Der Herausgeber, die Herausgeberin
Prof. Dr. med. Marc Walter, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Medizinstudium in Göttingen und Berlin. Assistenzarzt an der Medizinischen Klinik der Charité in Berlin und an den Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) Basel. Forschungsaufenthalt an der Harvard Medical School in Boston. Gegenwärtig Chefarzt und stv. Direktor, UPK Basel und Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Basel. Forschungsschwerpunkte sind Suchtmedizin, Persönlichkeitsstörungen und Psychotherapie.
Prof. Dr. med. Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank, MHBA, Ärztin für Neurologie und Psychiatrie, Psychiatrie und Psychotherapie. Medizinstudium in Mainz, Weiterbildung an den Universitätskliniken Freiburg und Aachen. Habilitation am Universitätsklinikum Aachen, 2003 bis 2008 C3-Professur für experimentelle Psychiatrie am Universitätsklinikum Köln. Seit 2008 Ärztliche Direktorin der LVR-Klinik Köln, Akademisches Lehrkrankenhaus der Universität zu Köln und Fachkrankenhaus für Psychiatrie und Psychotherapie. Seit 2016 Direktorin des LVR-Instituts für Versorgungsforschung.
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2., erweiterte und aktualisierte Auflage 2019
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-035049-6
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pdf: ISBN 978-3-17-035050-2
epub: ISBN 978-3-17-035052-6
mobi: ISBN 978-3-17-035053-3
Dieses Buch richtet sich an alle Berufsgruppen, die in der Klinik oder Praxis mit psychischen Störungen und Suchterkrankungen konfrontiert sind. Es ist aber auch für interessierte Laien geschrieben, die sich intensiver mit dieser Thematik auseinandersetzen möchten.
Viele unserer Patientinnen und Patienten leiden neben ihrer psychischen Problematik auch an Suchtproblemen. Manche trinken Alkohol, um Stresssymptome zu bekämpfen oder besser einschlafen zu können, oder sie rauchen Cannabis, um Unruhe und Ängste zu minimieren. Bei anderen Patientinnen und Patienten triggern die Drogen immer wieder psychiatrische Symptome, so etwa bei Menschen mit Psychose und Cannabis- oder Stimulanzienkonsum. Nicht selten fallen erstmals in einer Suchtbehandlung weitere psychische Störungen auf; beispielsweise wenn eine Patientin während eines Drogen- oder Medikamentenentzuges frühere traumatische Ereignisse erinnert, oder Beziehungsprobleme wieder relevant werden. Diese Komorbidität – das gemeinsame Auftreten einer Suchterkrankung und einer psychischen Störung – wird häufig als Doppeldiagnose, im englischen Sprachgebrauch dual diagnosis oder dual disorder, bezeichnet.
Die Zusammenhänge zwischen der Sucht und den komorbiden psychischen Störungen sind komplex und keinesfalls unidirektional zu verstehen. Warum ist es aber überhaupt wichtig beide Störungsbilder zu kennen und korrekt zu diagnostizieren? Einfach gesagt, weil die Therapie häufig eine andere ist. Verglichen mit Suchtpatienten ohne weitere komorbide Störungen brauchen Patientinnen und Patienten mit einer Persönlichkeitsstörung oder etwa mit einer posttraumatischen Belastungsstörung einen anderen Umgang und komplexere psychotherapeutische Angebote, um von der Behandlung profitieren zu können. Die erforderliche Integration der Therapieansätze für die verschiedenen Störungskomponenten ist nicht einfach, und so wurden Patienten mit Doppeldiagnosen früher in der Regel traditionell nach einem sequentiellen Modell behandelt. In den letzten Jahren wurden mehrere integrierte Behandlungskonzepte und -programme für Patienten mit Doppeldiagnosen entwickelt und teilweise bereits erfolgreich evaluiert. Diese Programme finden heute zunehmend Eingang in die Regelversorgung.
Ziel des vorliegenden Buches ist es, häufig auftretende Komorbiditäten von Suchterkrankungen und psychischen Störungen sowie ihre wechselseitigen Erscheinungsformen in Epidemiologie, Ätiologie, Verlauf und Behandlung darzustellen. Dabei sollen »beide Seiten« berücksichtigt werden – die häufigen Komorbiditäten und ihre spezifischen Merkmale und ihre Behandlung sollen sowohl aus der Perspektive der psychiatrischen Erkrankung als auch aus der Perspektive der Suchtproblematik beschrieben werden.
Das Buch ist in einen einführenden allgemeinen und einen speziellen Teil untergliedert. Im ersten allgemeinen Teil ( Teil I) werden Grundlagen der Komorbidität wie theoretische Modelle, psychodynamische Aspekte, neuropsychiatrische Grundlagen und therapeutische Grundprinzipien dargestellt. Der spezielle Teil widmet sich nacheinander bestimmten psychischen Störungen mit komorbid auftretenden Suchterkrankungen ( Teil II) und Suchterkrankungen mit häufig komorbid vorkommenden psychischen Störungen ( Teil III).
Wir freuen uns, dass wir namhafte Experten dafür gewinnen konnten, den neuesten Wissensstand zu der Thematik der Doppeldiagnosen für eine interdisziplinäre Leserschaft zusammenzutragen. Wir glauben, dass es uns gelungen ist, mit dem vorliegenden Buch einen gut fundierten und ausgewogenen Überblick über diesen zunehmend wichtigen Bereich zu präsentieren und wir hoffen, dass das Buch bei den Lesern auf Interesse und Zustimmung stößt.
