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Die Autorin

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Dr. Heidrun Becker
ist Ergotherapeutin und Medizinpädagogin. Sie behandelte über 25 Jahre Kinder mit Entwicklungsstörungen und verschiedenen Behinderungen. Durch Veröffentlichungen und Unterricht in der Aus- und Fortbildung von Ergotherapeuten ist sie besonders im Bereich der Kinderbehandlung bekannt. Seit 2008 arbeitet sie als Mitglied der Steuergruppe der Leitlinienkommission an der Entwicklung einer europäischen Leitlinie zur Behandlung von Kindern mit motorischen Entwicklungsstörungen mit. Sie lebt in Zürich und ist stellvertretende Leiterin von „Forschung & Entwicklung” des Instituts für Ergotherapie an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften.

Heidrun Becker

Kinder mit motorischen
Entwicklungsstörungen

Ein Ratgeber für Eltern,
Pädagogen und Therapeuten

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| Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur Reihe

Einleitung

Ungeschickte Kinder

Bewegungen und Fertigkeiten lernen

Erfolg im Alltag

Literatur, Webseiten und Kontaktadressen

| Vorwort zur Reihe

Die „Ratgeber für Angehörige, Betroffene und Fachleute” vermitteln kurz und prägnant grundlegende Kenntnisse (auf wissenschaftlicher Basis) und geben Hilfestellung zu ausgewählten Themen aus den Bereichen Ergotherapie, Sprachtherapie und Medizin.

Die Autorinnen und Autoren dieser Reihe sind ausgewiesene Fachleute, die seit vielen Jahren als Therapeuten in der Behandlung und Beratung und/oder als Dozenten in der Aus- und Weiterbildung tätig sind. Sie sind jeweils für den Inhalt selbst verantwortlich und stehen Ihnen für Rückfragen gerne zur Verfügung.

Im vorliegenden Band “Kinder mit motorischen Entwicklungsstörungen” lässt Heidrun Becker, Ergotherapeutin und Medizinpädagogin, ihre langjährige Erfahrung in der Arbeit mit betroffenen Kindern und deren Bezugspersonen einfließen. Darüber hinaus ist sie an der Erstellung der internationalen Leitlinie zur Behandlung speziell von Kindern mit motorischen Entwicklungsstörungen beteiligt, die sie zum Schreiben dieses Ratgebers angeregt hat.

An einem Fallbeispiel, das die Leserinnen und Leser wie ein roter Faden durch den Ratgeber begleitet, werden die Probleme eines “ungeschickten Kindes” praxisnah dargestellt. Es wird gezeigt, wie die motorischen Entwicklungsstörungen das alltägliche Leben der Kinder und Eltern beeinflussen.

Als Hintergrundinformation werden zunächst einige Begriffe erklärt, es folgt ein Kapitel, das sich dem Lernen und Üben widmet. Den inhaltlichen Schwerpunkt bildet die Beschreibung der Unterstützungs- und Behandlungsmöglichkeiten dieser Kinder insbesondere nach dem CO-OP-Ansatz – auch hier wieder mit dem Fallbeispiel verdeutlicht. Darüber hinaus werden im Ratgeber viele pragmatische Tipps für einen guten Umgang mit “ungeschickten Kindern” gegeben.

Durch seine flüssige Sprache und die praxisnahen Beispiele ist der Ratgeber gut geeignet, Verständnis für die betroffenen Kinder zu schaffen, deren besondere Schwierigkeiten nicht immer sofort sichtbar und nachvollziehbar sind. Der konkrete Umgang mit den Kindern sowie die angemessene Unterstützung durch Eltern, Bezugspersonen sowie entsprechende Fachleute wie Ergotherapeutinnen und Ergotherapeuten bauen hierauf dann sinnvoll auf. Der Ratgeber ist daher übergreifend für alle geeignet, die Kontakt zu “ungeschickten Kindern” haben.

Wir hoffen, mit diesem Ratgeber dazu beizutragen, dass Kinder mit motorischen Entwicklungsstörungen die Unterstützung und Anerkennung erfahren, die ihnen zusteht.

 

Arnd Longrée
Herausgeber für den DVE

Danksagung

Herzlichen Dank allen Kolleginnen und Kollegen, die mir Einblick in ihre aktuelle Behandlungspraxis und ihre Erfahrungen mit verschiedenen Therapieansätzen gaben. Besonders danken möchte ich Andrea Espei vom Deutschen Verband der Ergotherapeuten e.V. und Dr. Annette Mund von der Bundesvereinigung SeHT e.V. (Selbstständigkeitshilfe bei Teilleistungsschwächen) für ihre konstruktiven und hilfreichen Rückmeldungen zum Manuskript. Ebenso möchte ich Reinhild Ferber für die Zurverfügungstellung der Fotos für diesen Ratgeber danken.

| Einleitung

Liebe Leserinnen, lieber Leser,

dieser Ratgeber richtet sich an Eltern, Großeltern, Erzieher und Erzieherinnen, Lehrer und Lehrerinnen, Therapeuten und Therapeutinnen und andere wichtige Bezugspersonen von ungeschickten Kindern.

Ungeschickte Kinder fallen zu Hause, im Kindergarten, in der Schule und beim Sport dadurch auf, dass sie ganz alltägliche Handlungen nicht lernen oder nur mit großer Anstrengung und vielen Fehlern ausführen können.

Ihre Bezugspersonen bemerken im Vergleich mit anderen Kindern, dass etwas nicht stimmt. Dennoch dauert es oft lange, bis das Kind die richtige Hilfe bekommt. Inzwischen haben sich die Probleme möglicherweise bereits verschärft, das Kind kommt z. B. in der Schule nicht mit, findet keine Freunde im gleichen Alter oder verweigert manche Anforderungen. Andererseits nimmt die Zahl der Kinder zu, die im Vorschul- und Schulalter Therapien in Anspruch nehmen. Ärzte und Krankenkassen fragen sich deshalb, ob dieser Anstieg von Kosten tatsächlich gerechtfertigt ist.

Eine Gruppe von Kinderärzten und Therapeuten hat sich deshalb zusammengefunden und eine medizinische Leitlinie entwickelt. Die Leitlinie gibt Empfehlungen und Einschätzungen einer international zusammengesetzten Expertengruppe wieder. Sie beschreibt, wie Kinderärzte feststellen können, ob eine Störung vorliegt, die behandelt werden muss, und gibt Therapeuten Hinweise über die Behandlungsmethoden. Die Leitlinie dient als Grundlage für diesen Ratgeber.

Im Kapitel Ungeschickte Kinder werden die Probleme betroffener Kinder geschildert und wie festgestellt werden kann, ob eine motorische Entwicklungsstörung vorliegt.

Das Kapitel Bewegungen und Fertigkeiten lernen beschreibt, wie Bewegungen und Fertigkeiten gelernt werden.

In Kapitel Erfolg im Alltag erfahren Sie, wie man ungeschickte Kinder beim Lernen unterstützen kann. Leider fehlen ausreichende Studien über Kinder mit motorischen Entwicklungsstörungen im deutschsprachigen Raum. Internationale Studien bilden aber nicht immer die Praxis ab, die im deutschsprachigen Raum verbreitet ist. So kommt es dazu, dass Therapiemethoden empfohlen werden, die in Deutschland, der Schweiz und Österreich erst allmählich verbreitet werden. In diesem Ratgeber wird nur eine dieser Methoden ausführlich beschrieben.

Sie wurde speziell für Kinder mit motorischen Entwicklungsstörungen entwickelt und hilft, die Probleme ungeschickter Kinder zu verstehen. Sie zeigt Strategien, wie man die Kinder beim Lernen unterstützen kann. Das soll Ihnen die Möglichkeit geben, auszuprobieren, ob die Strategien Ihnen und Ihrem Kind im Alltag nutzen.

Aktuell entwickeln Therapeuten Therapieansätze, die aus dem Ausland kommen, weiter und passen sie an die Kinder und Familien an, die sie täglich behandeln. Es wird eine zukünftige Aufgabe sein, diese Erfahrungen mit aufzunehmen und zu erforschen, damit die besten Wege gefunden werden, um Familien mit ungeschickten Kindern im deutschsprachigen Raum zu unterstützen.

In den Literaturhinweisen und Tipps finden Sie einen Verweis auf die Internetseite der Leitlinie und Kontaktadressen, um sich über aktuelle Entwicklungen zu informieren.

| Ungeschickte Kinder

 

Probleme zu Hause, in der Schule und Freizeit

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Emily, Teil 1

„Emily, wo bleibst Du denn?” Frau Schmidt steht an der Treppe und schaut verzweifelt auf die Uhr. Jeden Morgen das Gleiche. Emily wird nicht mit dem Anziehen fertig. Sie hat ihrer 7-jährigen Tochter Hosen ohne Reißverschluss und ohne Knöpfe sowie Schuhe mit Klettverschluss besorgt, damit es morgens schneller geht. Jetzt rennt die Mutter die Treppe rauf, um nachzusehen, was es für Probleme gibt.

Emily sitzt mit rotem Kopf auf einer Bank, vor ihr stehen ihre roten Lieblingsschuhe. Glänzender Lack mit kleinen Schmetterlingen drauf. Dunkelrot sind die Schnürsenkel. Emily wickelt immer wieder den einen Schnürsenkel richtig um den anderen, zieht ihn aber nicht durch die Schlaufe und es kommt keine Schleife zustande.

Am Wochenende haben die Eltern sich wieder bemüht, Emily beizubringen, wie man eine Schleife bindet. Aber es klappt einfach nicht. Immer wieder versucht Emily es mit viel Anstrengung, aber leider immer ohne Erfolg. Frau Schmidt hat es dann schließlich aufgegeben, nachdem sie es Emily mindestens 15-mal vorgemacht hat.

„Ich will doch heute die schönen Schuhe anziehen. Nach der Schule ist der Kindergeburtstag bei Katrin. Das weißt Du doch, Mama.”

„Ja, stimmt. Du hast ja auch gestern die Geburtstagskarte geschrieben. Warte, ich helfe Dir schnell mit den Schnürsenkeln, wir sind spät dran.”

Frau Schmidt bindet die Schnürsenkel zu, Emily sieht ihr enttäuscht zu.

Sie denkt an die Geburtstagskarte, die ihr auch nicht gut gelungen ist. Die Buchstaben sehen krumm und schief aus, mit dem „t” kommt sie immer noch nicht klar, das „s” ist viel zu eckig und immer wieder brechen die Buntstifte ab, auch wenn sie sich noch so viel Mühe gibt. „Ich kriege einfach nichts richtig hin”, denkt sie traurig.

Nachdem Katrin die Kerzen auf ihrer Geburtstagstorte ausgeblasen hat, gehen die Kinder gemeinsam auf die Spielstraße vor dem Haus. Marie malt ein Hüpfkästchen auf den Bürgersteig. Drei Mädchen fangen an, Steine in das Hüpfkästchen zu werfen und auf einem Bein zu hüpfen. Emily steht am Rand und sieht zu. Auf einem Bein hüpfen, das klappt bei ihr nicht. Ein paar Kinder fahren mit den Fahrrädern die Straße rauf und runter. Auch da kann Emily leider nicht mithalten. Sie fährt noch mit Stützrädern und das wäre ihr zu peinlich. Die anderen würden sie bestimmt „Baby” nennen. Als eine Stunde später ihre Mutter und Hanna, ihre 4 Jahre alte Schwester, kommen, steht Emily erleichtert von der Schaukel in Katrins Hof auf. Mit Hanna spielt sie noch eine Weile in Katrins Zimmer Puzzle, bevor es nach Hause geht.

„Es hat mir leidgetan, dass Emily die meiste Zeit des Nachmittags nur zugeguckt hat. Aber ich habe sie ein paar Mal gefragt, ob sie nicht mitspielen will. Aber sie wollte nicht. Ist das immer so mit ihr?”, fragt Katrins Mutter.

Frau Schmidt zuckt mit den Schultern. „Leider ja, Emily hat so viele praktische Probleme. Sie kann nicht auf einem Bein hüpfen und nicht ohne Stützräder Rad fahren, sie kann keine Schleife binden, keine Knöpfe schließen. Ihre Schrift ist eine Katastrophe. Und in der dritten Klasse wird das alles bestimmt noch schlimmer. Mir graut schon vor den Sportfesten. Aber was soll ich bloß machen? Wir üben und üben, aber sie lernt es einfach nicht.”

Katrins Mutter sieht sie mitfühlend an. „Ja, ich weiß genau, wie es Ihnen geht. Wissen Sie, unser Großer, Denis, hatte ähnliche Probleme. Er ist halt ein richtiger Junge, hat sein Vater immer gesagt. Er war nie gerne drin, lieber tobte er draußen im Hof oder auf der Straße mit den anderen Jungs. Dabei ging es auch schon mal etwas grober zu und es kam zu kleinen Raufereien. Besonders, wenn die anderen Jungs ihn mal wieder gehänselt haben. Denis wollte für sein Leben gern Tore schießen wie Özil oder Schweinsteiger, er strengte sich sehr an, traf aber trotzdem so gut wie nie das Tor. Im Gegenteil, manchmal traf er noch nicht mal den Ball und fiel einfach auf die Nase. Das fanden die anderen sehr lustig. Denis machte dann gleich eine Clownsnummer draus, damit sie denken, er macht es extra. Aber eigentlich war er sehr traurig und wütend, dass er nicht so geschickt laufen, schießen und werfen kann, wie z. B. Cem aus der Nachbarklasse. Sein Vater wollte auch, dass Denis ein guter Fußballspieler wird, er selbst hat mal in der A-Jugend gespielt. Anfangs fand sein Vater die Clownereien noch lustig, aber als Denis älter geworden ist, schimpfte er meist darüber. Mich hat es sehr genervt, dass Denis ständig was runter fiel und er beim Essen so furchtbar kleckerte. Mit Messer und Gabel essen, das ging gar nicht. Denis war das egal, er isst sowieso am liebsten Pommes, aber mir war das schon sehr peinlich. Besonders, wenn wir Besuch hatten oder Denis bei anderen Kindern war. Da heißt es doch gleich, die Eltern haben ihm keine Manieren beigebracht.”

„Und wie ist das jetzt mit Denis? Haben sich seine Probleme von selbst gegeben?”, fragt Frau Schmidt interessiert.

„Nein, es wurde nicht besser. Schließlich hat uns die Lehrerin empfohlen, zum Kinderarzt zu gehen. Der hatte zwar schon mal bei der einen Vorsorgeuntersuchung gesagt, Denis sei noch nicht so weit wie die anderen Kinder in seinem Alter, aber damals meinte er, das gebe sich schon noch. Ich ging also mit Denis noch mal hin, als er 9 Jahre alt war. Der Arzt sagte uns, Denis habe eine Entwicklungsstörung und sei deshalb so ungeschickt. Er hat uns Ergotherapie verschrieben. Wir sind da dann ungefähr 6 Monate hingegangen. Einmal in der Woche. Denis musste dann zu Hause auch immer noch üben. Uns hat die Therapeutin erklärt, wie wir mit ihm üben sollten. Das war schon sehr schwierig, wir haben eine Zeit lang gebraucht, bis wir das richtig konnten. Aber dann hat es tatsächlich was gebracht.”

Frau Schmidt wird nachdenklich. „Vielleicht hat Emily auch so eine Entwicklungsstörung? Am besten ich gehe mit ihr zur Kinderärztin und frage mal nach.” „Ja, das ist sicher eine gute Idee. Emily ist jünger als Denis damals. Vielleicht lernt sie es sogar noch schneller. Bei Denis war es schwierig, weil er anfangs gar nichts mitmachen wollte. Es hat einige Treffen mit der Therapeutin gebraucht, bis er ihr vertraut hat und mitgemacht hat. Schließlich hat er verstanden, dass diese Art zu üben ihm hilft, und ab da ist er gerne hingegangen und hat auch mit uns zu Hause üben wollen. Heute spielt er im Fußballverein. Er ist zwar nicht in der A-Jugend. Das wird er wohl nicht schaffen. Aber es macht ihm Spaß und die anderen Jungs akzeptieren ihn jetzt. Das ist das Wichtigste. Als er dann wusste, wie er lernen kann, hat er auch mit dem Inlinerfahren angefangen und endlich schwimmen gelernt. Er ist viel ausgeglichener geworden. Und mit dem Essen klappt es jetzt auch ganz gut.”

 

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Abb. 1: