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SANNI ARAN

DER BRETONISCHE TEUFEL

Buch

Im idyllischen Küstenort Cancale wird eine ermordete Frau aufgefunden.
Commissaire Julie Roche und ihr Team machen sich auf die Suche nach dem Mörder und stoßen dabei auf eine ominöse Privatschule im bretonischen Hinterland. Welche Geheimnisse verbergen sich hinter den hohen Steinmauern der elitären Lehranstalt? Und was hat ihr charmanter Direktor zu verbergen? Die Ermittler finden eine Spur, die sie weit in die Vergangenheit zurückführt. Dabei müssen sie erkennen: Der Mörder ist bereits auf der Jagd nach weiteren Opfern. Werden sie ihn aufhalten können?

 

Autor

Die Autorin, die sich hinter dem Pseudonym Sanni Aran verbirgt, ist Reisejournalistin und hat unter ihrem bürgerlichen Namen bereits zahlreiche Bücher verfasst. Mit commissaire Julie Roche schickt sie eine außergewöhnliche Frau in der Bretagne auf Ermittlungstour.

Sanni Aran

Der bretonische Teufel

Commissaire Julie Roches erster Fall

Ein Bretagne-Krimi

ambiente-krimis

 

 

„So lang es auch nur zwei Menschen auf der Erde gibt,
wird es Eifersucht geben.“

 

Bretonisches Sprichwort

 

Personen und Handlungen in diesem Krimi sind frei erfunden und orientieren sich nicht an lebenden oder toten Vorbildern und Geschehnissen. Etwaige Ähnlichkeiten sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.

Prolog

Samstagnacht, siebter Juni

Die Nacht hatte sich über das kleine Örtchen Cancale gesenkt. Ein runder blassgelber Mond warf schmale Straßen aus Licht auf die Hafenmauer und die Fischerboote, die sanft im Wind schaukelten. Die Cafés und Restaurants hatten bereits geschlossen. Es war zu spät für Nachtschwärmer, aber noch zu früh für die Fischer, die gegen fünf Uhr mit dem ersten Tageslicht aufs Meer hinaus fuhren. Alles wirkte so friedlich und ruhig wie in einem Traum.

Plötzlich durchschnitt ein Schrei die Stille. Laut tönte er die lange Hauptstraße entlang. Der Wind trug ihn fort, an den Fassaden der Wohnhäuser entlang und schließlich auf das Meer hinaus. Kurz darauf quietschten Autoreifen, eine Tür wurde aufgerissen, dann klatschte etwas auf den Asphalt. Schleifgeräusche, das erneute Klappen von Autotüren und der Anlasser eines Motors. Der Wagen entfernte sich.

Stille.

Der alte Mann führte seine Flasche mit billigem Calvados zum Mund und nahm einen tiefen Schluck. Wie gerne würde er jetzt auch in einem warmen Auto sitzen. Der Wind war heute Nacht besonders kalt. Er zog sich den löchrigen Mantel fester um die schmächtigen Schultern. Dann kramte er eine Blechdose hervor, in der er am Abend Kippen von der Straße gesammelt hatte. Die Leute rauchten ihre Zigaretten nie ganz zu Ende. Sein Glück. Zufrieden zündete er sich einen Stummel an und sog den Rauch tief ein.

Morgen musste er sich unbedingt um eine warme Unterkunft bemühen. Dieser bretonische Sommer war nass und windig. Lange würde er auf der Straße nicht durchhalten. Oder sollte er sich per Autostopp doch auf den Weg in den Süden machen?

Er gähnte und legte sich auf die Bank. Wenigstens hatte er hier ein Bett mit Meerblick. Der alte Mann lächelte, als er die Augen schloss.

Den Schrei und das Auto hatte er längst vergessen.

1

Sonntag, achter Juni

Julie Roche rieb sich den Schlaf aus den Augen. Etwas hatte sie geweckt. Bestimmt wieder der verfluchte Hahn von Hector. Irgendwann, da war sie sicher, würde sie ihm im Dunklen auflauern, ihn fangen, ins Auto packen und an einen fernen Ort bringen, so weit weg, dass er sie nie wieder aus den Federn kreischen konnte. Julie schmunzelte. Welche Strafe stand wohl auf die Entführung eines arroganten, nordfranzösischen Hahnes? Yanick, ihr Kollege und bester Freund, hatte ihr den schnellsten Weg empfohlen, den unliebsamen Wecker aus dem Weg zu räumen. Hals umdrehen! Aber das wäre Julie dann doch zu weit gegangen.