Basel und Köln, im Oktober 2013
PD Dr. med. Marc Walter und
Prof. Dr. med. Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank
Wir freuen uns, dass die erste Auflage unseres Buches zu Komorbidität und Doppeldiagnosen gut angenommen wurde und auf Interesse stieß. Nunmehr können wir hiermit eine zweite, aktualisierte und erweiterte Auflage vorlegen.
Die Gliederung in einen allgemeinen, einführenden Abschnitt ( Teil I) und zwei störungsspezifische Abschnitte wird in der 2. Auflage beibehalten.
Die störungsspezifischen Abschnitte fokussieren zunächst auf spezifische psychische Störungen mit ihren jeweiligen komorbiden Suchterkrankungen ( Teil II) und nachfolgend auf spezifische Suchterkrankungen mit ihren jeweiligen komorbiden psychischen Störungen ( Teil III). Diese Betrachtungsweise der Doppeldiagnosen trägt unseres Erachtens dazu bei, dass die komorbide Problematik individuell in Abhängigkeit von der klinisch führenden Diagnose berücksichtigt wird, und nicht nach klinischem oder wissenschaftlichem Schwerpunkt der Kliniker und Autoren.
Erfreulicherweise konnten wir für die 2. Auflage wieder alle Autoren dazu gewinnen, ihren Beitrag zu aktualisieren und auf den neusten Stand der Wissenschaft zu bringen.
Zwei neue Kapitel wurden zudem ergänzt: Ein Einleitungskapitel zur Komorbidität in den psychiatrischen Klassifikationssystemen von Prof. Rolf-Dieter Stieglitz ( Kap. 1) sowie ein Kapitel zu der zunehmend wichtiger werdenden Medikamentenabhängigkeit und ihren komorbiden psychischen Störungen von Prof. Michael Soyka und Prof. Andreas Franke ( Kap. 17).
Unser Buch ist wissenschaftlich fundiert, aber für die Praxis gedacht. Es soll einen umfassenden Überblick über Diagnostik und Behandlung von Doppeldiagnosen bieten. Es beschreibt Phänomene, die in der klinischen Versorgung unserer Patientinnen und Patienten zum Alltag gehören.
Wir wünschen Ihnen viel Freude und Gewinn beim Lesen.
Basel und Köln, im Juli 2019
Prof. Dr. med. Marc Walter und
Prof. Dr. med. Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank
Prof. Dr. med. Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank, MHBA
LVR-Klinik Köln, Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Akademisches Lehrkrankenhaus der Universität zu Köln
und LVR-Institut für Versorgungsforschung
Wilhelm-Griesinger-Str. 23, D-51109 Köln
Prof. Dr. med. Marc Walter
Universitäre Psychiatrische Kliniken (UPK) Basel
Wilhelm Klein-Str. 27, CH-4002 Basel
Prof. Dr. med. Anil Batra
Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Tübingen
Calwer Str. 14, D-72076 Tübingen
Prof. Dr. med. Stefan Bleich
Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie
Medizinische Hochschule Hannover
Carl-Neuberg-Str. 1, D-30625 Hannover
Prof. Dr. med. Stefan Borgwardt
Universitäre Psychiatrische Kliniken (UPK) Basel
Wilhelm Klein-Str. 27, CH-4002 Basel
Priv.-Doz. Dr. med. Dr. h.c. Dipl.-Psych. Dipl.-Soz. Gerhard Dammann, MBA
Psychiatrische Dienste Thurgau
Akademisches Lehrkrankenhaus der PMU Salzburg
Psychiatrische Klinik Münsterlingen
Seeblickstr. 3, CH-8596 Münsterlingen
Dr. phil. Kenneth M. Dürsteler
Zentrum für Abhängigkeitserkrankungen
Universitäre Psychiatrische Kliniken (UPK) Basel
Wilhelm Klein-Str. 27, CH-4002 Basel
Prof. Dr. med. Dr. disc. pol. Andreas G. Franke, M.A.
Hochschule der Bundesagentur für Arbeit (HdBA)
Seckenheimer Landstr. 16, D-68163 Mannheim
Dipl.-Psych. Johanna Grundmann
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung (ZIS)
Martinistr. 52, D-20246 Hamburg
Prof. Dr. med. Thomas Hillemacher
Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität am Klinikum Nürnberg
Prof.-Ernst-Nathan-Str. 1, D-90419 Nürnberg
Dr. med. Maria Hofecker Fallahpour
Spalenring 160, CH-4055 Basel
Prof. Dr. phil. Franz Moggi, EMBA
Universitäre Psychiatrische Dienste Bern
Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Bolligenstr. 111, CH-3000 Bern 60
Priv.-Doz. Dr. phil. Sylvie Petitjean
Zentrum für Abhängigkeitserkrankungen
Universitäre Psychiatrische Kliniken (UPK) Basel
Wilhelm Klein-Str. 27, CH-4002 Basel
Prof. Dr. med., MPH Ingo Schäfer
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung (ZIS)
Martinistr. 52, D-20246 Hamburg
Prof. Dr. med. Michael Soyka
Medical Park Chiemseeblick
Rasthausstr. 25, D-83233 Bernau
und
Klinik für Psychotarie und Psychotherapie
Klinikum der Universität München
Nußbaumstr. 7, D-80336 München
Prof. Dr. Dipl.-Psych. Christina Stadler
Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel
Kinder- und Jugendpsychiatrische Klinik
Schaffhauserrheinweg 55, CH-4058 Basel
Prof. Dr. rer.nat. Rolf-Dieter Stieglitz
Fakultät für Psychologie
Universität Basel
