Der Bergpfarrer 105 – Sagt mir, wer mein Vater ist

Der Bergpfarrer –105–

Sagt mir, wer mein Vater ist

Wird Carla das Geheimnis ihrer Herkunft lüften?

Roman von Toni Waidacher

Es war ein grauer regnerischer Tag gewesen. Schon seit vorgestern wollte sich die Sonne nicht mehr sehen lassen, und die Vorhersage versprach erst für die kommenden Tage deutliche Besserung.

Carla stand am Fenster ihres Wohnzimmers und schaute mißmutig hinaus. Hinter ihr, auf dem Tisch, stapelte sich ein Haufen Papiere. Seit sie vor ein paar Wochen ihre Mutter beerdigt hatte, schob die junge Arzthelferin das Sichten und Ordnen der Unterlagen immer wieder hinaus.

Es hatte etwas Endgültiges, wenn sie den Nachlaß durchsah. Dabei wußte sie genau, daß niemand, der den letzten Weg gegangen war, zurück kam. Dennoch hatte sie sich bisher nicht dazu durchringen können. Doch jetzt wurde es allmählich Zeit. Auch wenn die Trauer über den schweren Verlust noch lange anhalten würde, so hatte Carla doch bereits Pläne geschmiedet. Das Haus, das der Vater vor gut zwanzig Jahren gebaut hatte, war äußerlich immer noch ein Schmuckstück, innen jedoch standen einige Arbeiten an. Es mußte gemalt und tapeziert werden, neue Möbel wollte Carla anschaffen und vielleicht eines der Zimmer im ersten Stock vermieten. Platz war genug da, und seit Mutter nicht mehr lebte, war es schrecklich einsam geworden.

Aber erst einmal die Papiere!

Die hübsche junge Frau hatte sich Tee gekocht, der auf dem Tisch auf einem Stövchen stand. Sie goß eine Tasse voll, gab Kandis hinein und einen Schuß Sahne obenauf. Carla setzte sich in den Sessel, den ihr Vater immer beansprucht hatte, wenn er am Abend fernsehen wollte, und nahm einen Stoß Papiere in die Hand.

Meistens waren es alte Rechnungen, die ihre Eltern, nachdem sie beglichen worden waren, aufbewahrt hatten. Carla sortierte sie aus; nach acht Jahren würde wohl niemand mehr nachfragen, ob dieses oder jenes Teil nach der Lieferung auch wirklich bezahlt worden war.

Karten mit Urlaubsgrüßen und Briefe von Verwandten, von denen die meisten längst nicht mehr lebten, befanden sich ebenfalls in den Sachen. Carla hatte vor ein paar Tagen den Wohnzimmerschrank leergeräumt und alles auf den Tisch gepackt. Es war unglaublich, was sich da im Laufe der Jahre so alles ansammelte.

Die Arzthelferin, die in Landsberg lebte und arbeitete, sortierte das meiste aus, lediglich die Ansichtskarten wollte sie behalten. Einige waren schon sehr alt, stammten aus den sechziger Jahren, und Carla wußte, daß Sammler für solche Karten oft sehr gute Preise zahlten. Vielleicht war ja das eine oder andere Stück darunter, das sich auf dem Flohmarkt verkaufen ließ.

Carla hatte sich schließlich durch den Haufen gearbeitet. In einem großen Umschlag fand sie persönliche Papiere ihrer Eltern, die sie sorgfältiger durchsah und in einen Ordner ablegte. Zuletzt stieß sie auf einen kleineren Briefumschlag, dessen Aufschrift sie stutzig werden ließ.

Der Umschlag trug unverkennbar die Handschrift ihrer Mutter – und er war an sie adressiert.

»Für Carla«, stand darauf und der Zusatz, »nach meinem Tode zu öffnen«.

Unwillkürlich schlug das Herz der jungen Frau schneller. Sie fuhr sich nervös durch das kurze dunkle Haar und trank rasch einen Schluck Tee, weil ihr Mund plötzlich ganz trocken geworden war. Mit dem Brieföffner schlitzte sie den Umschlag auf, nahm das Blatt Papier heraus und faltete es auseinander.

