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Humorist und Hexenmeister

Storm und Turgenjew haben als Stimmungskünstler und Meister der Erinnerungswehmut viel Ähnlichkeit miteinander. Doch fehlt bei Storm gänzlich, was Turgenjew von Gogol erbt: der Humor, die Komik …

Thomas Mann, Notizbuch

Schwermütig, todesnah, gemütskrank: Wer das große Porträt Theodor Storms liest, das sein Bewunderer Thomas Mann 1930 verfasste, sieht das Bild eines Melancholikers. Umgetrieben vom »tödlich Ausweglosen und Verhängnishaften« der Liebe, gefangen in uralt-heidnischem Geisterglauben und unheilbar krank vor Heimweh nach einer Heimat, die ihm doch immer schon verloren war, wird dieser Storm zum Dichter jener anbrechenden Moderne, in der ihn schon der siebzehnjährige Lübecker Gymnasiast Thomas Mann als Verwandten und Vorbild entdeckt; und Todesangst begleitet ihn sein Leben lang: »von dem Abgrund des Nichts wehte ein Schauder zu ihm hin«. Kaum zu glauben, dass es einem Verlag in den Sinn gekommen sein sollte, diesen Dichter im Jahr seines 200. Geburtstags einmal ausschließlich »zum Vergnügen« zu präsentieren.

Wer hingegen das Porträt liest, das sein preußischer Bewunderer Theodor Fontane um 1895 verfasste, sieht und hört einen kunstvollen Vorleser von Gedichten und Erzähler von Märchen und Geschichten, der »kleine Mittel, die mitunter das Komische streiften, nicht verschmäht« habe, wenn es galt, eine literarisch verwöhnte Salongesellschaft in seinen Bann zu ziehen: »Ich sehe noch, wie wir um den großen, runden Tisch … herum saßen, die Damen bei ihrer Handarbeit, wir ›vom Fach‹ die Blicke erwartungsvoll auf Storm selbst gerichtet.« Der beginnt nun, ein Spukgedicht vorzutragen:

Er war ganz bei der Sache, sang es mehr als dass er es las, und während seine Augen wie die eines kleinen Hexenmeisters leuchteten, verfolgten sie uns doch zugleich, um in jedem Augenblick das Maß und auch die Art der Wirkung bemessen zu können. Wir sollten von dem Halbgespenstischen gebannt, von dem Humoristischen erheitert, von dem Melodischen lächelnd eingewiegt werden – das alles wollte er auf unseren Gesichtern lesen, und ich glaube fast, dass ihm diese Genugtuung auch zu Teil wurde.

Kaum zu glauben, dass es einem Verlag erst zur Zweihundertjahrfeier in den Sinn gekommen sein sollte, dieses Vergnügen an und mit Storm auch heutigen Lesern mitzuteilen.

Der schwermütige Melancholiker und der verschmitzte Hexenmeister, zu dessen Zaubermitteln auch Humor und Komik gehören: Es sind zwei Seiten ein und desselben Dichters, die Fontane und Thomas Mann (der Fontanes Aufsatz kannte und ausdrücklich auf ihn verweist) hier genau komplementär hervorheben. Natürlich haben sie beide recht; und mit ebendiesem Recht sind denn auch beide Essays bestimmend für weite Teile der Storm’schen Wirkungsgeschichte geworden. Nur ist dabei die dunkle Seite immer stärker ins Bewusstsein, die helle, heitere, vergnügliche immer weiter ins Abseits und in Vergessenheit geraten: Allzu leicht ließen sich Heimweh und Verdüsterung einpassen ins einfache, mit starken Linien gezeichnete Bild des nordischen Dichters von nebliger Heide und Meeresrauschen, von Einsamkeit und Geisterspuk, das schließlich zum Klischee der Tourismuswerbung erstarrte. Liest man aber Thomas Manns präzise Beobachtungen zu Storms lebenslanger Neigung zum Geisterglauben zusammen mit Fontanes Erinnerungen an die mündlichen Erzählungen von ebendiesem Sujet, dann löst sich das Klischee wieder auf ins dreidimensionale Bild eines Zauberers, dem alles daran gelegen ist, seinen Zuhörern die Spannung eines reinen Erzählvergnügens zu bieten, ja dem dieses Erzählen selbst noch wichtiger ist als das düstere Weltverhältnis, dem es entsprungen ist. »Die volksheidnische Dichtersympathie Storms mit dem Spukhaften und Gespenstischen, dem er immer eine gewisse Realität zugesteht«, erkennt Thomas Mann als Ausdruck eines tiefen Misstrauens gegenüber Aufklärung und Fortschrittsoptimismus des 19. Jahrhunderts. »Denselben Abend«, erinnert sich Fontane, »erzählte er auch Spukgeschichten, was er ganz vorzüglich verstand, weil es immer klang, als würde das, was er vortrug, aus der Ferne von einer leisen Violine begleitet.«