Missionsstr. 62a, CH-4055 Basel
Priv.-Doz. Dr. med. Rudolf Stohler
Praxis Aquila
Bahnhofplatz 1, CH-4133 Pratteln
Priv.-Doz. Dr. med. Bert T. te Wildt
LWL-Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin
und Psychotherapie, Ruhr-Universität Bochum
Alexandrinenstr. 1–3, D-44791 Bochum
Dr. rer. biol. hum. Dipl.-Psych. Andrija Vukic´evic´
Psychotherapeutische Praxis
Marktstr. 51/52, D-30159 Hannover
Prof. Dr. med. Gerhard A. Wiesbeck
Zentrum für Abhängigkeitserkrankungen
Universitäre Psychiatrische Kliniken (UPK) Basel
Wilhelm Klein-Str. 27, CH-4002 Basel
Dr. med. Dipl.-Psych. Johannes Wrege
Universitäre Psychiatrische Kliniken (UPK) Basel
Wilhelm Klein-Str. 27, CH-4002 Basel
Ein wesentliches Kennzeichen aktueller Klassifikationssysteme stellt das Komorbiditätsprinzip dar. Komorbidität (engl.: comorbidity) bedeutet allgemein das gemeinsame Auftreten verschiedener psychischer Störungen bei einer Person. Im ICD-10 Lexikon finden sich folgende Erläuterungen dazu (WHO 2002, S. 77):
»Eine Erweiterung der diagnostischen Möglichkeiten bietet das Prinzip der Komorbidität. Hierdurch werden in vielen Fällen die Schwere der Erkrankung, der ungünstige Krankheitsverlauf, das Erfordernis besonderer therapeutischer Interventionen, die schlechteren Behandlungsresultate und die ungünstigere Prognose klarer deutlich. So lässt sich die Vielfalt des klinischen Bildes durch mehrere Diagnosen besser beschreiben, was häufig vernachlässigt wird. Dabei gilt der Grundsatz: So viele Diagnosen wie nötig, aber nicht mehr als erforderlich!«
Als komorbide Diagnosen werden somit Diagnosen bezeichnet, die gleichzeitig bei einem Patienten vorliegen (z. B. eine Angst- und eine Persönlichkeitsstörung).
Ein Spezialfall von Komorbidität stellen duale Diagnosen oder Doppeldiagnosen dar (vgl. Moggi & Donati 2004), von denen man dann spricht, wenn eine Störung durch psychotrope Substanzen mit einer anderen psychischen Störung gemeinsam auftritt (z. B. schizophrene Störung). Eine Zusammenstellung weiterer in diesem Kontext oft verwendeter Begriffe findet sich bei Stieglitz und Volz (2007).
Das Komorbiditätsprinzip stellt eine Abkehr von früher dominierenden diagnostischen Hierarchieregeln dar, die vor allem mit dem Namen Karl Jaspers verbunden sind (vgl. hierzu Garcia 1987). Die Jaspers’sche Schichtenregel bezeichnet eine Vorgehensweise im diagnostischen Prozess, wonach psychische Erkrankungen in sog. Schichten angeordnet sind (von organischen Störungen über affektive Störungen bis hin zu den Neurosen; Jaspers 1973). Jede »tieferliegende« Erkrankung kann das Erscheinungsbild der darüberliegenden annehmen. Die eigentliche Diagnose muss anhand der tieferliegenden Erkrankung erfolgen. So wird angenommen, dass z. B. organische Störungen zeitweilig wie schizophrene Störungen aussehen können und daher eine organische Störung zu diagnostizieren sei. Als Begründung für die Einführung dieser Regel findet man verschiedene Argumente:
• Identifizierung der wichtigsten Diagnose für Behandlung und Therapie,
• Identifizierung derjenigen Diagnose mit der sparsamsten Erklärung der Phänomenologie,
• Hilfe im differentialdiagnostischen Prozess,
• Identifizierung von sog. »reinen« Fällen.
Die ICD-9 orientierte sich zwar wesentlich an hierarchischen Prinzipen der Diagnostik. Es fanden sich hier jedoch bereits erste Hinweise, wie bei jenen Patienten zu verfahren sei, die eine komplexere Symptomatik aufweisen:
»(…) wenn angebracht, mehrere Diagnosen aufgezeichnet werden. In Abhängigkeit vom Zwecke der Diagnosensammlung sollten Regeln für die Vorrangigkeit aufgestellt werden, um die Reihenfolge festzulegen, in der die Diagnosen dokumentiert werden sollen. Hierarchische Regeln (…) sind für psychiatrische Diagnosen meist zufriedenstellend« (Degkwitz et al. 1980, S. 14).
Mit der Einführung des DSM-III wurden erstmals psychische Störungen in einem Klassifikationssystem mittels operationaler Kriterien definiert (vgl. im Überblick Stieglitz 2008). Auch wenn im DSM-III nicht mehr explizit auf die Schichtenregel Bezug genommen wurde, so finden sich auch dort noch klinische Regeln, die implizit Hierarchien postulieren. Bei ca. 60 % der Störungen sind derartige diagnostische Hierarchieanweisungen bzw. diagnostische Ausschlussregeln zu erkennen (z. B. »nicht Folge einer …«, »nicht durch …«). Zwei Prinzipien wurden der Formulierung dieser Regeln zugrunde gelegt:
1. Wenn eine organische Störung die Symptome erklären kann, kann man nicht eine andere Diagnose stellen, die dieselben Symptome beinhaltet (z. B. eine organische bedingte Angststörung schließt eine komorbide Diagnose einer Panikstörung aus).
