer wieder aufs Neue eine Beklommenheit, die sich rational nicht erklären ließ. Sie stellte sich vor, wie das Meer mit all seiner urgewaltigen Kraft gegen die Tunnelwände drückte, die irgendwann nachgeben würden und dann …

„Was möchten Sie trinken?“

Ein Zugbegleiter war mit einem Servierwagen neben ihr stehengeblieben und blickte sie nun erwartungsvoll an. Julie benötigte einen Moment, um in die Wirklichkeit zurückzukehren. Verwirrt fuhr sie sich durch ihre dunklen Locken und atmete tief durch. Irgendetwas musste passieren! Sie musste ihre Ängste, die sie ohne Vorwarnung plötzlich packten, endlich unter Kontrolle bekommen. Aber seit der Scheidung von Frank war alles nur noch schlimmer geworden. Die Panikattacken, die Albträume.

„Madame, bitte, möchten Sie etwas trinken?“

Die Stimme des Kellners hatte einen etwas entnervten Ton angenommen. Ungeduldig fuhr er mit den Fingerspitzen über die Flaschen, die oben auf seinem Wagen standen.

„Rotwein, bitte!“, murmelte Julie. Der Mann stellte ihr eine kleine Flasche Merlot auf den Tisch, den er vor ihr herunterklappte.

„Mein Kollege mit dem Essen kommt gleich zu Ihnen!“ Mit diesen Worten schob er seinen Getränkewagen weiter.

„Fahr doch erste Klasse. Du hast dir etwas Luxus verdient!“, hatte sie ihr Kollege und bester Freund Yanick Le Guel aufgefordert, nachdem sie beschlossen hatte, mit dem Eurostar ihre Freundin Laura in London zu besuchen. Anfangs hatte sie sich noch gesträubt, das Kommissariat und ihre beiden Kollegen, Yanick und die etwas forsche Deutsch-Französin Lisa Baélec, allein zu lassen. Aber die vergangenen Monate hatten an ihr genagt.

Nachdem sie im Sommer ihren Mann Frank mit einer blonden Studentin im Bett erwischt hatte, hatte sie kurzerhand das gemeinsame Haus verlassen und war in einen kleinen Wohnwagen auf dem Bauernhof bei ihrer Freundin Gwenaëlle gezogen. Dort auf dem Land hatte sie ein bemitleidenswertes Dasein geführt, und keiner ihrer Kollegen hatte davon gewusst. Doch die Hoffnung, ihr untreuer Ehemann würde seinen Fehler erkennen und reuig zu ihr zurückkehren, bestätigte sich nicht. Vielmehr hatte er sie davon in Kenntnis gesetzt, dass er die Scheidung wolle. Momentan feierte er sein neues Leben mit der blonden Dame auf Martinique. Die beiden erwarteten ihr erstes Kind. Dies war ein zusätzlicher Schlag für Julie gewesen.

Erneut stoppte ein silberner Servierwagen an ihrem Platz, und ein sympathischer junger Mann stellte ihr einen Käseteller auf den Tisch.

„Etwas Brot dazu?“ Gleichgültig zuckte Julie mit den Schultern. Sie hatte ohnehin keinen Appetit. Sie nippte an ihrem Wein und schob den Teller etwas von sich weg.

Yanick würde sie in Paris abholen und nach Saint Malo bringen. Dort wollte sie sofort ins Büro. Sicherlich hatte sich in ihrer Abwesenheit einiges dort angehäuft. Und wo sollte sie sonst hingehen?

Der Zug ratterte, und Julie wurde durchgeschüttelt. Sie hörte Gläser, die auf den Boden fielen, dann blieb der Eurostar mit einem kräftigen Ruck stehen. Für einen kurzen Moment erlosch das Licht, ging aber augenblicklich wieder an und flackerte gespenstisch. Eine Frau schrie auf, ein Kind redete panisch auf seine Mutter ein. Was war passiert?

Julie sprang auf und blickte in viele verwirrte Gesichter. Die Zugbegleiter eilten aus dem Abteil. Aufgeregtes Gemurmel machte sich breit. Was war nur passiert? Warum hatte der Zug so plötzlich angehalten?

