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Fjodor Michailowitsch Dostojewski

Die Dämonen

Fjodor Michailowitsch Dostojewski

Die Dämonen

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
Übersetzung: Hermann Röhl
Fußnoten: Jürgen Schulze
EV: Insel-Verlag, Leipzig, 1920
1. Auflage, ISBN 978-3-962814-67-0

null-papier.de/613

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Inhaltsverzeichnis

Per­so­nen­ver­zeich­nis

Ers­ter Teil

Ers­tes Ka­pi­tel.

Zwei­tes Ka­pi­tel. – Prinz Har­ry. Die Braut­wer­bung.

Drit­tes Ka­pi­tel. – Frem­de Sün­den.

Vier­tes Ka­pi­tel. – Die Lah­me.

Fünf­tes Ka­pi­tel. – Die klu­ge Schlan­ge.

Zwei­ter Teil

Ers­tes Ka­pi­tel. – Die Nacht.

Zwei­tes Ka­pi­tel. – Die Nacht (Fort­set­zung).

Drit­tes Ka­pi­tel. – Das Duell.

Vier­tes Ka­pi­tel. – Alle in Er­war­tung.

Fünf­tes Ka­pi­tel. – Vor dem Fes­te.

Sechs­tes Ka­pi­tel. – Pe­ter Ste­pa­no­witsch in ge­schäf­ti­ger Tä­tig­keit.

Sie­ben­tes Ka­pi­tel. – Bei den Uns­ri­gen.

Ach­tes Ka­pi­tel. – Iwan, der Za­ren­sohn.

An­mer­kung des Über­set­zers

Neun­tes Ka­pi­tel. – Ste­pan Tro­fi­mo­witsch wird »kon­fis­ziert«.

Zehn­tes Ka­pi­tel. – Die Fli­bus­tier. Der ver­häng­nis­vol­le Vor­mit­tag.

Drit­ter Teil

Ers­tes Ka­pi­tel. – Das Fest.

Zwei­tes Ka­pi­tel. – Der Schluss des Fes­tes.

Drit­tes Ka­pi­tel. – Der be­en­de­te Ro­man.

Vier­tes Ka­pi­tel. – Der letz­te Be­schluss.

Fünf­tes Ka­pi­tel. – Die Rei­sen­de.

Sechs­tes Ka­pi­tel. – Die mü­he­vol­le Nacht.

Sie­ben­tes Ka­pi­tel. – Ste­pan Tro­fi­mo­witschs letz­te Wan­de­rung.

Ach­tes Ka­pi­tel. – Schluss.

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Personenverzeichnis

War­wa­ra Pe­trow­na Sta­wro­gi­na – Wit­we ei­nes Ge­ne­rals

Ni­ko­lai Sta­wro­gin – ihr Sohn

Ste­pan Tro­fi­mo­witsch Wer­cho­wen­ski – Dich­ter und Haus­leh­rer

Pe­ter Ste­pa­no­witsch Wer­cho­wen­ski – sein Sohn

Pras­ko­wja Iwa­now­na Dros­do­wa – Wit­we ei­nes Ge­ne­rals

Li­sa­we­ta Ni­ko­la­jew­na Tu­schi­na – ihre Toch­ter aus ers­ter Ehe

Ma­wri­ki Ni­ko­la­je­witsch Dros­dow – Of­fi­zier, Nef­fe des ver­stor­be­nen Ge­ne­rals Dros­dow

Iwan Osi­po­witsch – der frü­he­re Gou­ver­neur

An­drei An­to­no­witsch v. Lemb­ke – der neue Gou­ver­neur

Ju­li­ja Michai­low­na v. Lemb­ke – sei­ne Frau

Kar­ma­si­now – ein be­rühm­ter Schrift­stel­ler

Ar­te­mi Pe­tro­witsch Ga­ga­now – Gar­de­haupt­mann a.D.

Le­b­jad­kin – an­geb­li­cher Stabs­ka­pi­tän a.D.

Mar­ja Timo­fe­jew­na – sei­ne Schwes­ter

Iwan Scha­tow, Dar­ja Paw­low­na Scha­to­wa (ge­nannt Da­scha) – Kin­der ei­nes ver­stor­be­nen Die­ners der Sta­wrog­ins

Mar­ja Ignat­jew­na Scha­to­wa – Scha­tows Frau

Ari­na Pro­cho­row­na Wirg­ins­ka­ja – eine Heb­am­me

Ale­xei Ni­lo­wi­tsch Ki­ril­low – ein In­ge­nieur

Schi­ga­lew – Ver­fas­ser ei­ner Schrift über re­vo­lu­tio­näre Theo­ri­en und Bru­der von Frau Wirg­ins­ka­ja

Tol­kat­schen­ko, Fähn­rich Er­kel und an­de­re – An­hän­ger re­vo­lu­tio­närer Ide­en

Li­pu­tin, Ljam­schin, Wirg­in­ski – Be­am­te

Alo­scha Tel­jat­ni­kow – ein ehe­ma­li­ger Be­am­ter

Fed­ka – ein ent­lau­fe­ner Sträf­ling aus Si­bi­ri­en

Wa­si­li Iwa­no­witsch Fli­bust­jerow – ein Po­li­zei­kom­missar

Sem­jon Ja­kow­le­witsch – Pro­phet

Ti­chon – ein im Klos­ter zu­rück­ge­zo­gen le­ben­der Bi­schof.

Ale­xei Je­go­ro­witsch, Na­stas­ja, Agaf­ja – Dienst­bo­ten

Orts­na­men

Sk­wo­re­sch­ni­ki, Ducho­wo, Bry­ko­wo, die Fa­brik der Brü­der Sch­pigu­lin, Mat­we­je­wo


Hat der Teu­fel sich ver­schwo­ren
Ge­gen uns, führt uns im Kreis,
Ha­ben uns im Schnee ver­lo­ren,
Dass ich kei­nen Aus­gang weiß.

Hu! Das ist ein schau­rig Klin­gen!
Doch wer mag den Sinn ver­stehn?
Ob sie Hoch­zeits­rei­gen schlin­gen,
Ob ein To­ten­fest be­gehn?

A. Pusch­kin.1

Es wei­de­te aber da­selbst eine große Her­de Säue auf dem Ber­ge. Und sie ba­ten ihn, dass er ih­nen er­laub­te, in die­se zu fah­ren. Und er er­laub­te es ih­nen. Da fuh­ren die Teu­fel aus von dem Men­schen und fuh­ren in die Säue; und die Her­de stürz­te sich von dem Ab­hange in den See und er­soff. Da aber die Hir­ten sa­hen, was da ge­sch­ah, flo­hen sie und ver­kün­dig­ten’s in der Stadt und in den Dör­fern. Da gin­gen die Ein­woh­ner hin­aus, zu se­hen, was da ge­sche­hen war, und ka­men zu Jesu und fan­den den Men­schen, von wel­chem die Teu­fel aus­ge­fah­ren wa­ren, sit­zend zu den Fü­ßen Jesu, be­klei­det und ver­nünf­tig; und sie er­schra­ken. Und die es ge­se­hen hat­ten, ver­kün­dig­ten’s ih­nen, wie der Be­ses­se­ne ge­sund ge­wor­den war.

Ev. Lucä 8, 32-36.


  1. Aus dem Ge­dich­te: »Die bö­sen Geis­ter«, nach der Über­set­zung von Bo­dens­tedt. Ein im Schnee­sturm ver­irr­ter Kut­scher spricht zu sei­nem Herrn. An­mer­kung des Über­set­zers.  <<<

Erster Teil

Erstes Kapitel.

Statt der Ein­lei­tung: ei­ni­ge Ein­zel­hei­ten aus der Le­bens­ge­schich­te des hoch­ge­ach­te­ten Ste­pan Tro­fi­mo­witsch Wer­cho­wen­ski.

I.

In­dem ich mich an­schi­cke, die sehr merk­wür­di­gen Er­eig­nis­se zu schil­dern, die sich kürz­lich in un­se­rer, bis da­hin durch nichts aus­ge­zeich­ne­ten Stadt zu­ge­tra­gen ha­ben, sehe ich mich durch mei­ne schrift­stel­le­ri­sche Uner­fah­ren­heit ge­nö­tigt, et­was wei­ter aus­zu­ho­len und mit ei­ni­gen bio­gra­fi­schen An­ga­ben über den ta­lent­vol­len, hoch­ge­ach­te­ten Ste­pan Tro­fi­mo­witsch Wer­cho­wen­ski zu be­gin­nen. Die­se An­ga­ben sol­len nur als Ein­lei­tung zu der in Aus­sicht ge­nom­me­nen Er­zäh­lung die­nen; die Ge­schich­te selbst, die ich zu schrei­ben be­ab­sich­ti­ge, soll dann nach­fol­gen.