2. Wenn eine umfassende (pervasive) Störung (z. B. eine mit einem weiten Spektrum an Symptomen) Symptome hat, die sich mit Symptomen einer weniger umfassenden Störung überlappen (z. B. Schizophrenie versus Schizophrenie und dysthyme Störung).
Im DSM-III findet sich jedoch unter Rubrik »Mehrfachdiagnosen auf Achse I und Achse II« der Hinweis, dass bei Bedarf Mehrfachdiagnosen zu stellen sind, um den aktuellen Zustand zu beschreiben. Als Beispiel wird ein Patient genannt, der neben einer substanzinduzierten Störung auch eine affektive Störung haben kann. Es können mehrere Diagnosen in derselben Klasse bestehen (z. B. typische Depression und Dysthymie), wärend sich in anderen Klassen Subtypen ausschließen (z. B. bei den schizophrenen Störungen).
Für die Aufgabe des Hierarchieprinzips und Etablierung des Komorbiditätsprinzips in den aktuellen Klassifikationssystemen finden sich verschiedene Argumente. Von verschiedenen Autoren (z. B. van Praag 1993) wird die Ansicht vertreten, dass die Psychiatrie durch die Anwendung hierarchischer Prinzipien wenig Gewinn gehabt hat, da sie
• mit einem Verlust an Informationen über den Patienten einhergehen,
• einen Verlust an therapeutischen Möglichkeiten beinhalten, da wenig Evidenz besteht, dass »niedrigere« Syndrome verschwinden, wenn »höhere« Syndrome erfolgreich behandelt werden,
• einen Verlust an Validierungsmöglichkeiten bedeuten, insbesondere der biologischen Forschung. (Beispiel: Wie kann man biologische Ergebnisse in der Schizophrenie interpretieren, wenn bei bestimmten Patienten die Koexistenz einer depressiven Störung besteht, bei anderen nicht?)
Empirische Studien haben zudem belegen können, dass es für die Hierarchisierung oft keine ausreichende Begründung gibt. So haben verschiedene Arbeiten zeigen können, dass bestimmte Störungen überzufällig häufig gemeinsam miteinander auftreten, d. h. unter Umständen nicht zufällig kovariieren. Zu nennen sind hierbei insbesondere Schizophrenie und substanzbedingte Störungen, Angst- und Persönlichkeitsstörungen oder depressive und Angststörungen. Insbesondere Persönlichkeitsstörungen sowie substanzbedingte Störungen haben sehr häufig den Status von komorbiden Störungen über alle anderen Störungsgruppen hinweg.
Zu den allgemeinen Neuerungen im DSM-III-R zählte die Relativierung bestimmter diagnostischer Hierarchieregeln. Im Unterschied zum DSM-III wurden in vielen Bereichen die hierarchischen Vorschriften weitgehend aufgehoben (z. B. Angststörungen) und mussten dem Konzept der Komorbidität weichen. Dieses galt zudem nicht nur für den Querschnittsbefund, sondern auch für die gesamte Lebensspanne des Patienten. Allein aufgrund dieser Entwicklung ergab sich eine deutliche Zunahme potentieller Komorbiditäten. Auch die stringentere Definition der Störungen durch deren Operationalisierungen trägt hierzu bei.
Vom DSM-III-R zum DSM-IV gab es keine grundlegenden Änderungen. Das Komorbiditätsprinzip wurde weiter explizit favorisiert, wenngleich sich weiterhin Hinweise auf den Ausschluss anderer Diagnosen bzw. Hinweise auf Differentialdiagnosen finden, die umschrieben wurden durch Formulierungen wie »die Kriterien für … waren niemals erfüllt« oder »kann nicht besser durch … erklärt werden«.
Bei Störungsbildern, die die Kriterien für mehr als eine Störung erfüllen, sollten auch mehrere Diagnosen vergeben werden. Es werden jedoch auch Situationen genannt, in denen diagnostische Hierarchien gebildet werden, um multiple Diagnosen zu vermeiden (u. a. psychische Störungen, die durch medizinische Krankheitsfaktoren oder Substanzwirkungen erklärbar sind). Die Dokumentation kann im multiaxialen System erfolgen resp. durch einfache Auflistung. Dabei gilt die Regel, so viele gleichzeitig vorhandene psychische Störungen, medizinische Krankheitsfaktoren und andere Faktoren, die für die Versorgung und Behandlung wichtig sind, zu erfassen. Die Hauptdiagnose bzw. der Konsultationsgrund sollte an erster Stelle stehen.
In Forschung und Praxis sind gegenwärtig die ICD-10 und das DSM-IV/DSM-5 dominierend. Die ICD-10 stellt das Klassifikationssystem der World Health Organization (WHO) dar und ist für die Mitgliedsländer verbindlich, wogegen das DSM-5 als nationales System der American Psychiatric Association (APA) in der Praxis einen begrenzten Einfluss hat, jedoch in der Forschung klar dominant ist.
Im DSM-5 besteht das Komorbiditätskonzept unverändert weiter, das multiaxiale System wurde jedoch aufgegeben. Es finden sich zwar keine expliziten Ausführungen zu deren Anwendung, jedoch sind bei allen psychischen Störungen jeweils Unterabschnitte zur Komorbidität enthalten.
In die ICD-10 wurde das Konzept der Komorbidität erstmals explizit eingefügt und stellt eines der wichtigstes konzeptuellen Neuerungen gegenüber der ICD-9 dar (WHO 2002). In den Klinisch-diagnostischen Leitlinien (1. Auflage, Dilling et al. 1991, S. 20) findet sich unter der Überschrift »Verschlüsselung von mehr als einer Diagnose« die generelle Regel, so viele Diagnosen zu verschlüsseln, wie für die Beschreibung des klinischen Bildes notwendig sind. Folgende weitere Empfehlungen finden sich:
• Es sollte zwischen einer Hauptdiagnose sowie Neben- bzw. Zusatzdiagnosen unterschieden werden.
• Priorität hat die Diagnose mit der größten aktuellen Bedeutung (meist die Störung, die zur Kontaktaufnahme mit der jeweiligen Institution oder Einrichtung geführt hat).
• Unter Berücksichtigung der Vorgeschichte kann jedoch unter anderen Bedingungen die wichtigste Diagnose die Lebenszeitdiagnose sein. (Beispiel: Patient mit einer schizophrenen Störung, der aktuell mit einer Angstsymptomatik erscheint.)
• Bei Unklarheit bezüglich der Reihenfolge der Störungen sollten diese in der numerischen Reihenfolge aufgeführt werden.
Weiterhin findet sich in der ICD-10 der explizite Hinweis, auch die anderen Kapitel der ICD-10 zur Verschlüsselung heranzuziehen (z. B. Kapitel VI Krankheiten des Nervensystems, G). Dennoch gibt es auch in der ICD-10 wie im DSM-IV eine Reihe von Ausschlusskriterien bzw. auszuschließende Diagnosen.
Ebenfalls wie im DSM-5 besteht grundsätzlich die Möglichkeit der Verschlüsselung von Diagnosen aus verschiedenen Abschnitten (z. B. Panikstörung und depressive Episode) oder innerhalb eines Abschnitts (z. B. depressive Episode und Dysthymie). Bei anderen Abschnitten ist jedoch eine Komorbidität von Subtypen nicht möglich (z. B. Schizophrenie).
In einigen Abschnitten wird jedoch vom Prinzip der Komorbidität abgewichen, indem übergeordnete Einheiten geschaffen wurden. Folgende Beispiele seien exemplarisch genannt:
• Abschnitt F1 »Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen«: Hier gibt es die Kodierung F19 »Störungen durch multiplen Substanzgebrauch und Konsum sonstiger psychotroper Substanzen«, die dann zu wählen ist, wenn ein Patient verschiedene Substanzen konsumiert.
• Abschnitt F4 »Neurotische-, Belastungs- und somatoforme Störungen«: Hier gibt es unter den anderen Angststörungen eine Störungsgruppe F41.2 »Angst und depressive Störung, gemischt«, die dann zu diagnostizieren ist, wenn Angst und Depression gleichzeitig vorliegen, jedoch der Schweregrad nicht rechtfertigt, beide Diagnosen zu stellen.
• Abschnitt F6 »Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen«: Die Kodierung F61 »kombinierte Persönlichkeitsstörung« ist dann zu wählen, wenn mehrere Störungen vorliegen, jedoch kein vorherrschendes Symptombild einer spezifischen Persönlichkeitsstörung besteht.
Im Unterschied zum DSM-5 verfügt die ICD-10 über verschiedene Versionen, wobei die Unterscheidung zwischen den klinisch-diagnostischen Leitlinien und den Kriterien für Forschung und Praxis wichtig ist (vgl. im Überblick hierzu Stieglitz 2008). Erstere sind, was die Symptom- und Zeitkriterien betrifft, z. T. weniger präzise, ermöglichen damit zwar eine flexiblere Anwendung, bedeuten im Hinblick auf Komorbidität auch eher die Möglichkeit, komorbide Störungen zu diagnostizieren.
Abschließend noch einige Anmerkungen zum aktuellen Stand der ICD-11. Die vorläufige Version der ICD-11 wurde im Juni 2018 publiziert, in der WHO-Vollversammlung im Mai 2019 verabschiedet und soll 2022 offiziell in den Mitgliedsländern eingeführt werden. Gegenüber der ICD-10 wird es in der ICD-11 einige grundlegende Änderungen geben. Dies betrifft verschiedene Aspekte wie
• die Neustrukturierung der Abschnitte in Anlehnung an das DSM-5,
• die Aufgabe des alphanumerischen Systems (z. B. statt F20.x für schizophrene Störungen jetzt 6A20),
• die Aufnahme einiger neuer Störungen (z. B. komplexe PTSD).
Eine gegenüber ICD-10 und DSM-5 deutliche Veränderung wird im Bereich der Persönlichkeitsstörungen stattfinden. Die Diagnostik erfolgt in einem dreistufigen Prozess: Prüfung der allgemeinen Kriterien – Bestimmung des Schwergrades – Bestimmung der Präsentation der Persönlichkeitsproblematik. Das Komorbiditätsprinzip wird unverändert beibehalten werden.
Der diagnostische Prozess wird durch eine Reihe von Fehlerquellen beeinflusst (Spitzer & Fleiß 1974). Bezogen auf die Diagnosenebene sind dies vor allem die Kriterien- und Informationsvarianz. Erste beinhaltet die unterschiedliche Anwendung von diagnostischen Kriterien zur Diagnosestellung, was durch die Operationalisierung von Störungen in ICD-10 und DSM-5 reduziert werden konnte. Letztere umfasst den Prozess der Informationserhebung zur Beurteilung der Kriterien, d. h. beinhaltet das Problem, dass Untersucher unterschiedliche Fragen im Hinblick auf die zu bewertenden Kriterien stellen. In traditioneller Weise wird die Diagnosestellung im Anschluss an ein klinisches Interview vorgenommen. In diesem Gespräch versucht der Untersucher, im Hinblick auf ein bestimmtes Klassifikationssystem Fragen in eigenen Worten zu formulieren, um Informationen für seine Diagnosestellung zu erhalten. Zahlreiche Studien haben zeigen können, dass die Interrater-Reliabilität solcher klinischer Interviews erfahrungsgemäß eher gering ist. Im Kontext von ICD-10 und damals noch DSM-III/DSM-IV wurde daher versucht, geeignete Untersuchungsinstrumente als Hilfsmittel zur Diagnosenstellung zu entwickeln. Insbesondere von Seiten der WHO wurde diese Strategie mit Beginn der Entwicklung der ICD-10 konsequent verfolgt, so dass heute eine Reihe von Instrumenten zu unterschiedlichen Bereichen psychischer Beeinträchtigungen vorliegen (vgl. im Überblick Stieglitz et al. 2001; Stieglitz & Freyberger 2017). Heute stehen folgende Gruppen diagnostischer Hilfsmittel zur Verfügung: Checklisten sowie strukturierte und standardisierte Interviews. Vor dem Einsatz dieser z. T. aufwendigen Instrumente bietet sich als erster Schritt der Einsatz von Screeningverfahren an, wenn der Verdacht auf das Vorliegen einer oder mehrerer psychischer Störung(en) besteht.
Beim Screening handelt es sich in der Regel um einfache, d. h. schnell und ökonomisch einsetzbare Selbstbeurteilungsverfahren. Diese können dem Untersucher erste wichtige Hinweise auf die Art der Störung liefern, deren genaue Prüfung dann z. B. durch Interviews erfolgen sollte. Hierzu gibt es verschiedene Möglichkeiten (vgl. Stieglitz & Volz 2007). Besonders zu erwähnen sind Screeningfragebögen in Anlehnung an ein Klassifikationssystem. Am bekanntesten sind die Screeningfragebögen zum DIA-X (Wittchen & Pfister 1987, s. a. nachfolgender Abschnitt). Diese liegen in drei Versionen vor. In der allgemeinsten Fassung werden Screeningfragen zu allen im DIA-X erfassbaren Störungen gestellt. Zusätzlich gibt es zwei differenzierte Versionen für den Depressions- und Angstbereich. Werden die aufgeführten Fragen positiv bewertet, müssen die entsprechenden Module des Interviews geprüft werden. Beispielfragen aus dem allgemeinen Screeningbogen finden sich in der Tabelle ( Tab. 1.1).
Tab. 1.1: Screeningfragen aus dem allgemeinen Screeningfragebogen (SSQ) des DIA-X (Beispiele; Wittchen & Pfister 1997)
Da eine Diagnose nie aufgrund der Ergebnisse eines Screeningverfahrens gestellt werden darf, muss im Anschluss daran ein differenziertes diagnostisches Verfahren eingesetzt werden. Die nachfolgend vorzustellenden Verfahrensgruppen haben sich dabei bewährt (vgl. auch Stieglitz 2008 sowie Strauss & Schumacher 2005).
Die sog. Check- oder Merkmalslisten stellen die einfachste Form an Hilfsmitteln zur Unterstützung der Diagnosestellung dar. Sie beinhalten in der Regel nur die für die einzelnen diagnostischen Kategorien enthaltenen Kriterien. Dem Diagnostiker bleibt es bei den Checklisten selbst überlassen, wie er Fragen stellt, um an die notwendigen Informationen zu kommen, und wie er die Antworten des Patienten kodiert (Problem »Informationsvarianz«). Der Gesamtablauf der Informationserhebung liegt dabei in den Händen des Untersuchers selbst. In den nachfolgenden Tabellen finden sich Beispiele für deutschsprachige Verfahren (Gesamtbereich Tab. 1.2 bzw. Teilbereich Persönlichkeitsstörungen Tab. 1.3).
Auf ein gewichtiges Problem, das nicht nur die Checklisten betrifft, sondern ebenso die Klassifikationssysteme selbst, sei kurz hingewiesen: das Fehlen eines umfassenden Glossars zu den Symptomen (Problem: Erhöhung der Beobachtungs- und Interpretationsvarianz; Spitzer & Fleiss 1974). Die aktuellen Klassifikationssysteme umfassen mehrere hundert allein psychopathologische Begriffe. Blashfield und Fuller (1996) schätzen die Anzahl diagnostischer Kriterien in DSM-IV auf ca. 1.500 (!), wobei die Mehrzahl Symptomkriterien sind. Das z. B. vom DSM-5 angebotene Glossar deckt nur einen Teil ab. In der ICD-10 selbst finden sich direkt keine Kriteriendefinitionen, sondern lediglich im ergänzend zur Verfügung stehenden Lexikon (WHO 2002). Zwar sprechen einige psychopathologische Begriffe für sich (z. B. Konzentrationsstörungen), jedoch ein Großteil
VerfahrenAbk.VerfasserArtKlassifikationssystem
Tab. 1.2: Checklisten, strukturierte und standardisierte Interviews zur klassifikatorischen Diagnostik
lässt viel Interpretationsspielraum zu (z. B. Depersonalisation), was einen Einfluss auf die Beurteilung hat. Das Hauptproblem bezüglich der Checklisten stellt jedoch die bereits erwähnte Informationsvarianz dar, d. h. die unterschiedliche Art, Informationen zu erheben. Die zuverlässige Anwendung von Checklisten im Hinblick auf Komorbidität setzt zudem folgendes voraus:
• umfangreiche Kenntnisse des Manuals,
• darauf basierend die Ableitung von zuverlässigen Hypothesen über das Vorliegen von Störungen,
• deren Überprüfung dann mittels der ausgewählten Checklisten erfolgen muss.
Klinische Interviews (vgl. auch Wittchen et al. 2001) sind zielgerichtete menschliche Interaktionen zwischen zwei Personen (Befrager und Befragtem) mit dem Ziel der Informationssammlung über die verschiedenen Aspekte des Erlebens und Verhaltens des Befragten. Im Hinblick auf die Klassifikationssysteme bedeutet dies die Bereitstellung von Befragungsstrategien zur Informationssammlung zu den in Diagnosensystemen enthaltenen Kriterien (Symptom-, Zeit- und Verlaufskriterien; Ein- und Ausschlusskriterien). Hinsichtlich des Grades der Strukturierung des Informationserhebungsprozesses unterscheidet man zwischen strukturierten und standardisierten Interviews. Strukturierte Interviews geben eine systematische
VerfahrenAbk.VerfasserArtKlassifikationssystem
Tab. 1.3: Checklisten und strukturierte Interviews zur klassifikatorischen Diagnostik: Teilbereiche
Gliederung des Prozesses der Informationssammlung vor. Die Exploration durch die Diagnostiker wird erleichtert durch die Vorgabe von vorformulierten Fragen (Einstiegs- und Zusatzfragen). Die Bewertung und Gewichtung der Antworten des Patienten bleibt in der Regel dem Untersucher überlassen (klinisches Urteil), wenngleich zum Teil Ratinganweisungen mit angegeben werden, um dieses Urteil zu erleichtern. Demgegenüber sind bei den standardisierten Interviews alle Ebenen des diagnostischen Prozesses sowie alle Elemente der Informationserhebung genau festgelegt, d. h. der Ablauf der Untersuchung, die Art der Reihenfolge der Fragen, die Kodierung der Antworten bis hin zu der meist computerisierten Diagnosestellung. In den Tabellen ( Tab. 1.2 und Tab. 1.3) finden sich die gegenwärtig in deutschsprachigen Versionen verfügbaren Instrumente.
Bezüglich der Erfassung von komorbiden Störungen muss vorab auf folgenden wichtigen Punkt hingewiesen werden: Will man das Gesamtspektrum möglicher komorbider psychischer Störungen berücksichtigen, so sind immer zwei Instrumente notwendig, da der Bereich der Persönlichkeitsstörungen immer separat erfasst werden muss.
Als das weltweit am häufigsten eingesetzte Instrument kann das Strukturierte Klinische Interview für DSM-IV (SKID) angesehen werden. Es ermöglicht die Erfassung von sog. Achse-I- und Achse-II-Störungen (d. h. separat psychische Störungen und Persönlichkeitsstörungen) nach DSM-IV. Erfasst werden die wichtigsten Achse-I-Störungen (u. a. Affektive Störungen, Angststörungen) sowie alle Achse-II-Störungen. Beide können unabhängig voneinander eingesetzt werden. Für DSM-5 sind deutschsprachige Adaptationen in Vorbereitung.
Zu den Instrumenten, die ein weites Spektrum von Störungen abzubilden erlauben, zählen auch die Schedules for Clinical Assessment in Neuropsychiatry (SCAN). Es handelt sich dabei um eines der offiziellen Instrumente der WHO, das über viele Jahre hinweg entwickelt worden ist, und basiert auf dem klassischen »Present State Examination« (PSE-9) von Wing, Cooper und Sartorius, aus dessen Arbeitsgruppe heraus auch dieses Instrument entwickelt wurde. Das SCAN besteht aus einer Standarderhebung (PSE-10; Teil I: nicht-psychotische Symptome und Screening für Teil II; Teil II: Psychotische Symptome und Verhaltensbeurteilung) sowie wahlweisen Erhebungen (z. B. der Clinical History Schedule (CHS), die eine differenzierte Erfassung der klinischen und sozialen Vorgeschichte erlaubt, z. B. soziale Rollenerfüllung, soziale Behinderungen). Darüber hinaus werden für die Bereiche, in denen keine Diagnosestellung möglich ist, sogenannte Zusatzmodule empfohlen (z. B. International Personality Disorder Examination, IPDE für Persönlichkeitsstörungen, Tab. 1.3).
Im deutschsprachigen Bereich häufig eingesetzt wird auch das Diagnostische Interview bei Psychischen Störungen (DIPS). Es ist an DSM-IV orientiert und umfasst 8 Sektionen. Im Gegensatz zu den anderen Verfahren werden über die reine Symptomerfassung auch therapierelevante Informationen mit erhoben.
Aus das Mini-International Neuropsychiatric Interview (M.I.N.I.) deckt ein weites Spektrum an Störungen ab, ist jedoch weniger komplex und einfacher in der Anwendung. Es ist ebenfalls auf Deutsch verfügbar und ermöglicht Diagnosen nach DSM-IV und ICD-10. Es umfasst 16 Sektionen.
Zur Gruppe der strukturierten Interviews gehören auch noch drei weitere Verfahren, die jeweils spezifische Teilbereiche abbilden. So fokussiert das International Personality Disorder Examination (IPDE), wie das Strukturierte Klinisches Interview für DSM-IV Achse II. Persönlichkeitsstörungen (SKID-II), nur auf den Bereich der Persönlichkeitsstörungen, ein weiteres auf den Bereich dementieller Störungen: das Strukturierte Interview zur Diagnostik einer Demenz vom Alzheimer Typ und … (SIDAM).
Auf der Ebene der standardisierten Interviews liegt das Composite International Diagnostic Interview (CIDI) vor. Es handelt sich dabei um ein modular aufgebautes Interview, bestehend aus einer Basisversion und sogenannten Zusatzmodulen (z. B. antisoziale Persönlichkeitsstörungen). Auch das CIDI ist eines der offiziellen Instrumente der WHO zur Diagnostik nach ICD-10. Es wurde bisher hauptsächlich in epidemiologischen Studien eingesetzt und in diesem Kontext auch entwickelt, ist jedoch gleichfalls in der Praxis anwendbar. Aufgrund des maximal möglichen Grades der Standardisierung ist es auch von klinisch unerfahrenen Untersuchern benutzbar. Ein wesentliches Kennzeichen des CIDI ist das genau festgelegte diagnostische Vorgehen bei jedem Kriterium. Es muss jeweils festgestellt werden, ob das entsprechende Symptom tatsächlich von psychiatrischer Relevanz ist und nicht z. B. auf Medikamente, Drogen, Alkohol oder körperliche Erkrankungen oder Verletzungen zurückzuführen ist. Als eine Weiterentwicklung wie Erweiterung um modulare Bausteine kann das Expertensystem zur Diagnostik Psychischer Störungen (DIA-X) von Wittchen und Pfister (1997) angesehen werden. Es besteht aus folgenden Hauptkomponenten: drei Screeningfragebögen (s. o.) zu psychischen Störungen allgemein (DIA-SSQ), zu Angst (DIA-ASQ) und zu Depression (DIA-DSQ), dem standardisierten Interview (DIA-X Interview), das als Paper-Pencil-Version sowie in computerisierter Form vorliegt (Querschnitts- und Längsschnittsymptomatik). Vor allem die computergestützte Interviewführung kann als eigentliche Innovation des Systems angesehen werden (Vorteile: geringer Trainingsaufwand, Reduktion der Fehlerquote auf Seiten des Untersuchers).
Nach Zimmerman (2003) sollten auch in der klinischen Routine möglichst diagnostische Verfahren eingesetzt werden, da sich z. B. mittels diagnostischer Interviews deutlich mehr komorbide Störungen diagnostizieren lassen. Bezüglich der einzelnen Verfahrensgruppen ist auf folgende Punkte hinzuweisen. Zu den Vorteilen der Erfassung psychischer Störungen mittels Checklisten zählt insbesondere, dass die in ihnen enthaltenen Kriterien die größte Ähnlichkeit zu denen der diagnostischen Kategorien aufweisen (oft wörtlich übernommen), sowie die prinzipielle Möglichkeit, fast alle Störungsgruppen abzubilden. Als problematisch anzusehen ist, dass die Kenntnis des jeweiligen Diagnosensystems vorausgesetzt werden muss, ebenso klinische Erfahrung. Auch das bereits erwähnte Problem der Informationsvarianz bleibt bestehen. Die Notwendigkeit eines hypothesengesteuerten Vorgehens stellt eine weitere Schwierigkeit dar, da aus Zeitgründen nicht alle Checklisten überprüft werden können. Zu den Vorteilen der Interviews zählt insbesondere die Reduktion der Informationsvarianz und damit verbunden eine Erhöhung der Reliabilität, bei den standardisierten Interviews zudem die Reduktion der Beobachtungsvarianz durch die Vorgabe von Beurteilungskriterien für die Bewertung der Aussagen der Patienten. Als nachteilig anzusehen ist der oft hohe Zeitaufwand, das Training wie die Durchführung betreffend.
Seit Einführung des Komorbiditätsprinzips in die psychiatrische Diagnostik sind eine Vielzahl neuer Erkenntnisse bezüglich der Epidemiologie, des Verlaufs und der Behandlung psychischer Störungen zu verzeichnen. Das allgemeine Ergebnis und konsistente Fazit dieser Studien ist meist, dass es sich bei der Komorbidität nicht um die Ausnahme, sondern um die Regel zu handeln scheint.
Die Forschung hat zudem angeregt, Modellvorstellungen zur Komorbidität zu entwickeln (vgl. Wittchen & Vossen 1995). Diese ermöglichen es, Entstehungsbedingungen und den Verlauf einer oder mehrerer psychischer Störungen einer empirischen Überprüfung zu unterziehen und damit wesentlich zum Verständnis der Störungen und ihrer Entstehungsbedingungen beizutragen.
Im klinischen Alltag hat dieses Konzept vor allem in den letzten 30 Jahren seit Einführung der ICD-10 zudem eine neue Sichtweise etabliert. Bereits Angst hat 1994 auf die hohe Praxisrelevanz von Komorbidität hingewiesen: Komorbidität ist häufig, beinhaltet schwerere Erkrankungen und meist auch eine schlechtere Prognose sowie ungünstigere therapeutische Resultate und größere Anforderungen an die Behandlung (z. B. hinsichtlich der Medikation: Komedikation, Interaktion der Substanzen). Der Einsatz diagnostischer Instrumente reduziert das Risiko, komorbide Störungen zu übersehen.
Theoretisch wie klinisch stellt der Komorbiditätsgedanke somit ein sinnvolles Prinzip dar. Aufgrund des gegenwärtigen Wissensstands über psychische Störungen kann es sogar als ein notwendiges Prinzip angesehen werden. Ihm kommt eine wesentliche Bedeutung sowohl hinsichtlich des theoretischen Verständnisses psychischer Störungen als auch deren Behandlung zu.
Man kann somit abschließend sicherlich Angst (1994, S. 48) auch heute noch zustimmen, »(…) dass Komorbidität nicht einfach Sand im Getriebe, oder diagnostische Verunreinigungen darstellt, sondern einen Ansatz für fruchtbare empirische Forschung mit grosser theoretischer und praktischer Relevanz bilden kann und wird«.
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