Kurzentschlossen verließ Julie ihren Platz und eilte durch die aufgeregte Menschenmenge, die sich auf dem Gang versammelt hatte. Sie lief auf die Verbindungstür zum Wagen der zweiten Klasse zu. Mehrere Fahrgäste streckten ihre Köpfe aus den Abteilen, es wurde spekuliert.

„Vielleicht hat sich ja jemand auf die Gleise geworfen?“, vermutete ein älterer Herr, wurde aber sofort jäh von einem Mittvierziger in schickem Dreiteiler unterbrochen, der ihn anraunzte:

„Natürlich. Hundertfünfzig Meter unter dem Meeresspiegel. Das wäre mal ein spektakulärer Selbstmord.“ Der Alte zog beleidigt den Kopf ein und verschwand in seinem Abteil. Plötzlich knisterte ein Lautsprecher und eine Stimme ertönte.

„Sehr verehrte Damen und Herren, wegen eines unvorhergesehenen Zwischenfalls verzögert sich unsere Weiterfahrt um unbestimmte Zeit. Bitte bleiben Sie auf ihren Plätzen. Wir werden Sie informieren, sobald es Neuigkeiten gibt.“

Ein aufgebrachtes Stöhnen ging durch den Wagen. Die Fahrgäste ließen sich wieder auf ihre Sitze fallen und gaben den Blick frei auf eine Gruppe Zugbegleiter, die aufgeregt vor einer Toilette miteinander diskutierten. Julie näherte sich ihnen, wurde jedoch von einem resolut wirkenden Mann in Uniform aufgehalten.

„Hier können Sie nicht weitergehen. Haben Sie die Durchsage nicht gehört?“, pfiff er sie unfreundlich an.

Julie stutzte. Was konnte hier nur passiert sein? Sie kramte ihren Dienstausweis aus der Handtasche und blaffte zurück:

„Kommissarin Julie Roche, Kriminalpolizei. Mit wem habe ich das Vergnügen?“

Der bullige Kerl starrte sie erstaunt an, dann wandte er sich an die Zugbegleiter.

„Die ist von der Polizei. Könnt Ihr sie gebrauchen?“

Zustimmendes Gemurmel.

„Dann gehen Sie! Aber sagen Sie später nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt. Kein schöner Anblick!“

Langsam näherte sich Julie der Toilette. Die Männer traten einen Schritt zurück. Aus dem kleinen Raum drang ein abscheulicher Geruch nach Exkrementen und Desinfektionsmittel. Aber noch etwas anderes lag in der Luft. Ein Geruch, den Julie nur zu gut kannte. Der Geruch des Todes.

Der Mann lag in einer unnatürlichen Seitenstellung auf dem Boden der schmalen Zugtoilette. Seine Beine umklammerten das Klo, als wäre es sein Anker, seine Rettungsleine. Der Oberkörper wirkte irgendwie verdreht. Das Gesicht hatte der Tote zur Tür gewandt. Die weit aufgerissenen Augen starrten nun Julie entgegen. Sie ging in die Knie. Der Mann musste Ende Dreißig sein. Ein dunkler Bart bedeckte den unteren Teil seines Gesichts. Eine rote Pfütze hatte sich auf dem Laminatboden gebildet. Aber nicht das viele Blut, das aus einer hässlichen Wunde am Hals gequollen, oder die qualvolle Haltung, in der dieser Mann gestorben war, verschreckten Julie. Sein Gesicht, sein Hals und die Hände waren übersät von Bissen. Tiefen Bisswunden, wie von einem Raubtier.

Julie zückte ihr Handy und fotografierte das Opfer, seine Wunden und den Raum.

Ein Telefon klingelte. Einer der Zugbegleiter zog es aus seiner Tasche und lauschte. Dann sagte er:

„Der Zugführer hat mit Paris telefoniert. Wir sollen bis nach Calais weiterfahren. Dort erwarten uns Polizei und Sanitäter. Die Türen müssen verriegelt bleiben. Kein Fahrgast darf den Zug verlassen. Verstanden?“

Alle nickten. Dann raschelte der Lautsprecher erneut und eine Stimme teilte den Fahrgästen das soeben Befohlene mit. Kurz darauf setzte sich der Eurostar wieder in Bewegung in Richtung Frankreich mit 276 Fahrgästen und einer Leiche an Bord.

War das am Ende der Tote selbst?

„Man kann dich wirklich keine Sekunde alleine lassen, jolie Julie!“

Yanick knackte mit einer silbernen Zange eine Krabbe und zog mit einer Gabel das zartrosafarbene Fleisch hervor. Julie verzog das Gesicht und nippte an ihrem Wein.

„Konnte ich doch nicht ahnen, dass genau in meinem Zug ein Mörder mitfährt.“ Lustlos rührte sie in ihrer Fischsuppe herum.

Yanick hatte sie in Paris am Bahnhof abgeholt, als sie mit mehrstündiger Verspätung schließlich eingetroffen war. In Calais hatte die Polizei bereits auf sie gewartet. Jeder Fahrgast war durchsucht und befragt worden. Auch Julie, obwohl sie aufgebracht mit ihrem Dienstausweis herum gewedelt hatte. Ohne Erfolg. Die Beamten hatten sie genau unter die Lupe genommen und sogar auf ihrer Dienststelle angerufen, um ihre Identität zu überprüfen. Solche Trottel! Schließlich, nach stundenlanger Warterei am kalten Bahnsteig, hatte man sie in einen Ersatzzug nach Paris gesteckt, wo sie todmüde und schlecht gelaunt eingetroffen war. Dort hatte Yanick sie erwartet und nach Hause gefahren.

***

Ihr Blick glitt aus dem breiten Panoramafenster auf den Hafen von Cancale. Es hatte nicht viel gebraucht, um sie zu einem Abendessen zu überreden. Sie war hungrig und brauchte dringend ein Glas Wein. So waren sie in ihrem Stammrestaurant Les trois poissons gelandet. Draußen war es stürmisch. Der Herbst zeigte sich in diesem Jahr von seiner unfreundlichen Seite. Die Fischerboote schaukelten auf und ab und der Wind fegte über die Promenade.

„Weiß man schon etwas über den Toten?“

Julie nickte.

„Marcel Rouge. Ein Geschäftsmann aus Rennes. Er hatte wohl öfters geschäftlich in London zu tun und saß auch deshalb in dem Zug. Verheiratet, keine Kinder.“

Genüsslich schlürfte Yanick eine Auster, auf die er zuvor eine Mischung aus Essig und Schalotten geträufelt hatte.

„Und die Notbremsung? War das am Ende der Tote selbst?“

Julie zuckte mit den Schultern.

„Das wissen wir nicht. Auf der Notbremse waren keine Fingerabdrücke. Eine Tür war wohl beschädigt, aber es ist eher unwahrscheinlich, dass der Mörder zwanzig oder dreißig Kilometer bis zum Tunnelende geflohen ist. Aber jetzt kommt es: Im Zug saß ein vorbestrafter Mörder!“

Yanick ließ überrascht die Austernschale fallen und sah Julie gespannt an.

„Ein Engländer. Er hat vor sieben Jahren seine Frau im Streit erschlagen und ist momentan auf Bewährung. Seine Bewährungshelferin wusste nichts von seiner kleinen Reise. Er hätte also definitiv nicht in diesem Zug sitzen dürfen!“

„Das ist ja interessant. Kann man ihm eine Verbindung zum Opfer nachweisen?“

Kopfschütteln.

„Bisher noch nicht. Aber die Kollegen haben mir auch nicht alles erzählt.“

Luis kam und schenkte Wein nach. Der smarte Gastronom war ein guter Freund von Yanick und hatte im letzten Sommer ein Auge auf Julie geworfen. Doch Julie war noch nicht soweit gewesen und hatte ihm einen Korb gegeben. Anfangs hatte Luis sie deswegen geschnitten und war ihr aus dem Weg gegangen, aber inzwischen akzeptierte er sie wenigstens wieder in seinem Restaurant.

„Was wollt ihr als Hauptgang?“

Julie schob den Teller mit Fischsuppe, der noch halbvoll war, von sich und schüttelte den Kopf.

„Ich habe keinen Hunger.“

Die beiden Männer warfen sich einen Blick zu. Julie ahnte, was sie dachten. In den letzten Monaten hatte sie viel abgenommen. Ihr Gesicht wirkte viel zu schmal, die Jeans schlabberten ihr an den Hüften, und sie hatte das Gefühl, dass ihr selbst ihre Schuhe zu groß geworden waren. Aber sie konnte dennoch nichts daran ändern. Mit Frank schien all ihre Freude und Lebenslust verschwunden zu sein. Geblieben war eine gähnende Leere. Und die Angst.

„Soll ich dich jetzt nach Hause bringen?“

Julie schreckte hoch. Nach Hause? Sie versuchte zu lächeln und nickte.

Zugegeben – der Neue sah verdammt gut aus

„… Raubüberfall, mehrere Taschendiebstähle, ein Ehestreit, der ungut endete. Das war’s!“

Sous-commissaire Lisa Baélec ließ einen Stapel Aktenordner auf Julies Tisch gleiten und klopfte ihrer Kollegin aufmunternd auf die Schulter.

„Du hast nichts verpasst! Totales Nach-Sommerloch. Hat aber allen gut getan nach dem aufreibenden Fall vom Sommer. Erholt siehst du aber nicht aus, Julie. Hast du das Londoner Nachtleben so intensiv ausgekostet?“

Julie schenkte ihr ein müdes Lächeln.

„Nicht wirklich. Bekomm ich einen Espresso? Die Briten verstehen einfach nichts von der Kunst des Kaffeekochens. Im Gegensatz zu dir, meine Liebe!“

Lisa quittierte das Kompliment mit einem Augenzwinkern. Es war weit über die Grenzen des Kommissariats hinaus bekannt, dass sous-commissaire Baélec einen exzellenten Kaffee kochte.

„Ich nehme auch einen!“, vernahm Julie eine tiefe, rauchige Männerstimme. Sie blickte auf. In der Tür stand ein großgewachsener Mann. Entspannt lächelte er sie mit seinen blauen Augen an und musterte sie von oben bis unten. In seinen engen Bluejeans und dem grauen Shirt sah er verdammt gut aus. Fragend wandte sich Julie an Lisa.

„Ach, Samuel, jetzt kann ich dir endlich unsere Julie vorstellen.“ Lisa ließ das Kaffeesieb sinken und beeilte sich, Julie und den unbekannten Herren miteinander bekannt zu machen.

Souscommissaire Samuel Lemarc wurde aus der Provence zu uns versetzt und wird unser Team in Zukunft unterstützen.“

Lemarc schritt auf Julie zu und streckte ihr die Hand entgegen. Sein Händedruck war fest und kühl. Julie konnte ihren Blick nicht von seinen blitzenden blauen Augen abwenden.

„Niemand hat mich darüber informiert, dass wir Verstärkung aus dem Süden nötig haben. Passieren bei Ihnen im Midi nicht genug Verbrechen? Oder wurden Sie strafversetzt?“

Die Worte waren trotz ihrer Verwunderung selbstbewusst, beinahe etwas aggressiv herausgekommen. Ihr Gegenüber schien das aber nicht zu stören. Laut lachte er auf, während er immer noch Julies Hand fest umschlossen hielt.

„Im Gegenteil, Madame le commissaire. Im Vergleich zu Marseille scheint mir dieses Fleckchen Erde hier das wahre Paradies zu sein. Der Grund für meine Versetzung ist ganz banal. Mein Vater ist Bretone, lebt in St. Malo und ist seit einiger Zeit ein Pflegefall. Ich bin hier, um mich um ihn zu kümmern.“

Lisa hatte sich in der Zwischenzeit wieder ans Kaffeekochen gemacht und balancierte nun drei Espressotassen auf einem Tablett an Julies Schreibtisch.

Julie rang nach Worten. Da war sie nur wenige Tage weg, und schon setzte man ihr einen neuen Mitarbeiter vor die Nase? Sie wusste zwar, wie der französische Verwaltungsapparat arbeitete, aber so etwas hatte sie nicht erwartet. Zugegeben – der Neue sah verdammt gut aus, aber ihr Team funktionierte hervorragend so, wie es war. Einer mehr würde nur stören. Würde das Gleichgewicht ins Wanken bringen. So etwas konnte sie nicht gebrauchen.

„Wie wäre es, wenn wir heute Abend meinen Einstand feiern?“, schlug der Neue vor und riss sie aus ihren Gedanken. Lisa nickte eifrig.

„Wir könnten ins Trois Poissons gehen. Unser Stammlokal. Dort gibt es die beste Fischsuppe weit und breit.“

Doch Julie schüttelte widerwillig den Kopf. Ihr war nicht nach Feiern. Sie war müde und vor allem überrumpelt. Was sie nun brauchte, war etwas Ruhe, um ihren Kopf frei zu bekommen. Außerdem traute sie dem großgewachsenen Provenzalen nicht und nahm sich vor, an diesem Abend einige Recherchen über ihn anzustellen. So einfach wurde niemand versetzt. Vielleicht hatte er ja doch etwas ausgefressen.

„Geht nur. Ich habe hier einiges nachzuarbeiten.“

Sie ließ sich hinter ihrem Schreibtisch nieder und gab vor, konzentriert in einer Akte zu lesen. Lemarc betrachtete sie noch einen Moment, dann verließ er schulterzuckend den Raum.

Macht dir die Nähe von gutaussehenden Männern Angst?

„Warum wurde ich nicht gefragt?“

Julies Augen blitzten wütend, als sie Yanick und Lisa gegenübersaß.

„Es ging alles so schnell. Plötzlich war er da. Aber er ist okay. Samuel ist wirklich ein netter Kerl!“

Yanick zuckte mit den Schultern. Er konnte Julies Wut nicht nachvollziehen.

„Oder“, schob er vorsichtig hinterher, „hast du Angst, er könnte dir deinen Posten abspenstig machen? Macht dir die Nähe von gutaussehenden Männern Angst?“

Julie schnappte nach Luft.

„Ich sitze fest im Sattel, mein lieber Yanick. Keiner läuft mir den Rang ab. Ich habe einfach keine Lust, dass dieser Schönling bei uns mitmischt. Wir sind doch immer super zu dritt klargekommen.“

Lisa strich ihr beruhigend über den Arm.

„Wir können es nicht ändern. Gib ihm eine Chance.“

Julie wollte soeben reagieren, als ihr Telefon klingelte.

Genervt hob sie ab und lauschte einer Männerstimme am anderen Enden der Leitung. Schnell schnappte sie sich einen Notizblock und schrieb etwas auf.

„Natürlich monsieur le directeur! Ich werde mich sofort darum kümmern und mich im Laufe der Woche bei Ihnen melden. Pas de problèmes!“

„Arbeit“, rief sie, warf den Bleistift auf die Schreibtischplatte und zog ihre Jacke über.

„Das war der leitende Ermittler im Eurostar-Mordfall. Da das Opfer aus St. Malo kam, bittet er uns um Mithilfe. Wir sollen das Umfeld des Toten untersuchen. Ich fahre gleich zu seiner Familie. Lisa, kümmerst du dich um alle verwertbaren Informationen, die das Internet ausspuckt? Yanick, du begleitest mich. Heute Abend um sieben treffen wir uns zu einer Besprechung. Au revoir, Lisa!“

Was half schon ein schlechtes Gewissen?

Louise-Anne Bonnard klappte ihren Laptop zu und strich sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht. Draußen wehte ein eisiger Wind und fegte das Herbstlaub durch die Straßen von Rennes, aber in ihr war alles warm und sonnig. Noch vor wenigen Monaten hatte sie hier niemanden gekannt, war einsam und unglücklich gewesen. Ihr Lehrstuhl in Paris hatte sie kurzerhand für ihre Promotion an die Partneruni nach Rennes versetzt, in die Hauptstadt der Bretagne. Im Vergleich zu Paris ein Kaff – ihr persönlicher Albtraum. Aber der hatte sich innerhalb kürzester Zeit als ihre große Chance herausgestellt.