Prolog

Herbst 1989

Ein ganzes Volk macht sich auf und feiert in bester Festtagslaune den 40. Geburtstag der DDR. Freudestrahlende Gesichter, Händeschütteln mit den beliebten politischen Repräsentanten des Volkes, überall Blumen, fahnenschwenkende Bürger, Arbeiter und Bauern. Zumindest scheint es so, will man den öffentlichen Reden, den staatlich gelenkten Medien, dem Fernsehen und Rundfunk der DDR oder den Zeitungen Glauben schenken.

Während sich die alten Männer von vorgestern zuprosten, sich mit viel Lob hochleben lassen, ist die Stimmung bei den Menschen draußen im Lande völlig anders. Die Luft ist spannungsgeladen. und schon ein kleiner Funke könnte die sogenannte heile DDR-Welt aus den Angeln heben. Haben die Regierenden denn nicht zugehört, als der hohe Gast aus Moskau, Michael Gorbatschow, darauf hingewiesen hat, daß die Zeit reif ist? Reif für eine Wende und Veränderungen, wie man das zu dieser Zeit auch immer verstehen mochte.

Das Land verfällt immer mehr. Die Umwelt ist in einem katastrophalen Zustand. Wirtschaftlicher Rückschritt, bankrotte Staatskassen und keine Aussicht auf Besserung. Aber Reformen, nein.

‘Frische Luft’ wird gebraucht, doch die Greise an der Regierung weichen von ihrem Weg nicht ab. Sie lehnen alles Neue von vornherein ab. Schon seit vielen Jahren halten sie die Menschen mit ihren Sprüchen hin, die nichts aussagen und die wahre Situation im Lande überdecken, beschönigen und verschleiern.

Die Zeit ist hier in diesem Teil Deutschlands, dem Land der Dichter und Denker, mit seinen deutschen Bürgern stehengeblieben. Dabei wären wirkliche Reformen so bitter nötig wie die Südfrüchte in den Regalen der Geschäfte und die bessere Lebensqualität eines ganzen Volkes. Wo ist der Stolz der Menschen auf ihr kleines Vaterland geblichen? Er weicht dem Zorn einer ganzen Nation, in der es vor allem die Jungen sind, die mehr vom Leben haben wollen. Sie denken auch an ihre Kinder, denen sie eine bessere Zukunftsperspektive geben wollen. Sie sind es, die nun endlich den Mut aufbringen, öffentlich das zu diskutieren, was sie in den vielen Jahren ihres Lebens bisher immer nur ganz vertraulich und nur andeutungsweise hinter vorgehaltenen Händen aussprechen konnten. Zu viele Spitzel sind unter ihnen in den eigenen Reihen, und so mancher wurde von seinem eigenen Nachbarn und Freund für eine unbedachte Meinungsäußerung in ein Gefängnis befördert. Diese sind voll mit politischen Gefangenen, doch das steht nicht in den Zeitungen, die die Bürger zu lesen bekommen. Ein ganzes Volk wird für dumm verkauft. Dabei hat die Welt da draußen so viel zu bieten, nicht nur die Freiheit zu reisen oder die eigene Meinung zu sagen.

Das begreifen inzwischen viele Menschen, auch der letzte kleine Bürger. Nur das Politbüro nicht. Alles können sie vorschreiben und kontrollieren, aber über eines haben sie keine Macht: die Menschen haben ihren eigenen Draht zur Welt nach draußen gefunden durch die grenzüberschreitende Technik des Fernsehens aus dem kapitalistischen Westen. Wenn dann abends um acht Uhr die Tagesschau beginnt, rennt eine ganze Nation seit Jahrzehnten zum Knopf des Fernsehers, um die Lautstärke runterzudrehen. Die Nachbarn sollen nicht hören, daß man verbotenes Westfernsehen schaut. Die wissen das aber nur zu gut, denn sie tun schließlich das gleiche.

Als dann die Intershops und Delikatläden zum Wohle des Staatshaushalts Einzug in dieses angeblich so fortschrittliche, aber leider so tristgraue Land halten, kommt ein neuer Duft rüber, Ein Duft von der großen weiten Welt, wo es all die Dinge gibt, denen man hier meist erfolglos hinterher rennt. Das schürte den Neid und die geheime Wut beim Arbeiter- und Bauernvolk noch mehr, denn warum gibt es all diese Dinge nicht in den eigenen Geschäften, wo doch alle Pläne meist zu hundertzehn Prozent erfüllt werden? Dinge, die das Leben so viel bunter, süßer und angenehmer machen würden, die aber in westdeutscher D-Mark bezahlt werden müssen, und die hatten viele Menschen nun mal leider nicht.

Als in Ungarn die Grenzen gelockert werden, fällt der erste Dominostein. Er fällt und stößt den nächsten um. Eine Welle des Aufbegehrens zieht durch das Land, und 130000 Menschen stellen mutig ihren Ausreiseantrag. Viele junge Menschen fahren nach Ungarn. Sie erhoffen sich eine winzige Chance, nach Österreich zu fliehen. Und tatsächlich: zum Volksfest in Sopran wird die Grenze für drei Stunden geöffnet. Viele wartende DDR-Flüchtlinge, die diese Gelegenheit nutzen, laufen mit ihren Kindern über die Felder nach Österreich. Sie lassen alles zurück für ihren Traum, im Westen in Freiheit leben zu dürfen.

In der Prager Botschaft der Bundesrepublik warten 4 000 von der DDR-Regierung als republikflüchtig gescholtene DDR-Bürger unter schlimmsten Bedingungen wochenlang auf ihre Ausreisegenehmigung und darunter sind auch viele Kinder und Jugendliche.

In Leipzig ruft Kurt Masur zur Besonnenheit und zum friedlichen Dialog auf. Brennende Kerzen leuchten in überfüllten Kirchen und eine ergreifende Stimmung ist in den Herzen eines ganzen Volkes, das genug von diesem Leben hat.

Auf den Montagsdemonstrationen treffen sie sich und es sind unglaublich viele Menschen. Keine Aufrührer und Randalierer, wie das DDR-Fernsehen behauptet, sondern friedlich und diszipliniert demonstrierende Bürger, die ihrem Land wieder eine Zukunft geben wollen.

„Wir sind das Volk“.

Aus Tausenden von Kehlen schallt es in die Ohren der alten Männer des Politbüros. Aber die halten sich ihre Ohren und wohl auch die Augen zu und tun so, als ginge sie dies alles nichts an. Viele Bürger der DDR sitzen mit klopfenden und bangen Herzen vor ihren Fernsehgeräten und schauen ungläubig zu, was sich da auf den Straßen und Plätzen ihrer Republik tut. Doch nur das westdeutsche Fernsehen überträgt die Ereignisse rund um diese Demonstrationen.


Der 10. September in Ungarn, der 30. September in Prag, der 9.

Oktober in Leipzig, das waren die Vorboten, die zu den Ereignissen am 9. November führen sollten.

Kapitel 1

Herbst 1989

In dieser Zeit, am 4. November 1989, beginne ich, Lisa Kleinschmidt aus einer Kleinstadt nahe der Stadt Brandenburg an der Havel, eine ärztlich verordnete Kur in der Kurklinik Meeresblick in Zingst auf der Halbinsel Darß.