Ich will es ge­ra­de­her­aus sa­gen: Ste­pan Tro­fi­mo­witsch hat un­ter uns be­stän­dig so­zu­sa­gen eine be­stimm­te Cha­rak­ter­rol­le, die Rol­le ei­nes po­li­ti­schen Cha­rak­ters, ge­spielt und sie lei­den­schaft­lich ge­liebt, der­ma­ßen, dass er mei­nes Erach­tens ohne sie gar nicht le­ben konn­te. Nicht, dass ich ihn mit ei­nem wirk­li­chen Schau­spie­ler ver­glei­chen möch­te: Gott be­hü­te; das kommt mir umso we­ni­ger in den Sinn, als ich selbst ihn sehr hoch ach­te. Es moch­te bei ihm al­les Sa­che der Ge­wohn­heit sein oder, rich­ti­ger ge­sagt, Sa­che ei­ner ste­ten, schon aus dem Ju­gen­dal­ter her­rüh­ren­den wohl­an­stän­di­gen Nei­gung, sich ver­gnüg­li­chen Träu­me­rei­en über sei­ne schö­ne po­li­ti­sche Hal­tung hin­zu­ge­ben. Er ge­fiel sich zum Bei­spiel au­ßer­or­dent­lich in sei­ner Lage als »Ver­folg­ter« und so­zu­sa­gen als »Ver­bann­ter«. Die­se bei­den Wor­te um­gibt ein ei­gen­ar­ti­ger klas­si­scher Glanz, der ihn sei­ner­zeit ver­führt hat­te, ihn dann all­mäh­lich im Lau­fe vie­ler Jah­re in sei­ner ei­ge­nen Mei­nung ge­ho­ben und ihn schließ­lich auf ein sehr ho­hes und für sei­ne Ei­gen­lie­be sehr an­ge­neh­mes Pie­de­stal ge­stellt hat­te. In ei­nem sa­ti­ri­schen eng­li­schen Ro­ma­ne des vo­ri­gen Jahr­hun­derts kehr­te ein ge­wis­ser Gul­li­ver aus dem Lan­de der Li­li­pu­ta­ner zu­rück, wo die Men­schen nur vier Zoll groß wa­ren, und hat­te sich wäh­rend sei­nes Auf­ent­hal­tes un­ter ih­nen so dar­an ge­wöhnt, sich für einen Rie­sen zu hal­ten, dass er, auch wenn er in den Stra­ßen Lon­d­ons um­her­ging, un­will­kür­lich den Fuß­gän­gern und Wa­gen zu­rief, sie soll­ten sich vor­se­hen und ihm aus­wei­chen, da­mit sie nicht zer­tre­ten wür­den; denn er bil­de­te sich ein, er sei im­mer noch ein Rie­se und sie Zwer­ge. Man lach­te ihn des­we­gen aus und schimpf­te auf ihn, und gro­be Kut­scher schlu­gen so­gar mit der Peit­sche nach dem Rie­sen; aber ob mit Recht? Was kann nicht die Ge­wohn­heit be­wir­ken? Die Ge­wohn­heit brach­te auch Ste­pan Tro­fi­mo­witsch zu ei­nem sehr ähn­li­chen Ver­hal­ten, das sich aber in ei­ner noch un­schul­di­ge­ren und harm­lo­se­ren Wei­se zeig­te, wenn man sich so aus­drücken kann; denn er war ein ganz präch­ti­ger Mensch.

Ich glau­be al­ler­dings, dass er in der letz­ten Zeit von al­len und über­all ver­ges­sen war; aber man kann kei­nes­wegs sa­gen, dass er auch frü­her ganz un­be­kannt ge­we­sen wäre. Es lässt sich nicht be­strei­ten, dass auch er eine Zeit lang zu ei­ner an­ge­se­he­nen Grup­pe her­vor­ra­gen­der Män­ner der vo­ri­gen Ge­ne­ra­ti­on ge­hör­te, und dass eine Zeit lang (frei­lich nur wäh­rend ei­ner ganz, ganz kur­z­en Span­ne Zeit) vie­le, die da­mals leb­ten, über­eil­ter­wei­se sei­nen Na­men bei­nah in eine Rei­he mit den Na­men Tschaa­da­jews, Bjel­ins­kis, Gra­now­skis und des da­mals so­eben im Aus­lan­de auf­ge­tre­te­nen Her­zen stell­ten. Aber Ste­pan Tro­fi­mo­witschs Tä­tig­keit en­de­te fast in dem­sel­ben Au­gen­bli­cke, in dem sie be­gon­nen hat­te, an­geb­lich »in­fol­ge des Wir­bel­stur­mes der zu­sam­men­ge­kom­me­nen Um­stän­de«. Aber wie stand es da­mit? Es hat sich spä­ter her­aus­ge­stellt, dass es da­mals kei­nen »Wir­bel­sturm«, ja nicht ein­mal ir­gend­wel­che »Um­stän­de« ge­ge­ben hat, we­nigs­tens nicht in die­sem Fal­le. Ich habe erst jetzt, in die­sen Ta­gen, zu mei­nem größ­ten Er­stau­nen, aber mit völ­li­ger Si­cher­heit er­fah­ren, dass Ste­pan Tro­fi­mo­witsch bei uns, in un­serm Gou­ver­ne­ment, ganz und gar nicht, wie man bei uns all­ge­mein glaub­te, als Ver­bann­ter ge­wohnt, son­dern nicht ein­mal ir­gend­wann un­ter Auf­sicht ge­stan­den hat. Wie groß muss also sei­ne ei­ge­ne Ein­bil­dungs­kraft ge­we­sen sein! Er hat sein gan­zes Le­ben lang auf­rich­tig ge­glaubt, dass man in ge­wis­sen hö­he­ren Krei­sen be­stän­dig vor ihm auf der Hut sei, dass alle sei­ne Schrit­te fort­wäh­rend kon­trol­liert und in Er­fah­rung ge­bracht wür­den, und dass je­der der drei Gou­ver­neu­re, die ein­an­der bei uns in den letz­ten zwan­zig Jah­ren ab­ge­löst ha­ben, schon bei sei­ner An­kunft im Gou­ver­ne­ment eine be­son­ders feind­se­li­ge Mei­nung über ihn mit­ge­bracht habe, die ihm von oben her als eine Sa­che von be­son­de­rer Wich­tig­keit bei Über­ga­be der Ver­wal­tung des Gou­ver­ne­ments ein­ge­flö­ßt wor­den sei. Hät­te je­mand da­mals dem eh­ren­wer­ten Ste­pan Tro­fi­mo­witsch den un­wi­der­leg­li­chen Be­weis ge­lie­fert, dass er über­haupt nichts zu be­fürch­ten habe, so wür­de er sich si­cher­lich sehr ge­kränkt ge­fühlt ha­ben. Und da­bei war er ein sehr klu­ger, be­gab­ter Mensch, so­gar so­zu­sa­gen ein Mann der Wis­sen­schaft; al­ler­dings in der Wis­sen­schaft … na, kurz ge­sagt, in der Wis­sen­schaft leis­te­te er nicht viel oder wohl über­haupt nichts. Aber das ist in un­serm lie­ben Russ­land bei Män­nern der Wis­sen­schaft et­was ganz Ge­wöhn­li­ches.

Er kehr­te aus dem Aus­lan­de zu­rück und glänz­te aus­gangs der vier­zi­ger Jah­re als Lek­tor auf ei­nem Uni­ver­si­täts­ka­the­der. Er hielt nur ei­ni­ge we­ni­ge Vor­le­sun­gen, wenn ich nicht irre, über die Ara­ber; auch ver­tei­dig­te er eine glän­zen­de Dis­ser­ta­ti­on über die im Ent­ste­hen be­grif­fe­ne po­li­ti­sche und han­sea­ti­sche Be­deu­tung der deut­schen Stadt Hanau in der Zeit zwi­schen 1413 und 1428, so­wie über die spe­zi­el­len un­kla­ren Ur­sa­chen, wes­we­gen die­se Be­deu­tung dann doch nicht zu­stan­de kam. Die­se Dis­ser­ta­ti­on ver­setz­te in ge­schick­ter Wei­se den da­ma­li­gen Sla­wo­phi­len schmerz­haf­te Sei­ten­hie­be und ver­schaff­te ihm da­durch un­ter ih­nen zahl­rei­che er­bit­ter­te Fein­de. Fer­ner ließ er (üb­ri­gens fiel dies be­reits in die Zeit nach dem Ver­lus­te des Lehr­stuhls), ge­wis­ser­ma­ßen um sich zu rä­chen und um der ge­bil­de­ten Welt zu zei­gen, was für einen Mann sie an ihm ver­lo­ren habe, in ei­ner li­be­ra­len Mo­nats­schrift, wel­che Über­set­zun­gen aus Di­ckens brach­te und die An­schau­un­gen von Ge­or­ge Sand ver­trat, den An­fang ei­ner sehr tief­sin­ni­gen Un­ter­su­chung dru­cken, ich glau­be über die Ur­sa­chen des ho­hen sitt­li­chen Adels ir­gend­wel­cher Rit­ter in ir­gend­wel­cher Pe­ri­ode der Welt­ge­schich­te oder ein ähn­li­ches The­ma. Je­den­falls be­han­del­te er dar­in einen sehr ho­hen und au­ßer­or­dent­lich ed­len Ge­dan­ken. Es hieß spä­ter, die Fort­set­zung die­ser Un­ter­su­chung sei schleu­nigst ver­bo­ten wor­den, und das li­be­ra­le Jour­nal habe so­gar we­gen des Druckes der ers­ten Hälf­te Maß­re­ge­lun­gen zu er­dul­den ge­habt. Sehr mög­lich; denn was ge­sch­ah da­mals nicht al­les! Aber im vor­lie­gen­den Fal­le ist es doch wahr­schein­li­cher, dass nichts Der­ar­ti­ges ge­sch­ah, und dass ein­fach der Ver­fas­ser selbst zu faul war, die Un­ter­su­chung zu be­en­den. Der Grund, wes­we­gen er sei­ne Vor­le­sun­gen über die Ara­ber ab­brach, war, dass ir­gend­wie von ir­gend­je­mand (of­fen­bar von ei­nem sei­ner re­ak­tio­nären Fein­de) ein Brief ab­ge­fan­gen war, den er an ir­gend­je­mand ge­schrie­ben und in dem er ir­gend­wel­che »Um­stän­de« dar­ge­legt hat­te; in­fol­ge­des­sen hat­te dann ir­gend­je­mand von ihm ir­gend­wel­che Er­klä­run­gen ver­langt. Ich weiß nicht, ob es wahr ist; aber es wur­de auch noch be­haup­tet, in Pe­ters­burg sei gleich­zei­tig ein ge­wal­ti­ger staats­feind­li­cher Klub ent­deckt wor­den, der aus drei­zehn Mit­glie­dern be­stan­den und bei­na­he das Staats­ge­bäu­de er­schüt­tert habe. Man sag­te, sie hät­ten so­gar vor­ge­habt, die Schrif­ten von Fou­ri­er1 zu über­set­zen. Es war ein ei­gen­tüm­li­ches Zu­sam­men­tref­fen, dass ge­ra­de in die­ser Zeit in Mos­kau auch ein Ge­dicht Ste­pan Tro­fi­mo­witschs auf­ge­grif­fen wur­de, das er schon vor sechs Jah­ren in Ber­lin als ganz jun­ger Mensch ver­fasst hat­te, und das in ei­ner Ab­schrift zwi­schen zwei Li­te­ra­tur­freun­den und ei­nem Stu­den­ten von Hand zu Hand ge­gan­gen war. Die­ses Ge­dicht liegt jetzt vor mir auf dem Ti­sche; ich habe es erst im vo­ri­gen Jah­re in ei­ner ei­gen­hän­di­gen neu­en Ab­schrift von Ste­pan Tro­fi­mo­witsch selbst er­hal­ten; es trägt sei­ne Un­ter­schrift und ist präch­tig in ro­ten Saf­fi­an ge­bun­den. Üb­ri­gens ist es nicht ohne poe­ti­schen Wert und be­kun­det so­gar ei­ni­ges Ta­lent; es ist ja frei­lich et­was selt­sam; aber da­mals (das heißt ge­nau­er in den drei­ßi­ger Jah­ren) schrieb man häu­fig in die­sem Gen­re. Wenn ich aber den In­halt er­zäh­len soll, so bringt mich das in Ver­le­gen­heit, da ich tat­säch­lich nichts von ihm ver­ste­he. Es ist eine Art Al­le­go­rie in ly­risch-dra­ma­ti­scher Form und er­in­nert an den zwei­ten Teil des ›Faust‹. Zu­erst er­scheint auf der Büh­ne ein Frau­en­chor, dann ein Män­ner­chor, dann ein Chor von ir­gend­wel­chen Na­tur­kräf­ten, und ganz zu­letzt ein Chor von See­len, die noch nicht le­ben, aber gern le­ben möch­ten. Alle die­se Chö­re sin­gen et­was sehr Un­be­stimm­tes, großen­teils Ver­wün­schun­gen je­man­des, aber mit ei­ner Bei­mi­schung er­ha­bens­ten Hu­mors. Aber auf ein­mal än­dert sich die Sze­ne, und es be­ginnt eine Art »Le­bens­fest«, bei dem so­gar In­sek­ten sin­gen, eine Schild­krö­te mit la­tei­ni­schen re­li­gi­ösen For­meln auf­tritt und so­gar, wenn ich mich recht er­in­ne­re, ein Mi­ne­ral, also ein ganz leb­lo­ser Ge­gen­stand, et­was singt. Über­haupt sin­gen alle ohne Un­ter­bre­chung, und wenn sie re­den, so schimp­fen sie ein­an­der in ei­ner un­be­stimm­ten Wei­se, aber wie­der mit ei­nem Bei­klang höchs­ter Be­deut­sam­keit. Zu­letzt än­dert sich die Sze­ne wie­der, und es zeigt sich eine wil­de Ge­gend; zwi­schen den Fel­sen wan­dert ein zi­vi­li­sier­ter jun­ger Mensch um­her, der ir­gend­wel­che Kräu­ter aus­reißt und an ih­nen saugt und auf die Fra­ge ei­ner Fee, warum er an die­sen Kräu­tern sau­ge, ant­wor­tet, er füh­le eine Üb­er­fül­le von Le­ben in sich, su­che Ver­ges­sen­heit und fin­de sie in dem Saf­te die­ser Kräu­ter; sein größ­ter Wunsch aber sei, mög­lichst bald den Ver­stand zu ver­lie­ren (viel­leicht ein un­nö­ti­ger Wunsch). Dann kommt auf ein­mal ein un­be­schreib­lich schö­ner Jüng­ling auf ei­nem schwar­zen Ros­se her­ein­ge­sprengt, und ihm folgt eine un­ab­seh­ba­re Men­ge al­ler mög­li­chen Völ­ker. Der Jüng­ling stellt den Tod vor, und alle Völ­ker dürs­ten nach ihm. Und end­lich, in der al­ler­letz­ten Sze­ne, er­scheint auf ein­mal der ba­by­lo­ni­sche Turm, und eine An­zahl von Ath­le­ten baut ihn un­ter ei­nem Ge­san­ge, der von neu­er Hoff­nung spricht, zu Ende, und als sie ihn bis zur obers­ten Spit­ze fer­tig­ge­stellt ha­ben, da läuft der Herr­scher, al­ler­dings nur der des Olym­ps, in ko­mi­scher Wei­se da­von, und die Mensch­heit, die das ge­merkt hat, nimmt sei­nen Platz ein und be­ginnt so­gleich ein neu­es Le­ben mit vol­ler Er­kennt­nis der Din­ge. Also die­ses Ge­dicht fand man da­mals ge­fähr­lich. Ich habe im vo­ri­gen Jah­re Ste­pan Tro­fi­mo­witsch den Vor­schlag ge­macht, es dru­cken zu las­sen, da es in un­se­rer Zeit voll­kom­men harm­los sei; aber er lehn­te die­sen Vor­schlag mit sicht­li­chem Miss­ver­gnü­gen ab. Mei­ne An­sicht von der voll­kom­me­nen Harm­lo­sig­keit sei­nes Ge­dich­tes ge­fiel ihm nicht, und ich füh­re dar­auf so­gar eine ge­wis­se Käl­te sei­ner­seits ge­gen mich zu­rück, wel­che vol­le zwei Mo­na­te dau­er­te. Aber was ge­sch­ah? Auf ein­mal, und fast zu der­sel­ben Zeit, wo ich ihm den Vor­schlag ge­macht hat­te, das Ge­dicht hier dru­cken zu las­sen, wur­de un­ser Ge­dicht an­der­wärts ge­druckt, näm­lich im Aus­lan­de, in ei­nem re­vo­lu­tio­nären Sam­mel­wer­ke, und zwar ganz ohne Ste­pan Tro­fi­mo­witschs Wis­sen. Er war an­fangs sehr er­schro­cken, stürz­te zum Gou­ver­neur hin und schrieb einen sehr ed­len Recht­fer­ti­gungs­brief nach Pe­ters­burg, las ihn mir zwei­mal vor, sand­te ihn aber nicht ab, da er nicht wuss­te, an wen er ihn adres­sie­ren soll­te. Kurz, er war einen gan­zen Mo­nat lang in Auf­re­gung; aber ich bin über­zeugt, dass er sich in den ge­hei­men Fal­ten sei­nes Her­zens höchst ge­schmei­chelt fühl­te. Er nahm das ihm über­sand­te Exem­plar des Sam­mel­wer­kes bei Nacht mit ins Bett, ver­steck­te es bei Tage un­ter der Ma­trat­ze und dul­de­te nicht ein­mal, dass das Dienst­mäd­chen das Bett zu­recht­mach­te. Und ob­gleich er alle Tage von ir­gend­wo­her ein un­heil­vol­les Te­le­gramm er­war­te­te, mach­te er doch eine hoch­mü­ti­ge Mie­ne. Ein Te­le­gramm kam nicht. Da ver­söhn­te er sich auch mit mir, was von der au­ßer­or­dent­li­chen Güte sei­nes stil­len, nicht nach­tra­gen­den Her­zens Zeug­nis ab­legt.


  1. François Ma­rie Charles Fou­ri­er, 1772-1837, fan­tas­ti­scher So­zia­list.  <<<

II.

Ich will ja nicht be­haup­ten, dass er von sei­ten der Re­gie­rung über­haupt gar nicht zu lei­den hat­te; aber ich bin doch jetzt völ­lig über­zeugt, dass er sei­ne Vor­le­sun­gen über die Ara­ber hät­te fort­set­zen kön­nen, so­lan­ge es ihm be­lieb­te, wenn er nur die nö­ti­gen Zu­si­che­run­gen ab­ge­ge­ben hät­te. Aber er ließ sich nur durch sein Ehr­ge­fühl lei­ten und hat­te nichts Ei­li­ge­res zu tun, als sich ein für al­le­mal die Über­zeu­gung zu­rechtzu­ma­chen, sei­ne Kar­rie­re sei für sein gan­zes Le­ben durch den »Wir­bel­sturm der Um­stän­de« ver­nich­tet wor­den. Wenn man aber die gan­ze Wahr­heit sa­gen soll, so war der wirk­li­che Grund zu der Ver­än­de­rung sei­nes Le­bens­we­ges ein ihm schon frü­her ge­mach­ter und jetzt er­neu­er­ter höchst zart­füh­len­der Vor­schlag War­wa­ra Pe­trow­na Sta­wro­gi­nas, der Ge­mah­lin ei­nes Ge­ne­ral­leut­nants und schwer rei­chen Man­nes, näm­lich der Vor­schlag, als päd­ago­gi­scher Obe­r­auf­se­her und Freund die Er­zie­hung und ge­sam­te geis­ti­ge Aus­bil­dung ih­res ein­zi­gen Soh­nes zu über­neh­men; von dem glän­zen­den Ge­hal­te wol­len wir gar nicht erst re­den. Die­ser An­trag war ihm zum ers­ten Male schon in Ber­lin ge­macht wor­den, und zwar ge­ra­de zu der Zeit, als er zum ers­ten Male Wit­wer ge­wor­den war. Sei­ne ers­te Frau war ein leicht­sin­ni­ges Mäd­chen aus un­serm Gou­ver­ne­ment ge­we­sen, die er als noch sehr jun­ger, ur­teils­lo­ser Mensch ge­hei­ra­tet hat­te, und es scheint, dass er mit ihr, üb­ri­gens ei­nem rei­zen­den Per­sön­chen, viel Kum­mer durch­zu­ma­chen hat­te, aus Man­gel an Mit­teln zu ih­rem Un­ter­halt und au­ßer­dem noch aus an­de­ren, zum Teil et­was de­li­ka­ten Grün­den. Sie starb in Pa­ris, nach­dem sie die letz­ten drei Jah­re von ihm ge­trennt ge­lebt hat­te, und hin­ter­ließ ihm einen fünf­jäh­ri­gen Sohn, »die Frucht der ers­ten, fro­hen, noch un­ge­trüb­ten Lie­be«, ein Aus­druck, der sich dem schwer­ge­beug­ten Ste­pan Tro­fi­mo­witsch ein­mal in mei­ner Ge­gen­wart ent­rang. Der Kna­be wur­de als­bald nach Russ­land ge­schickt, wo er die gan­ze Zeit über in der Ob­hut ei­ni­ger ent­fern­ter Tan­ten an ir­gend­ei­nem ab­ge­le­ge­nen Orte her­an­wuchs. Ste­pan Tro­fi­mo­witsch lehn­te da­mals War­wa­ra Pe­trow­nas Vor­schlag ab und ver­hei­ra­te­te sich schnell, so­gar noch vor Ablauf ei­nes Jah­res, von neu­em, und zwar mit ei­ner Deut­schen, ei­ner Ber­li­ne­rin, die sehr schweig­sam und vor al­len Din­gen sehr an­spruchs­los war. Aber au­ßer die­sem Grun­de hat­te er noch einen an­de­ren Grund ge­habt, die Er­zie­her­stel­le ab­zu­leh­nen: der hohe da­ma­li­ge Ruhm ei­nes ge­wis­sen un­ver­ge­ss­li­chen Pro­fes­sors hat­te für ihn et­was Ver­füh­re­ri­sches, und so flog denn auch er auf das Ka­the­der, für das er sich vor­be­rei­tet hat­te, um sei­ne Ad­ler­fit­ti­che zu er­pro­ben. Jetzt nun, wo er sich sei­ne Fit­ti­che be­reits ver­sengt hat­te, war es nur na­tür­lich, dass er sich an den Vor­schlag er­in­ner­te, der ihn auch frü­her schon in sei­nem Ent­schlus­se bei­na­he wan­kend ge­macht hat­te. Der plötz­li­che Tod auch sei­ner zwei­ten Frau, die mit ihm nicht ein­mal ein Jahr lang zu­sam­men­ge­lebt hat­te, führ­te die de­fi­ni­ti­ve Ent­schei­dung her­bei. Ich sage ge­ra­de­zu: aus­schlag­ge­bend war da­bei die war­me Teil­nah­me und die wert­vol­le und so­zu­sa­gen klas­si­sche Freund­schaft (wenn man von ei­ner Freund­schaft die­sen Aus­druck ge­brau­chen kann), die ihm War­wa­ra Pe­trow­na er­wies. Er warf sich in die Arme die­ser Freund­schaft, und so wur­de ein fes­ter Bund ge­schlos­sen, der mehr als zwan­zig Jah­re Be­stand hat­te. Ich ge­brau­che den Aus­druck »er warf sich in die Arme«; aber Gott be­hü­te, nie­mand darf da­bei an et­was Un­ge­hö­ri­ges, Un­pas­sen­des den­ken; die­se Arme sind nur in ei­nem höchst mo­ra­li­schen Sin­ne auf­zu­fas­sen. Das reins­te, zar­tes­te Band ver­ein­te die­se bei­den so merk­wür­di­gen Per­sön­lich­kei­ten für alle Zeit.

Er nahm die Er­zie­her­stel­le auch des­we­gen an, weil das sehr klei­ne Gut, das ihm sei­ne ers­te Frau hin­ter­las­sen hat­te, ganz dicht bei Sk­wo­re­sch­ni­ki lag, dem präch­ti­gen, nahe bei der Stadt ge­le­ge­nen Sta­wrog­in­schen Gute. Auch hat­te er im­mer die Mög­lich­keit, in der Stil­le sei­nes Ar­beits­zim­mers, und ohne durch die mas­sen­haf­te Uni­ver­si­täts­tä­tig­keit ab­ge­zo­gen zu wer­den, sich der Wis­sen­schaft zu wid­men und die va­ter­län­di­sche Li­te­ra­tur durch die tief­sin­nigs­ten Un­ter­su­chun­gen zu be­rei­chern. Die­se Un­ter­su­chun­gen er­schie­nen nun al­ler­dings nicht; aber da­für konn­te er sein gan­zes üb­ri­ges Le­ben lang, also mehr als zwan­zig Jah­re, so­zu­sa­gen als le­ben­di­ger Vor­wurf vor dem Va­ter­lan­de da­ste­hen, nach dem Aus­dru­cke, den ein volks­tüm­li­cher Dich­ter von ei­nem zur Un­tä­tig­keit ver­ur­teil­ten Vor­kämp­fer für die Idea­le des Li­be­ra­lis­mus ge­braucht:


»Vor dem Va­ter­lan­de stand er
Ein le­ben­d’­ger Vor­wurf da.«

Aber die Per­sön­lich­keit, von der sich der volks­tüm­li­che Dich­ter so aus­ge­drückt hat, hat­te viel­leicht auch ein Recht, das gan­ze Le­ben lang in die­ser Ab­sicht eine thea­tra­li­sche Stel­lung bei­zu­be­hal­ten, wenn sie Lust dazu hat­te, wie­wohl die Sa­che recht lang­wei­lig ist. Un­ser Ste­pan Tro­fi­mo­witsch da­ge­gen war, die Wahr­heit zu sa­gen, sol­chen Per­sön­lich­kei­ten ge­gen­über nur ein Nach­ah­mer und wur­de auch vom Ste­hen müde und leg­te sich auf die fau­le Sei­te. Aber auch wenn er sich auf die fau­le Sei­te leg­te, so blieb er doch auch in die­ser Hal­tung ein le­ben­di­ger Vor­wurf (die­se Ge­rech­tig­keit muss man ihm wi­der­fah­ren las­sen), und zwar umso eher, als für un­ser Gou­ver­ne­ment auch eine sol­che Hal­tung ge­nüg­te. Man muss­te ihn bei uns im Klub se­hen, wenn er sich zum Kar­ten­spiel hin­setz­te. Sei­ne gan­ze Mie­ne be­sag­te: »Kar­ten! Ich set­ze mich mit euch zum Whist1 hin! Passt das etwa zu mei­ner Per­sön­lich­keit? Aber wer trägt die Verant­wor­tung da­für? Wer hat mei­ner geis­ti­gen Tä­tig­keit einen Rie­gel vor­ge­scho­ben und mich ge­zwun­gen, sie dem Whist zu­zu­wen­den? Na, dann mag Russ­land zu­grun­de gehn!« Und er trumpf­te wür­de­voll mit Coeur.

In Wirk­lich­keit spiel­te er lei­den­schaft­lich gern Kar­ten und hat­te des­we­gen, na­ment­lich in der letz­ten Zeit, häu­fi­ge schar­fe Schar­müt­zel mit War­wa­ra Pe­trow­na, umso mehr, da er be­stän­dig ver­lor. Aber da­von spä­ter. Ich be­mer­ke nur noch, dass er ein sehr ge­wis­sen­haf­ter Mensch war (das heißt manch­mal) und des­we­gen häu­fig trau­rig wur­de. Wäh­rend der gan­zen zwan­zig­jäh­ri­gen Dau­er der Freund­schaft mit War­wa­ra Pe­trow­na ver­fiel er drei- oder vier­mal im Jah­re in das, was man bei uns po­li­ti­schen Kat­zen­jam­mer nennt, das heißt ein­fach in Hy­po­chon­drie; aber je­ner Aus­druck ge­fiel der hoch­acht­ba­ren War­wa­ra Pe­trow­na be­son­ders gut. In der Fol­ge be­fiel ihn au­ßer dem po­li­ti­schen Kat­zen­jam­mer manch­mal auch ein hef­ti­ger Drang zum Cham­pa­gner­trin­ken; aber die wach­sa­me War­wa­ra Pe­trow­na be­hü­te­te ihn le­bens­läng­lich vor al­len un­wür­di­gen Nei­gun­gen. Und er be­durf­te auch ei­ner sol­chen Kin­der­frau, da er sich mit­un­ter sehr son­der­bar be­nahm: mit­ten im er­ha­bens­ten Gra­me be­gann er bis­wei­len in der ple­be­jischs­ten Wei­se zu la­chen. Es ka­men Au­gen­bli­cke vor, wo er sich so­gar über sich selbst hu­mo­ris­tisch aus­sprach. Aber nichts moch­te War­wa­ra Pe­trow­na so we­nig lei­den wie den Hu­mor. Sie war eine klas­si­sche Mä­ce­na­tin und hat­te bei al­lem, was sie tat, nur die höchs­ten Ide­en im Auge. Der Ein­fluss, den die­se hoch­ge­sinn­te Dame im Lau­fe von zwan­zig Jah­ren auf ih­ren ar­men Freund aus­üb­te, war au­ßer­or­dent­lich groß. Von ihr müss­te man be­son­ders spre­chen, und das wer­de ich auch tun.


  1. Kar­ten­spiel mit 52 Kar­ten  <<<

III.

Es gibt son­der­ba­re Freund­schaf­ten; bei­de Freun­de möch­ten ein­an­der fast auf­fres­sen vor In­grimm, ver­brin­gen ihr gan­zes Le­ben in die­sem Zu­stan­de und be­kom­men es doch nicht fer­tig, sich von­ein­an­der zu tren­nen. Eine Tren­nung ist so­gar ganz un­mög­lich. Der­je­ni­ge von bei­den, der in ei­gen­sin­ni­ger Lau­ne das Band der Freund­schaft zer­reißt, ist der ers­te, der in­fol­ge­des­sen krank wird und wo­mög­lich stirbt, wenn es sich so trifft. Ich weiß zu­ver­läs­sig, dass Ste­pan Tro­fi­mo­witsch mehr­mals und bis­wei­len, nach­dem er sich mit War­wa­ra Pe­trow­na un­ter vier Au­gen in der in­tims­ten Wei­se aus­ge­spro­chen hat­te, wenn sie weg­ge­gan­gen war, auf ein­mal vom Sofa auf­sprang und mit den Fäus­ten ge­gen die Wand zu schla­gen be­gann.

Und er tat das ganz und gar nicht im über­tra­ge­nen Sin­ne, son­dern so, dass er ein­mal so­gar den Kalk von der Wand los­schlug. Vi­el­leicht fragt je­mand, wo­her ich eine so spe­zi­el­le Ein­zel­heit habe in Er­fah­rung brin­gen kön­nen. Aber wie, wenn ich selbst Zeu­ge ge­we­sen bin? Wie, wenn Ste­pan Tro­fi­mo­witsch selbst mehr als ein­mal an mei­ner Schul­ter ge­schluchzt und mir sein gan­zes ge­hei­mes Leid in grel­len Far­ben hin­ge­malt hat? (Und was für Din­ge hat er mir da­bei nicht mit­ge­teilt!) Und nun höre man, was sich fast im­mer be­gab, nach­dem er in sol­cher Wei­se ge­schluchzt hat­te: am an­de­ren Tage hat­te er schon die größ­te Lust, sich selbst we­gen sei­nes Un­danks zu kreu­zi­gen; er ließ mich ei­lig zu sich ru­fen oder kam auch selbst zu mir ge­lau­fen, ein­zig und al­lein um mir mit­zu­tei­len, dass War­wa­ra Pe­trow­na ein En­gel von Ehren­haf­tig­keit und Zart­ge­fühl sei und er das rei­ne Ge­gen­teil da­von. Und er kam nicht nur zu mir ge­lau­fen, son­dern schrieb auch mehr als ein­mal all dies ihr selbst in schön sti­li­sier­ten Brie­fen und mach­te ihr zum Bei­spiel mit sei­ner vol­len Un­ter­schrift Ge­ständ­nis­se von fol­gen­der Art: er habe erst am vor­her­ge­hen­den Tage ei­ner frem­den Per­sön­lich­keit er­zählt, dass sie ihn nur aus Ei­tel­keit um sich be­hal­te und ihn um sei­ne Ge­lehr­sam­keit und um sei­ne Ta­len­te be­nei­de, dass sie ihn has­se und sich nur des­halb scheue, ih­ren Hass of­fen aus­zu­spre­chen, weil sie fürch­te, er kön­ne von ihr weg­ge­hen und da­durch ih­rem li­te­ra­ri­schen Rufe scha­den; in­fol­ge die­ser sei­ner Äu­ße­run­gen ver­ach­te er sich selbst und habe be­schlos­sen, sich das Le­ben zu neh­men; von ihr er­war­te er das letz­te, ent­schei­den­de Wort, und so wei­ter, und so wei­ter, al­les in die­sem Gen­re. Da­nach kann man sich eine Vor­stel­lung da­von ma­chen, wel­chen Grad von Über­rei­zung die ner­vö­sen An­fäl­le die­ses un­schul­digs­ten al­ler fünf­zig­jäh­ri­gen Kin­der manch­mal er­reich­ten! Ich selbst habe ein­mal einen sol­chen Brief ge­le­sen, den er ihr nach ei­nem Strei­te zwi­schen ih­nen ge­schrie­ben hat­te, wel­cher aus nich­ti­ger Ur­sa­che ent­stan­den, aber in sei­nem wei­te­ren Ver­lau­fe sehr bit­ter ge­wor­den war. Ich be­kam einen Schreck und bat ihn in­stän­dig, den Brief nicht ab­zu­sen­den.

»Es muss sein … es ist eh­ren­haf­ter … es ist mei­ne Pf­licht … es ist mein Tod, wenn ich ihr nicht al­les be­ken­ne, schlecht­hin al­les!« ant­wor­te­te er bei­na­he fie­bernd und schick­te den Brief ab.

Da­rin lag eben ein Un­ter­schied zwi­schen ih­nen, dass War­wa­ra Pe­trow­na ihm nie­mals sol­che Brie­fe sand­te. Er al­ler­dings hat­te eine sinn­lo­se Pas­si­on für das Brief­schrei­ben und schrieb an sei­ne Gön­ne­rin so­gar in der Zeit, als er mit ihr in dem­sel­ben Hau­se wohn­te, und in Fäl­len ner­vö­ser Über­rei­zung selbst zwei­mal an ei­nem Tage. Ich weiß be­stimmt, dass sie die­se Brie­fe im­mer mit der größ­ten Auf­merk­sam­keit durch­las, so­gar wenn sie zwei an dem­sel­ben Tage er­hielt, und dass sie sie nach dem Durch­le­sen, mit dem Ein­gangs­da­tum ver­se­hen und wohl­ge­ord­net, in ei­nem be­son­de­ren Fa­che auf­hob; au­ßer­dem be­wahr­te sie sie in ih­rem Her­zen auf. Nach­dem sie dann ih­ren Freund einen gan­zen Tag lang ohne Ant­wort ge­las­sen hat­te, ver­kehr­te sie mit ihm, als ob nichts ge­sche­hen wäre und als ob sich am vor­her­ge­hen­den Tage nichts Be­son­de­res zu­ge­tra­gen hät­te. Mit der Zeit rich­te­te sie ihn so ab, dass er selbst nicht mehr wag­te, der Er­eig­nis­se des vo­ri­gen Ta­ges Er­wäh­nung zu tun, son­dern ihr nur eine Wei­le in die Au­gen sah. Aber sie ver­gaß nichts, wäh­rend er mit­un­ter nur zu schnell ver­gaß und, durch ihr ru­hi­ges Be­neh­men er­mu­tigt, nicht sel­ten gleich an dem­sel­ben Tage, wenn Freun­de zu Be­such ge­kom­men wa­ren, beim Cham­pa­gner lach­te und Toll­hei­ten trieb. Mit wel­chem In­grimm sah sie ihn in sol­chen Au­gen­bli­cken an, ohne dass er et­was da­von ge­merkt hät­te! Etwa nach ei­ner Wo­che, nach ei­nem Mo­nat oder auch erst nach ei­nem hal­b­en Jah­re fiel ihm bei ir­gend­ei­nem be­son­de­ren An­lass ir­gend­ein Aus­druck aus ei­nem sol­chen Brie­fe wie­der ein, und dem­nächst der gan­ze Brief mit al­len Begleit­um­stän­den; dann stieg eine hei­ße Scham in ihm auf, und sei­ne Pein war manch­mal so groß, dass er an ei­nem sei­ner Cho­le­ri­ne­an­fäl­le er­krank­te. Die­se ihm ei­gen­tüm­li­chen cho­le­ri­ne­ar­ti­gen An­fäl­le bil­de­ten den ge­wöhn­li­chen Aus­gang ei­ner Ner­ve­n­er­schüt­te­rung und wa­ren eine in ih­rer Art merk­wür­di­ge Ku­rio­si­tät sei­ner Kör­per­kon­sti­tu­ti­on.

Al­ler­dings war es si­cher, dass ihn War­wa­ra Pe­trow­na hass­te, und zwar sehr oft hass­te; aber wäh­rend er dies be­merk­te, nahm er et­was an­de­res an ihr bis zu sei­nem Le­bens­en­de nicht wahr, dass er näm­lich schließ­lich für sie gleich­sam ihr Sohn, Fleisch von ih­rem Flei­sche, ihr Ge­schöpf, ja man kann sa­gen ihre Er­fin­dung ge­wor­den war, und dass sie ihn kei­nes­wegs nur des­we­gen bei sich be­hielt und un­ter­hielt, weil sie ihn, wie er sich aus­drück­te, um sei­ne Ta­len­te be­nei­de­te. Wie muss­te sie sich also durch sol­che Ver­mu­tun­gen ge­kränkt füh­len! Mit­ten un­ter dem un­auf­hör­li­chen Hass, der ste­ten Ei­fer­sucht und der dau­ern­den Ge­ring­schät­zung lag in ih­rem Her­zen eine war­me Lie­be zu ihm ver­bor­gen. Sie be­hü­te­te ihn vor je­dem Lüft­chen, sorg­te zwei­und­zwan­zig Jah­re lang für ihn wie eine Kin­der­frau und hät­te gan­ze Näch­te nicht ge­schla­fen vor Sor­ge, wenn sein Ruhm als Dich­ter, als Ge­lehr­ter und als Po­li­ti­ker in Ge­fahr ge­we­sen wäre. Sie hat­te ihn sich aus­ge­son­nen und war die ers­te, die an das Pro­dukt ih­res ei­ge­nen Geis­tes glaub­te. Er war ge­wis­ser­ma­ßen ein Ge­bil­de ih­rer Fan­ta­sie. Aber da­für for­der­te sie von ihm auch wirk­lich viel, manch­mal so­gar einen skla­vi­schen Ge­hor­sam. Nach­tra­gend war sie in ganz un­glaub­li­chem Gra­de. Bei die­ser Ge­le­gen­heit möch­te ich zwei Ge­schicht­chen er­zäh­len.

IV.

Ei­nes Ta­ges (es war zu der Zeit, als sich eben erst das Gerücht von der Be­frei­ung der Bau­ern ver­brei­tet hat­te und ganz Russ­land plötz­lich auf­ju­bel­te und sich zu ei­ner völ­li­gen Wie­der­ge­burt an­schick­te) er­hielt War­wa­ra Pe­trow­na den Be­such ei­nes durch­rei­sen­den Barons aus Pe­ters­burg, der sehr hohe Ver­bin­dun­gen be­saß und die­sem Vor­gan­ge sehr nahe stand. War­wa­ra Pe­trow­na leg­te auf sol­che Be­su­che au­ßer­or­dent­lich viel Wert, weil ihre Ver­bin­dun­gen mit den höchs­ten Ge­sell­schafts­krei­sen nach dem Tode ih­res Man­nes sich im­mer mehr ge­lo­ckert und zu­letzt ganz auf­ge­hört hat­ten. Der Baron blieb eine Stun­de bei ihr und trank Tee. An­de­re Gäs­te wa­ren nicht an­we­send; aber Ste­pan Tro­fi­mo­witsch war ein­ge­la­den wor­den und wur­de zur Schau ge­stellt. Der Baron hat­te be­reits frü­her über ihn ei­ni­ges ge­hört oder tat we­nigs­tens so, als ob er et­was über ihn ge­hört hät­te, be­ach­te­te ihn aber beim Tee nur we­nig. Selbst­ver­ständ­lich soll­te Ste­pan Tro­fi­mo­witsch nach dem Wil­len sei­ner Gön­ne­rin nicht im Hin­ter­grun­de blei­ben, und er be­saß ja auch sehr fei­ne Um­gangs­for­men. Wie­wohl er mei­nes Wis­sens nur von ge­rin­ger Her­kunft war, hat­te es sich doch so ge­macht, dass er schon von frü­he­s­ter Kind­heit an in ei­nem Mos­kau­er Hau­se ge­lebt und da­her eine vor­züg­li­che Er­zie­hung er­hal­ten hat­te; Fran­zö­sisch sprach er wie ein Pa­ri­ser. Auf die­se Wei­se soll­te der Baron gleich auf den ers­ten Blick er­ken­nen, mit was für Leu­ten sich War­wa­ra Pe­trow­na auch in der Ab­ge­schie­den­heit der Pro­vinz um­gab. In­des­sen kam es an­ders. Als der Baron die völ­li­ge Glaub­wür­dig­keit der sich da­mals erst so­eben ver­brei­ten­den Gerüch­te über die große Re­form po­si­tiv be­stä­tig­te, da konn­te sich Ste­pan Tro­fi­mo­witsch auf ein­mal nicht mehr hal­ten und rief: »Hur­ra!« ja, er mach­te so­gar mit dem Arm eine Ge­bär­de, die sein Ent­zücken zum Aus­druck brach­te. Er rief ja zwar nicht laut und so­gar in ei­ner ele­gan­ten Ma­nier; sein Ent­zücken war so­gar viel­leicht ein vor­her­über­leg­tes und die Ge­bär­de eine hal­be Stun­de vor dem Tee ab­sicht­lich vor dem Spie­gel ein­stu­diert; aber die Sa­che muss­te doch wohl bei ihm nicht rich­tig her­aus­ge­kom­men sein, da der Baron sich er­laub­te zu lä­cheln, ob­gleich er so­fort mit au­ßer­or­dent­li­cher Höf­lich­keit eine Re­de­wen­dung über die all­ge­mei­ne, er­klär­li­che Rüh­rung al­ler rus­si­schen Her­zen an­ge­sichts des großen Er­eig­nis­ses ein­flie­ßen ließ. Bald dar­auf brach er auf und ver­gaß beim Ab­schie­de nicht, Ste­pan Tro­fi­mo­witsch zwei Fin­ger hin­zu­stre­cken. Als War­wa­ra Pe­trow­na in den Sa­lon zu­rück­kehr­te, schwieg sie zu­nächst etwa drei Mi­nu­ten lang und tat, als ob sie et­was auf dem Ti­sche su­che; plötz­lich aber wand­te sie sich zu Ste­pan Tro­fi­mo­witsch und mur­mel­te lei­se mit blas­sem Ge­sich­te und fun­keln­den Au­gen:

»Das wer­de ich Ih­nen nie ver­ges­sen!«

Am an­de­ren Tage ver­kehr­te sie mit ih­rem Freun­de, als ob nichts vor­ge­fal­len wäre; das Ge­sche­he­ne er­wähn­te sie nie­mals. Aber drei­zehn Jah­re spä­ter, in ei­nem tra­gi­schen Au­gen­blick, kam sie dar­auf zu­rück und mach­te ihm Vor­wür­fe, wo­bei sie eben­so blass wur­de wie drei­zehn Jah­re vor­her, als sie ihn zum ers­ten Male des­we­gen ge­schol­ten hat­te. Nur zwei­mal in ih­rem gan­zen Le­ben sag­te sie zu ihm: »Das wer­de ich Ih­nen nie ver­ges­sen!« Der Fall mit dem Baron war be­reits der zwei­te der­ar­ti­ge Fall; der ers­te ist in sei­ner Wei­se so cha­rak­te­ris­tisch und hat­te, wie ich mei­ne, für Ste­pan Tro­fi­mo­witschs Le­bens­schick­sal eine sol­che Wich­tig­keit, dass ich mich dazu ent­schlie­ße, auch ihn zu er­zäh­len.

Es war im Jah­re 1855, im Früh­ling, im Mai, bald nach­dem in Sk­wo­re­sch­ni­ki die Nach­richt von dem Tode des Ge­ne­ral­leut­nants Sta­wro­gin ein­ge­lau­fen war, ei­nes leicht­le­bi­gen al­ten Herrn, der auf der Rei­se nach der Krim, wo­hin er zur ak­ti­ven Ar­mee kom­man­diert war, an ei­ner Ma­gen­ver­stim­mung ge­stor­ben war. War­wa­ra Pe­trow­na war Wit­we ge­wor­den und hat­te tie­fe Trau­er an­ge­legt. Sehr be­trübt konn­te sie al­ler­dings nicht sein; denn in den letz­ten vier Jah­ren hat­te sie in­fol­ge des schlech­ten Zu­sam­men­pas­sens der bei­der­sei­ti­gen Cha­rak­tere von ih­rem Man­ne völ­lig ge­trennt ge­lebt und ihm ein Jahr­geld ge­zahlt. (Der Ge­ne­ral­leut­nant selbst be­saß nur hun­dert­fünf­zig See­len und sein Ge­halt, so­wie au­ßer­dem sein An­se­hen und sei­ne Kon­ne­xio­nen; der gan­ze Reich­tum aber, dar­un­ter auch das Gut Sk­wo­re­sch­ni­ki, ge­hör­te War­wa­ra Pe­trow­na, der ein­zi­gen Toch­ter ei­nes sehr rei­chen Brannt­wein­päch­ters.) Nichts­de­sto­we­ni­ger war sie durch die un­er­war­te­te Nach­richt tief er­schüt­tert und zog sich ganz von der Ge­sel­lig­keit zu­rück. Selbst­ver­ständ­lich be­fand sich Ste­pan Tro­fi­mo­witsch be­stän­dig um sie.

Der Mai war in vol­ler Blü­te; die Aben­de wa­ren wun­der­voll. Der Faul­baum duf­te­te. Die bei­den Freun­de ka­men je­den Abend im Gar­ten zu­sam­men, sa­ßen bis zur Nacht in ei­ner Lau­be und spra­chen ei­ner dem an­de­ren sei­ne Ge­füh­le und Ge­dan­ken aus. Es wa­ren poe­ti­sche Stun­den. War­wa­ra Pe­trow­na sprach un­ter dem Ein­dru­cke der in ih­rem Schick­sal ein­ge­tre­te­nen Ver­än­de­rung mehr als ge­wöhn­lich. Sie schmieg­te sich ge­wis­ser­ma­ßen an das Herz ih­res Freun­des, und so dau­er­te das meh­re­re Aben­de. Da fuhr dem bra­ven Ste­pan Tro­fi­mo­witsch plötz­lich ein son­der­ba­rer Ge­dan­ke durch den Kopf: ob die un­tröst­li­che Wit­we nicht viel­leicht auf ihn spe­ku­lie­re und am Ende des Trau­er­jah­res einen An­trag von ihm er­war­te. Es war ein fri­vo­ler Ge­dan­ke; aber ge­ra­de durch die hohe Voll­kom­men­heit der see­li­schen Or­ga­ni­sa­ti­on wird mit­un­ter die Nei­gung zu fri­vo­len Ge­dan­ken be­för­dert, schon al­lein in­fol­ge der Viel­sei­tig­keit der Ent­wick­lung. Er be­gann dar­über nach­zu­den­ken und fand, dass es al­ler­dings da­nach aus­se­he. Er dach­te: »Es ist ein ge­wal­ti­ges Ver­mö­gen; aber …« In der Tat, War­wa­ra Pe­trow­na konn­te kei­nen An­spruch dar­auf er­he­ben, eine Schön­heit ge­nannt zu wer­den: sie war eine hoch­ge­wach­se­ne, gelb­li­che, kno­chi­ge Frau mit un­ver­hält­nis­mä­ßig lan­gem Ge­sich­te, das ei­ni­ger­ma­ßen an einen Pfer­de­kopf er­in­ner­te. Im­mer mehr und mehr ge­riet Ste­pan Tro­fi­mo­witsch ins Schwan­ken; er quäl­te sich mit Zwei­feln und wein­te so­gar ein paar­mal aus Un­schlüs­sig­keit (er wein­te über­haupt ziem­lich oft). Abends aber, das heißt in der Lau­be, be­gann sein Ge­sicht un­will­kür­lich einen lau­ni­schen, spöt­ti­schen, ko­ket­ten und gleich­zei­tig hoch­mü­ti­gen Aus­druck an­zu­neh­men. So et­was pflegt un­ver­se­hens und un­will­kür­lich zu ge­sche­hen, und je ed­ler der be­tref­fen­de Mensch ist, umso leich­ter ist ein sol­cher Aus­druck be­merk­bar. Es ist schwer, dar­über et­was zu be­haup­ten, aber das wahr­schein­lichs­te ist, dass in War­wa­ra Pe­trow­nas Her­zen sich nichts reg­te, wo­durch Ste­pan Tro­fi­mo­witschs Ver­dacht hät­te ge­recht­fer­tigt wer­den kön­nen. Auch hät­te sie ih­ren Na­men Sta­wro­gi­na wohl nicht mit dem sei­ni­gen ver­tau­schen mö­gen, moch­te die­ser auch noch so be­rühmt sein. Vi­el­leicht lag ih­rer­seits wei­ter nichts vor als ein Spiel mit die­sem Ge­dan­ken; es do­ku­men­tiert sich dar­in eben ein un­be­wuss­tes weib­li­ches Be­dürf­nis, das in man­chen au­ßer­or­dent­li­chen Si­tua­tio­nen des Wei­bes sehr na­tür­lich ist. Üb­ri­gens kann ich da­für kei­ne Bürg­schaft über­neh­men; die Tie­fen des Frau­en­her­zens sind bis auf den heu­ti­gen Tag noch un­er­forscht.