Sie setzte sich in ihrem Bett auf und beobachtete, wie Sonnenstrahlen durch die Ritze zwischen den geschlossenen Vorhängen ins Innere ihrer Behausung drangen. Die Vögel zwitscherten und der Wind schien an diesem Morgen ausnahmsweise eine Pause einzulegen.

Die letzten Wochen waren ungewöhnlich kalt für den Monat Juni gewesen, selbst hier im Norden. Julie hatte mit dem Gedanken gespielt, eine Versetzung in den warmen Süden zu beantragen. Vielleicht an die Côte d’Azur? Was hielt sie denn noch hier? Das Wetter sicherlich nicht.

Sie schnappte sich einen Haargummi und band sich ihre schwarzen Locken zusammen. Dann trat sie vor die Tür und setzte sich auf die Stufen ihres Wohnwagens.

Vor ihr lag eine große grüne Wiese, auf der dutzende Hühner pickend umherliefen. Am Ende der Grasfläche standen Stallungen, in denen sich Schweine und Rinder befanden. Hector und seine Frau Gwenaëlle betrieben diesen Biobauernhof, auf dem im Sommer auch Feriengäste unterkamen.

Julie seufzte. Wie lange wohnte sie nun schon hier? Im Kopf überschlug sie die Tage, Wochen und Monate. Es war fast ein halbes Jahr her, dass sie Frank, ihren Ehemann, mit einer hübschen, blonden Studentin im Bett erwischt hatte. Anstatt ihn rauszuschmeißen, hatte sie ihre Sachen gepackt, und war kurzerhand in das alte Wohnmobil gezogen, das seit Jahren auf dem Grundstück ihrer besten Freundin vor sich hingammelte. Ein erbärmliches Dasein, dachte sie, als sie die rostige Eisenleiter, die auf das Dach des Campers führte, betrachtete. Wie lange wollte sie so noch weitermachen?

„Na, ausgeschlafen?“ Gwenaëlle kam mit zwei bauchigen Tassen in den Händen um den Wohnwagen herum gelaufen. Sie war eine hübsche Frau mit kurzen blonden Haaren und einem festen Körperbau. Eigentlich hatte sie wie Julie französisches Recht in Rennes studiert, hatte sich dann aber auf einer Landwirtschaftsmesse, wo sie an einem Stand jobbte, Hals über Kopf in Hector, einen Landwirt aus Cancale verliebt. Schnell war Schluss mit Gesetzen und Paragraphen gewesen, und sie hatte sich entschlossen, statt einer Robe eine Hausfrauenschürze überzuziehen. Mit fester Hand führte sie nun Haushalt, Hof und ihre drei Männer, denn sie und Hector hatten mit Valentin und Florian zwei wilde Kinder in die Welt gesetzt, die viel Arbeit, aber noch mehr Freude machten. Gwenaëlle schien zufrieden mit ihrem Leben zu sein – im Gegensatz zu Julie, die ihre Freundin insgeheim beneidete.

„Hat Frank sich in letzter Zeit gemeldet?“

Julie schüttelte den Kopf, und wie immer, wenn sie an ihren untreuen Mann dachte, zog sich alles in ihr zusammen. Wie hatte nur alles so aus dem Ruder laufen können? Dabei waren sie glücklich gewesen, zumindest soweit das ihr Leben zuließ. Er, der meistens auf einer Vortragsreise oder an der Universität beschäftigt war, und sie, die zu jeder Tages- und Nachtzeit Kriminelle durch Nordfrankreich jagte. Kein Wunder, dass ihre Beziehung den Bach hinunter gegangen war. Irgendwo zwischen Literaturseminaren und Gefängniszellen hatten sie sich verloren.

Julie spürte Gwenaëlles Arm, der sich um sie legte.

„Das wird schon wieder. Vielleicht sieht er seinen Fehler ein und verlässt das junge Flittchen. Würdest du ihn denn zurücknehmen?“, versuchte ihre Freundin sie zu trösten. Gerade als Julie antworten wollte, klingelte ihr Handy. Sie sprang so hastig auf, dass etwas Kaffee aus der Tasse schwappte und sich über ihre nackten Beine ergoss. „Aua!“, schrie sie und rieb sich die gerötete Haut. Der Tag fing schrecklich an.

***

„Weibliche Leiche, zwischen vierzig und fünfzig. Erwürgt. Der Tatort ist bereits abgeriegelt und Jean auf dem Weg dorthin.“ Sous-commissaire Yanick Le Guel drückte aufs Gas, und der blaue Renault raste über die Landstraße.

„Würde mich nicht wundern, wenn du bald deinen Lappen los bist!“, meinte Julie, woraufhin Yanick das Blaulicht aus dem Handschuhfach kramte und auf das Autodach setzte.

„Zufrieden?“

Julie zuckte mit den Schultern. Yanick war seit zehn Jahren ihr Partner im Dienst und genauso lange ihr bester Freund. Auch wenn sie öfters unterschiedlicher Meinung waren, zum Beispiel wenn es um Geschwindigkeitsbegrenzungen ging, fanden sie immer wieder zueinander. Er war auch der Einzige im Präsidium, der wusste, dass sie seit einem halben Jahr in einem Wohnwagen hauste. Und er hatte dichtgehalten. Julie wollte nicht, dass die vorwiegend männlichen Kollegen davon erfuhren. Es war für sie schwierig genug, sich in ihrer Position tagtäglich zu behaupten. Die Rolle der betrogenen Ehefrau wollte sie nicht auch noch aufgedrückt bekommen.

Sie fuhren am Meer entlang, bis Yanick den Blinker setzte und den Wagen in eine kleine Parkbucht lenkte. Vor ihnen erstreckten sich Austernfarmen. Ein Stück weiter draußen erkannte Julie Gestalten, die geschäftig herumliefen. Mehrere Polizisten standen auf einem schmalen gepflasterten Weg, der Straße und Meer trennte. Julie winkte ihnen zu.

„Hey Leute, auch schon so früh auf den Beinen?“

Einer, dessen fülliger Körper nur mühsam von der Uniform zusammengehalten wurde, nickte seufzend.

„Julie, die Zeiten, wo wir Taschendiebe gejagt haben, sind vorbei. Das hier“, er machte eine ausladende Handbewegung, „spielt in einer anderen Liga.“

Julie nickte und musterte ihr Gegenüber. Der dickliche Polizist stand kurz vor der Pensionierung, und Julie erinnerte sich, dass er bereits mit ihrem Vater zusammen gearbeitet hatte. Wie war nochmal sein Name?

„Ach Baptiste, immer nur Taschendiebe wären doch auf die Dauer langweilig. Freu dich doch über etwas Action auf deine alten Tage!“ Yanick schlug ihm fest auf die Schulter und grinste. Baptiste Lemot. Nun fiel ihr der ganze Name wieder ein. Hatte er nicht sogar in der Abteilung ihres Vaters gearbeitet? War er in jener Nacht vielleicht auch angerückt, nachdem die Schüsse gefallen waren?

Schnell schüttelte sie die düsteren Gedanken ab. Sie durfte nicht daran denken, sonst würde sie sich nicht auf ihre Arbeit konzentrieren können. Ihr Vater war tot. Mehr gab es nicht zu sagen. Sie musste sich damit abfinden, sonst würde ihr ohnehin chaotisches Leben komplett aus den Fugen geraten.

„Wie kommen wir da raus?“, fragte sie einen jungen brigadier, der durch sein Funkgerät die Ankunft der beiden Kommissare gemeldet hatte.

„Ich kann Sie mit dem Traktor hinausfahren. Er gehört einem Austernfarmer, aber er hat ihn uns netterweise zur Verfügung gestellt. Darf ich bitten?“ Galant half er Julie auf den Zweisitzer und Yanick quetschte sich hinter sie. Ruckelnd zockelten sie über den schlammigen Boden – weit hinaus in den von der Ebbe freigelegten Austernpark.

