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Über das Buch

Name: Cat – Geburtsname: unbekannt – Eltern: unbekannt – Wohnort: London – Geschlecht: weiblich – geschätztes Alter: 16 Jahre – Körpergröße: 1,63 Meter – Haarfarbe: variiert – Augenfarbe: graublau – Beruf: Diebin

So sähe der Steckbrief für die Most-Wanted-Fassadenkletterin der britischen Hauptstadt aus – wenn es denn einen gäbe. Doch die Londoner Polizei hat keine Ahnung, dass die spektakulärsten Einbrüche seit der Bling-Ring-Gang von einem 16-jährigen Mädchen verübt werden …

INHALT

Hochmut kommt vor dem Fall

Was geht hier ab?

Verlorene Zeit

Schadensbegrenzung

In welchem Film bin ich?

Ungeduld und Vorfreude

Tate Modern

Freier Fall

Was jetzt?

Tate Modern Blues

Neuland

Man lernt nie aus

Kis(s)met

Ladylike

Ready for Take-off

Und Action!

Curiosity killed the Cat

TRACK: 01

TITLE: HOCHMUT KOMMT VOR DEM FALL

Mein Name ist Deal – Cat Deal. Und ja, du vermutest richtig: Dieser Name steht nicht auf meiner Geburtsurkunde. Er steht auf keinem offiziellen Dokument. Es ist mein Künstlername. Welche Kunst ich betreibe? Ich bin Fassadenkletterin und Diebin. Und zwar die beste, die die britische Hauptstadt derzeit zu bieten hat.

Okay, das mag man kaum glauben, wenn man mich hier zehn Meter über dem Londoner Straßenpflaster hängen sieht, doch es ist wahr. Bis heute ist nicht einer meiner Jobs je schiefgelaufen. Aber wenn immer alles glattgeht, dann wird man eines Tages unvorsichtig. Und genau das schien mir passiert zu sein.

»Könnte mal jemand die Drecksalarmanlage abdrehen?«, brüllte ich wütend in die dunkle Nacht hinaus. Meine Nase war nur fünf Zentimeter von der Hauswand entfernt, doch nicht mal ich hörte meinen Schrei. Oh Mann, hätte ich bloß noch meine Kopfhörer auf, dann wäre das Sirenengeheul aus dem Inneren der Stadtvilla an der Kensington Park Road vielleicht nicht ganz so schrill.

»Mir platzt gleich das Trommelfell. Ich krieg garantiert einen Hörschaden von dem Mist!«, murmelte ich. Was allerdings das kleinere Übel gegenüber dem Gefängnis wäre.

Irgendwie schien mir die Alarmanlage lauter als alle, die ich jemals gehört hatte. Mussten diese Megareichen eigentlich mit allem übertreiben?

Immer wenn es gefährlich wird, geht es in meinem Hirn drunter und drüber. Statt mich auf die Situation zu konzentrieren, fällt mir nur Blödsinn ein! Ich hing hier an einer Hausmauer in einem Viertel, in dem die Polizei weniger als sieben Minuten zu einem Tatort braucht. Und es fiel mir nichts Besseres ein, als mir Gedanken darüber zu machen, ob die Superreichen in allem mega sein müssen?

Aus dem Erdgeschoss loderten die ersten Flammen. Spitze, jetzt brannten auch noch die Gardinen!

Das Feuer hatte mir meinen geplanten Fluchtweg über die Treppe versperrt. Mir blieb nur der Weg aus dem Fenster im zweiten Stock an der Hauswand entlang nach oben aufs Dach.

Beim Klettern braucht man mindestens zwei Kontaktpunkte mit der Wand. Ansonsten stürzt man ab. Der einzige Kontakt, den ich hatte, lag unter meinen Fingern. Auf der Suche nach etwas mehr Halt kratzte ich vorsichtig mit meinen Zehenspitzen an der Wand herum. Doch das Mauerwerk war unheimlich rutschig.

»Verdammte Hitze. Was für ein Idiot sucht sich so eine schwülwarme Nacht für einen Einbruch aus? – Ich!« In den vergangenen Wochen war die Temperatur nicht unter 25 Grad gefallen. Nicht mal in der Nacht! Eigentlich ungewöhnlich für London, vor allem Anfang Juni – ein Dank an die globale Klimaerwärmung. Dazu kam die Dunstglocke aus Abgasen aller Art, die Menschen, Tiere – ja, selbst Häuser – schwitzen ließ.

Entschlossen drückte ich meine Fußsohlen gegen den Putz, presste meine Fingerspitzen tiefer in den Mauerspalt und zog mich ein paar Zentimeter hoch. Mit der linken Fußspitze ertastete ich einen kleinen Vorsprung, drückte mich hinauf und konnte endlich meine Finger ein wenig entspannen, weil ich den Hauptteil meines Gewichts auf die Zehen verlagerte.

Erleichtert blinzelte ich kurz nach oben zur Dachkante, an der mein Freund aufgeregt hin und her rannte.

»Halt die Füße still, Simon! Ich schaff das schon. Bin gleich oben«, rief ich in der Hoffnung, dass er mich über den Krach hinweg hören konnte.

Simon ist mein bester Freund, nur leider in schwierigen Situationen nicht immer Herr der Lage. Aber ich will nicht ungerecht sein. Selbst wenn Simon gewusst hätte, wo sich der Sicherungskasten für die Alarmanlage befand, hätte er sie nicht abschalten können. Denn Simon ist eine Ratte – im wahren, nicht im übertragenen Sinn des Wortes. Das Einzige, was er im Moment tun konnte, tat er.

Meine Füße kamen langsam aber sicher auf der Schicht aus Staub, Ruß und Vogelkot ins Rutschen.

Vorsichtig schielte ich an meiner Hüfte vorbei nach unten. Wenn ich mein rechtes Bein anwinkelte, dann konnte ich den oberen Rand des Fensters erreichen, aus dem ich vorhin ausgestiegen war! Im Stillen dankte ich Gott, oder wem auch immer da oben, für die alten Gebäude der Stadt, deren Fensterflügel sich nach außen öffneten. Ich hielt den Atem an und schaukelte hinüber.

Mit der Fußspitze zog ich den Flügel näher zu mir und schob ihn zwischen meine Beine. Blitzschnell griff ich mit den Händen über und setzte mich auf den schmalen Mauervorsprung über dem Fenster.

»Wow, das war knapp!« Behutsam lehnte ich mich mit dem Rücken an die warme Mauer und ließ meine Beine baumeln. »Einen Moment Ruhe, um meine Gedanken auf die Reihe zu kriegen. Ist das zu viel verlangt?«, schrie ich meinen Frust heraus.

Solofreeclimbing ist normalerweise nicht mein Ding. Genauso wenig wie eine überstürzte Flucht. Wenn ich schon eine Hauswand hinaufsteige, dann sichere ich mich mit Seilen. Aber an diesem Einbruch war irgendwie nichts normal! Mit den Zähnen zog ich die Handschuhe aus und wischte mir die schwitzigen Hände an der Hose ab. Ich trug Handschuhe. Bei jedem Job. Keine Fingerabdrücke – keine DNS-Spuren – keine neugierige Polizei, die nach mir sucht.

Ein Lächeln huschte über mein Gesicht. Die Handschuhe hatte mir mein Vater zu meinem fünften Geburtstag geschenkt. Sicherheitshalber zwei Nummern größer, damit ich hineinwachsen konnte. Ich hatte ihm ein halbes Jahr in den Ohren gelegen, endlich reiten lernen zu dürfen. Dabei hatte ich Angst vor Pferden! Ich wollte einfach nur die Handschuhe haben, weil ich sie in einem Reitkatalog an einer wunderschönen Frau gesehen hatte. Zu meiner Entschuldigung: Ich war mal wieder in meiner Das-könnte-meine-Mutter-sein-Phase.

Es war meine letzte.

An jenem Tag starb mein Vater, bevor er mir das Geschenk selbst geben konnte.

An jenem Tag dachte ich das letzte Mal an die Frau, die mich geboren hatte.

Ich schüttelte die Erinnerung ab.

Wie dem auch sei. Die Handschuhe waren das Beste, was ich jemals für meine Jobs gefunden hatte. Einweghandschuhe kamen für mich nicht infrage. Einer meiner Beiträge zum Umweltschutz. Außerdem konnten die Kriminaltechniker mittlerweile Fingerabdrücke von der Innenseite solcher Handschuhe abnehmen.

Der höllische Lärm der Alarmanlage zerrte an meinen Nerven, und ich roch den Rauch. Ich tastete nach dem kleinen Beutel an meiner Hüfte: Das Armband war noch da!

In der vergangenen Woche hatte ich jedes nur erdenkliche Detail zu dem Job recherchiert und alle Sicherheitsfaktoren doppelt und dreifach gecheckt. Ich wusste, dass die Besitzerin des Armbands – na ja, die ehemalige Besitzerin – mit ihrem Mann ins Theater gehen würde. Das Personal hatte einen freien Abend. Der Safe, ein feuerfester Harkman 307, besaß ein einfaches Sicherheitsschloss. »Einfach«, weil sich der Hausherr jeden Schnickschnack wie Finger- oder Irisscanner sparte. In dem Tresor verwahrte er ja nur Wertgegenstände unter der Rubrik täglicher Bedarf. Worunter dieser Typ auch millionenschwere Armbänder verstand, in deren Platinfassung Rubine und Diamanten in unterschiedlichen Größen eingearbeitet sind. Ich würde dieses potthässliche Ding nicht mal tragen, wenn ich tot wäre!

Die Villa selbst war über ein Eagle-One-Alarmsystem gesichert. Was bedeutete, dass jedes Nummernschloss über ein und denselben Code deaktiviert wurde. Ein Code, der auch den Safe öffnete. Niemand konnte dem Hausherrn besondere Intelligenz unterstellen. Der würde die Juwelen und seinen ganzen Schotter wahrscheinlich offen in den Räumen liegen lassen, wenn die Versicherung nicht auf einen Safe bestehen würde.

Ich hasste diese Neureichen, die ihr Vermögen mit dem Leid anderer verdient hatten. Der Typ, den ich gerade bestahl, betrog seine Regierung um Milliarden. Mit dem Geld kaufte er Immobilien in ganz London. Und seine verzweifelten Landsleute brachten ihre Kinder in SOS-Dörfern unter, weil sie sie nicht ernähren konnten. Und das in Europa!

Das Armband stammte von einer Athener Familie, deren kleines Restaurant er vorher mit überhöhten Hypothekenzinsen in den Ruin getrieben hatte. Das Schmuckstück war über Generationen weitergegeben worden und hatte neben dem materiellen einen hohen emotionalen Wert, auch wenn es hässlich war.

Der Job schien so megaeinfach.

Rein, raus in 4:35 Minuten. Exakt die Länge des Songs Strong der Band London Grammar. Ich choreografiere jeden Bruch wie ein Ballett, und dazu gehört natürlich die passende Musik, deren Länge sekundengenau auf die Zeit und den Schwierigkeitsgrad des Jobs abgestimmt ist. So werde ich nicht abgelenkt. Ich kann mich einfach besser konzentrieren, wenn die Musik superlaut in meine Hirnwindungen schmettert.

Was war hier nur schiefgelaufen? Was hatte ich übersehen? Und warum stand das ganze Haus plötzlich in Flammen?

Wütend schlug ich meinen Hinterkopf gegen die Hauswand. Der kreischende Signalton hallte weiter durch die Nacht.

Auf der Straße unter mir regte es sich langsam. In den Nachbarhäusern gingen die Lichter an. Der erste Streifenwagen kam gerade mit quietschenden Bremsen vor dem Hauseingang zum Stehen. Ein zweiter bog zeitgleich um die Ecke.

»Na, gut. Zeit, die Party zu verlassen!« Ein kurzer Blick zum Dach und … »Simon?« Irritiert suchte ich nach meinem Freund, der bis vor Kurzem noch seinen Kopf über den Rand gestreckt hatte. Auch wenn Simon für eine Hausratte ungewöhnlich anhänglich war, so sind Ratten von Natur aus nun mal Fluchttiere. Etwas Unbekanntes musste ihn aufgeschreckt haben. Und der Instinkt siegt immer.

Egal.

Ich hatte keine Zeit, mir darüber Gedanken zu machen. Er würde sicher irgendwo auf mich warten. Entschlossen zog ich meine Handschuhe wieder an, schob mich mit dem Rücken an der Wand hoch und drehte mich vorsichtig um. Jetzt musste ich nur noch den Rand der eingemauerten Dachrinne erwischen. Ich streckte mich voll durch. Meine Fingerspitzen reichten knapp hinauf. Ich stieß mich mit den Füßen nach oben ab. Gerade als ich mich mithilfe meines Unterarms auf das Dach hieven wollte, fiel mein Blick auf ein Paar schwarze Sportschuhe. Noch bevor ich einen klaren Gedanken fassen konnte, hob mich etwas in die Luft und schleuderte mich auf die feuchtwarme Teerpappe, mit der das flache Dach überzogen war. Ich knallte auf die Seite. Vor Schmerz blieb mir die Luft weg. Ein Schatten schritt langsam auf mich zu. Er war größer als ich und kräftiger.

»Was zur Hölle …!?« Ich spuckte etwas Blut aus. Bei dem Sturz hatte ich mir auf die Zunge gebissen.

Das konnte unmöglich ein Polizist sein! So schnell waren die niemals aufs Dach gekommen. Nicht wenn sie vorschriftsmäßig erst einmal die Umgebung sicherten. Die durften ein brennendes Haus gar nicht betreten!

Der Angreifer riss mich an den Armen hoch und stellte mich auf die Füße. Er musterte mich von oben bis unten. In seinem Blick lag etwas, das mich irritierte. Mein Atem ging schneller, aber Angst hatte ich merkwürdigerweise keine. Ich war eigentlich nur verwirrt.

Sein ganzer Körper war unter schwarzem Stoff versteckt. Bis auf die Augen sah ich nichts von ihm. Seine Haut war weiß und die Augen graublau, wie meine. Vermutlich hatte er blonde Haare.

»Was willst du?«, brachte ich hustend hervor. Wortlos kam er näher.

»Nimm deine Pfoten weg!«, schrie ich. Instinktiv griff ich nach dem Beutel an meiner Hüfte, genau wie der Typ.

»Echt jetzt!?« Ich konnte es nicht glauben. Er wollte mir meine Beute abjagen. Nicht mit mir!

Mit voller Kraft rammte ich ihm meine Faust in den Bauch.

Ein dumpfes Stöhnen drang aus seiner Kehle. Aber er sackte nicht zusammen, wie ich gehofft hatte. Stattdessen riss er mich herum und drückte meinen Rücken an sich, die Hände vor meiner Brust überkreuzt, so als wäre ich in einer Zwangsjacke gefangen. Aber er hatte den Beutel losgelassen.

»Halt still, dann passiert dir nichts! Verstanden?«

Seine Stimme jagte mir einen Schauer über den Rücken.

Ich spürte seinen Atem in meinem Nacken. Er roch nach Haselnüssen und Milch mit einem Schuss Vanille. Es gibt Menschen, die ein fotografisches Gedächtnis haben, bei mir ist ein Geruch der Auslöser für eine Erinnerung. Ich verbinde Bilder mit einem Duft, ob nun gut oder schlecht. Und das hier war garantiert ein schlechtes Bild! Vielleicht konnte ich mich aus der Umklammerung lösen? Ich meine, irgendwann würde der Typ mich loslassen müssen, oder!? Allerdings konnte es dann für mich zu spät sein, wenn er mich direkt in die Arme der Polizei übergab. Er könnte ja einfach so tun, als hätte er mich gefangen, als ich über das Dach flüchten wollte. Für seine Anwesenheit hätte er bestimmt auch eine schöne Ausrede parat.

»Konzentrier dich«, feuerte ich mich leise an.

»Wie bitte?« Für einen klitzekleinen Augenblick ließ die Aufmerksamkeit meines Angreifers nach.

Jetzt! Mit aller Kraft stemmte ich meine Beine in den Boden, holte Schwung und kickte meinen Kopf nach hinten. Zuerst hörte ich ein leises Knacken, gefolgt von einem dumpfen Schrei. Mein Schlag hatte ihm mit Sicherheit die Tränen in die Augen getrieben. Und mit etwas Glück auch die Nase gebrochen.

Der Kerl ließ von mir ab und hielt sich die Hände vors Gesicht. Unter seiner Maske überschüttete er mich mit nicht sehr netten Ausdrücken und Flüchen.

Die Alarmanlage verstummte mit einem Mal.

Blaue und rote Lichter flammten abwechselnd von den Polizei- und Feuerwehrfahrzeugen durch den schwarzen Rauch zu uns hinauf. Die irritierende Stille wurde von einem schrillen Schrei durchschnitten. Wie von der Tarantel gestochen hüpfte der Kerl vor mir auf einem Bein und riss seine Arme in die Luft. Was war denn jetzt auf einmal los?

Dann entdeckte ich Simon, der sich in das Hosenbein meines Angreifers verbissen hatte. Im ersten Moment wusste ich nicht, ob ich lachen oder das Weite suchen sollte. Aber ich konnte meinen Freund ja schlecht so hängen lassen, oder?

Voller Panik riss der Mann an ihm herum und schleuderte ihn in die Luft. Ich sprintete los und konnte Simon gerade noch auffangen. Erleichtert atmete ich auf und streichelte ihm beruhigend über den Rücken. Da spürte ich einen heftigen Ruck am Gürtel.

Ich fuhr herum. Der Typ jagte quer über das Dach davon, einen kleinen Beutel in der Hand. Mit offenem Mund starrte ich ihm nach. Geschickt sprang er von einem Dach zum anderen. Seine Bewegungen waren geschmeidig wie die einer Katze. Beim letzten Haus in der Reihe öffnete er das Dachfenster, drehte sich um und …

»Was, verdammt …?« Hatte der Typ mir gerade zum Abschied gewunken? Ich wollte ihm gerade ein richtig fieses Schimpfwort hinterherbrüllen, als ich die ersten Feuerwehrmänner durchs Haus poltern hörte. Rasch verstaute ich Simon in seiner Transporttasche an meiner Hüfte und nahm die Beine in die Hand. Sekunden später rutschte ich zwei Häuser weiter die Metallleiter unter der Dachluke hinunter, die mein Angreifer zur Flucht genutzt hatte. Dann huschte ich, vorbei an Schleifgeräten, Farbeimern und Pinseln, durch ein in Plastik gehülltes Treppenhaus. Die Haustür war offen. Ungläubig schüttelte ich den Kopf. Es schien fast so, als wollte der Unbekannte sich mit dem Hinweis auf einen Fluchtweg für seine Frechheit entschuldigen. Mein Blick glitt schnell nach rechts und links. Niemand hatte mich bemerkt. Ich atmete kurz durch und schlurfte wie jeder andere Teenager, der zur U-Bahn wollte, in Richtung Ladbroke Grove Station.

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Dunstschwaden waberten in kleinen Fetzen zwischen den Bäumen und Sträuchern der Eaton Square Gardens und verflüchtigten sich in den Straßen Belgravias. Lord Peter schaute nachdenklich aus dem Fenster seiner Bibliothek und zupfte ungeduldig am Revers seines dunkelrot karierten Morgenmantels. Er spürte die dumpfe Atmosphäre des Raumes in seinem Rücken und atmete die abgestandene Luft von Jahrhunderten ein.

Angespannt griff Seine Lordschaft nach dem Buch, das er erst vor ein paar Sekunden auf dem kleinen Tisch neben dem Fenster abgelegt hatte. Der Familiensiegelring mit dem Löwenkopf im Wappen blitzte für einen kurzen Moment im Schein der schmalen Tischlampe auf. Er schlug die Seite auf, an deren Stelle sich das lederne Lesezeichen befand. Doch auch diesmal schweiften seine Gedanken ab, anstatt sich auf die Zeilen zu konzentrieren, die ihm eine wahre Geschichte aus dem zweiten Weltkrieg nahebringen wollten. Er starrte wieder auf die Straße vor seinem Haus. Keine Veränderung! Sollte etwas schiefgelaufen sein? Unmöglich: Ihr Plan war bis ins kleinste Detail perfekt ausgearbeitet.

Mit einem dumpfen Plopp ließ er das Buch zuschnappen und warf es genervt zurück auf das Tischchen. Der Schein der Lampe zitterte über das nussbraune Parkett. Entschlossen machte der Hausherr auf dem Absatz kehrt und schritt mit wehendem Mantel in den Flur. Wobei Flur ein absolut unzutreffender Ausdruck war für das, was die Zimmer in diesem Haus miteinander verband. Eine breite Treppe erhob sich im Eingangsbereich und führte in den ersten Stock. Dort mündete sie in einen umlaufenden Balkon, von dem die Räume der Familie abgingen. Das Gleiche wiederholte sich im zweiten Stock. In die darüber liegenden Stockwerke kam man nur über die Dienstbotentreppe, die versteckt hinter einer weiß getünchten Tür in der Eingangshalle des Hauses ihren Anfang nahm. Lord Peter drehte den kleinen Türknauf und verschwand wie ein Geist. Schon als Kind hatte er sich jedes Mal wie Alice im Wunderland gefühlt, wenn er sich hinter dieser Tür vor seinen Privatlehrern versteckte. Im Gegensatz zu den prächtigen Räumen, die die Familie Seiner Lordschaft bewohnte, war dieser Bereich weitaus spartanischer. Es war, als würde man hinter die Kulissen eines Theaters schauen und die Wirklichkeit sehen. Die Wirklichkeit, die aus Holztreppen ohne Teppichboden, aus unverputzten Backsteinmauern und dunklen Gängen bestand. Leichtfüßig erklomm Lord Peter die schmale Stiege und betrat den Raum, der direkt über der Bibliothek lag. »Wie sieht’s aus, Asim?«

»Alles in Ordnung. Wieso?«, erwiderte ein Jugendlicher, der mit dem Rücken zur Tür vor einer Wand aus Monitoren saß. Das bläulich schimmernde Licht erhellte die fein geschnittenen Gesichtszüge des Jungen. »Beruhigen Sie sich, Peter. Vor vier Minuten hat der Bote die Ware an sich genommen und ist über die Dächer verschwunden. So wie wir es geplant haben. Obwohl er wahrscheinlich ein kleines Extra verlangen wird. Kosmetische Eingriffe sind ja nicht billig!« Asim grinste.

»Kosmetische Eingriffe?« Lord Peter war irritiert. Der Auftrag ging nicht im Geringsten in diese Richtung.

»Das Mädchen hat es wirklich in sich. Sie ist mit Sicherheit die Richtige für uns – wenn wir sie bändigen können.« Lachend spielte Asim eine nur wenige Minuten alte Aufzeichnung ab.

»Braves Mädchen!«, murmelte Lord Peter. Dann legte er die Hand auf Asims Schulter. »Der Kauf der Drohne hat sich wirklich gelohnt. Ich bin froh, dass ich auf dich gehört habe. Erinnere mich daran, dem Jungen einen Bonus zu zahlen. Schmerzensgeld für die Nase und sein angekratztes Ego. Das Veilchen muss er auch erst mal erklären können!«

Beide lachten, und Asim freute sich über das Lob. Wochenlang hatte der Junge auf den Lord eingeredet, endlich das flugfähige Spielzeug besorgen zu dürfen, das man mit einer leistungsstarken Kamera bestücken konnte. Der Quadro-copter, ein Air-Robot mit vier Minihelikopterantrieben, ließ sich mittels eines speziellen Computerprogramms von einem Rechner, Laptop oder Smartphone aus steuern. Um Lord Peter vollends zu beruhigen, zeigte Asim ihm auch die Aufnahmen von der Flucht des Mädchens. In ihrem schwarzen Catsuit war sie auf dem Dach zwar nur als Schatten auszumachen, aber man erkannte, dass sie dem Jungen in das als Fluchthaus vorbereitete Gebäude folgte und von dort aus zur nächstgelegenen U-Bahn-Station lief.

»Ich sagte Ihnen doch, wir haben alles unter Kontrolle.«

Lord Peter seufzte. »Das kann ich nur hoffen. Was wir vorhaben, ist gefährlich. Es kann uns das Leben kosten, wenn die falschen Leute davon Wind bekommen.« Er schaute zu, wie Asim erneut mit schnellen Tastenanschlägen diverse Kameras steuerte, auf die er legal eigentlich keinen Zugriff hätte haben dürfen. »Ist sie noch unterwegs?«

»Ja.« Asim wies mit dem linken Zeigefinger auf einen Monitor und tippte ohne Unterbrechung mit der rechten Hand ein paar Befehle in den Computer. Ein kurzes Zucken auf dem Bildschirm, und schon sahen sie die Bilder einer Überwachungskamera der Londoner Tube. Sie zeigten ein blondes Mädchen in Bluejeans und schwarzem Hoodie, auf dessen Schulter eine Ratte thronte. Mit gesenktem Kopf saß sie auf einer Bank und beugte sich tief über ein Smartphone. Sehr geschickt, denn so blieb ihr Gesicht den Kameras verborgen.

»Das ist sie?« Lord Peter zog anerkennend seine rechte Augenbraue nach oben. »Sie hat unterwegs ihre Kleider gewechselt und sich sogar eine Perücke aufgesetzt.« Dann schaute er Asim an. »Kannst du rausfinden, was sie mit den Sachen gemacht hat? Ich sehe keine Tasche bei ihr.«

Asim zapfte sämtliche Kameras an, an denen die Zielperson auf dem Weg zur U-Bahn vorbeigekommen war. Und das waren nicht wenige.

»Stopp!«, rief Lord Peter. »Zoom mal hier ran.«

Asim bewegte einen Ball, der in das Steuerpult vor ihm eingelassen war, und konnte das Bild auf die Zehntelsekunde genau einfrieren.

»Da! Ein toter Winkel. Hier um die Ecke ist sie stehen geblieben und hat sich umgezogen. Auf den Bildern dieser Kamera sieht man den schwarzen Anzug. Und auf den Bildern ab hier taucht er nicht mehr auf.« Seine Lordschaft nickte anerkennend.

Asims Finger flogen über die Tastatur und vergrößerten den rechten Rand des Bildes. »Die Kleine ist wirklich gut! Sie hatte einen Notfallplan. Sie muss in diesem Mülleimer einen Beutel mit Klamotten versteckt haben. Dann hat sie sich im toten Winkel umgezogen und die alten Sachen irgendwo entsorgt.«

Lord Peter richtete sich auf. »Das entsorgt macht mir Kopfschmerzen. Wenn sie die Sachen einfach in einen anderen Mülleimer geworfen hat, dann kann die Polizei ihre Spur aufnehmen. Schick ein Team hin. Sie sollen alles beseitigen und zusehen, dass sie den Anzug finden. Und …« Lord Peter senkte seine ohnehin tiefe Stimme noch ein wenig. »Asim, lösch bitte die Aufnahmen der Überwachungskameras. Ich will nicht, dass die Behörden noch auf den letzten Metern auf uns aufmerksam werden.«

»Schon geschehen«, meldete Asim grinsend. Lord Peter nickte anerkennend. Er schätzte Menschen, die vorausdachten. »Ich habe der Polizei das alte Fernsehtestbild mit Carole Hersee und dem Clown aus den 80ern aufgespielt.«

»Witzbold«, meinte der Lord und ließ schmunzelnd die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Er ging zurück in die Eingangshalle. Jeden Moment würde ein Bote an seiner Tür läuten. Der junge Pakistani hingegen verfolgte das Mädchen bis zu ihrem Zuhause. Erst als das Licht im Schlafzimmerfenster erlosch, schaltete er die obere Reihe der Bildschirme aus. »Gute Nacht, Prinzessin!«, raunte er und ließ für einen kurzen Augenblick die Hand auf einem der Monitore ruhen.

Im Augenwinkel nahm Asim einen Schatten wahr. Er sah zu dem Bildschirm hinüber, der den Eingang des Hauses im Blick hatte. Ein Jugendlicher wurde von Lord Peters Butler Vincent ins Haus gebeten. Mit den strohblonden zurückgegelten Haaren und dem aristokratischen Auftreten war der Besucher äußerlich das genaue Gegenteil Asims. Wortlos nahm Vincent ein Paket von dem aufgeblasenen Schnösel entgegen und übergab ihm auf dieselbe arrogante Art einen Briefumschlag. Danach entließ er den Boten wieder in die Nacht. Einige Sekunden später hörte Asim das schwere Stottern einer startenden Zündapp DB 200.

»Idiot!«, murmelte Asim neidisch. Er fragte sich immer wieder, wie der Kerl ein so auffälliges Motorrad fahren konnte. Das typische Geräusch des Einzylinder-Zweitaktmotors war unverkennbar. Jeder Polizist würde sich an ein deutsches Motorrad erinnern, das in keinem Film über den letzten Weltkrieg fehlen durfte. Außerdem konnte er beim besten Willen nicht begreifen, warum sich der Lord mit diesem Möchtegerndieb überhaupt abgab. Er wusste immer alles besser, hielt sich nicht an Absprachen und bekam mit seiner aufdringlichen Art jedes Mädchen rum.

»Asim!«

Der junge Mann schreckte beim Klang seines Namens auf. Lord Peter winkte in die Kamera der Gegensprechanlage der Bibliothek.

»Das war eine lange Nacht. Geh ins Bett und schlaf noch ein wenig. Wir haben ein paar anstrengende Tage vor uns. Ich brauche dich ausgeruht und fit im Kopf.«

Asim nickte. Es wäre sehr unklug, die Anweisungen dieses Mannes nicht zu befolgen. Eines Mannes, der ein sehr hohes Ansehen in der britischen Aristokratie genoss: Peter Charles Michael William Haversham der Vierte, Baron von Leonwood Castle.

TRACK: 02

TITLE: WAS GEHT HIER AB?

Kontrolle ist gut. Kontrolle ist wichtig. Aber hey! Ich bin ein Teenager. Ich bin 16 Jahre alt und habe ein Riesenproblem am Hals. Da kann ich mir ja wohl ein bisschen Panik leisten, oder?

Vorsichtig schaute ich mich um. Niemand zu sehen. Verfolgungswahn ist leider eine Nebenwirkung, wenn man sich als Dieb durchs Leben schlägt. Zumindest ist es bei mir so.

Ich bin in allem immer etwas vorsichtiger. Um keinen Preis der Welt möchte ich auffallen. Nicht nur, dass ich knallrot werde, wenn mich jemand anspricht. Ich weiß meistens auch nicht, was ich antworten soll, weil sich mein Gehirn anfühlt wie Brei und in meinem Magen der Punk abgeht. Deshalb bin ich still und denke mir meinen Teil. Ich beobachte die Menschen lieber. Nach meiner Erfahrung lernt man dadurch mehr, wie Menschen wirklich ticken, als durch das, was sie erzählen.

Die Fenster meiner Nachbarn waren dunkel, und ich hörte nur die üblichen Geräusche der schwülwarmen Nacht. Mein Boot lag fest vertäut am Ufer der Andrews Road unweit der Bahnstrecke. Träge plätscherte das Wasser des Regent’s Canal gegen die Betonwände am Ufer. Ich nahm meinen Hausschlüssel aus der Bauchtasche meines Hoodies. Kaum hatte ich die Tür geöffnet, sprang Simon von meiner Schulter auf das Geländer der Treppe und sprintete zu seinem Fressnapf neben dem Kühlschrank.

»Wie kannst du nach all dem Stress nur an Essen denken?«, wunderte ich mich und stieg die vier Stufen hinab in den ehemaligen Laderaum des Bootes. Das alte Narrowboat hatte im vergangenen Jahrhundert als Koks-Transporter gedient. Also Koks, den man im Ofen verheizen kann, nicht den, den sich einige durch die Nase ziehen oder in die Venen drücken.

Simon und ich hatten den Raum offen gestaltet. Ringsum waren Fenster eingelassen und Trennwände gab es nicht, damit so viel Tageslicht wie möglich hereinkam. Kochen, essen, fernsehen, lesen – leben, alles in einem Raum. Lediglich das Schlafzimmer am anderen Ende oder vielmehr dem Bug des Bootes war durch eine Milchglastür vom Raum getrennt. Simon legt sehr viel Wert auf Privatsphäre.

Und, na ja, das Bad war natürlich auch hinter Wänden versteckt. Direkt unter der Eingangstreppe. Etwas eng, aber für mich reichte es allemal.

»Oh Gott, ich stinke!« Angewidert hielt ich den Atem an und riss mir meine Perücke vom Kopf. »Erinnere mich das nächste Mal daran, die Fluchtklamotten nicht in einem Mülleimer zu verstecken.«

Simon interessierte sich nicht für mein Gejammer. Er saß vor seinem leeren Napf und schaute mich anklagend an.

»Ist ja schon gut. Darf ich mich erst einmal umziehen und vielleicht eine kurze Dusche nehmen?« Ich schnappte nach Luft.

Natürlich nicht! In Simons Knopfaugen lag die pure Anklage gepaart mit einem kleinen Grinsen.

Können Ratten grinsen?

»Na gut. Aber so spät in der Nacht gibt es nur einen Snack«, warnte ich ihn mit liebevoll erhobenem Zeigefinger und nahm aus dem Kühlschrank ein Blatt Eisbergsalat.

»Hier mein tapferer Held.« Ich streichelte ihm kurz über den Rücken und beobachtete, wie sich Simon auf das Blatt stürzte.

Am liebsten hätte ich den kleinen Kerl in den Arm genommen und ganz fest gedrückt. Meine Nase tief in sein Fell vergraben. Aber Simon war keine Schmuseratte. Er ertrug meine Streicheleinheiten tapfer ein paar Sekunden. Das war es dann aber auch. Genau wie ich mochte er keine Gefühlsausbrüche.

Wir blieben eben cool!

Ein Jahr war es jetzt her, dass ich Simon hinter dem Pub meiner Tante J. gefunden hatte. Ich war gerade dabei, den Müll rauszubringen, als mir ein merkwürdiges Quieken auffiel. Ich ignorierte es, denn in dieser Gegend kümmerte sich jeder besser um sich selbst.

Doch beim Gläserspülen hinter dem Tresen ging mir das Geräusch nicht aus dem Kopf. Oder besser aus dem Magen, der sich bei jedem Gedanken daran noch ein bisschen mehr zusammenzog. Also lief ich wieder nach draußen in den strömenden Regen und lauschte. Es war noch da, und es klang jämmerlicher als beim ersten Mal. Ich suchte die dreckige Gasse ab und fand schließlich einen zugeklebten Karton, in dem sieben neugeborene Hausratten eingesperrt waren. Alle waren tot, bis auf Simon. Ohne lange zu überlegen, schob ich den nackten kleinen Körper unter meinen Pullover, um ihn zu wärmen. Dann schaffte ich ihn ins Haus. Damals wohnte ich in einem schmalen Zimmer über dem Pub meiner Tante. Ich wärmte Simon und klaute im Store eine Bratenspritze, mit der ich ihn fütterte.

Ratten sind eigentlich Rudeltiere, doch ich hatte nicht den Eindruck, als würde der kleine Kerl etwas vermissen. Zum ersten Mal seit Jahren gab es wieder jemanden, dem ich alles erzählen, alles anvertrauen konnte. Und er widersprach nicht! Simon war Familie.

Leider sind Ratten in einem Pub schlecht fürs Geschäft, vor allem wenn das Hygiene-Amt davon Wind bekommt.

Ich wollte Simon aber nicht hergeben. Und wenn ich etwas wirklich wollte, dann konnte mir das niemand ausreden. Mein Dickkopf war stärker, und so besorgte uns Tante J. das heruntergekommene Hausboot von einem Kunden, der Schulden bei ihr hatte. Der Rest ist, wie man so schön sagt, Geschichte.

»Igitt. Ich stinke wie eine Müllhalde.« Entschlossen rieb ich mir die Tränen aus den Augen. »Die Dämpfe ätzen mir noch alles weg.« Ich zog meine Klamotten aus und warf sie auf den Berg zu der restlichen Schmutzwäsche.

Nie wieder würde ich weinen, das hatte ich mir vor langer Zeit geschworen. Nie wieder würde jemand sehen, wie es in mir aussah. Nie wieder. Das eine Mal hatte völlig gereicht. Und geholfen hatte es auch nicht. Mein Vater wurde dadurch nicht mehr lebendig.

»Ich spring mal schnell unter die Dusche«, rief ich Simon zu. Doch der ließ sich bei seinem Mahl nicht stören.

Auf dem Weg ins Bad startete ich noch schnell das MacBook, damit es meine Nachrichten abrufen konnte.

Als ich, das Badetuch fest um mich geschlungen, wieder rauskam, war Simon verschwunden. Ich lief ins Schlafzimmer und fand ihn in seinem Körbchen. Er schnarchte fröhlich vor sich hin.

Leise warf ich mich in eine ausgebeulte Jogginghose und zog ein verwaschenes Hemd meines Vaters über. Ich hatte es behalten, um seinen Geruch immer bei mir zu haben. Mit der Zeit verblasste neben seinem Duft auch die Erinnerung an ihn. Doch solange ich das Hemd trug, konnte ich mir wenigstens einbilden, mein Dad würde mich in den Arm nehmen.

Ich holte mir ein Glas Traubensaft und setzte mich auf die Couch, die ich aus alten Europaletten und diversen Matratzen und Kissen zusammengebaut hatte. Den Laptop auf den Knien scrollte ich im Schnelldurchlauf durch Facebook. Nichts Besonderes, außer einer Einladung zu einem Rap-Konzert. Keine Ahnung von wem die kam. Ich und Rap – das ging gar nicht!

Dann checkte ich meine Nachrichten auf WhatsApp. Hier war schon etwas mehr los. Alle aus meiner Klasse waren ausnahmslos hier vertreten. In den vergangenen Jahren waren die meisten von Facebook auf WhatsApp, Instagram oder Snapchat umgestiegen. Es war privater und ging einfach schneller, weil man nicht mit so viel Zeug zugemüllt wurde. Und nachdem Eltern und Großeltern auch in Facebook Einzug hielten, machten wir uns davon.

Ethan wollte wissen, wann wir uns endlich wegen des Mathereferats zusammensetzen würden. Nicht, dass wir uns freiwillig dafür gemeldet hätten. Unser Mathelehrer war auf die tolle Idee gekommen, Gruppen aus Schülern zu bilden, die nichts gemeinsam haben. So wollte er das Gemeinschaftsgefühl der Klasse verbessern. Ich hasste es, wenn die Lehrer an uns irgendwelche Sachen ausprobierten, die man ihnen bei diesen bescheuerten Fortbildungsseminaren eintrichterte.

Anstelle einer Antwort schickte ich Ethan alles, was ich zu Ada Lovelace recherchiert hatte, der Mathematikerin, die das erste Computerprogramm der Welt geschrieben hatte. Wir hätten vielleicht auch in der Schule direkt miteinander reden können. Aber in der realen Welt hatte ich Angst vor Ethans Freundin mit den waffenscheinpflichtigen Fingernägeln. Sie war durchgeknallt eifersüchtig.

Ich trank einen Schluck Saft und schaute schnell noch die Tweets meiner Lieblingsbands durch, bevor ich mich auch ins Bett legte. Der Wecker zeigte 03:43 Uhr.

Um 04:04 Uhr lag ich noch immer wach.

Ich drehte mich hin und her. Aber mehr als völlig zerwühltes Bettzeug kam dabei nicht heraus.

Mir ging der missratene Job einfach nicht aus dem Kopf. Ich konnte meine Gedanken nicht abstellen.

Wie sollte ich meiner Hehlerin erklären, was passiert war? Dass man mir einfach das Armband abgenommen hatte. Mein Geld konnte ich in die Tonne treten. Keine Ware – kein Cash.

»Verdammter Mist!«

Ich setzte mich auf und verschränkte wütend die Arme vor der Brust. »Dieser elende Mistkerl! Wenn ich den in die Finger kriege, werde ich …«

Tja, was würde ich dann tun? Er war einen Kopf größer als ich und kräftiger. Einen direkten Kampf würde ich verlieren, das war mal sicher.

Simon grunzte stockend auf. Besorgt schaute ich zu dem braunweißen Fellbündel hinüber. Doch er drehte sich nur einmal und schlief dann ruhig weiter.

Mein Blick glitt zu dem Fenster über ihm. Draußen war es stockfinster. Und statt der Uferbegrenzung sah ich mein Spiegelbild.

Dunkelbraune Haare – raspelkurz geschnitten – über einem ovalen Gesicht, in dessen Mitte eine kleine Stupsnase thronte. Meine Augenfarbe variierte zwischen graublau und violett, je nachdem wie meine Stimmung war. Meine Haut zeigte einen kleinen Stich ins Olive. Ihre Farbe hatte sie aus der Familie meines Vaters. Ich war Engländerin griechischer Abstammung.

Da ich meine Mutter nicht kannte, war es schwer einzuschätzen, welche Merkmale oder Charaktereigenschaften ich von ihr oder ihrer Familie geerbt hatte.

Ich schüttelte den Kopf und kroch aus dem Bett.

»Was auch immer! Du hast echt wichtigere Probleme«, schimpfte ich.

Schlafen konnte ich jetzt vergessen.

Ich musste mir etwas überlegen. Nachdenken gelang mir am besten, wenn ich in Bewegung war. Auf der digitalen Anzeige meines Weckers flimmerte die Zahl 04:18.

Ich schob die Schiebetür meines Schlafzimmers auf.

Im Dunkeln tappte ich barfuß zum Kühlschrank. Ein Schwall angenehmer Kälte umfing mich. Ich blinzelte in den Lichtschein und griff nach einem Himbeerjoghurt, schloss die Tür wieder und nahm einen kleinen Löffel aus der Schublade. Ich lehnte mich mit dem Rücken an die Arbeitsplatte und stopfte mir nachdenklich eine Portion Joghurt in den Mund.

»Okay. Was ist passiert?«

Den Löffel in der Luft schwenkend unterstützte ich meine Worte.

»Simon und ich haben den Nummerncode an der Vordertür über die Kamera aufgenommen, die wir in dem Baum gegenüber versteckt hatten. Das Signal ist online über eine sichere Leitung übertragen worden. Mit dem Code sind wir durch die Hintertür ins Haus gekommen. Keine Kameras, keine versteckten Signalgeber oder Lichtschranken. Der Safe im oberen Stockwerk lag hinter einem Gemälde von Wassily Kandinsky.« So weit, so gut. »Mit der gleichen Zahlenkombination habe ich den Safe aufgemacht und das Armband herausgenommen. Das Geld – rund 20 000 Euro – habe ich nicht angerührt, weil im Boden dieses Harkman-307-Modells ein Druckschalter installiert war. Hätte ich den Inhalt komplett ausgeräumt, wäre ein stummer Alarm direkt in die nächstgelegene Polizeiwache gesendet worden. Außerdem hätten die ein nettes Selfie von mir bekommen, weil der Schalter auch die Safekamera ausgelöst hätte.«

All das wusste ich. All das hatte ich beachtet!

Ich löffelte weiter meinen Joghurt und begann im Raum herumzulaufen.

»Ich hab den Safe zugemacht. Das Gemälde wieder davorgehängt. Und wollte auf dem gleichen Weg verschwinden, auf dem ich gekommen war. Rein, raus in 4:35 Minuten.«

Aber so war es nicht gelaufen! Ärgerlich kickte ich gegen ein Sofakissen, das auf den Fußboden gefallen war.

»Okay. Konzentriere dich, Cat! Wie hättest du so einen Steal Deal durchgezogen?«, ermahnte ich mich, wusch den Löffel ab und warf den Becher in den Müll.

Im Augenwinkel sah ich einen kleinen hellen Punkt. Neugierig schaute ich zum Küchenfenster hinaus. Bernie, einer meiner Nachbarn, zündete sich gerade eine Zigarette an. Er war Busfahrer und auf dem Weg zur Frühschicht.

Plötzlich schoss es wie ein Blitz durch mein Hirn.

»Ich würde einen Molly benutzen«, quietschte ich laut.

Die Erleuchtung war da!

»Ja, genau. Die Flasche mit dem Brandbeschleuniger fliegt durch das Fenster der Eingangstür und zerbricht unter dem marokkanischen Wandteppich neben der Treppe. Der brennende Lappen entzündet das Benzin und das geht auf den Teppich über. In kürzester Zeit wird das Treppenhaus unpassierbar.«

Ich nickte.

»Ja, dann bräuchte ich nur noch durch einen anderen Aufgang aufs Dach des Hauses zu laufen und dort auf mich zu warten!« Ich atmete tief ein. »Genau so würde ich es machen!«

Das klärte das Wie, aber nicht das Warum!

»Vielleicht war es, weil ich einfach eine gute Diebin bin. Ich hätte mich auch eher abgezogen, als den Job selbst zu machen. Der einfachste Weg, wenn man nichts von Ehre hält.«

Die Sonne ging langsam auf. Ich schaute erneut auf die Uhr: 04:40.

Jetzt erreichte ich meine Hehlerin sowieso nicht und auch keinen anderen, der mir vielleicht Hinweise auf den Dieb geben würde. Da konnte ich genauso gut vor der Schule noch ein paar Bahnen schwimmen und mich abreagieren. Mit einem kühlen Kopf denkt es sich besser.

Ich lief hinüber ins Schlafzimmer und kramte nach meinen Schulklamotten.

Uniformen sind Scheiße. Mal ehrlich: Wem stehen Mausgrau, Grellblau und Schwarz? Und die Krönung ist diese komplett bescheuerte Krawatte für Mädchen!!!

Das einzig Gute daran ist, dass alle gleich blöd aussehen.

Ich stopfte den Faltenrock, graue Söckchen, Slip und BH, ein T-Shirt und ein Handtuch in meinen Seesack und warf die schwarzen Halbschuhe oben drauf. Mein Duschzeug klemmte ich in die schmale Seitentasche, zusammen mit meinen Papieren und dem iPhone.

Ich habe einen Deal mit dem Hausmeister des Hallenbades in der Nähe des Olympischen Dorfes. Für ein paar Kröten lässt er mich immer außerhalb der Öffnungszeiten rein. Es ist himmlisch, denn ich habe das gesamte Becken ganz für mich allein.

Den Schwimmanzug zog ich schon mal an. Darüber eine schwarze Skinny-Jeans, ein schwarzes Oversize-Shirt und meine unverwüstliche Lederjacke. Ich füllte Simons Futternapf, schnappte mir die Sporttasche und schlüpfte draußen in meine Bikerboots.

»Mach’s gut, Simon. Bis später!«, rief ich noch einmal in den Raum und drehte dann den Schlüssel im Schloss. London war nicht gerade die sicherste Stadt der Welt. Wer wusste das besser als ich!

Ich startete meine quietschgelbe Vespa mit Elektroantrieb und machte mich auf in Richtung London Field. Vorbei an versprengten Nachtschwärmern, die fast täglich die Aufhebung der Sperrstunde feierten, schlängelte ich mich durch die Straßen Hackneys. Der Verkehr hielt sich in Grenzen. Hier erwacht der Tag immer etwas gemütlicher. Die, die in der Innenstadt arbeiteten, waren entweder schon längst in der Tube verschwunden oder würden sich erst in drei Stunden in die Masse der Lohnsklaven einreihen.

Gab es etwas Deprimierenderes?

Ich stellte den Motorroller am Hintereingang der Schwimmanlage ab.

Heute musste ich mich selbst hineinlassen. Vor einer Woche war Paul, der Hausmeister, auf die Malediven verschwunden. Keine Ahnung wie ihm das gelungen war. Solange ich ihn kannte, hatte er nie mehr als eine Handvoll Pennys in den Taschen gehabt.

Das Schloss an der Hintertür war kein Problem für mich. Es war so alt, dass ich dafür lediglich meinen Büchereiausweis brauchte. Mit einer fließenden Bewegung schob ich die Karte in den Schlitz zwischen Tür und Rahmen, stoppte kurz auf der Höhe des Schlosses und drückte den Schnapper etwas zur Seite. Als ich spürte, dass der Metallbolzen nachgab, zog ich die Karte weiter nach unten und klemmte sie zwischen Bolzen und Rahmen. Jetzt nur noch ein leichter Druck gegen das Türblatt, und schwups – huschte ich hinein. Ich schulterte den Rucksack und schlurfte den Gang hinunter zum Eingangsbereich, um mir einen Schlüssel zu den Umkleidekabinen von der Theke zu klauen. Ich wollte gerade nach der Nummer 13, meiner Glückszahl, greifen, als ein lautes Klappern meine Hand zurückzucken ließ. Blitzschnell drehte ich mich um und sah mich Auge in Auge mit einem älteren Mann.

»Kann ich Ihnen helfen, junge Dame?«

Argwöhnisch zog ich meine Augenbrauen zusammen.

»Nein, danke. Ich habe alles im Griff«, brummte ich abweisend.

Laut lachend zog der Mann seinen Blecheimer über die Fliesen zu sich heran, ohne den Mopp herauszunehmen. Bei dem quietschenden Geräusch meldeten sich schmerzend die Amalgamfüllungen in meinen Backenzähnen. Es war nicht so schlimm wie der berühmte Fingernagel, der über die Schultafel rutscht, aber nahe dran.

»Was machst du hier? Soweit ich weiß, ist das Bad nicht geöffnet, und ich habe weder die Vorder- noch die Hintertür aufgeschlossen.«

»Die Hintertür hab ich übernommen. War ein Kinderspiel!«

Der Typ irritierte mich. Sein gepflegter weißer Bart und der exakte Kurzhaarschnitt passten so überhaupt nicht zu dem Blaumann. Und trotzdem hatte ich ihm gegenüber gerade einen Einbruch gestanden. Was er einfach ignorierte. Sein Lachen lenkte mich von dem Gedanken ab.

»Du musst Cat sein!« Der alte Mann streckte mir lächelnd seine Hand entgegen. »Ich bin Charlie, der neue Hausmeister!«

Ich nahm sie an. Sie war weich. Der nächste Punkt, der meine Alarmglocken wenigstens leise hätte klingeln lassen müssen. Aber sie blieben still.

»Paul hat mir von dir erzählt. Er meinte, ihr habt eine Übereinkunft getroffen und du könntest so oft hier schwimmen, wie du willst.«

Übereinkunft – was für ein komisches Wort, dachte ich für einen kurzen Moment. Das klang so gar nicht nach Paul.

»Von mir aus kannst du hier jederzeit rein. Ich hab dir einen Schlüssel nachmachen lassen. Irgendwann nutzt sich auch der beste Büchereiausweis ab.« Er zwinkerte mir verschwörerisch zu und legte einen schmalen silbernen Schlüssel in meine Hand. »Wir Vollwaisen müssen zusammenhalten, nicht wahr?«

Und wieder dachte ich mir nichts bei seinen Worten, obwohl ich mich hätte fragen müssen, woher er so viel über mich wusste.

Er begann den Boden zu wischen, während ich mir den Schrankschlüssel griff.

»Bist früh dran heute, Cat. Sonst kommst du doch immer später, oder!?«

»Kurze Nacht«, gab ich schulterzuckend zur Antwort.

»Neuer Freund?«

Ich starrte den Mann an. Was sollte das denn?

Die Stille zwischen uns begann ins Peinliche abzurutschen. Ich spürte, wie mir das Blut in den Kopf stieg, und wollte nur noch weg.

»Na, du solltest mal ins Wasser gehen. Ich werde mir in der Zwischenzeit ein Tässchen Tee bereiten. Täte dir bestimmt auch ganz gut«, unterbrach Charlie den merkwürdigen Moment und verschwand an mir vorbei in Richtung seines Hausmeisterraumes. Kopfschüttelnd lief ich in den Umkleideraum.

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