Das ansteckende Vergnügen am mündlichen Erzählen hatte zu der Welt gehört, in der Storm aufgewachsen war und als deren leibhaftige Verkörperung ihm, als er in seinen späten Jahren Kindheitserinnerungen aufzuschreiben begann, die Gestalt der Geschichtenerzählerin Lena Wies vor Augen stand. Den von ihr gewiesenen Spuren folgend, hat der Student Storm zusammen mit seinen Freunden Theodor und Tycho Mommsen, dann auch mit dem Kieler Germanisten Karl Müllenhoff angefangen, Sagen und Märchen aus den Herzogtümern Schleswig und Holstein zu sammeln, vom schaurigen Untergang der Insel Rungholt bis zu den heimlichen Geschäften der über- und unterirdischen Naturgeister.

Und schon hier, in diesen knappen und kunstlosen Aufzeichnungen mündlicher Überlieferungen, gehen das Komische und das Unheimliche ineinander über. Das jahrelang und zunächst nur zum eigenen Gebrauch geführte Gespensterbuch, eine Fallsammlung von »Beiträgen zur Geschichte des Spuks«, knüpft an diese frühen Erfahrungen an. Aus dem einen wie aus dem anderen speisen sich bald schon die großen Novellen, bis hin zum Schimmelreiter; aber auch kleine Prosa-Zyklen wie die Geschichten aus der Tonne oder die Gespenstergeschichten Am Kamin zehren von diesem Vorrat. (Selbst der See, in dem der arme Bötjer Basch in der gleichnamigen Novelle von 1885/86 in den Tod gehen will, findet sich bereits in den frühen Sagen-Aufzeichnungen; es ist der »Brutsee«.)

So muss man sich Storms erste Begegnung mit der witzig verspielten, die Naivität ironisch inszenierenden Erzählkunst Hans Christian Andersens wohl als eine Art freundlichen Wiedererkennens vorstellen. Denn auch Andersen hatte ja aus der mündlichen Überlieferung seiner dänischen Heimat nicht nur die Stoffe und Figuren, sondern auch die Tonfälle bezogen, die er von seinen ersten Märchen an im Medium der Schrift spielerisch wiederholte. Wie ein Echo dieser Märchen, zu deren frühen deutschen Lesern Storm gehörte, liest sich darum nicht zufällig die Geschichte vom Kleinen Häwelmann mit ihren spaßhaften Erzählerkommentaren und mit ihrer unauffälligen Kunst, das Erzählen für Kinder mit dem psychologisch scharfblickenden Erzählen über Kinder zu verbinden.

Überhaupt ist der Autor des Häwelmann und des Pole Poppenspäler immer wieder ein Dichter für Kinder gewesen – oder vielmehr, um eine oft zitierte Bemerkung seines Vorbildes Andersen auf ihn selbst anzuwenden, »für Kinder, denen Erwachsene über die Schulter sehen«.