Die Tinte war verblaßt; ihre Mutter schien den Brief schon vor langer Zeit geschrieben zu haben. Carla vermutete, daß es kurz nach Vaters Tod geschah. Die Arzthelferin las und ließ schon nach der zweiten Zeile das Blatt sinken. Jetzt pochte ihr Herz noch schneller, und sie zitterte am ganzen Körper. Sie wartete, bis sie sich einigermaßen wieder beruhigt hatte, und las erneut.

Mein geliebtes Madl,

ich hoffe, daß dieser Brief Dir nicht allzusehr weh tut, aber es gibt etwas, das mir auf der Seele liegt und das Du wissen sollst. Du mußt endlich erfahren, daß Dein Vater, Kurt, nicht Dein leiblicher Vater ist!

Schon oft wollte ich mit Dir darüber reden, doch dann hatte ich Angst, die heile und behütete Welt, in der Du aufgewachsen bist, zu zerstören. Ich mußte die Illusion aufrecht erhalten, um Dich, meine Carla, zu schützen. Denn wenn Kurt auch nicht Dein leiblicher Vater war, so warst Du doch immer seine geliebte Tochter. Er hat Dich adoptiert und Dir seinen Namen gegeben. In einer schweren Zeit war er für mich da, hat mich geliebt und beschützt, und ich war ihm dankbar dafür.

Ich will nicht viel über die Vergangenheit sagen, jene, die noch hinter der Zeit liegt, bevor ich Kurt kennenlernte. Ich habe sie hinter mir gelassen und im Laufe der Jahre beinahe vergessen. Nur eines konnte ich nie vergessen, das Grab, in dem der Mann ruht, der Dein wirklicher Vater ist – Tobias Starnmoser.

Ich hoffe, Du zürnst mir, Deiner Mutter, nicht, daß ich Dir das alles nicht schon viel früher gebeichtet habe. Aber glaube mir, es war besser so. Jetzt lebe wohl, mein Kind. Vati und ich waren immer stolz auf Dich. Vielleicht war ich nicht immer eine perfekte Mutter, aber einen besseren Vater als Kurt Brinkmann konnte ich mir für Dich niemals vorstellen.

Deine Dich liebende Mutter

*

Draußen war es inzwischen so dunkel geworden, daß Carla nach dem Schalter der Stehlampe griff und das Licht einschaltete. Sie saß wie betäubt in dem Sessel und war unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie blickte auf das Bild der Eltern – oder mußte sie jetzt vielleicht sagen, ihrer Mutter und Kurt Brinkmann –, das auf der kleinen Anrichte stand, und fragte sich, was sie eigentlich über das Leben der beiden wußte.

Wirklich wußte, nicht das, was sie ihr offenbar vorgespielt hatten!

Solange sie zurückdenken konnte, war Kurt Brinkmann immer ein liebender zuvorkommender Vater gewesen, der ihr jeden Wunsch erfüllt hatte. Bei der Bahn war er angestellt gewesen, und Mutter brauchte niemals arbeiten zu gehen. Es war eine heile Familie gewesen, in der Carla aufgewachsen war, nie, so erinnerte sie sich jetzt, hatte es jemals einen Streit oder auch nur ein böses Wort zwischen den Eltern gegeben, und mit ihr waren sie immer besonders nachsichtig gewesen.

Carla versuchte, sich an Verwandte zu erinnern, die oft zu Besuch kamen, oder zu denen sie hingefahren waren. Am Sonntag, das Madl hübsch zurechtgemacht, im weißen Kleidchen, mit Schleifen im Haar. Die meisten lebten nicht mehr. Zur Beerdigung der Mutter waren außer Onkel Heinrich, einem Bruder ihres Vaters, nur noch zwei ältere Tanten gekommen, Schwestern von Kurt Brinkmanns Mutter, die auch nach dem Tod des Neffen noch Kontakt zu der Witwe gehalten hatten.

Gegenseitige Besuche, vielleicht mal der eine oder andere gemeinsame Urlaub, Hochzeiten und andere Familienfeste, aber das war auch wirklich schon alles, was Carla über die Verwandtschaft wußte.

Über Vaters Verwandtschaft, denn über die der Mutter hatte Brigitte Brinkmann nie gesprochen!

Seltsam, daß mir das jetzt erst auffällt, dachte die Arzthelferin.

Sie nahm noch einmal den Ordner mit den persönlichen Papieren zur Hand. Vorhin hatte sie alle Umschläge, die irgendwie amtlich aussahen, hineingesteckt, jetzt sah sie sich diese Schreiben näher an und nach einiger Zeit entdeckte sie, wonach sie gesucht hatte.

Eine Adoptionsurkunde des Amtsgerichts Landsberg, in der stand, daß Kurt Brinkmann die damals acht Monate alte Carla Starnmoser an Kindes statt annahm.

Seither hieß sie mit Nachnamen Brinkmann.

Sie legte das Dokument in den Umschlag zurück und heftete ihn wieder ordentlich ein. Der Tee in der Tasse war inzwischen kalt geworden. Carla trank ihn trotzdem und stand auf. Sie ging zum Fenster, schaute hinaus zu den regengrauen Wolken. Ihre Phantasie schien ihr etwas vorzugaukeln, als sie da oben ein Gesicht wahrnahm. Ein unbekanntes Gesicht, von dem sie glaubte, daß es Tobias Starnmoser gehörte, ihrem Vater.

Natürlich wußte sie, daß es nur eine Einbildung war, aber der Gedanke an den Mann, dem sie es zu verdanken hatte, daß sie überhaupt auf der Welt war, ließ sie nicht mehr los.

Doch von wem konnte sie mehr über ihn erfahren?

Die Mutter hatte nur den Namen hinterlassen, weil sie nach eigenem Bekunden mit der Vergangenheit abgeschlossen hatte und offenbar nicht mehr an das, was hinter ihr lag, erinnert werden wollte. Sonst gab es nichts, was auf ihren wirklichen Vater hinwies. Kein Brief, kein Bild, kein weiterer Anhaltspunkt.

Einfach nichts!

Hatte ihre Mutter wirklich all die Jahre nie wieder über ihr früheres Leben gesprochen?

Carla mochte es kaum glauben. Auch wenn Brigitte Brinkmann die Vergangenheit abgelegt hatte, so war sie doch ein Teil ihres Lebens. Etwas, das man nicht einfach so abtun konnte, als hätte es sie nie gegeben.

Je länger die Arzthelferin über das Geheimnis, das ihre Mutter umgab, nachdachte, um so mehr kam sie zu der Überzeugung, daß sie es lösen wollte. Es mußte einen Hinweis geben, irgend jemand mußte etwas wissen.

Erst jetzt fiel ihr ein, daß sie nicht einmal wußte, wo ihre Mutter geboren worden war. Bisher hatte sie immer angenommen, daß Landsberg, wo auch sie, Carla, auf die Welt gekommen war, der Geburtsort wäre. Doch das schien nicht zu stimmen.

Aber wen konnte sie fragen?

Wenn sie es recht bedachte, dann kam nur Onkel Heinrich in Betracht, Kurt Brinkmanns Bruder, der in der Nähe wohnte. Vielleicht wußte er mehr über die ganze Geschichte, vielleicht hatte Mutter ihm etwas darüber erzählt.

In dieser Nacht fand die junge Frau keine Ruhe. Immer wieder gingen ihr alle möglichen Gedanken durch den Kopf, und die Idee, das Geheimnis um ihre Herkunft lösen zu wollen, nahm immer mehr Gestalt an.

Gleich morgen – nein, es war ja schon heute – wollte sie nach der Arbeit zu Onkel Heinrich fahren und ihn fragen, was er darüber wußte. Und wenn es erforderlich war, dann würde sie sich notfalls Urlaub nehmen, um ihre Nachforschungen intensiv betreiben zu können.

Gegen Morgen schlief sie dann doch noch ein und mußte sich mit Gewalt zwingen aufzustehen, als der Wecker klingelte. Auch wenn sie den ganzen Tag gewissenhaft arbeitete, konnte Carla doch kaum den Feierabend erwarten. Sie verabschiedete sich rasch von den Kolleginnen und setzte sich in ihr Auto.

Hoffentlich konnte Onkel Heinrich ihr weiterhelfen!

*

Heinrich Brinkmann lebte in seinem kleinen Haus im Nachbarort. Er war Beamter im Ruhestand und genoß seinen Lebensabend. Immer noch rüstig und mit Elan widmete er sich dem Garten, in dem er sich gerne aufhielt und seinem Hobby, der Rosenzucht, frönte.

Früher hatte er viel Gemüse angebaut, sehr zum Leidwesen seiner Frau, die die reichliche Ernte verarbeiten und einkochen mußte. Seit Tante Fine, wie sie von allen genannt worden war, vor vier Jahren verstarb, hatte der Witwer die Gemüsezucht schließlich aufgegeben.

Natürlich fand Carla ihn hinten im Garten. Onkel Heinrich stand, eine grüne Gärtnerschürze umgebunden und den unvermeidlichen Strohhut auf dem Kopf, im Rosenbeet, und es sah beinahe so aus, als spräche er mit den Blumen.

»Grüß dich«, rief Carla von der Pforte her.

»Na, das ist aber eine nette Überraschung«, freute sich ihr Onkel. »Schön, daß du mich alten Mann mal wieder besuchst.«

Die Arzthelferin umarmte ihn und gab ihm einen Kuß auf die Wange. Sie deutete auf die Rosen.

»Herrlich!«

»Net wahr?« sagte er stolz. »Eine wahre Pracht.«

Er schaute sie fragend an.

»Hat’s einen besonderen Grund, daß du hergekommen bist?«

Carla nickte.

»Ja, Onkel Heinrich«, antwortete sie. »Ich wollte etwas von dir wissen. Gestern hab’ ich endlich Mutters Papiere geordnet und bin dabei auf etwas gestoßen… Sagt dir der Name Tobias Starnmoser etwas?«

Der alte Mann schaute nachdenklich vor sich hin.

»Komm«, sagte er dann, »es ist gerade Essenszeit. Leiste mir beim Abendbrot Gesellschaft, dann reden wir über alles.«

Nachdem es tagelang geregnet hatte, war heute endlich wieder die Sonne zu sehen gewesen und die Temperatur deutlich angestiegen. Angesichts des Wetters deckten sie den Tisch auf der Terrasse. Carla kochte Tee, während ihr Onkel das Brot schnitt und Wurst und Käse auf einer Platte anrichtete.

»Ich hab’ eigentlich schon damit gerechnet, daß du herkommen und mich fragen würdest«, sagte er, als sie saßen. »Aber ich war net sicher, ob deine Mutter dir etwas wegen der alten Geschichte hinterlassen hat.«

»Wenn ich mich eher um die Papiere gekümmert hätte und dahintergekommen wäre, daß dein Bruder net mein Vater ist, hätt’ ich schon längst nachgefragt.«

Heinrich hob mahnend die Hand.

»Kurt war und ist dein Vater«, sagte er im ernsten Ton. »Wenn auch net der leibliche, aber einen bess’ren hättest dir net wünschen können.«

Die Arzthelferin senkte beschämt den Kopf.

»Du hast recht«, antwortete sie. »Papa hat wirklich alles für mich getan. Es ist nur…, weil ich so durcheinander bin, seit ich erfahren hab’, daß es da noch einen andren gibt.«

»Natürlich, mein Mädchen«, nickte Heinrich Brinkmann. »Das versteh’ ich sehr gut.«