Man muss an­neh­men, dass sie im stil­len den selt­sa­men Ge­sichts­aus­druck ih­res Freun­des gar bald ver­stan­den hat­te; denn sie war acht­sam und scharf­sich­tig, er da­ge­gen bis­wei­len nur all­zu harm­los. Aber die Aben­de nah­men ih­ren bis­he­ri­gen Ver­lauf, und die Ge­sprä­che wa­ren eben­so poe­tisch und in­ter­essant wie vor­her. Ei­nes Abends hat­ten sie sich bei Ein­bruch der Nacht nach ei­nem höchst leb­haf­ten, poe­ti­schen Ge­sprä­che in freund­schaft­li­cher­wei­se mit ei­nem war­men Hän­de­druck von­ein­an­der an der Tür des Ne­ben­ge­bäu­des ge­trennt, in wel­chem Ste­pan Tro­fi­mo­witsch wohn­te. Je­den Som­mer zog er aus dem rie­si­gen Herr­schafts­ge­bäu­de von Sk­wo­re­sch­ni­ki in die­ses fast im Gar­ten ste­hen­de Ne­ben­ge­bäu­de um. Kaum war er in sein Zim­mer ge­kom­men, hat­te sich in un­ruh­vol­lem Nach­den­ken eine Zi­gar­re ge­nom­men, aber noch nicht Zeit ge­fun­den, sie an­zu­rau­chen, hat­te sich müde, wie er war, ans of­fe­ne Fens­ter ge­stellt und be­trach­te­te nun, re­gungs­los da­ste­hend, die leich­ten, wei­ßen Fe­der­wölk­chen, die an dem kla­ren Mon­de vor­über­g­lit­ten, als plötz­lich ein leich­tes Geräusch ihn zu­sam­men­fah­ren ließ und ihn ver­an­lass­te, sich um­zu­wen­den. Vor ihm stand wie­der War­wa­ra Pe­trow­na, die er erst vor vier Mi­nu­ten ver­las­sen hat­te. Ihr gel­bes Ge­sicht war fast bläu­lich ge­wor­den; die fest zu­sam­men­ge­press­ten Lip­pen zuck­ten an den Mund­win­keln. Etwa zehn Se­kun­den lang sah sie ihm schwei­gend mit fes­tem, un­er­bitt­li­chem Bli­cke in die Au­gen und flüs­ter­te auf ein­mal has­tig:

»Das wer­de ich Ih­nen nie ver­ges­sen!«

Als Ste­pan Tro­fi­mo­witsch erst zehn Jah­re spä­ter, nach­dem er vor­her die Tür ver­schlos­sen hat­te, mir flüs­ternd die­se trau­ri­ge Ge­schich­te er­zähl­te, da schwur er mir, er sei da­mals so starr vor Schreck ge­we­sen, dass er we­der ge­hört noch ge­se­hen habe, wie War­wa­ra Pe­trow­na wie­der ver­schwun­den sei. Da sie nach­her nie ihm ge­gen­über eine An­spie­lung auf die­sen Vor­gang mach­te und al­les sei­nen Gang nahm, als ob nichts ge­sche­hen wäre, so neig­te er sein gan­zes Le­ben lang zu der An­nah­me, dass dies al­les eine Hal­lu­zi­na­ti­on vor ei­ner Krank­heit ge­we­sen sei, umso mehr weil er in der­sel­ben Nacht wirk­lich für vol­le zwei Wo­chen er­krank­te, was sehr ge­le­gen auch den Zu­sam­men­künf­ten in der Lau­be ein Ende mach­te.

Aber trotz­dem er halb und halb an eine Hal­lu­zi­na­ti­on glaub­te, er­war­te­te er doch sein gan­zes Le­ben lang täg­lich ge­wis­ser­ma­ßen eine Fort­set­zung die­ses Er­eig­nis­ses, eine Lö­sung die­ses Rät­sels. Er glaubt nicht, dass die Sa­che da­mit zu Ende sei! Un­ter die­sen Um stän­den konn­te er nicht um­hin, sei­ne Freun­din mit­un­ter in son­der­ba­rer Wei­se an­zu­se­hen.

V.

Sie hat­te so­gar selbst für ihn ein Ko­stüm ent­wor­fen, in dem er denn auch le­bens­läng­lich ging. Die­ses Ko­stüm war ge­schmack­voll und cha­rak­te­ris­tisch: ein lang­schö­ßi­ger, schwar­zer, fast bis oben zu­ge­knöpf­ter, aber ele­gant sit­zen­der Ober­rock; ein wei­cher Hut (im Som­mer ein Stroh­hut) mit brei­ter Krem­pe; ein wei­ßes ba­tist­nes Hals­tuch mit ei­nem großen Kno­ten und her­ab­hän­gen­den En­den; ein Spa­zier­stock mit sil­ber­nem Knopf; dazu bis auf die Schul­tern rei­chen­des Haar. Er war dun­kel­blond, und erst in der letz­ten Zeit be­gann sein Haar ein we­nig zu er­grau­en. Den Bart ra­sier­te er weg. Es wur­de ge­sagt, er sei in sei­ner Ju­gend sehr hübsch ge­we­sen. Aber mei­ner An­sicht nach war er auch im Al­ter noch au­ßer­or­dent­lich an­zie­hend. Und kann man über­haupt schon von Al­ter re­den, wenn je­mand drei­und­fünf­zig Jah­re alt ist? Aber aus ei­ner Art von po­li­ti­scher Ko­ket­te­rie mach­te er sich nicht nur nicht jün­ger, son­dern war ge­wis­ser­ma­ßen auf sein hö­he­res, ge­setz­tes Le­bensal­ter stolz, und in sei­nem Ko­stü­me, bei sei­nem ho­hen Wuch­se, sei­ner Ma­ger­keit und mit dem auf die Schul­tern rei­chen­den Haa­re glich er ei­ni­ger­ma­ßen ei­nem Pa­tri­ar­chen oder, noch rich­ti­ger, dem li­tho­gra­fier­ten Bil­de des Dich­ters Ku­kol­nik, das ei­ner in den drei­ßi­ger Jah­ren ge­druck­ten Aus­ga­be sei­ner Ge­dich­te bei­ge­ge­ben war. Die Ähn­lich­keit trat be­son­ders her­vor, wenn Ste­pan Tro­fi­mo­witsch im Som­mer im Gar­ten auf ei­ner Bank un­ter ei­nem blü­hen­den Flie­der­strau­che saß, sich mit bei­den Hän­den auf sei­nen Stock stütz­te, ein auf­ge­schla­ge­nes Buch ne­ben sich lie­gen hat­te und sich in poe­ti­sche Ge­dan­ken über den Son­nen­un­ter­gang ver­senk­te. Was Bü­cher an­langt, so be­mer­ke ich, dass er ge­gen das Ende sei­nes Le­bens im­mer mehr da­von zu­rück­kam, sol­che zu le­sen. Üb­ri­gens war das erst ganz kurz vor sei­nem Ende der Fall. Zei­tun­gen und Jour­na­le, de­ren War­wa­ra Pe­trow­na eine große Men­ge hielt, las er be­stän­dig. Für die Er­fol­ge der rus­si­schen Li­te­ra­tur in­ter­es­sier­te er sich gleich­falls dau­ernd, ohne da­bei sei­ner ei­ge­nen Wür­de et­was zu ver­ge­ben. Eine Zeit lang fing er schon an, sich durch das Stu­di­um der hö­he­ren zeit­ge­nös­si­schen Po­li­tik auf dem Ge­bie­te der in­ne­ren und äu­ße­ren An­ge­le­gen­hei­ten fes­seln zu las­sen; aber bald gab er die­se Be­schäf­ti­gung ge­ring­schät­zig wie­der auf. Auch das kam nicht sel­ten vor, dass er Toc­que­ville mit in den Gar­ten nahm und einen Band Paul de Kock1 in der Ta­sche ver­steckt trug. In­des­sen das sind Lap­pa­li­en.

Über das Bild Ku­kol­niks be­mer­ke ich in Par­en­the­se fol­gen­des. Die­ses Bild war War­wa­ra Pe­trow­na zum ers­ten Mal in die Hän­de ge­kom­men, als sie sich noch als jun­ges Mäd­chen in ei­ner vor­neh­men Mos­kau­er Pen­si­on be­fand. Sie ver­lieb­te sich so­fort in die­ses Bild, wie es die Ge­wohn­heit al­ler jun­gen Pen­sio­nä­rin­nen ist, sich in al­les zu ver­lie­ben, was ih­nen vor Au­gen kommt, zu­gleich auch in ihre Leh­rer, na­ment­lich in die Schreib- und Zei­chen­leh­rer. Merk­wür­dig war aber da­bei nicht das Ver­hal­ten des jun­gen Mäd­chens, son­dern viel­mehr der Um­stand, dass War­wa­ra Pe­trow­na noch, als sie schon fünf­zig Jah­re alt war, die­ses Bild un­ter ih­ren liebs­ten Kost­bar­kei­ten auf­be­wahr­te und viel­leicht nur des­we­gen für Ste­pan Tro­fi­mo­witsch ein Ko­stüm ent­warf, das mit dem auf dem Bil­de dar­ge­stell­ten ei­ni­ge Ähn­lich­keit hat­te. Aber auch das ist na­tür­lich un­wich­tig.

In den ers­ten Jah­ren oder, ge­nau­er ge­sagt, in der ers­ten Hälf­te sei­nes Auf­ent­hal­tes bei War­wa­ra Pe­trow­na hat­te Ste­pan Tro­fi­mo­witsch im­mer noch an dem Ge­dan­ken fest­ge­hal­ten, eine Ab­hand­lung zu schrei­ben, und es sich täg­lich ernst­haft vor­ge­nom­men. Aber in der zwei­ten Hälf­te be­gann er of­fen­bar schon das zu ver­ges­sen, was er frü­her ge­wusst hat­te. Im­mer häu­fi­ger sag­te er zu uns: »Ich möch­te mei­nen, dass ich zur Ar­beit vor­be­rei­tet bin, das Ma­te­ri­al bei­sam­men habe, und doch schaf­fe ich nichts! Es kommt nichts zu­stan­de!« und er ließ in trüber Stim­mung den Kopf hän­gen. Ohne Zwei­fel muss­te dies ihm als ei­nem Mär­ty­rer der Wis­sen­schaft in un­se­ren Au­gen eine noch hö­he­re Be­deu­tung ver­lei­hen; aber er selbst woll­te noch auf et­was an­de­res hin­aus. »Man hat mich ver­ges­sen; nie­mand be­darf mei­ner!« Die­se Kla­ge ent­rang sich nicht sel­ten sei­ner Brust. Die­se ge­stei­ger­te Hy­po­chon­drie be­mäch­tig­te sich sei­ner be­son­ders ganz am Ende der fünf­zi­ger Jah­re. War­wa­ra Pe­trow­na ge­lang­te schließ­lich zu der Er­kennt­nis, dass die Sa­che ernst sei. Auch konn­te sie den Ge­dan­ken nicht er­tra­gen, dass ihr Freund ver­ges­sen sei und nie­mand sei­ner be­dür­fe. Um ihn zu zer­streu­en und zu­gleich sei­nen Ruhm wie­der auf­zu­fri­schen, nahm sie ihn da­mals mit nach Mos­kau, wo sie mit meh­re­ren her­vor­ra­gen­den Li­te­ra­ten und Ge­lehr­ten be­kannt war; aber auch Mos­kau brach­te nicht die ge­wünsch­te Wir­kung her­vor.

Es war da­mals eine ei­gen­ar­ti­ge Zeit; es kün­dig­te sich et­was Neu­es an, das der bis­he­ri­gen Stil­le sehr un­ähn­lich war, et­was sehr Selt­sa­mes, das aber über­all ge­spürt wur­de, so­gar in Sk­wo­re­sch­ni­ki. Al­ler­lei Gerüch­te dran­gen bis dort­hin. Die Tat­sa­chen wa­ren im All­ge­mei­nen mehr oder min­der be­kannt; aber es war klar, dass au­ßer den Tat­sa­chen auch ge­wis­se sie be­glei­ten­de Ide­en auf­ge­taucht wa­ren und, was die Haupt­sa­che war, in au­ßer­or­dent­li­cher Men­ge. Aber ge­ra­de das rich­te­te Ver­wir­rung an: es war schlech­ter­dings un­mög­lich, sich dar­in zu ori­en­tie­ren und sich or­dent­lich dar­über klar zu wer­den, was die­se Ide­en nun ei­gent­lich zu be­deu­ten hat­ten. War­wa­ra Pe­trow­na woll­te ih­rer weib­li­chen Na­tur zu­fol­ge dar­in ab­so­lut ein Ge­heim­nis spü­ren. Sie mach­te sich selbst dar­an, Zei­tun­gen und Jour­na­le, aus­län­di­sche ver­bo­te­ne Bü­cher und so­gar die da­mals auf­kom­men­den Pro­kla­ma­tio­nen zu le­sen (all dies konn­te sie sich ver­schaf­fen); aber da­von wur­de ihr nur der Kopf schwind­lig. Sie mach­te sich dar­an, Brie­fe zu schrei­ben; aber man ant­wor­te­te ihr we­nig und aus je wei­te­rer Fer­ne umso un­ver­ständ­li­cher. Sie for­der­te Ste­pan Tro­fi­mo­witsch fei­er­lich auf, ihr alle die­se Ide­en ein für al­le­mal zu er­klä­ren; aber sie war mit sei­nen Er­klä­run­gen ent­schie­den nicht zu­frie­den. Ste­pan Tro­fi­mo­witschs Ur­teil über die all­ge­mei­ne Be­we­gung war im höchs­ten Gra­de hoch­mü­tig; bei ihm kam al­les dar­auf hin­aus, dass er selbst ver­ges­sen sei und nie­mand sei­ner be­dür­fe. End­lich er­in­ner­te man sich auch sei­ner, zu­erst in aus­län­di­schen Pub­li­ka­tio­nen, als ei­nes ver­bann­ten Dul­ders, und dann so­fort auch in Pe­ters­burg als ei­nes frü­he­ren Ster­nes in ei­nem be­kann­ten Stern­bil­de; man ver­glich ihn so­gar aus ir­gend­wel­chem Grun­de mit Ra­discht­schew.2 Dann ließ je­mand dru­cken, Ste­pan Tro­fi­mo­witsch sei be­reits ge­stor­ben, und stell­te einen Ne­kro­log von ihm in Aus­sicht. In ei­nem Nu war Ste­pan Tro­fi­mo­witsch von den To­ten auf­er­stan­den und nahm nun eine sehr wür­de­vol­le Hal­tung an. Der gan­ze Hoch­mut sei­nes Ur­teils über die Zeit­ge­nos­sen trat auf ein­mal zu Tage, und es ent­brann­te in ihm der schwär­me­ri­sche Wunsch, sich der Be­we­gung an­zu­schlie­ßen und sei­ne Kraft zu zei­gen. War­wa­ra Pe­trow­na glaub­te so­fort von neu­em an al­les und wur­de von ei­nem großen Ei­fer er­grif­fen. Es wur­de be­schlos­sen, ohne den ge­rings­ten Ver­zug nach Pe­ters­burg zu rei­sen, al­les an Ort und Stel­le in Er­fah­rung zu brin­gen, per­sön­lich in die­se Krei­se ein­zu­drin­gen und wo­mög­lich voll und ganz sich ei­ner neu­en Tä­tig­keit zu wid­men. Un­ter an­derm er­klär­te sie, sie sei be­reit, ein ei­ge­nes Jour­nal zu grün­den und die­sem von nun an ihr gan­zes Le­ben zu wei­hen. Als Ste­pan Tro­fi­mo­witsch sah, bis zu wel­chem Punk­te die Sa­che ge­kom­men war, wur­de er noch hoch­mü­ti­ger und be­gann sich un­ter­wegs ge­gen War­wa­ra Pe­trow­na so­gar gön­ner­haft zu be­neh­men, was sie so­gleich in ih­rem Her­zen de­po­nier­te. Üb­ri­gens hat­te sie auch noch einen an­de­ren sehr wich­ti­gen Grund zu die­ser Rei­se, näm­lich die Auf­fri­schung ih­rer Be­zie­hun­gen zu hoch­ge­stell­ten Per­sön­lich­kei­ten. Sie muss­te sich in der gu­ten Ge­sell­schaft mög­lichst wie­der in Erin­ne­rung brin­gen oder dies we­nigs­tens ver­su­chen. Der Haupt­vor­wand für die Rei­se war ein Wie­der­se­hen mit ih­rem ein­zi­gen Soh­ne, der da­mals ein Pe­ters­bur­ger Ly­ze­um be­such­te.


  1. Franz. Schrift­stel­ler und Ma­ler, † 1871  <<<

  2. Er gab im Jah­re 1790 eine ›Rei­se von Pe­ters­burg nach Mos­kau‹ her­aus, in der er die furcht­ba­ren Lei­den der Leib­ei­ge­nen schil­der­te und auf die Schä­den der Ver­wal­tung und Rechts­pfle­ge hin­wies.  <<<

VI.

Sie fuh­ren hin und ver­leb­ten in Pe­ters­burg fast die gan­ze Win­ter­sai­son. Aber um die großen Fas­ten platz­te al­les ent­zwei wie eine re­gen­bo­gen­far­be­ne Sei­fen­bla­se. Die Zu­kunfts­träu­me­rei­en ver­flo­gen, und der un­sin­ni­ge Wirr­warr klär­te sich nicht nur nicht auf, son­dern wur­de noch wi­der­wär­ti­ger. Zu­nächst: es ge­lang fast gar nicht, die Ver­bin­dun­gen mit hoch­ge­stell­ten Per­sön­lich­kei­ten wie­der an­zu­knüp­fen, au­ßer in ganz mi­kro­sko­pi­schem Um­fan­ge und nur mit­tels de­mü­ti­gen­der An­stren­gun­gen. Im Ge­fühl der er­lit­te­nen Krän­kung stürz­te sich War­wa­ra Pe­trow­na ganz in die »neu­en Ide­en« und rich­te­te sich einen Abend ein. Sie wünsch­te sich Li­te­ra­ten als Gäs­te, und die wur­den ihr denn auch so­gleich in Men­ge zu­ge­führt. Dem­nächst ka­men sie auch von selbst, ohne Ein­la­dung; ei­ner brach­te den an­de­ren mit. Sie hat­te noch nie sol­che Li­te­ra­ten zu se­hen be­kom­men. Sie wa­ren un­glaub­lich ei­tel, aber in ganz of­fe­ner Wei­se, wie wenn sie da­mit eine Pf­licht er­füll­ten. Man­che (wie­wohl bei wei­tem nicht alle) er­schie­nen in War­wa­ra Pe­trow­nas Sa­lon so­gar in be­trun­ke­nem Zu­stan­de, aber als ob sie sich da­mit ei­ner be­son­de­ren, erst ges­tern ent­deck­ten Schön­heit be­wusst wä­ren. Alle wa­ren sie auf ir­gend et­was so stolz, dass es ganz selt­sam her­aus­kam. Auf al­len Ge­sich­tern stand ge­schrie­ben, dass sie so­eben erst ein au­ßer­or­dent­lich wich­ti­ges Ge­heim­nis ent­deckt hät­ten. Sie zank­ten sich un­ter­ein­an­der und rech­ne­ten sich die­ses Be­neh­men zur Ehre an. Es war ziem­lich schwer, in Er­fah­rung zu brin­gen, was sie ei­gent­lich schrie­ben; aber es gab da Kri­ti­ker, Ro­man­schrift­stel­ler, Dra­ma­ti­ker, Sa­ti­ri­ker und Po­le­mi­ker. Ste­pan Tro­fi­mo­witsch drang so­gar in ih­ren höchs­ten Kreis ein, von wo aus die Be­we­gung ge­lei­tet wur­de. Bis zu die­sen lei­ten­den Per­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­