Der Zauber von Storms Gedichten für und über Kinder, ihr warmherziger Humor und ihr Mitgefühl, verdanken sich wesentlich auch der lebendigen Erinnerung an das Kind, das er selbst einmal gewesen ist. Wie alles bei Storm, so hat auch dieses Heimweh nach der eigenen Kindheit eine dunkle, schmerzlich sehnsüchtige und eine helle, spielfreudige Seite (im Fall des Knecht-Ruprecht-Weihnachtsspiels, das er zuerst nur für seine eigenen Kinder schrieb und das hier auf den Seiten 6163 nachzulesen ist, gilt das sogar ganz buchstäblich). Dabei verklären und vergolden seine Erinnerungen diese Lebenszeit keineswegs, aber sie schildern sie mit einer Liebe, die sich wie immer bei ihm – um nun wieder Thomas Mann zu Wort kommen zu lassen – »aufs Vergangene, Versunkene, Verlorene« richtet. Eben darum sind diese wunderbaren, viel zu selten gelesenen Prosastücke von Im Saal bis zur Erinnerung ans Katzen-Begräbnis so plastische Schilderungen nicht nur einer einzelnen Kindheit, sondern einer ganzen, versunkenen Lebenswelt.

Zu ihr gehören stets die marginalisierten, als Außenseiter und Sonderlinge an den Rand der Kleinstadtgesellschaft gedrängten Existenzen, deren Schatten der erwachsene Storm auch deshalb aus der Vergangenheit heraufbeschwört und erzählend neu lebendig werden lässt, weil ihm das selbstgewisse Bürgertum der Gründerzeit zunehmend verdächtig wird. Seine ganze Sympathie gehört diesen Gestalten, und die zarte Komik, mit der er zuweilen von ihnen berichtet, zielt nicht darauf, sie zu verlachen, sondern vielmehr auf die Spannungen zwischen dem individuellen Eigensinn, den sie nicht aufgeben wollen oder können, und den sozialen Konventionen, in denen Leute wie sie eigentlich nicht vorgesehen sind – exaltierte Exzentriker wie der Amtschirurgus auf dem Dachboden ausgerechnet des Rathauses oder stille Existenzen wie eben Lena Wies, die altjüngferliche Marthe mit ihrer Uhr oder die beiden Kuchenesser, diese effeminierten Außenseiter und Junggesellen in einer Welt strikter Ehe- und Geschlechternormen.

Überhaupt zeigt sich die dichterische Zauberkunst des Hexenmeisters keineswegs nur in humoristischer Milde, im leisen Violinenklang der Spuk- und dem Spaß der Kindergeschichten, sondern durchaus auch in einem satirischen Witz, der sich seinerseits, wie die Erzählungen, zunehmend nicht mehr nur aus bürgerlich-emanzipatorischer Sicht gegen eine überalterte Adelsherrschaft richtet, sondern ebenso gegen das allzu selbstgewiss herrschende Bürgertum selbst – und gegen das preußische Beamtentum, dem er wohl oder übel nun selber angehörte. Die Neigung zur Satire hat ihn lebenslang nur selten ganz verlassen, in politischer Hinsicht wie auch, in seinen letzten Versen, in der Ironie gegenüber sich selbst, dem ans Ende seines Lebens und Schreibens gelangten Künstler.

Die Stimme dieses Hexenmeisters also soll das vorliegende Bändchen nach Möglichkeit wieder hörbar machen – »zum Vergnügen«. Dabei haben wir Texte aus allen Genres zusammengestellt, in denen Storm gearbeitet hat: Märchen und Novellen, Gedichte und Erinnerungen, eine Reportage und ein kleines szenisches Spiel. Auch der häufig übersehene Tagebuchschreiber soll mit einer schmalen Auswahl von Notizen vorgestellt werden. Soweit wie möglich präsentieren wir dabei vollständige und ungekürzte Texte (was sich im Fall der Briefauszüge natürlich nur auf die jeweils erzählten Episoden, in den Tagebucheinträgen auf die jeweiligen Gedanken und Aperçus beziehen kann). Dabei haben wir uns auf kleinere Formen und kürzere Texte konzentriert.

Storms mündlichem Erzählen und Rezitieren, so hat Fontane in seinem Essay vermerkt, hätte der Salon abwechselnd mit Lachen und mit einem leisen Gruseln gelauscht – es wäre schön, wenn auch dieses Bändchen solche Wirkungen hätte.

An Erich Schmidt

Du gehst im Morgen-, ich im Abendlicht –

Lass mich dies Buch in deine Hände legen;

Und konnt ich jemals dir das Herz bewegen,

Vergiss es nicht.

Der kleine Häwelmann
Illustrationen der Erstveröffentlichung von 1849

I. Von Kindern und Katzen

Mit Liedern

Liegt eine Zeit zurück in meinem Leben –

Wie die verlassne Heimat schaut sie aus,

Wohin im Heimweh die Gedanken streben –

Du kennst sie wohl – auch du warst dort zu Haus.

O folge mir, und lass dich heimatwärts

Durch mein Gedicht zu lieben Stunden bringen,

Die alte Zeit mit neu erregten Schwingen

Noch einmal schlagen an dein friedlich Herz!

Des Kindes Gebet

»Hu, wie mich friert! die Kälte

Presst mir die Lippen zu;

Kann noch nicht zu dir beten,

Du guter Vater, du!«

Und als es warm geworden,

Da schlief das Kindlein ein;

Und für die schlummernde Kleine

Still beten die Engelein.

Des Kindes Träne

Das Mägdlein weint, der Knabe zerbrach

Ihr die Rose und trat sie mit Füßen;

Und was ihr die Mutter Schönes verspricht,

Die Tränen reicher und reicher fließen.

»Sei ruhig! die Blumen sprießen ja neu

Und neue Sonnen scheinen;

Mein herzig Kind, ach möchtst du stets

Nur um gebrochne Rosen weinen.«

Die Kinder

1
Abends

Auf meinem Schoße sitzet nun

Und ruht der kleine Mann;

Mich schauen aus der Dämmerung

Die zarten Augen an.

Er spielt nicht mehr, er ist bei mir,

Will nirgend anders sein;

Die kleine Seele tritt heraus

Und will zu mir herein.

 

2

Mein Häwelmann, mein Bursche klein,

Du bist des Hauses Sonnenschein;

Die Vögel singen, die Kinder lachen,

Wenn deine strahlenden Augen wachen.

Zum 9. September

Fragt mich einer: Was ist das für’n Mann?

Sechs Ellen Beine, keinen Bauch daran!

»Ach was, ach was!

Mein Onkel ist das!

Mein Onkel!«

Fragt mich ein andrer: Was ist das für’n Gauch?

Hasseldünne Beine und sechs Ellen Bauch!

»Ach was, ach was!

Mein Onkel ist das!

Mein Onkel!«

Rief ich selbst: »Das will ich euch schwör’n!

Reden, reden müsst ihr ihn hör’n!

Das ist erst was!

Mein Onkel ist das!

Mein Onkel!«

Und das sag’ ich, so lang’ er tut leben und leiben

Und viel länger noch soll er mein Onkel bleiben!

Das ist kein Spaß!

Das ist erst was!

Mein Onkel!

In Bulemanns Haus

Es klippt auf den Gassen im Mondenschein;

Das ist die zierliche Kleine,

Die geht auf ihren Pantöffelein

Behend und mutterseelenallein

Durch die Gassen im Mondenscheine.

Sie geht in ein alt’ verfallenes Haus;

Im Flur ist die Tafel gedecket,

Da tanzt vor dem Monde die Maus mit der Maus,

Da setzt sich das Kind mit den Mäusen zu Schmaus,

Die Tellerlein werden gelecket.

Und leer sind die Schüsseln; die Mäuslein im Nu

Verrascheln in Mauer und Holze;

Nun lässt es dem Mägdlein auch länger nicht Ruh,

Sie schüttelt ihr Kleidchen, sie schnürt sich die Schuh,

Dann tritt sie einher mit Stolze.

Es leuchtet ein Spiegel aus goldnem Gestell,

Da schaut sie hinein mit Lachen;

Gleich schaut auch heraus ein Mägdelein hell,

Das ist ihr einziger Spielgesell;

Nun woll’n sie sich lustig machen.

Sie nickt voll Huld, ihr gehört ja das Reich;

Da neigt sich das Spiegelkindlein,

Da neigt sich das Kind vor dem Spiegel zugleich,

Da neigen sich beide gar anmutreich,

Da lächeln die rosigen Mündlein.

Und wie sie lächeln, so hebt sich der Fuß,

Es rauschen die seidenen Röcklein,

Die Händchen werfen sich Kuss um Kuss,

Das Kind mit dem Kinde nun tanzen muss,

Es tanzen im Nacken die Löcklein.

Der Mond scheint voller und voller herein,

Auf dem Estrich gaukeln die Flimmer;

Im Takte schweben die Mägdelein,

Bald tauchen sie tief in die Schatten hinein,

Bald stehn sie in bläulichem Schimmer.

Nun sinken die Glieder, nun halten sie an

Und atmen aus Herzens Grunde;

Sie nahen sich schüchtern, und beugen sich dann

Und knie’n vor einander, und rühren sich an

Mit dem zarten unschuldigen Munde.

Doch müde werden die beiden allein

Von all’ der heimlichen Wonne;

Sehnsüchtig flüstert das Mägdelein:

»Ich mag nicht mehr tanzen im Mondenschein,

Ach, käme doch endlich die Sonne!«

Sie klettert hinunter ein Trepplein schief,

Und schleicht hinab in den Garten.

Die Sonne schlief, und die Grille schlief:

»Hier will ich sitzen im Grase tief,

Und der Sonne will ich warten.«

Doch als nun Morgens um Busch und Gestein

Verhuschet das Dämmergemunkel,

Da werden dem Kinde die Äugelein klein;

Sie tanzte zu lange bei Mondenschein,

Nun schläft sie bei Sonnengefunkel.

Nun liegt sie zwischen den Blumen dicht

Auf grünem, blitzendem Rasen;

Und es schauen ihr in das süße Gesicht

Die Nachtigall und das Sonnenlicht

Und die kleinen neugierigen Hasen.

Geschichten aus der Tonne

Einer der wackersten Spielkameraden in meinen Knabenjahren war Claas Räuber. Er war der Sohn eines armen Schuhflickers und schon seit mehreren Jahren ein Stadtwaisenkind; den Beinamen Räuber aber hatten seine Genossen ihm gegeben, weil er in dem Spiel »Räuber und Soldat«, das wir an hellen Sommerabenden zu exerzieren pflegten, eine besondere Geschicklichkeit besaß und daher auch stets nur als Räuber ausgehoben wurde. Trotz seines abschreckenden Titels aber war Claas Räuber der ehrlichste und spaßhafteste Bursche von der Welt, und besaß außerdem noch ein anderes, von seinen Genossen sehr geschätztes Talent.

An den kurzen Herbstabenden nämlich, wo uns für die ausgelassenen Spiele nach der Schulzeit gar bald das Licht ausging, pflegten wir uns auf den breiten Steinen einer Haustreppe zusammen zu finden, und nun hieß es: »Stücken vertellen.« Hier war nun Claas Räuber wieder der beste und beliebteste Kamerad, denn sein Reichtum an allen möglichen Arten von Döntjes und Schnurren war unerschöpflich. Je heimlicher aber und verborgner wir unseren Märchensaal aufgeschlagen hatten, desto schöner hörten sich die Geschichten an, desto lebendiger traten all’ die wunderlichen und süßen Gestalten, die verwünschten Prinzen und Prinzessinnen, Schneewittchen und die Frau Holle vor unsere Phantasie; ja ich erinnere mich, dass wir einmal bei einer solchen Gelegenheit ganz deutlich den Niss Puck aus einer Dachöffnung in meines Vaters Scheune herausgucken sahen, und in Folge dessen einen zwar vergeblichen Feldzug durch die sämtlichen Böden gegen den Kobold unternahmen. Mich vorzüglich trieb jene Vorliebe für heimliche Erzählungsplätzchen zur Entdeckung immer neuer Schlupfwinkel. So hatte ich unter andern eine große leere Tonne dazu ausersehen, welche in einem Packhause unweit meines Vaters Schreibstube stand. In dieser Tonne hab’ ich die schönsten Geschichten meines Lebens gehört. Sie war das Allerheiligste, das nur von mir und Claas bezogen wurde. Hier kauerten wir Abends, wenn ich aus den Privatstunden kam, zusammen, nahmen meine kleine Laterne, die wir zuvor mit einigen Lichtendchen versehen hatten, auf den Schoß und schoben, nachdem wir hineingeklettert waren, ein großes, auf der Tonne liegendes Brett von innen wieder über die Öffnung derselben, so dass wir wie in einem kleinen Stübchen zusammen saßen. Wenn nun die Leute Abends nach meines Vaters Schreibstube gingen und ein dumpfes Gemurmel aus der alten Tonne aufsteigen hörten und einzelne verlorene Lichtstrahlen daraus hervorschimmern sahen, so konnte der alte Schreiber nicht genug die wunderliche Ursache davon berichten.

Hätten die lieben Leute bei uns in der Tonne gesessen, so hätten sie wohl selbst Gefallen an unseren Abendunterhaltungen gefunden, wozu ich den Leser nach zwanzig Jahren nachträglich auf’s Beste eingeladen haben will.

»Nun Claas«, sagte ich, nachdem ich unser Häuschen gehörig verschlossen hatte, »was hast du denn heute Abend?«

»Es ist ein ganz altes Stück«, sagte Claas, »das meiner Großmutter schon von ihrer Urgroßmutter erzählt ist, und die hat gesagt, es sei ein Stück aus der Mauskiste.«

»Nun«, sagte ich, »so erzähle; die Stücke aus der Mauskiste sind mir immer die liebsten gewesen.« Und Claas erzählte

Das Märchen von den drei Spinnfrauen

Es war einmal ein Dienstmädchen, die war ebenso schön als sie ehrbar und fleißig war; auch war sie im Nähen und Stricken und anderer häuslichen Arbeit wohlerfahren, nur spinnen konnte sie nicht. Sie hatte aber einen Freier, der war reich und jung und war gewaltig auf’s Spinnrad versessen. Als nun die Hochzeit heranrückte, so kam er eines Sonntags zu ihr und ließ sich zehn Pfund Flachs nachtragen. Er umarmte sie und sprach: »Kannst du diesen Flachs zum feinen Faden verspinnen, dein goldenes Haar würde mir noch einmal so lieb sein. Hast du’s fertig zum Sonnabend, so soll die Hochzeit sein.« Dann ging er fort; sie aber wusste sich keinen Rat, wer ihr die große Menge Flachs in so kurzer Zeit verspinnen sollte, und ging hinaus auf den Weg und weinte. Wie sie so eine Strecke gegangen war, kam sie an eine Hütte; als sie die Tür aufgemacht hatte, sah sie drinnen eine Frau am Spinnrad sitzen, die hatte Lippen, die waren so – lang. Das Mädchen erschrak gar heftig vor dieser Gestalt; denn die Alte brummte böse vor sich weg, was sie bei ihr zu suchen habe. Bald aber fasste sie sich einen Mut, und sprach: »Ach! liebe Frau, ich sehe, dass ihr gar tätig und kunstvoll seid; wolltet ihr mir diesen Flachs nicht verspinnen bis zum Sonnabend der Woche? Ich will euch gerne das Pfund mit einer baren Mark bezahlen.« Die Alte besah den Flachs und sagte, das sei unmöglich, so viel Flachs in einer Woche. Da fiel das Mädchen vor ihr auf die Knie und erzählte ihr alles, und dass sie sonst keinen Mann bekommen würde. Als die Alte das hörte, schlug sie in sich und sagte: »Steh’ nur auf, Töchterchen, der Flachs soll versponnen werden; aber da muss ich deinen Ehrentag doch mitmachen.« Das Mädchen ward so froh, dass sie alles versprach, und ging dann ihren Weg wieder nach Haus.

Kleevier

ersie

»Das Stück gefällt mir«, sagte ich, »vorzüglich, weil es am Ende doch noch so herauskommt, dass die alten hässlichen Spinnfrauen drei wohltätige Feen sind; aber unrecht war es doch von der Marie, dass sie ihrem Bräutigam solche Flausen vormachte.«

»Das gefällt mir nicht«, erwiderte ich, »meine Frau soll mir nichts vormachen, auch wenn ich unvernünftig bin.«

»Wie heißt denn das?« fragte ich. Claas aber dehnte sich, dass die Tonne knackte, und erzählte dann das Stück: