Der Bergpfarrer 117 – Weil sie eine Fremde war

Der Bergpfarrer –117–

Weil sie eine Fremde war

Böse Lügen gefährden Lisas Glück

Roman von Toni Waidacher

Michael Vilsharder, der Inhaber des Ferienhotels »Reiterhof« in der Nähe von St. Johann, begrüßte die junge Frau herzlich.

»Frau Markward, schön, daß Sie da sind. Hatten Sie eine gute Fahrt?«

Lisa Markward neigte den Kopf.

»Vielen Dank. Auf der Autobahn war viel Verkehr, aber nachher ging es ganz gut.«

»Dann zeige ich Ihnen gleich mal Ihr Zimmer. Das Gepäck bringt der Hausbursche nach.«

Michael Vilsharder nahm einen Schlüssel vom Brett und ging voran.

Der Reiterhof war aus einem alten Bauernhof entstanden, den die Familie seit Generationen bewirtschaftet hatte. Seit gut zehn Jahren war er nun ein beliebter Aufenthalt vor allem für begeisterte Pferdesportler. Man konnte entweder sein eigenes Pferd mitbringen oder eines der Tiere ausleihen, die zum Hof gehörten.

Lisa Markward folgte dem Inhaber. Sie war eine schlanke Frau, Ende Zwanzig, hatte dunkelblondes Haar, das lang auf die Schultern fiel. Ihr apartes Gesicht wurde von einem dunklen Augenpaar dominiert. Schon mit sechzehn Jahren hatte sie gewußt, daß sie einmal Rechtsanwältin werden wollte und diesen Weg konsequent verfolgt. Nach dem Jurastudium trat sie schon bald in eine Anwaltskanzlei ein, ihr Fachgebiet war das Arbeitsrecht, in dem sie sich sehr gut auskannte. Ihre Erfolge vor Gericht brachten ihr immer wieder neue Mandanten. Inzwischen hatte sich herumgesprochen, daß die attraktive Frau nicht so leicht die Waffen streckte und für ihre Mandanten alles herausholte, was möglich war. Vor allem die einfachen Leute waren es, die ihr am Herzen lagen, und so manches Mal kämpfte Lisa auch für ein geringeres Honorar, wenn der Hilfesuchende nicht so viel Geld hatte.

Das Zimmer lag am Ende eines langen Flures. Es war großzügig geschnitten, die Einrichtung dem Stil des Hauses angemessen. Es gab einen Schlaf- und einen Wohnbereich, das nicht zu kleine Bad hatte neben der Dusche auch eine Badewanne mit Whirlpool.

»Ich hoffe, daß Sie sich bei uns wohl fühlen werden«, sagte Michael Vilsharder. »Wenn Sie ausreiten möchten, dann wenden S’ sich bitte an die Frau Beerlach, das ist unsere Pferdewirtin.«

Der Hausbursche brachte die beiden Koffer herein, und Lisa entlohnte ihn mit einem Trinkgeld. Als sie wenig später alleine war, verschwand das Lächeln in ihrem Gesicht, als wäre eine Maske abgefallen. Sie stand am Fenster und schaute zu den Bergen hinüber, die von hier aus gut zu sehen waren. Aber einen wirklichen Blick für die Schönheiten, die sich ihr boten, hatte die Anwältin nicht. Dafür mußte sie an sich halten, nicht in Tränen auszubrechen. Mühsam kämpfte sie gegen das Gefühl der Traurigkeit an.

Nein, dachte sie, keine Tränen mehr. Es ist doch ohnehin alles so sinnlos, da hilft weinen auch nicht weiter.

Sie fuhr sich ein letztes Mal über die Augen und machte sich daran, die Koffer auszupacken. Anschließend setzte sie sich ans Fenster und blickte wieder hinaus. So saß sie beinahe eine ganze Stunde reglos da, während ihre Gedanken zurückwanderten, in eine Zeit, die ihr jetzt wie ein Traum vorkam.

Das Klingeln des Telefons riß sie in die Wirklichkeit zurück. Automatisch nahm Lisa den Hörer ab und meldete sich.

Daß jemand aus München sie anrief, war unwahrscheinlich, sie hatten niemandem gesagt, wohin sie fahren wollte, und in der Kanzlei würde man sie schon gar nicht vermissen – dort hatte sie fristlos gekündigt. Noch länger mit Frank zusammenzuarbeiten wäre ihr nicht möglich gewesen.

»Grüß Gott, Frau Markward«, vernahm sie die Stimme einer Frau. »Hier ist Conny Beerlach. Ich bin die Pferdewirtin und wollte mich erkundigen, ob ich für morgen ein Pferd reservieren soll.«

»Ach ja, das wäre nett«, antwortete Lisa.

»Wissen Sie, ich habe gerade eine Anfrage bekommen. Morgen nachmittag wollen mehrere Leute herkommen, und jetzt muß ich die Tiere entsprechend einteilen. Natürlich werden unsere Hausgäste dabei bevorzugt.«

»Ich verstehe. Vielleicht wäre es am besten, wenn ich gleich mal in den Stall komme.«

»Ja, das wäre wirklich prima«, meinte Conny.

»Gut, dann in fünf Minuten.«

Lisa trat vor den Spiegel und betrachtete ihr Äußeres. Sie ordnete ihr Haar und verließ das Zimmer. In der Hotelhalle, die früher einmal Teil der Diele gewesen war, herrschte geschäftiges Treiben. Offenbar war der Reiterhof ausgebucht; sie erinnerte sich, daß es mit ihrer Reservierung beinahe nicht mehr geklappt hätte. Als sie seinerzeit anrief und ein Zimmer mieten wollte, hatte man sie zunächst abgewiesen. Es sei alles ausgebucht, hieß es. Immerhin hatte sich die freundliche Dame am Telefon die Nummer der Anwältin geben lassen und schon einen Tag später zurückgerufen. Ein Gast hatte abgesagt, und nun war doch noch ein Zimmer freigeworden. Lisa griff sofort zu und war jetzt sicher, diesen Entschluß nicht bereuen zu müssen. In der Einsamkeit der Berge würde es ihr bestimmt gelingen, Frank Leitmann zu vergessen.

Hoffte sie zumindest...

*

Conny Beerlach erwies sich als eine junge, patente Frau. Sie hatte kurze rote Haare, und auf dem kleinen Stupsnäschen saßen Sommersprossen. Lisa merkte sehr schnell, daß die Pferdewirtin etwas von ihrem Beruf verstand. Kompetent ordnete sie die Gäste ein und erkannte sofort, wer ein erfahrener Reiter war und wer sich noch unsicher auf dem Pferderücken hielt.

»Das ist die ›Sira‹«, deutete Conny auf eine Fuchsstute, die auf der Koppel stand. »Manchmal ist sie sehr temperamentvoll, aber wenn man ihr zeigt, wer das Sagen hat, dann gehorcht sie.«

Sira war an den Zaun gekommen, als die Pferdewirtin mit der Zunge schnalzte. Lisa strich über die Mähne, und die Stute schnaubte leise.

»Ich glaub’, sie mag Sie«, meinte Conny schmunzelnd.

Das Pferd gefiel der Anwältin gut. Zu Hause, in München, war sie Mitglied in einem Pferdesportverein, besaß aber kein eigenes Tier.

»Bestimmt werden wir uns wunderbar verstehen«, sagte Lisa und nickte Conny zu. »Dann reservieren Sie mir bitte Sira für die nächsten Tage.«

»Mach’ ich.«

Sie gingen in den Stall, und die Pferdewirtin zeigte der Anwältin die Sattelkammer und die Wand, an der das Zaumzeug hing. Daneben stand der Schrank, in dem die Behälter mit den Utensilien zum Putzen der Pferde aufbewahrt wurden.

»Am Samstag findet übrigens eine Fuchsjagd statt«, erzählte Conny. »Wenn Sie daran teilnehmen möchten?«

Lisa überlegte einen Moment, dann schüttelte sie den Kopf.

»Ich glaub’ net«, antwortete sie. »Aber vielen Dank, daß Sie es erwähnt haben, Frau Beerlach.«

»Sagen S’ einfach Conny.«

»Schön, Conny, nein, ich möcht’ lieber alleine ausreiten. Und was ich am Samstag mache, weiß ich heut’ noch gar net.«

Sie verabschiedete sich und ging zurück in das Hotel. Gerne hätte sie jetzt einen Kaffee getrunken, doch die vielen Leute lösten Unbehagen in ihr aus. Sie waren alle so fröhlich, redeten durcheinander, und überall herrschte gute Laune, die überhaupt nicht zu ihrer eigenen Stimmung paßte. Beinahe hastig durchquerte sie die Halle und atmete erleichtert auf, als sie vor ihrer Zimmertür stand.

Drinnen lehnte sie sich dagegen und ließ ihren Tränen freien Lauf. Es war schlimm gewesen, die vielen Paare zu sehen, die glücklich waren, ihren Urlaub gemeinsam verbringen zu können. Sie hingegen war alleine hier, hatte niemanden, mit dem sie all das Schöne teilen konnte.

Nachdem sie sich beruhigt hatte, griff Lisa Markward zum Telefon und bestellte sich Kaffee auf das Zimmer.

So würde sie es immer handhaben. Bestimmt konnte man sich auch das Frühstück und andere Mahlzeiten hier servieren lassen. Es wäre ihr unerträglich, ständig mit so vielen Menschen zusammen sein zu müssen.

Ja, ist eine gute Strategie, dachte sie, während sie langsam ihren Kaffee austrank. Auf dem Zimmer bleiben und alleine ausreiten, ohne jeden Kontakt. So hatte sie ihre Ruhe, mußte sich vor niemandem rechtfertigen und konnte sich Gedanken darüber machen, wie es später weitergehen sollte, wenn sie nach München zurückgekehrt war. Eine andere Kanzlei auf jeden Fall, aber vielleicht würde sie sogar ganz woanders hingehen. Sie war jung, im Beruf erfolgreich und besaß alle Möglichkeiten. Doch darüber mußte sie gründlich nachdenken, ehe sie eine Entscheidung traf.

Nach einem langweiligen Abend, den Lisa Markward mit Fernsehen und Lesen verbrachte, folgte eine schlaflose Nacht. Das Frühstück rührte sie kaum an, und erst als sie auf dem Rücken der Stute durch den Morgen ritt, besserte sich ihre Stimmung etwas. Doch so richtig glücklich war sie nicht. Das sahen auch die anderen Gäste, als sie am späten Vormittag mit verschlossenem Gesicht durch die Hotelhalle eilte, den Blick stur geradeaus gerichtet.

Ein paar der Gäste wurden stutzig. Die Leute standen in Gruppen zusammen. Die meisten kannten sich. Sie waren eigens hergekommen, um an der am Samstagmorgen stattfindenden Fuchsjagd teilzunehmen. Es war ein kleines gesellschaftliches Ereignis, das Michael Vilsharder vor Jahren ins Leben gerufen hatte.

Ein Reiter oder eine Reiterin wurde ausgewählt, den Fuchs zu spielen und die Fährte zu legen. Die anderen folgten mit einer Hundemeute. Am Ende der Jagd gab es auf einer großen Bergwiese Getränke und einen leckeren Eintopf, abends fand der Tag im Hotel mit einem Ball sein Ende.

»Ist das irgendeine Prominente?« fragte einer der Gäste, als Lisa Markward durch die Glaspendeltür gegangen war.

»Keine Ahnung?« antwortete ein anderer. »Aber fesch ist sie.«

»Jedenfalls scheint sie ein Geheimnis mit sich herumzutragen«, bemerkte ein dritter Gast.

Eine junge Frau schnappte den Satz auf und gab ihn an ihre Bekannte weiter. So entstand ein böses Gerücht, das schon bald in Umlauf war.

*

Max Trenker betrat das Pfarrhaus und hob schnuppernd die Nase – doch im Gegensatz zu sonst, duftete es heute nicht aus der Küche. Irritiert ging der Polizist durch den Flur.

»Gibt’s heut’ nix zu essen?« rief er.

Sein Bruder steckte den Kopf durch die Küchentür.

»Ist gleich soweit«, sagte der Bergpfarrer. »Ich hab’s net eher geschafft.«

Max war noch erstaunter.

»Was hast net geschafft?« fragte er.

»Die Suppe heiß zu machen«, lautete die Antwort.

»Versteh’ ich net«, schüttelte Max den Kopf und ging in die Küche. »Wo ist denn die Frau Tappert?«

Sebastian stand am Herd und rührte in einem Topf.

»Na, die ist doch heut’ früh zu ihrer Nichte gefahren. Hast’ das ganz vergessen?«

Der Polizist schlug sich gegen die Stirn.

»Ach ja, richtig. Ich hab’ wirklich net mehr daran gedacht. Aber Gott sei Dank müssen wir ja net verhungern.«

»Und Frau Tappert kommt ja morgen schon wieder zurück«, meinte der Geistliche. »Es besteht also kein Grund zur Panik.«

Max ging an den Schrank und holte Teller und Gläser heraus. Kurz darauf saßen die Brüder am Tisch und ließen sich schmecken, was die Haushälterin vorbereitet hatte.

»Gibt’s was Neues?« erkundigte sich Sebastian.

»Zum Glück net«, antwortete Max, der natürlich wußte, daß sein Bruder mit Neuigkeiten immer unangenehme Nachrichten meinte. »Wie’s scheint, wird’s eine schöne Woche, ohne daß sich irgendwelche Katastrophen ankündigen.«

Sie unterhielten sich über die Ereignisse der letzten Wochen, und Max erwähnte zwischendurch die Fuchsjagd am Samstagmorgen.

»Wirst’ da mitreiten?« erkundigte sich Sebastian.

»Um Himmels willen«, wehrte der Beamte ab. »Kannst du dir mich auf einem Pferd vorstellen?«

Der Bergpfarrer schmunzelte bei dem Gedanken.

»Nein, kann ich net.«

»Ich muß trotzdem zum Reiterhof hinauf«, erklärte Max. »Wegen der Strecke, über die es gehen soll. Am Nachmittag hat der Michael einen Termin frei, so daß wir darüber in Ruhe sprechen können.«

Nach dem Essen machten sie sich gemeinsam an den Abwasch, und nach einer Tasse Kaffee kehrte Max ins Revier zurück. Bis zum Treffen mit Michael Vilsharder hatte er noch ein wenig Zeit, die er nutzte, um Claudia anzurufen.

»Grüß dich, Schatz«, sagte er. »Wie geht’s dir?«

»Danke, Max, heut’ hab’ ich wirklich ein bissel viel Arbeit, aber du weißt ja – immer noch besser, als wenn Flaute herrscht, was ja jetzt in den Sommermonaten net so ungewöhnlich ist.«

Die attraktive Claudia Bachinger arbeitete bei der Zeitung in Garmisch-Partenkirchen. Seit sie Max’ Herz für sich gewonnen hatte, war aus dem einstigen Schürzenjäger und Herzensbrecher ein wirklich braver Bursche geworden. Hatte der Bruder des Bergpfarrers früher jedem Madel nachgeschaut, so hatte er heute nur noch Augen für seine Claudia – sehr zur Erleichterung Sebastians, der sich jetzt eigentlich nur noch wünschte, die beiden würden endlich vor seinen Altar treten und sich das Jawort geben.

Max erinnerte sie an die Fuchsjagd und schlug vor, sie solle doch mitreiten, und Claudia war sofort begeistert.

»Natürlich reite ich da mit«, erklärte sie. »Das gibt doch einen schönen Artikel für die Sonntagsbeilage. Danke, Max.«

»Gern’ geschehen. Alles Weitere können wir ja heut’ abend am Telefon besprechen. Ich rufe wie üblich an.«

»Ist gut, Liebling«, antwortete die Journalistin. »Ich liebe dich.«

»Ich dich auch«, sagte Max, dem ganz warm ums Herz wurde. »Sehr, sehr, sehr!«