„Ein Farmer, der bereits sehr früh zu seiner Austernzucht gefahren ist, hat die Leiche entdeckt. Sie war unter Schlamm versteckt, und er ist über ihren Fuß gestolpert. Der Arme steht total unter Schock und muss ärztlich betreut werden.“

Julie hatte nur jedes zweite Wort des brigadier verstanden, weil der Motor des Traktors so laut röhrte.

Endlich erreichten sie ihr Ziel, ein von einem rotweißen Absperrband gesichertes quadratische Areal.

Erleichtert sprang Julie vom Traktor und dankte dem Fahrer. Ihr war schlecht vom Rütteln und Schaukeln auf dem Gefährt, und für einen kurzen Moment verspürte sie den Drang sich zu übergeben. Anscheinend sah man ihr das auch an, denn Yanick fragte grinsend:

„Du wirst doch jetzt nicht auf unsere Leiche kotzen, oder?“

„Trottel!“ Julie stieß ihn zur Seite und marschierte über den Schlamm zu Dr. Jean Moulin, der auf dem Boden vor der Toten kniete und sie gerade in Augenschein nahm.

„Na, schon irgendwas entdeckt?“

Julie ging neben dem Arzt in die Hocke und betrachtete die Leiche. Moulin hatte sie notdürftig von Schlamm befreit, um die erste Leichenschau durchzuführen.

„Mitte Vierzig. Eindeutig erwürgt. Sehen Sie die Male am Hals?“

Julie beugte sich über die tote Frau und sah Striemen und Würgemale, die den ganzen Hals bedeckten.

„Der hat aber extra fest zugedrückt“, kommentierte sie die Verletzungen, und Dr. Moulin nickte.

„Das wäre auch sanfter gegangen“, antwortete er, hielt dann einen Moment inne, bevor er hinzufügte: „Sofern man sanft morden kann.“

„Sonst noch was?“, überging Julie Moulins Einwand und stand wieder auf. Ein kleiner Krebs krabbelte gerade über ihren rechten Schuh, verharrte kurz auf dessen Spitze und schien ebenfalls von seiner erhöhten Position aus die Leiche zu betrachten. Dann krabbelte er weiter und verschwand in einem Schlammloch.

„Ich brauche die Gute in meinen heiligen vier gekachelten Wänden, dann kann ich mehr dazu sagen. Treffen wir uns um“, er blickte auf seine Uhr, „naja, sagen wir um sechzehn Uhr bei mir. Da haben wir es schön gemütlich und können in Ruhe quatschen. Einverstanden?“

Julie verzog das Gesicht. Sie hasste die Gerichtsmedizin. Die kahlen Räume mit den Obduktionsbahren aus Edelstahl, und die beschrifteten Schubladen in den Wänden, in denen die Leichen darauf warteten, aufgeschnitten zu werden. Für einen Augenblick schüttelte es sie, dann riss sie sich wieder zusammen und drehte sich zu Yanick um, der belustigt ihre Konversation mit dem Gerichtsmediziner belauscht hatte.

„Immer wieder nett mit dem guten alten Jean zu plaudern, nicht wahr?“, meinte er grinsend.

Julie grunzte abfällig. Männergerede. Sie rempelte Yanick auf die Seite und machte sich daran, den Tatort zu begutachten. Sie befanden sich weit draußen am äußersten Rand der Austernfarm. Auf verrosteten Eisengestellen lagen unzählige Säcke voller Austern.

„Wer ist der Besitzer dieser Farm“, fragte sie in die Luft und bekam Antwort von sous-commissaire Lisa Baélec, einer jungen Polizistin, die in ihrem Präsidium arbeitete. Gemeinsam bildeten sie die Frauenquote.

„Ein gewisser Laurent Toit. Ziemlich alt, hat einen guten Ruf in der Austernszene. Er beliefert viele Restaurants in der Gegend. Er wird gerade befragt. Wenn du mehr wissen willst, musst du ihn selber aufsuchen!“

Lisa war eine etwas forsche Deutsch-Französin, die wegen ihres burschikosen Aussehens und dem blonden Bürstenhaarschnitt viel Spott von den männlichen Kollegen ertragen musste. Obwohl sie mit ihrer schnippischen Art ihre Mitmenschen oftmals vor den Kopf stieß, mochte Julie sie. Nach anfänglichen Schwierigkeiten hatten die beiden Frauen einen Weg gefunden, miteinander auszukommen.

„Ich habe genug gesehen und geh jetzt erst einmal frühstücken? Hat noch jemand Hunger?“, fragte sie in die Runde.

Yanick hakte sich gut gelaunt bei ihr unter und nickte Lisa zu.

„Und, was ist mit dir? Begleitest du uns?“

Zu Julies Erstaunen schloss sich Lisa ihnen an. Der junge Brigadier musste zweimal fahren, um die drei Kommissare an Land zu ihren Autos zu bringen.

***

Yanick warf spontan Julies Frühstückspläne über den Haufen und verkündete mit einem Blick auf die Uhr, dass er frische Meeresfrüchte einem Croissant vorziehen würde. Zufällig kenne er auch noch den Besitzer eines Lokals, der ihnen sicher schon vor der normalen Mittagessenszeit etwas Gutes servieren würde. So waren sie im Trois Poissons gelandet.

„Ich nehme ein plateau de fruits de mer und dazu eine halbe Flasche Sauvignon Blanc“, verkündete er und lehnte sich zufrieden zurück. Julie sah ihn strafend an.

„Schon mal etwas von ladies first gehört, du Rüpel?“

„Ne, aber first come, first served ist mir ein Begriff. Musst halt beim nächsten Mal schneller sein, Prinzessin.“

Lisa hatte das kurze Wortduell zwischen ihren Kollegen mit zusammengezogenen Augenbrauen beobachtet.

„Wie kannst du eigentlich mit diesem Idioten Tag für Tag zusammenarbeiten?“, fragte sie nun Julie, die nur mit einer gespielt verzweifelten Miene die Schultern hob.

„Mit der Zeit gewöhnt man sich an alles. Und ich nehme bitte den Hummer. Yanick zahlt ja.“ Sie lächelte ihren Kollegen an, der das Gesicht verzog, dann aber resigniert die Arme hob.

„Na gut, dann werde ich das schwache Geschlecht heute eben zum Essen einladen. Komm schon, Lisa. Hau rein. Das Vergnügen, von einem Mann zum Essen ausgeführt zu werden, hast du sicherlich nicht oft.“

Mit einem spöttischen Lächeln im Gesicht orderte Lisa die teuerste Vorspeise von der Speisekarte, dann einen Hummer als Hauptgang und dazu ein Glas Champagner. Dann wandte sie sich an Yanick und konterte:

„Du hast Recht, Yanick. Ich werde selten eingeladen, weil sich kaum einer meinen guten Geschmack leisten kann.“

Erschrocken überschlug der im Kopf die Rechnung. Diesmal würde ihm seine überhebliche Art teuer zu stehen kommen.

„Was denkt Ihr über den Fall?“, fragte Julie, um die Anspannung am Tisch zu lösen.

„Für mich sieht das irgendwie nach Eifersucht aus. Auch die heftige Art, wie der Täter sie gewürgt hat. Das ist persönlich“, meinte Lisa. Julie nickte. So etwas Ähnliches hatte sie sich auch schon überlegt. Aber warum hatte der Mörder die Frau dann aufs Meer hinaus gefahren? Genauso hätte er sie ins Hafenwasser werfen können. Vermutlich hatte er befürchtet, jemand könne ihn dort eher beobachten.

„Wir brauchen Zeugen. Sobald wir die Ergebnisse aus der Gerichtsmedizin haben, fangen wir mit den Befragungen an. Vielleicht hat ja irgendwer etwas gehört oder gesehen.“

Yanick schüttelte den Kopf.

„Glaub ich nicht. Schließlich ist noch Vorsaison. Da werden in Cancale die Gehsteige noch weit vor Mitternacht hochgeklappt. Wäre der Mord im August geschehen, hätten wir bessere Chancen.“

„Ist er aber nicht“, entgegnete Julie und lächelte den Kellner an, der soeben ein Glas Wein vor ihr abstellte.

„Nach dem Essen fährst du zurück an den Tatort, Yanick. Lisa, du gehst ins Büro und überwachst das Telefon. Und ich werde mit den Jungs von der Spurensicherung reden und danach zu Moulin fahren. Irgendetwas Neues werden wir heute schon noch erfahren.“

***

„Der Fundort ist definitiv auch der Tatort.“

Dr. Moulin ging um die Liege, auf der die Leiche lag und ließ seinen rechten Zeigefinger über das Laken gleiten.

„Todeszeitpunkt?“ Julie gähnte. Der gute Doktor ließ sich heute aber auch jedes Detail aus der Nase ziehen.

„Ich würde sagen ein Uhr nachts, plus minus eine Stunde. Lust auf ein plateau de fruits de mer?“ Er griff sich eine metallisch glänzende Schale, die auf einem Rollwagen stand, und hielt sie Julie unter die Nase. Mehrere kleine Krabben lagen darin.

„Nein danke, sehen nicht mehr ganz frisch aus“, antwortete sie und sah den Arzt fragend an.

Der grinste. „Habe ich aus ihrem Hals gezogen. Diese flinken Kerlchen sind da einfach hineingekrabbelt. Wie dem auch sei, unter ihren Fingernägeln habe ich deutlich Abwehrspuren entdeckt. Hautschuppen. Mehrere Nägel sind abgebrochen. Sie hat sich also gewehrt. Ihre linke Seite ist von einer Schleifspur bedeckt, die auf jeden Fall vor dem Tod entstanden ist. Solche Verletzungen kenne ich von Motorradfahrern, die von Lastwagen mitgeschleift werden. Unschöne Sache, kann ich Ihnen sagen. Da löst sich die Ledermontur in Sekundenschnelle auf, und die Haut bremst.“

Julie würgte. Warum fanden Gerichtsmediziner solch eine Freude daran, ihre grausamen Anekdoten an Normalsterbliche weiterzugeben?

„Ich sehe schon, das scheint Sie nicht zu interessieren. Zurück zum Fall! Mein Vorschlag: Fluchtversuch. Vielleicht wollte sie aus einem fahrenden Auto springen und wurde davon mitgeschleift.“

Julie notierte sich alles.

„Wie war sie ansonsten drauf? Alles gesund?“

Dr. Moulin nickte.

„Der hat nichts gefehlt. Die Lunge war leicht geschwärzt – Raucherin. Ansonsten war sie völlig gesund. Vermutlich hätte sie noch einige Jahrzehnte vor sich gehabt.“

Julie wandte sich zum Gehen. Sie hatte alles erfahren, was sie wissen wollte. Ihre Tote hatte um ihr Leben gekämpft. Eventuell war sie in einem Auto entführt worden. Nun musste sie nur noch herausfinden, wer sie war.

„Gibt es irgendwelche Treffer? DNA? Fingerabdrücke?“

Moulin kratzte sich an der Nase, wodurch seine runde Brille gefährlich zu wackeln begann.

„Das müssen Sie Ihren unsympathischen Kollegen fragen. Dem habe ich nämlich bereits alle Daten zugeschickt. Für den Abgleich mit internationalen Datenbanken ist schließlich Ihr Kommissariat zuständig. Einen schönen Tag noch!“

***

„Irene Bachmann. Deutsche, kommt aus Berlin. Ledig, keine Kinder. Hat bis vor kurzen als Dolmetscherin für Englisch und Französisch in einem großen Übersetzungsbüro gearbeitet. Dann Kündigung und Arbeitsplatzwechsel.“

Yanick hielt inne und griff nach seiner Kaffeetasse. Auch wenn er Lisa nicht viel abgewinnen konnte, ihr Espresso war unschlagbar.

„Und wohin hat sie gewechselt?“, bohrte Julie nach.

„Das geht aus ihrem Lebenslauf nicht hervor. Es steht nur ‚Selbstständig‘ da. Das kann vieles heißen.“

Genüsslich kratzte Yanick den am Boden der Tasse haftenden Zucker zusammen und schleckte dann zufrieden den Kaffeelöffel ab.

„Wir müssen unbedingt mehr über sie erfahren. Lisa, bitte ruf ihren ehemaligen Arbeitgeber an. Finde heraus, wer ihre Freunde waren, und aus welchem Grund sie nach Frankreich gekommen ist.“

Gerade als Lisa nach dem Telefon griff, klopfte es an der Tür. Charlène, die Abteilungssekretärin, steckte ihren Kopf herein.

„Da ist jemand, der euch unbedingt sprechen will. Er sagt, er wüsste etwas über die tote Frau aus der Zeitung!“

Alle drei hoben überrascht den Kopf.

„Nicht so zögerlich, liebe Charlène. Schicke ihn herein!“, forderte Yanick sie mit einer einladenden Handbewegung auf, doch die Sekretärin rümpfte nur die Nase.

„Wenn ihr unbedingt wollt. Aber ich muss euch warnen: Er riecht etwas streng!“ Mit diesen Worten stieß sie die Tür auf und rief hinter sich in den Gang:

„Kommen Sie bitte. Die Kommissare sind nun für Sie zu sprechen.“ Ein Knarzen folgte, dann ein kurzes Stöhnen und schlurfende Schritte.

„Na, da bin ich ja gespannt“, sagte Julie mit einem Grinsen und starrte auf die Tür.

Herein kam ein gebückter, alter Mann. Von seinem Kopf standen wirr graue strähnige Haare ab. Sein von der Sonne verbranntes Gesicht war von unzähligen Falten durchfurcht. Er trug einen langen, braunen Mantel und Trekkingschuhe, die aussahen, als würden sie sogleich von seinen Füßen abfallen. So verwunderlich sein Anblick war, so abstoßend war der Geruch. Julie tippte darauf, dass der Gute schon seit Wochen, wenn nicht gar Monaten, nicht mehr mit Wasser in Berührung gekommen war. Während sie noch überlegte, ob es unhöflich wäre, ein Fenster zu öffnen, war Yanick bereits aufgesprungen. Energisch riss er das Fenster auf und fächelte sich Luft zu.

„Puh, mein Guter. Ihnen würde ein Schaumbad sicherlich nicht schaden!“, begrüßte er den Alten, der die Kritik lächelnd wegsteckte und konterte:

„Wenn ich in Ihre Wanne darf, dann gerne.“

Yanick winkte ab und verzog sich feige in die hinterste Zimmerecke. Lisa, die nicht so empfindlich zu sein schien, bot dem Besucher einen Stuhl und Kaffee an, was der Alte dankbar annahm.

„Monsieur…“ Julie fuchtelte hilflos mit den Händen in der Luft herum. Hatte Charlène den Namen des Mannes erwähnt? Der half ihr aber sofort aus.

„Ich bin Alphonse. Nennen Sie mich Alfi.“

„Alfi?“ Irritiert nickte Julie.

„Nun gut, Alfi, mein Name ist commissaire Roche. Sie haben meiner Sekretärin gesagt, Sie wüssten etwas über den Mord an der Frau?“ Alfi nickte.

„Zuerst konnte ich mich gar nicht mehr erinnern. Wissen Sie, wenn man jede Nacht draußen schläft, da hört und sieht man allerlei. Außerdem hatte ich…“ Er senkte für einen Moment den Kopf, so als ob er sich schämte. Julie verdrehte die Augen.

„Alfi, es ist mir egal, ob Sie betrunken waren. Auch Betrunkene haben Ohren und Augen. Also: Erzählen Sie mir, was Sie beobachtet haben!“

Der Alte nippte an seinem Kaffee, stellte dann in aller Ruhe die Tasse wieder ab und griff nach einem Keks. Erst als er diesen bis auf den letzten Krümel verputzt hatte, begann er zu sprechen.

„Ich habe auf meiner Bank gelegen. Am Hafen. Es war saukalt und ich habe gefroren. Der Sommer ist auch nicht mehr, was er mal war. Na, jedenfalls habe ich eine geraucht, und plötzlich war da ein Lärm. Der Motor von einem Auto.“

Er hielt inne und griff nach einem weiteren Keks.

„Und dann?“, bohrte Julie nach.