Die Vorboten des nahenden Winters umgeben mich. Wo ist das Jahr geblieben? Nicht mehr lange, und es ist Weihnachten. Das Fest der Freude, das Fest der Familie.

Aber das hat für mich in diesem Augenblick des Alleinseins an Bedeutung verloren, so wie alles in meinem Leben. Behutsam öffne ich das Fenster meines kleinen Zimmers hier in der Kurklinik. Atme ganz tief die kühle, klare Meeresluft der Ostsee ein. Eine innere Ruhe und Entspannung macht sich leise in meinem Körper breit. Dieses Gefühl habe ich schon so lange nicht mehr gehabt. Sich auf sich selbst besinnen zu dürfen, einmal nicht nach den Regeln der anderen hin und her gestoßen zu werden, nicht benutzt oder gar ausgenutzt zu werden. Diese Ruhe tut mir gut. Sie streichelt mein trauriges, müdes Herz. Die kühle Nachtluft weht mir meine langen braunen Haare aus dem Gesicht, und ich schließe die Augen.

Lisa Kleinschmidt, was ist nur aus dir geworden? Wo ist deine Lebensfreude, deine Kraft, dein Witz, dein Lachen, deine Phantasie, deine unbeschwerte Begeisterung für Neues und Entdeckenswertes geblieben?

Ich brauche ein bißchen Kraft, das Fenster zu schließen. Es stöhnt von den vielen Jahre, die es hier nun schon in den Angeln hängt. Altes Fenster, altes Haus, alte Lisa. Ich bin siebenunddreißig Jahre alt, fühle mich aber um viele Jahre älter, müde und abgenutzt. Genau so wie diese klapprige, alte Kurklinik in der ich nun bin. Überall bröckelt der Putz ab. Zu viele haben darauf herumgetrampelt. Nichts wurde zum Erhalt getan.

Meine Tasse Tee steht noch auf dem Tisch. Jetzt ist er kalt. Ich war mit meinen Gedanken wieder einmal woanders, hatte sie vergessen. Ich vergesse im Moment so viele Dinge und stecke so richtig tief in einer Krise, und die sagt mir: »Macht doch alle, was ihr wollt«

Meine Lebensfreude ist dahin, und ich weiß nicht, wie mein Leben weitergehen soll. Wenn ich mich hier im Zimmer aufhängen würde, wäre alles vorbei und es wäre endlich Schluß. Eine innere Stimme sagt mir, mach es, und dann wieder, nein. Du hast zwei kleine Töchter, die dich brauchen. Aber brauchen sie mich wirklich? Ich habe nie genug Zeit für die beiden gehabt, bin immer nur im Dauerlauf von einem Termin zum anderen gehetzt. Sicherlich, ich habe mich um die beiden gekümmert, so gut es ging, und habe mein Bestes getan, aber meist immer nur unter Zeitdruck. Dafür ist Oma die Beste. Die hat immer genügend Zeit und erlaubt zudem auch alles. Sie macht sich nicht die Mühe, auch einmal nein zu sagen und Grenzen zu setzen. Den Kindern ist es egal, welche Regeln das Leben schreibt. Hauptsache, sie haben ihren Spaß. Also versuchen sie immer wieder aufs Neue, diese Regeln zu brechen, um zu sehen, wie die Mama darauf reagiert. So, wie halt alle Kinder dies tun. Die Mama ist von Beruf Erzieherin, Kindergärtnerin, und müßte es eigentlich besser wissen. Aber wenn Mama Forderungen stellt, die für das Wohl der Kinder und ihrer Entwicklung gut und wichtig sind, dann ist sie meist wieder die Böse. Dann gehen sie zur Oma und beschweren sich. Keine guten Voraussetzungen für einen harmonischen Feierabend im Kreise der Familie. Schön wäre es, wenn dann wenigstens der Vater der Kinder mit am gleichen Strang ziehen würde. Aber Bruno will seiner Mutter nicht in den Rücken fallen und seine Ruhe haben. Er steht zwischen den Fronten und hält sich raus. Die Diskussionen zwischen uns bringen nichts ein, und irgendwann gebe ich ratlos und enttäuscht auf.

Macht doch alle, was ihr wollt.

Ich zucke zusammen, denn nebenan knallt eine Tür. Der Knall hallt laut durch den langen Korridor des Kurhauses und pflanzt sich fort von einem Ende zum anderen. Hier soll ich mich nun erholen? Kraft tanken für die liebe Familie und für das sozialistische Vaterland? Vier lange Wochen Kur, weit weg von meinem Zuhause. Der Gedanke frustriert mich, und ich schaue nach meinem Strickzeug. Stricken soll doch angeblich so entspannend sein. Gedankenverloren gleitet meine Zunge über meine trockenen Lippen. Hoffentlich hole ich mir hier keinen Herpes. Ich hocke mich im Schneidersitz auf mein Bett und stricke an dem Pullover, den ich meiner ältesten Tochter Sabine mitbringen möchte. Meine Finger wollen nicht so richtig, und es fallen mir zwei Maschen runter.

Auch das noch. Vielleicht sollte ich mir nun doch endlich mal eine Brille zulegen. Mein Kopf läßt mir keine Ruhe. Meine Gedanken gehen zurück, zurück auf soviel gelebtes Leben. Fast siebzehn Jahre Ehe, Ehe im Sozialismus. Bruno, meine erste große Liebe, mein Held, mein Traummann. Braune Haare, braune Augen, groß, sportlich, fleißig. Ein Muskelpaket mit tellergroßen Händen, in denen bequem ein Ball verschwinden kann. Brigadier in der großen Schmiede und Torwart im örtlichen Fußballverein. Er steht im Tor, im Tor und ich dahinter. Dieses Lied durfte natürlich auf unserer Hochzeitsfeier nicht fehlen. Der Topf hatte seinen Deckel gefunden. Wenn die Welt unsichtbar wird und du dich nur noch nach dem anderen sehnst, dann muß das die wahre Liebe sein. Mit Sternen in den Augen, weichen Knien und Blitz und Donner im Bauch. Nur er und ich, ich und mein Bruno. Alles wollten wir besser machen als die anderen und auch besser als unsere Eltern. Wir hatten uns, unsere Arbeit und unsere unendlich große Liebe zueinander, die uns Flügel verlieh. Wer uns sah, wußte, die zwei passen zusammen, sind wie füreinander gebacken. Zwei, die sich gefunden hatten. Unser sozialistisches Vaterland gab uns Frischvermählten zum Start in die Ehe 7000,- Mark Kredit. Um eine Rückzahlung mußten wir uns nicht kümmern, denn die konnten wir mit Hilfe zweier Kinder, die wir dann auch prompt in diese unsere sozialistische Welt setzten, ableisten. Zwei Wunschkinder, die unsere Liebe bereichern sollten, und auf die wir uns beide wahnsinnig freuten. Eine glückliche Mutter und ein stolzer Vater. Das Leben war schön für uns. Einfach, aber schön. Man paßte sich dem sozialistischen Alltag an, denn man konnte ja doch nichts ändern. Verliebte, die sich mit Tempo und Freude ins Lehen stürzen, brauchen nur sich selbst. Bruno in seiner Schmiede, und ich in meinem kleinen Kindergarten. Die Arbeit mit den Kindern füllte mich aus, machte mich glücklich. Leben im Sozialismus bedeutete aber auch für uns, unter einem Dach zu leben mit den Schwiegereltern, die zum Glück ein kleines Häuschen hatten. Eine eigene Wohnung zu bekommen war schwer, fast hoffnungslos. Also hieß es anmelden, warten, hoffen, einschränken und wieder hoffen.

Alltag im Sozialismus. Vier Jahre wohnen in einem Zimmer.

Zwanzig Quadratmeter für zwei Personen, und dann mit Baby. Vier lange Jahre warten auf die erste eigene kleine Wohnung, eine Zweizimmerwohnung mit Bad und Küche im modernen Neubaublock. Heiß begehrt, schwer herbeigewünscht und so dringend gebraucht. Sozialistischer Alltag. Einheitskuchen für alle und immer Arbeit für jeden, auch für diejenigen, die gar nicht wollten. Brigadefeiern. Weiterbildung, Gartenpflege. Fußballtraining. Handarbeiten. Kegelverein, Volksfeste. Bitten und betteln, rennen und tauschen, ranschaffen, was der sozialistische Einzelhandel nur zaghaft und häppchenweise unter der arbeitenden Bevölkerung verteilte.

Parteiversammlungen, Westfernsehen gucken und die große weite Welt da draußen mit großen Augen vom Fernsehsessel aus verfolgen. Einkaufen im Delikatladen mit Ostgeld zum Umtauschkurs eins zu fünf oder im Intershop, wenn man dann Westgeld hatte. Hier gab es alles, wirklich fast alles. Allein schon das Hinsehen und der ungewohnt berauschende Geruch von duftender Seife und parfümiertem Waschpulver gab den DDR-Hausfrauen das Gefühl, abseits zu stehen, und schürte die Wut im Bauch bei so vielen.

Vorgeschriebenes Leben, das heißt auch: nur nicht auffallen.

Mitlaufen, Maul halten, Friede, Freude, Eierkuchen und immer schön freundlich grüßen, denn schließlich kennt hier jeder Jeden in dieser kleinen Stadt im schönen Havelland. Wer hat den tollsten Garten, wo gibt es Ersatzteile, wer darf nach Jahren des Wartens einen FDGB-Ferienplatz in Anspruch nehmen? Medaillenverteilung, singen im Chor, Brigadefeiern, und wer kriegt wieder ein Westpaket? Neid!

Das war der Alltag.

,,Bück-dich-Ware“ war die Ware unter dem Ladentisch, die nicht für Jeden gedacht war und „Geb ich dir, dann gibst du mir“ hieß tauschen bei jeder Gelegenheit.

Ja, tauschen. bestechen und anstehen, jeden Tag und immer und überall.

Sozialistischer Alltag. Sich freuen, wenn es dann im Konsum nicht nur Kohl. Kartoffeln und Zwiebeln gab, sondern auch Tomaten und Gurken oder vielleicht sogar Apfelsinen. Ein kleines ostdeutsches Städtchen in dem wir wohnten, mit einer Hauptstraße und nur wenigen Geschäften, in deren kargen Fensterauslagen kaum etwas lag, für das es sich lohnte, anzuhalten und hineinzuschauen.

Normaler DDR-Alltag, nichts Besonderes.

Früh aufstehen, unter Zeitdruck zur Arbeit rennen und dann zeitig ins Bett fallen, damit man am nächsten Morgen wieder gewissenhaft und pünktlich seinen sozialistischen Gang gehen kann. Brav, Genossen. weiter so. Über Langeweile kann doch wirklich keiner klagen, oder? Alles zum Wohle des Volkes und seiner sozialistischen Ideale.

Und doch umhüllt meine kleine, eigentlich unscheinbare Heimatstadt ein Hauch von Charme, in den ich mich verliebte, schon damals. als ich im Alter von zwanzig Jahren hierher zog. Dieses Städtchen liegt unweit eines traumhaft schönen Wald- und Wiesengebietes an der Havel. Viele kleine und große Seen, die mit ihrem klaren, türkisfarbenen Wasser jeden Freizeit- und Erholungssuchenden gern zum Baden einladen, findet man hier. Ein richtiges Naherholungsgebiet für das Arbeiter- und Bauernvolk. Viele Nachbarn und Freunde haben sich hier mit viel Fleiß ihren eigenen kleinen Bungalow gebaut. Nach getaner Arbeit trifft man sich zum gemeinsamen Würstchengrillen und Steakbraten. Und so manches Bier zischt durch durstige Kehlen. Hier wird gebadet und geangelt und gemeinsam mit den Nachbarn gefeiert.

Nach einigen Bierchen und Schnäpschen erzählt einer dem anderen heimlich die neuesten Parteiwitze und man lacht über unnütze Spruchbänder an den Straßen und Häusern, die die Parteileute wieder einmal über den bröckelnden Putz der Fassaden plazierten. Was da steht, glaubt eh keiner. Planerfüllung hundert Prozent und mehr. Wenn alles so gut läuft, warum gibt es dann nichts Gescheites in den Geschäften zu kaufen? Diese Frage stellten sich alle. Hier lebt eine große und vor allem junge sozialistische Gemeinschaft friedlich nebeneinander und friedlich miteinander.

Ein verträumtes, unscheinbares Städtchen. Offene Türen, offene Herzen, aber auch alles geregelt, alles vorgeschrieben und sozialistisch kontrolliert. Nur nicht auffallen. Sozialistischer Alltag, und alle machen mit. Ein Verbund von Sprücheklopfern. Besserwissern, Duckmäusern, intelligenten und fleißigen Menschen, die den Alltag zu meistern wußten.

Hier gibt es die Gleichberechtigung der Frau. Hier darf sie nicht nur, hier muß sie als Werktätige mit ihren männlichen Kollegen und Genossen mithalten.

Kinderkrippen und Kindergärten waren für alle da und noch dazu so billig.

Einfach toll, einfach bequem, einfach sozialistisch. Den ganzen Tag für die Produktion da sein, aber leider nur wenig Zeit für die eigenen Kinder haben, denn die werden im Kindergarten oder im Schulhort abgeliefert, so sah es aus. Das sozialistische Leben war ein durchgeplanter Tag, voll mit unnötigen und langweiligen Versammlungen und Weiterbildungsveranstaltungen, die jeder arbeitenden Mutter die kostbare knappe Freizeit und den Rest an Nerven rauben.

Stillhalten, mitlaufen„ ja“ sagen, und bitte nicht aus der Reihe tanzen.

Sozialistisches Leben im Mittelstand und mit allgemeiner Herzlichkeit untereinander.

„Lisa, hallo, Lisa! Mensch, was ist los!“.

Ich zucke in meinem Sessel zusammen und gucke ungläubig in zwei große blaue Augen. Cordula, meine Zimmernachbarin, steht plötzlich vor mir. Es dauert ein paar Augenblicke, bis ich antworten kann.

„Was ist los? Wo bin ich?“

„He, Lisa, he. Wach auf! “

Sie nimmt mich in ihre Arme und rüttelt mich. Plötzlich heule ich los wie ein kleines Kind. Britta kommt hinzu und sieht Cordula fragend an. Die zuckt ungläubig mit den Schultern und reicht mir ein Taschentuch. Ich putze mir die Nase und fühle mich ein

bißchen verlegen. Britta reicht uns einen Teller mit belegten Broten. Greift zu, die Küche ist offen. Das Personal ist weg. Keiner da. Heute ist Selbstbedienung. Essen hält Leib und Seele zusammen. Ich nicke dankbar und greife mir ein Käsebrot.

Es ist kalt im Zimmer, und ich bin wieder allein, denn die beiden sind gegangen. Sie können mit mir nichts anfangen. Lisa Trauerkloß. Die Heizung ist an und klopft leise ihren eigenen Takt. Sie nervt mich gewaltig. Trotzdem, irgendwie kommt keine Wärme hier an. Ich hole meinen Schal aus dem alten Holzschrank und wickele mir den um den Kopf. Ich will jetzt schlafen und lege mich ins Bett. Aber ich finde keinen Schlaf. Verdammt, ich fühle mich doch so müde, so, als ob ich einen 10-km-Langlauf hinter mir hätte. Meine Gelenke schmerzen, und ich spüre alle meine Knochen. Rheuma. Wo sind die Tabletten? Ich krame im Nachtschrank und nehme eine. Schleppe mich wieder ins Bett und hoffe auf Schlaf. Lieber Gott, du dort oben, schicke mir doch endlich mal ein paar Minuten Schlaf. Ich beginne, Schäfchen zu zählen. Aber auch das nutzt nichts. Mein Gehirn macht nicht halt, es arbeitet ohne mein Zutun weiter. Ich will nicht. Nein, bitte nicht denken, nicht grübeln.

Was ist schiefgelaufen in den vergangenen Jahren? Was hat mich so kaputtgemacht? Wo ist unsere große Liebe geblieben? Bruno und Lisa, das Traumpaar. gibt es schon lange nicht mehr. Diese einmalige große Liebe hat sich aufgelöst. Sie ist ins Universum, ins Unbekannte entschwunden. Ich bin voller innerer Zerrissenheit und denke zurück an meine Ehejahre. Woher bloß kommt diese Wut, dieser Zorn, der schon körperlich weh tut? Diese Unzufriedenheit und Leere? Wo ist meine Lebensfreude hin? Ich denke an den letzten Winter 1988 zurück und suche eine Erklärung für meinen schlechten körperlichen Zustand und meine Mutlosigkeit.


Es ist noch stockduster draußen, kurz vor sechs Uhr morgens.

Bruno ist schon zur Frühschicht gegangen. Er hat es nicht weit. Nur fünfzehn Minuten Fußweg bis zur Fabrik. Unsere beiden Mädchen müssen zur Schule, wollen aber wieder einmal nicht aufstehen. Das verstehe ich gut, denn es geht mir genauso. Es ist noch so früh, besonders für Kathleen. Sie ist jetzt sieben Jahre alt und ein echter Morgenmuffel. Sabine ist vernünftiger und reifer. Sie überwindet sich schneller, denn sie geht gerne in die Schule. Müde sieht auch sie aus. Es ist viel zu früh für die beiden, gerade jetzt in der dunklen Jahreszeit im kalten Winter. Sabines lange Haare verdecken ihr hübsches Gesicht, als sie sich über das Waschhecken hängt und ausgiebig ihre Zähne putzt. Sie hat schöne, weiße Zähne und legt auf ihr Aussehen großen Wert. Ja, mit vierzehn Jahren darf man schon etwas eitel sein. Meine Große, sie ist so ein liebes Mädchen und eine gute Schülerin. Ich bin so stolz auf sie.

„Kathleen, bitte steh jetzt endlich auf. Du kommst zu spät zur Schule und ich zu spät in meinen Kindergarten.“

Ich mache in allen Räumen Licht an, und leise Musik klingt durch unsere kleine Wohnung im sechsten Stockwerk unseres 08/ l5-Betonplattenbauhauses, wo es keinen Fahrstuhl gibt.

Draußen ist es bitterkalt. Ich muß den Kindergarten aufschließen. Die ersten Kinder warten meist schon. Ihre Mütter müssen pünktlich in den Ställen sein, denn die Kühe und Schweine, Schafe und Pferde, die es dort in diesem kleinen Kleckerdorf, in dem ich arbeite, gibt, warten auf ihr Futter.

Ich bin nur pünktlich, wenn ich es schaffe, am Bahnübergang zu sein, bevor die Schranken heruntergehen und der Zug kommt. Sonst muß ich warten, und die Kinder stehen vor der verschlossenen Tür und müssen frieren. Ich stürze mich in Eile die sechs Etagen runter, den Eiskratzer bereits in der Hand. Meine Mädels müssen allein zurechtkommen, so wie immer.

In Windeseile kratze ich die Windschutzscheibe unseres Trabis vom Reif frei. Nun schnell den Schlüssel ins Zündschloß. Es rührt sich nichts. Ich hab's befürchtet. Der Trabi ist acht Jahre alt und will mal wieder nicht anspringen. Er stand die ganze Nacht draußen vor der Haustür, mußte mächtig frieren und ist bockig. Eine Garage wäre schön. „Ich versteh' dich ja, Alter“, sage ich und ziehe die Starterklappe bis zum Anschlag heraus. Bitte, bitte, lieber Gott dort oben, laß die Kiste anspringen. Hilf mir! Wenn ich jetzt nicht losfahre, ist die Schranke unten. Dann muß ich den Motor

wieder abstellen, und mein Trabi streikt erneut. Es ist bitterkalt im Auto. Meine Jacke ist offen. Zuknöpfen habe ich nicht mehr geschafft. Krampfartig umschließen meine Hände das eiskalte Lenkrad. Was für ein Streß, fast jeden Morgen das gleiche. Es macht mich immer wieder fertig, aber ich kann es nicht ändern. Es fährt kein Bus. Nur ein Schulbus um sieben Uhr morgens, und das ist eindeutig zu spät.

Verdammt noch mal. Ich haue auf das Lenkrad und höre mich brüllen. Vielleicht muß ich mir noch jemanden suchen, der mich anschiebt. Bloß das nicht. Fahr schon los, du alte Nuckelpinne. Der liebe Gott scheint mich gehört zu haben, endlich. Ich tuckere in Richtung Bahnschranke, aber sehe nichts, denn die Scheiben vom Auto sind schon wieder dicht. Es sind nur drei Straßen bis zur Schranke und dieses alte Klappergestell von Auto findet den Weg auch allein. Kennt ihn schon viele Jahre.

Natürlich, konnte ja auch nicht anders sein, die Schranke ist unten. Ich lasse heute den Motor an, und eine riesige Abgaswolke strömt erbarmungslos und stinkend in die morgendlich klare Winterluft. Wenn ich hier durch bin, muß ich noch fünf Kilometer bis zum Kindergarten fahren. Fünf Kilometer, was auch heißt, Nase an die Scheibe und im Blindflug über die kaputte Landstraße hoppeln. Viele Schlaglöcher gibt es hier, und ich kann sie nur erahnen, rumpele in eines hinein und knalle mit meinem Kopf gegen die Autodecke. Gut, daß ich eine dicke Mütze aufhabe. Nicht, daß mir mein Trabi noch eine Beule abbekommt.

Frage: „Warum läßt man jahrelang die Riesenlöcher in den Landstraßen?“.

Antwort: „Da kann man prima Blumentöpfe hineinstellen, falls Honecker mal vorbeikommen sollte“. Ha, ha, ha. Ein alter Witz ist das, aber heute finde ich ihn so gar nicht lustig. Ich bin genervt und sauer.

Endlich, ich bin angekommen. Die Scheiben sind jetzt frei.

Blödes Auto. Ich versetze ihm einen Tritt und eile zum Haus. Zwei Kinder warten schon und frieren. Es tut mir so leid. Ich koche heißen Tee für die beiden und für mich einen Kaffee.

Vor acht Jahren haben wir ganz unerwartet dieses Prachtexemplar von Auto bekommen. Ich erinnere mich noch genau daran. Bruno und ich, wir waren glücklich wie zwei Kinder am Weihnachtstag. Völlig unerwartet flatterte uns ein Brief von meinem Onkel Paul ins Haus. Die schriftliche Zusage und Reservierung für einen neuen Trabi. Einfach Wahnsinn! Unser damaliger Trabi, gebraucht gekauft, war achtzehn Jahre alt und am Ende seines Daseins angelangt. Hier half nur noch Notschlachtung oder einen Dummen finden, der ihn haben wollte.

Mein lieber guter Onkel Paul hatte damals vor zwölf Jahren seine Anmeldung abgegeben und wollte uns nun tatsächlich sein Bezugsrecht für dieses Auto überlassen. Er hatte über die Jahre völlig vergessen, daß er sich angemeldet hatte. Jetzt kam die Nachricht an das ein Trabant von der Autofabrik abgeholt werden kann. Wir können uns sogar zwischen der Farbe Himmelblau und der Farbe Hundekacke entscheiden.

Ja, lieber Onkel Paul, deine Nichte Lisa freut sich riesig. Ja, die lumpigen hundert Märker für deine Anmeldung zahlen wir dir gern. Muß Bruno eben wieder ein paar Sonderschichten in seine Feierabendtätigkeit einbauen. Ja, ich freue mich so und Bruno auch. Ach, mein Onkel Paul, kinderlos und nett, war doch immer für eine Überraschung zu haben. Ich bin eben seine einzige Nichte, die er hat und liebt. Er hatte an mich gedacht, als die Nachricht in seinem Briefkasten steckte. Onkel Paul, der Gute.

Onkel Paul hatte doch tatsächlich irgendwann nach langen Bemühungen eine Tochter von seiner im Zweiten Weltkrieg verstorbenen Tante wiedergefunden. Sie wohnte seit vielen Jahren in Holland und zeigte sich sofort und voller Freude bereit, Onkel Paul im Osten zu besuchen. Besuch aus der großen weiten Welt. Ein Paradiesvogel kam ins Haus geflattert, und es war das große Ereignis unserer Familie.

Louise kam mit ihrem roten Cabrio-Flitzer aus Amsterdam. Ein ungewohnter Farbklecks zwischen all der grauen Pappe stand nun auf der Straße vor Onkel Pauls Wohnhaus. Doch das brachte uns allen viel Streß. Wenn nun einer dieses exotische Knallbonbon klaut, was dann? Nicht, daß im Sozialismus geklaut wurde, aber so seltene Ersatzteile wie der Spiegel von einem Westauto, ein modernes Autoradio

oder auch richtige Ledersitze sind schon nicht uninteressant. Somit hatte Onkel Paul nebenbei eine Woche die ehrenvolle Aufgabe, sich stundenweise mit seiner Frau Rosi abzuwechseln, um dieses Prachtstück ja nicht aus den Augen zu lassen. Sie standen nun am Fenster, vor allem auch des Nachts, und bewachten mit müden Augen das rote Prachtstück unter der Straßenlaterne. Streß ohne Ende, aber zum Glück passierte nichts.

Auch Louise war am Ende ihrer Kräfte angelangt und brauchte lange Zeit, um sich zu beruhigen, als sie hier ankam. Sie war wutentbrannt und kam mit hochrotem Kopf bei meinem Onkel Paul und meiner Tante Rosi in Halberstadt an. An der Grenze mußte sie doch tatsächlich eigenhändig alle vier Räder ihres Autos abbauen. Nach einem nur kurzen, prüfenden Blick des Grenzers durfte sie die Räder dann im Schweiße ihres Angesichts wieder anschrauben. Soviel Frechheit, Arroganz und Schikane hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nicht erlebt, obwohl sie schon die ganze Welt bereist hatte. So etwas nicht. Fassungslos und am Ende ihrer Kräfte hing sie nun erledigt im Sessel und trank ihren mitgebrachten eigenen Bohnenkaffee. Die braune Brühe, die ihr Tante Rosi anbot, wollte sie selbst aus Höflichkeit ihren Gastgebern zuliebe nicht trinken. Nein danke! Unser holländischer Käsekopp war also mächtig am Stinken und schwor sich, dieses Abenteuer in den Osten nie und nimmermehr auf sich zu nehmen. Da schicke ich euch lieber ab und zu mal ein Päckchen aus Holland, versprach sie.

Unser Kennenlernen war äußerst freundlich und herzlich.

Sie war nur zehn Jahre älter als ich, und was für mich besonders interessant war, auch ihre Konfektionsgröße stimmte mit meiner überein. Hurra. Ihren Kofferinhalt wollte sie nicht wieder mit über die Grenze schleppen, und so kam ich wie die Jungfrau zum Kind zu richtig modischen Westklamotten. Außerdem versprach sie mir, ihren Kleiderschrank in Holland aufzuräumen und mir ein Überraschungspaket zu schnüren. Dreimal Halleluja. Gott seis gelobt und gedankt. Dann kamen eines Tages schöne Klamotten für mich, eine Flasche Whisky für Bruno und Süßigkeiten für die Kinder. Auch einmal ein Zauberwürfel für die Kinder und zwei blaue Schlümpfe, die zu dieser Zeit gerade in Mode waren. Eine Freude, wie ein Sechser im Lotto.

Wir gehörten nun auch zu denjenigen, die zum Postamt gehen durften, um ihr Westpaket abzuholen. Das war immer richtig spannend und ein Riesenereignis für uns alle.

„Lisa, guck doch mal am Postamt vorbei. Da steht wieder so ein merkwürdiger Sack in der Ecke. Vielleicht ist er für euch“, sagte mir meine Nachbarin. Ein Paket im Sack, für Frau Lisa Kleinschmidt von den Käseköppen aus Holland.

Nicht, daß das Paket nicht fein ordentlich in Amsterdam abgeschickt wurde. Das wohl. Sind ja anständige Leute, die Holländer. Aber unsere eigenen Genossen vom Zoll, die so pflichtbewußt und gründlich arbeiten, haben es akribisch genau nach Drogen und sonstiger Hundekacke untersucht. Haben sich echt viel Mühe gegeben, unsere Genossen vom Zoll. Damit ja keiner ihrer Brüder und Schwestern vom richtigen Wege abkommt. Die Kleidung für mich war dann mit Whisky getränkt und auch die Süßigkeiten aus den aufgerissenen Tüten klebten als Kinderüberraschung an Hemden und Blusen. Auch die Schokolade für die Kinder wurde Tafel für Tafel von meinen lieben Landsleuten vom Zoll vorgekostet. Könnte ja etwas anderes als Schokolade drin sein. Die Reihe Zahnabdrücke, die dem abgebissenen Schokoladenstück offensichtlich und unübersehbar den persönlichen Zollstempel aufdrückte, grinste mich wieder einmal an.

Danke, liebe Genossen, ich hoffe, es hat euch geschmeckt. In meinem Brief nach Amsterdam bat ich, nun bitte keine Flüssigkeiten und keine Schokolade mehr schicken. Schnauze voll.

Das nächste Paket roch verdächtig stark nach Kaffee. Warum, konnte ich mir gleich denken. Eine offene, halbleere Kaffeepackung, vermischt mit Lakritze und buntem Puffreis, schickte mir dicke Tränen in die Augen.


Die Kur in der Kurklinik hatte ich mir ganz anders vorgestellt. Zu Anfang eine ärztliche Voruntersuchung, ein gemeinsames Gespräch mit den Ärzten über die richtige Therapie und dann entsprechende Anwendungen durch das geschulte Personal.

Aber hier in der Kurklinik in Zingst, an der Ostsee, ist zu dieser Zeit jedoch alles anders. Das Personal befindet sich scheinbar wegen der politischen Situation im Land schon im Aufbruch, denn von einem richtigen Kurprogramm kann keine Rede sein. Alles geht drunter und drüber, jeder macht was er will.

Es gibt auch nur ein Telefon für alle und das hängt im Flur zum Speisesaal. Dort stehen dann alle Erholungssuchenden brav in einer Schlange an. Jeder kann oder muß sich mit anhören, was der Telefonierende sagt. Der muß ins Telefon schreien, um die plappernden Ansteher zu übertönen. Ich stelle mich nicht an und verschiebe mein Telefonat auf später, gehe auf mein Zimmer und stricke weiter an meinem Pullover. Ich muß mich ablenken und will meine Ruhe. Von irgendwoher höre ich zwei Männer, die sich fürchterlich streiten. Hoffentlich prügeln die sich nicht auch noch. Während ich Masche an Masche aneinanderreihe, gehen meine Gedanken wieder zurück, und ich denke an zu Hause, an meine Familie und an meine Arbeit in dem kleinen Landkindergarten.

Wie wird es sein, wenn ich nach vier Wochen Kur wieder zu Hause sein werde? Wird sich meine Energie wieder einstellen, und werde ich Beruf und Familie besser bewältigen können, und wie wird es mit der DDR weitergehen?

Meinen Beruf liebe ich sehr, aber er verlangt immer häufiger meine ganze Kraft. Die fünfunddreißig Kinder, die wir in unserem Landkindergarten betreuen, wachsen in einer familienähnlichen Situation auf. Alles hat seine Ordnung, seinen geregelten Tagesablauf, seinen Wochen- und Monatsplan. Mit viel Mühe und Einsatz wird jede kleine Stupsnase auf die Schule vorbereitet. Hier gibt es geregelte Zeiten fürs Essen, Schlafen, Lernen und Spielen. Meine Kolleginnen sind zuverlässig und fleißig.

Wir singen und tanzen und lernen mit den Kindern, um sie auf die Schule vorzubereiten. Für kleine Kinderhände gibt es Klanghölzer. Triangeln, Zimbeln und vieles mehr. Gemeinsames Basteln und Fingerspiele, sowie Kreis- und Tanzspiele begeistern die Kinder Tag für Tag. Auch das Rechnen bis zur Zahl zehn gehört dazu, genau so wie auch die Verkehrserziehung, Malen und Zeichnen, Turnen, Gedichte lernen und vieles andere mehr.

Unser Spielplatz ist groß und gepflegt, so wie das gesamte Haus. Es ist ein weißer Flachbau, in dem es unabhängig voneinander eine Kinderkrippe und auch unseren einen Kindergarten gibt. Alles ist kindgerecht auf kleine Mäuse zugeschnitten, so wie es sein sollte.

Hier gibt es einen Geräteschuppen, und da neben einen kleinen Garten zum Gemüseanbau und zur Blumenzucht. Die Kollegen der Brigade von Bruno fertigten für uns kleine Gartengeräte an. Spaten, Harken und Schippen für Zwergenhände und kleine Gießkannen gibt es für alle. Zum Frühstück kommen hier frisch geerntete Radieschen und Schnittlauch aus dem eigenen Garten auf den Tisch, und viele bunte Blumen schmücken die Räume und die Fensterbänke.

Als Bastelmaterial haben wir genug Bunt- und Malpapier, Stifte, Pinsel und Malfarben und auch Knete. Aber wir sind ja pfiffig und sammeln fleißig Industrieabfälle. So entstehen aus Pappdosen, Margarinebehältern und anderem Verpackungsmaterial die lustigsten und spektakulärsten Fahrzeuge, Puppenwohnungen und anderes Spielzeug.

Phantasie, Fingerfertigkeit, Geduld und Spucke bringen kleine Kunstwerke hervor. Geschickte Lenkung und Motivation der Kinder sorgen für kreative Stimmung und eine Menge Abwechslung und Spaß. Häufig besuchen wir die Eltern unserer Kinder an ihren Arbeitsplätzen und spornen die Kinder dazu an, es später einmal ihren fleißigen Eltern nachzumachen. Solche Besuche sind immer sehr lustig und lehrreich. Wir freuen uns sehr, wenn wir von den Eltern kleine Geschenke für uns und unseren Kindergarten bekommen. Manchmal gibt es für uns Hühnerbeine oder einen Korb voll Eier von der Hühnerfarm oder Bonbons für die Kinder und auch mal Kaffee für die Erzieherinnen. Wir bedanken uns dafür mit einem Tänzchen oder neuen Liedern, die wir gelernt haben, und die Muttis verteilen Küßchen und sind natürlich mächtig stolz auf ihre kleinen Sprößlinge.

Ich bin nun schon fast zwanzig Jahre in meinem Beruf als Erzieherin im Kindergarten tätig und merke, daß ich an manchen Tagen große Probleme damit habe, den Streß, den Lärm und das ständige Gewusel um mich herum auszuhalten. Mein Nervenkostüm hat mit den Jahren große Löcher bekommen. An manchen Tagen sehne ich mich einfach nach ein bißchen Ruhe. Nur keinen Lärm, keine unnötigen Fragen beantworten müssen, keine Diskussionen und keinen Streit schlichten. Besondere Sorgen bereiten uns immer wieder die Problemkinder, die wir hier so zwei bis drei Jahre mit durchziehen müssen. Können ja nicht alle brav sein, wäre ja wohl auch langweilig. Rausschmeißen geht nicht. Mama muß ja arbeiten gehen. Wir müssen die kleinen Quälgeister aushalten und das Beste daraus machen. Manchmal ist es nicht zum Aushalten, und so manche Mutter ist froh, wenn sie morgens ihr Liebchen bei uns abgeben kann, um dann selbst ungestört und entspannt zur Arbeit gehen zu können. „Tschüs, mein Schatz, bis heute nachmittag. Und nicht wieder Frau Kleinschmidt ärgern „

Dann denke ich bloß so aus Spaß: Bitte gebt mir noch eine Dose Antistreßtabletten für mich und meine Kolleginnen.

Ich werde den Conny zum Beispiel nie in meinem Leben vergessen können. Dieser kleine Rabauke hat mich des Nachts sogar im Traum verfolgt. Was allein dieser Knabe mit seinen kleinen und großen Frechheiten und Streichen an meiner persönlichen Substanz verbraucht hat, ist für einen Außenstehenden kaum nachvollziehbar und steht in keinem Verhältnis zu dem lächerlichen Gehalt einer Erzieherin. Als Leiterin bekomme ich gerade mal sechzig Mark im Monat mehr, und dafür darf ich mich dann um alles kümmern, organisieren und einkaufen, auch nach Feierabend. Doch das sieht keiner.

Nicht nur der ganze Papierkram, sondern auch das Anschaffen und Besorgen von so kleinen Selbstverständlichkeiten wie Süßigkeiten oder Luftballons füllt meinen Tag aus. Wenn es mal wieder heißt, es gibt ein Kinderfest oder einen Geburtstag auszurichten, ist es leider jedesmal eine zeitaufwendige Sache all die Dinge, die gebraucht werden, anzuschaffen. Ich muß suchen, Glück haben, finden und alles bevorraten.

So ein Kindergarten ist wie ein großer Familienhaushalt. Er muß gut organisiert und durchdacht geplant werden. Aber zurück zu meinem besonderen Freund, dem fünf jährigen Conny, der uns alle so auf Trab hielt. Ständig waren wir seinetwegen in Aktion und mußten unser ganzes pädagogisches Können zum Einsatz bringen. Keiner von uns durfte ihn nicht aus den Augen lassen, denn dann passierte unter Garantie etwas. Mitmachen wollte er nur, wenn er Lust dazu hatte.

Meistens hatte er aber keine. Lieber saß er auf der Heizung und bollerte mit den Füßen daran. Er wollte im Mittelpunkt stehen und Aufmerksamkeit haben, das war uns allen klar. Türen waren zum lauten Zuknallen gemacht, und aufräumen sollten doch gefälligst die anderen.

Er brachte die vergangenen zwei Jahre unsere Arbeit mächtig durcheinander und raubte uns die letzten Nerven. Wir mußten uns immer wieder etwas Neues für ihn ausdenken, um ihn bei guter Laune zu halten. Längst hatten wir alle den Verdacht, daß dieser Bursche nicht ganz klar ist, im Kopf, denn er zeigte enorme Verhaltensauffälligkeiten. Meine Kollegin Anneli fing manchmal spontan zu singen an, und wenn wir Glück hatten, war Ruhe, und der Kasper auf der Heizung hatte sein Konzept vergessen. Aber das half leider nur manchmal. Ablenken und ruhiges Zureden half immer seltener, oder das Bestechen mit Bonbons. Hustenbonbons liebte er sehr, das fanden wir schnell heraus. Sehr unpädagogisch, aber es war Notwehr, sagten wir uns alle irgendwann. Als er dann die Bonbons böse und lautstark einforderte, gab es keine mehr. Entweder für alle oder für keinen. Punkt. Am nächsten Tag gab es wieder eine Überraschung, denn meine Tasche weg.

Sie steckte im Klo, und dann sah ich, daß mir einer in den Papierkorb gepinkelt hat. Wer wohl ...

Als Anneli lachte, merkte sie kurz darauf, daß ihr Frühstücksbrot weg war. Das fand sie dann gar nicht mehr so lustig. Mein Autoschlüssel lag im Kühlschrank, und ich hatte viel Spaß beim Suchen nach Feierabend.

Als ich dann in sehr großer Eile zu meinem Auto lief, das unter einer alten Eiche parkte, war es an diesem Tag mit tausend lila Punkten übersät. Dieser Anblick ließ mich erstarren, und ich glaubte nicht, was ich da sah. Im Baum saßen hundert schnatternde und sehr lustige Elstern, die zuvor eine unsägliche Menge an Holunderbeeren verspeist hatten. Mein Auto diente ihnen als geniale Toilettenschüssel. Was für ein Tag was das heute. Mein Hausmeister half mir beim Schrubben der Pappe und lachte sich schlapp. Auch mein Freund Conny, der diesmal unschuldig war, lachte laut hinter der Scheibe von der Küche, als er uns putzen sah. Ich aber war am Fluchen und wieder einmal zu spät dran.

Schade nur, daß ich kein Foto vom Auto gemacht habe.

Ich erinnere mich an einen schönen Sommermorgen. Wir zogen uns unsere Jacken über und halfen uns gegenseitig beim Schuhe zubinden, weil wir spazieren gehen wollten. Es war so ein schöner Tag. Die blühenden Wiesen und die volle Kraft und Vitalität der Getreidefelder waren Balsam für meine Seele. Hier war ich glücklich und dachte ich nur, es war eine richtig gute Entscheidung auf dem Lande in der nahen Natur zu arbeiten. Ich liebe diese wunderschöne Havellandschaft um mich herum, es ist phantastisch schön hier und Ruhe und Frieden liegt in der Luft.

Aua. Ich höre mich schreien und schaue auf meine Hand, an der ich eben noch den Conny festhielt. Der hatte mich doch tatsächlich gebissen und sich einfach losgerissen. Dieser kleine Mistkerl. Wir sehen, wie er losrennt, quer über die Kreuzung zum Friedhof. Nur gut, daß in diesem Augenblick kein Auto kam. Einer seiner losgerissenen Hosenträger flatterte wie eine Fahne hinter ihm her.

„Anneli, komm rasch“, rief ich.

„Paß auf die anderen Kinder auf. Ich lauf' hinterher“.

Meine Kollegin verstand sofort und hielt die Kindergruppe beisammen und sang ihnen ein kleines Lied vor. Alle warteten brav. Ich, Frau Lisa Kleinschmidt, mit einem Bein immer wegen eventuell verletzter Aufsichtspflicht im Gefängnis, springe wie ein Ziegenbock über den kleinen Wassergraben, rutsche aus, greif dummerweise in ein Büschel Brennesseln, um mich zu halten, kürze aber dadurch den Weg ab und hatte diesen Burschen dann am Schlafittchen.

,Halt, mein Freund. Wohin des Wegs?“

Augenkontakt. Spannung in der Luft. Allerdings nur für zwei Sekunden, denn dann spüre ich den Tritt an meinem Schienbein, und mein kleiner Freund spuckt mich an. Ich packte ihn ziemlich fest am Kragen und habe die größte Lust ihm rechts und links ein paar Ohrfeigen zu versetzen. Gut, daß ich mich wieder einmal beherrschen kann. Heute noch muß ich mit seiner Mutter sprechen. Sie muß dringend mit ihm reden und uns bei der Erziehung ihres Kindes endlich unterstützen. Auch werde ich mich mit unserer Kinderärztin beraten. Sie soll sich dieses Früchtchen einmal genauer anschauen. Der tickt doch nicht richtig.

Am nächsten Tag war unser Freund brav wie ein Lamm, allerdings mit einem blauen Auge. Sein Stiefvater hatte ihm wohl Benehmen beibringen wollen. Ich werde unbedingt mal auch mit ihm reden müssen. Wenn er mal nüchtern ist.

Conny verteilt die Schläge, die ihm sein Stiefvater am Abend verpaßt hat, sofort weiter in der Kindergruppe. Viele sind kleiner und schwächer als er, und es befreit ihn scheinbar ungemein, einem anderen Kind weh zu tun. Jetzt hat er die Macht und ist nicht selbst der Prügelknabe. Ich schnappe ihn mir und führe ein langes Gespräch mit ihm, weil er die Susi geschlagen hat, und die brüllt wie am Spieß.

„Das wollte ich doch nicht“, gestand er kleinlaut.

Sieh an, damit hatte ich nicht gerechnet.

„Gut, mein Lieber, aber du mußt lernen, dich zu entschuldigen, wenn du etwas Unüberlegtes getan hast. Geh zu Susi und sag Entschuldigung. Du kannst ja der Susi auch zeigen, daß es dir wirklich leid tut und ihr vielleicht ein schönes Bild malen. Soll ich dir dafür schöne Stifte geben, was meinst du?“

Unglaublich, aber anscheinend fallen meine pädagogischen Ratschläge bei ihm doch auf fruchtbaren Boden. Das merke ich, als er später wieder einmal eines der Gruppenkinder schlägt. Er schaut mich schief an, geht dann zu dem anderen Kind und reicht ihm die Hand grinst und sagt: „Entschuldigung, ich male dir ein Bild“.

Und damit war die Sache dann für ihn erledigt.

Schade, denke ich mir, daß uns keiner bei der Ausbildung zur Erzieherin gezeigt hat, wie man mit solchen Kindern in so extrem schwierigen Situationen umgehen muß.

Aber wir hatten dafür bei der Ausbildung das Fach Marxismus-Leninismus. Auch sehr wichtig.

Abends zu Hause will ich mit meinem Mann darüber sprechen, aber der möchte mir nicht zuhören. Keine Lust, aber immerhin gibt er dann doch einen kurzen Kommentar ab.

„Ein bißchen spielen und Kaffee trinken, mehr machst du doch nicht. Arbeite du erst einmal so schwer wie ich, dann weißt du, was richtige Arbeit ist“.

Genüßlich kippt er sein Bier runter, zieht seine Trainingshose glatt, schaut zum Fernseher und schaltet mit der Fernbedienung einen anderen Sender ein. Das tut mir weh, ganz tief innen, und es macht mich wütend, sehr wütend. Ich verschwinde in die Küche, wo ein Berg Arbeit auf mich wartet und ich bin voller Zorn. Mordgelüste machen sich in mir breit, und die Schnitzel auf dem Holzbrett haue ich platt wie Briefmarken.

Abwaschen, aufräumen und das Abendessen vorbereiten. Die Mädels sind in ihren Zimmern verschwunden. Ich kann sie nicht dazu bewegen, mir zu helfen. Sie müssen Hausaufgaben machen, sagen sie. Wenn ich abends nach einem vollen Arbeitstag und nach dem Einkaufen nach Hause komme und so mit der Hausarbeit allein gelassen werde, habe ich keine Nerven mehr mich auch noch mit meinen eigenen Kindern, vielleicht noch mit einem Liedchen auf den Lippen, auseinanderzusetzen. Ich gebe es zu. Meine Kraft ist dann am Ende. Habe keine Lust, zu betteln und zu bitten. Aus die Maus.

Eines Tages, als sich Sabine dann brennend für Omas blöde Groschenromane interessierte, wurde ich doch ungehalten, um nicht zu sagen, wütend. So ein Müll sollte meine Tochter nicht lesen. Ich verbot es ihr und gab mir echt Mühe, es ihr gut zu erklären. Wenige Tage später erwischte ich sie auf dem Sofa bei meiner Schwiegermutter, wie sie sich trotz Verbot so einen Roman reinzog.

Meine Schwiegermutter hatte nur Söhne und keine Tochter. Ihr größter Wunsch, eine Tochter, ging nicht in Erfüllung. Hier nun, bei meinen Töchtern, konnte sie all ihre verborgenen und neu aufflammenden Muttergefühle ausleben. Da ich oft in Zeitnot war, paßte das prima. Als meine erste Tochter geboren wurde, sagte mein Schwiegervater zu mir: „ die wirst du bald los sein“. Er lachte und zeigte auf mein Kind. Nun, fünf Jahre nach seinem Tod, fallen mir seine Worte wieder ein. Ich gönne es meiner Schwiegermutter und verstehe sie, aber unsere Erziehungsmethoden gehen weit auseinander. Da liegen Welten dazwischen und dreißig Jahre Altersunterschied. Ich zahle einen hohen Preis dafür, daß ich voll berufstätig bin und mir die Arbeit über den Kopf wächst.

Kapitel 2

..die machen die Grenze auf…

Es hätte mich eigentlich wie ein Blitz treffen müssen, aber ich bleibe zunächst völlig ruhig, als plötzlich die Tür zu meinem Zimmer aufgerissen wird und meine Zimmernachbarin Ellen lauthals schreit: „Lisa, komm rasch. Die machen die Grenze auf“.

Ich verstehe zunächst nichts. Was hat sie gesagt? „ Lisa, komm schon, komm endlich.“

Ich lege mein Strickzeug auf das Bett und folge ihr brav in den Fernsehraum. Hier also stecken sie alle, die Erholungssuchenden. Sie starren mit ungläubigen und weit aufgerissenen Augen zu diesem kleinen Fernseher dort hinten in der Ecke dieses miefigen Clubraumes. Die Männer haben den Westkanal eingestellt. Die Kurklinik Meeresblick in Zingst an der Ostsee erlebt einen historischen Moment. Eine einzigartige Ansammlung von Menschen, die sich plötzlich schreiend und tobend in die Arme fallen, brüllen und schreien. Fremde umarmen Fremde und alle sind in diesem Augenblick eine gemeinsame Familie.

Hier ist ein wilder Haufen schreiender Menschen, verbunden im Wahnsinn der Freude.

Heute ist der 9. November 1989.

Der Tag, der die Welt verändern wird. Ich verstehe die Worte im Fernseher kaum.

Schabowski sagt: „ ... heute eine Regelung getroffen ... , die es jedem Bürger ermöglicht, über die Grenzübergänge auszureisen ... Sofort, ab heute.“


Wie??? Ab heute???? Was ist eigentlich los?

Alle hier im Fernsehraum starren auf den Bildschirm. Sie glauben nicht daran, was sie da hören, was sie da sehen. Die Grenzsoldaten und ihre Vorgesetzten stehen unschlüssig da und wissen nicht, was sie tun sollen. Halten sich zurück. Die Menschenmassen schieben sich vorwärts. Macht auf, der Schabowski hat gesagt, wir dürfen rüber. Die Menschen wollen weiter vorwärts in Richtung Schlagbaum. Sie fordern ihr Recht auf ein freies Leben. Die Berliner, am Grenzübergang Bornholmer Straße, machen den Anfang. Die Menschen drängeln, schubsen und schieben sich von hinten immer mehr in Richtung Übergang. Für die vorderen Reihen wird es langsam lebensgefährlich, und sie können dem Druck von hinten kaum noch standhalten. Endlich, die ersten Schlagbäume öffnen sich. Die Menschen tanzen hindurch in den westlichen Teil Berlins. Sie schreiten untern dem Brandenburger Tor hindurch und gehen einfach mal am Ku'damm spazieren, verbrüdern sich mit ihren Klassenfeinden, stehen auf der Berliner Mauer, singen und weinen zugleich, und:


k e i n S c h u ß f ä l l t !