HEYWOOD GOULD

 

 

Todesdebüt

 

 

 

 

 

Apex Crime, Band 24

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

TODESDEBÜT 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

Einundzwanzigstes Kapitel 

Zweiundzwanzigstes Kapitel 

Dreiundzwanzigstes Kapitel 

Vierundzwanzigstes Kapitel 

Fünfundzwanzigstes Kapitel 

 

 

Das Buch

 

Nach einer durchzechten Nacht im Greenwich Village macht der Reporter Josh Krales eine ernüchternde Entdeckung: Im Eingang eines Apartmenthauses lehnt eine tote Frau! 

Aber das ist noch nicht alles. In einem der Apartments stolpert der Reporter über weitere Leichen. 

Eine heiße Story? Das hofft Josh Krales. Aber so richtig heiß wird ihm erst, als er in einem Pizza-Ofen aufwacht... 

 

Todesdebüt von Heywood Gould (Autor u. a. von The Bronx) erschien erstmals im Jahr 1975; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1984. Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der modernen Noir-Thriller-Literatur.

  TODESDEBÜT

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Ich glaube, Thanksgiving war an allem schuld. Zunächst einmal ist es sowieso ein Ersatzfeiertag, den Roosevelt erfunden hat, um die Banken ein paar Tage schließen zu können. Außerdem webt sich ein echt imperialistischer Mythos drumherum, einschließlich sauertöpfischer Pilger-Väter und edler Rothäute, die ihnen den Weg weisen. Aus dem Geschichtsunterricht weiß ich nur noch, dass die Pilgerväter in der Wildnis am Verhungern waren, als Häuptling Squanto und die Algonkin-Indianer per Zufall vorbeikamen und die gegrillten Maiskolben erfanden. Die Pilgerväter erwiesen ihnen ihre Dankbarkeit, indem sie sie ohne Fass über die Niagara-Fälle schickten. Später hat man dann ein Hotel nach den Algonkins benannt. Trotzdem freute ich mich am Abend von Thanksgiving auf die Feierlichkeiten zu Hause bei meinen Eltern in Brooklyn, auf das Treffen mit der ganzen verzopften Verwandtschaft und die Kämpfe mit dem gedämpften Puter und den Asphaltkartoffeln - Balsam für meine verwundete Seele. Ich hatte seit Monaten gesoffen, rumgehurt und gearbeitet, in der Reihenfolge, und ich musste mal Pause machen. Nach Abenteuer stand mir wirklich nicht der Sinn. Wenn mir jemand gesagt hätte, dass ich zehn Tage später eine gebrochene Nase, einen Haftbefehl gegen mich laufen und blaugetretene Eier hätte, hätte ich sofort das Land verlassen. Aber das hat mir niemand gesagt.

Während ich in meinem Junggesellenbett schlummerte und Visionen von Alka Seltzer in meinem Gehirn herumsprudelten, fuhr die Ben-Gurion, ein israelischer Dampfer, mit einer Ladung Gesellschaftsreisender an Bord in Richtung Hafen. Sie kamen aus der Karibik - ihre Taillen trugen neuerdings Ersatzreifen vom vielen Essen, ihr Geschlechtstrieb war befriedigt worden, und ihre Koffer platzten fast aus den Nähten von all dem zollfreien Alkohol und Parfüm, aus den exotischen Häfen von Curasao, den holländischen Antillen, Montserrat, etc. Dabei würden sie alle behaupten, dass diese Häfen nicht anders aussähen als Miami. Indessen, ohne dass meine Landsleute auf See - oder auch meine Wenigkeit - etwas davon ahnten, stampfte ein schwedischer Frachter, die Charles XII., mit einer Ladung Blondinen, Volvos, Fleischklopsen oder was auch immer, ebenfalls in gleicher Richtung. Obwohl die beiden Schiffe aus verschiedenen Richtungen kamen, fuhren sie auf den gleichen Punkt zu. Und dann trafen sie krachend und malmend irgendwo vor der Einfahrt zu den Narrows aufeinander.

Schreie und Flüche stiegen gen Himmel, und die Rettungsboote wurden zu Wasser gelassen. Ein schwedischer Matrose schloss sich in der Kombüse ein, trank Riesenmengen norwegisches Bier und kletterte dann an Deck, wo er seine Absicht kundtat, mit dem sinkenden Schiff unterzugehen. Als ihn niemand davon abhielt, schlurfte er sanftmütig zu den Rettungsbooten, rutschte jedoch beim Hineinklettern aus und verschwand im Wasser, ohne dass eine Blase aufstieg. Er war der einzige Tote.

Beide Schiffe schickten ihre Notsignale aus, und die Küstenwache antwortete sofort. Jedes Handelsschiff in der Umgebung eilte ihnen zu Hilfe, wie es auf See unter Seeleuten üblich ist. Unglückseligerweise tat es auch jeder andere Schiffsbesitzer, der ein Funkgerät an Bord und ein soziales Bewusstsein hatte. Die Küstenwache war so sehr damit beschäftigt, diese kühnen Seefahrer aus dem Wasser zu ziehen und ihre Boote zurück an Land zu bringen, dass die Opfer geduldig in ihren Rettungsbooten auf Hilfe warten mussten.

Die New Yorker Hafenpolizei fing den Notruf ebenfalls auf und ergriff ihrerseits Rettungsmaßnahmen. Der Notruf tickerte über den Fernschreiber der Polizei, der alle Rufe in einem bestimmten Bezirk auffängt und an das Polizeihauptquartier weitergibt. Der Presseraum im Hauptquartier der Polizei in Manhattan hat einen eigenen Fernschreiber, damit die Reporter bei saftigen Geschichten gleich alarmiert sind. Aber bei den Zeitungsfritzen, die von Mitternacht bis acht Uhr morgens die Hummerschicht schieben, besteht die unausgesprochene Vereinbarung, dass sie alles ignorieren, es sei denn, es würde der nationale Notstand ausgerufen. Somit können sich ihre Redakteure und das Publikum der Illusion hingeben, dass in den frühen Morgenstunden keine Schurken unterwegs sind. Dies ist die menschenfreundlichste Art der Manipulierung von Nachrichten - und ich pflichte ihr aus vollem Herzen bei.

Aber irgendjemand hatte es versäumt, einen jungen Mann von der AP, der ganz neu aus dem Büro von Wyoming nach New York gekommen war, über diese wohlwollende Nichtbeachtung zu informieren. Er ließ, als er am Fernschreiber die Nachricht von dem Zusammenstoß las, einen solchen Krächzer los, dass er den UPI-Mann aufweckte und die Männer von der Times und News von ihrem Rommee ablenkte. Da er vernünftigen Argumenten nicht zugänglich war, rief er doch tatsächlich sein Büro an und informierte die Leute über den Zwischenfall, was bedeutete, dass die anderen Reporter das Gleiche tun mussten. Und dann ging er mit der Präzision einer guten Journalistenschule vor und rief die Küstenwache, die Schifffahrtslinie, die Hafenpolizei und alle betroffenen Parteien an, die ihm gerade einfielen, wodurch er seine nunmehr höchst verärgerten Kollegen dazu zwang, es ihm nachzutun.

Der Rundfunk unterbrach seine üblichen Übertragungen, die Glocken läuteten, und auf dem Fernschreiber leuchtete DRINGEND auf. Hiermit sollten die Redakteure im ganzen Land darauf hingewiesen werden, dass gleich eine Geschichte von ungewöhnlichem Interesse übertragen würde. Bevor irgendwelche Details bekannt waren, kündigte die erste Zeile die Geschichte bombastisch an: Israelischer Vergnügungsdampfer und schwedischer Frachter kollidieren. Und das reichte aus, um den ganzen Apparat einer größeren amerikanischen Zeitung in Gang zu setzen. Deren Hauptaktion bestand dann in einem Telefonanruf bei mir.

Ich bin Reporter für den New Yorker Event. Ich bin schon acht Jahre dabei. Außer dass ich dort Dienstältester bin, habe ich mir ein gerüttelt Maß an Langeweile, Verbitterung und eine beginnende Leberzirrhose eingehandelt - die alle nicht als zusätzliche Sozialleistungen im Gewerkschaftsvertrag angeführt sind. Ich sollte nicht zu jeder Tages- und Nachtzeit geweckt werden dürfen, um über Mord- und Unglücksfälle sowie alle nur möglichen unzivilisierten Vorkommnisse zu schreiben. Hierfür sollen wir eigentlich irgendeinen jungen Jack London in unserem Stab haben, einen eifrigen Kläffer, der auf die Chance lauert, seine Berufung als Reporter unter Beweis zu stellen. Es müsste also irgendeinen in unserem Verein geben, der gern in einer kalten dunklen Nacht herumrast, blödsinnige Fragen stellt, die falschen Antworten bekommt und sie dann völlig falsch zitiert. Ich tue es auf keinen Fall gern. Und doch rufen sie gerade immer mich zu solchen Jobs. Sie tun dies jedoch nicht etwa, weil ich als Reporter ein As bin - zuverlässig ausdauernd, scharf, der einzige Mann für den Job. Nein, sie rufen mich an, weil die Geschäftsleitung mich hasst.

Larry Persky, der stellvertretende Nachtredakteur, versteht nicht, warum ich schlafen darf, wenn er arbeitet. Manchmal weckt er mich einfach so auf und erzählt mir Blödsinn am Telefon, bevor er wieder aufhängt. Diesmal hatte er einen Grund.

»Hab' ich dich geweckt, Krales?«, brüllte er fröhlich.

»Nein«, krächzte ich. »Ich wollte gerade die Schweine füttern.«

»Haste 'ne Biene bei dir, Krales?«

»Stimmt genau, wenn du mich so direkt fragst, hab' ich.«

»Du spinnst, Krales. Du kämst ja noch nicht einmal im Puff zum Zug.« Ich konnte hören, wie Perskys Mitarbeiter im Hintergrund lachten. »Steh auf und tu was für dein Geld.«

Es war vier Uhr fünfunddreißig. Fast im gleichen Augenblick begann die Charles XII. zu sinken.

»Was ist los?«

»Schiffskollision vor den Narrows.«

»Was soll ich machen, rausschwimmen und Amen sagen?«

»Sie bringen die Überlebenden zu den Docks von Brooklyn«, sagte Persky, »zum Armee-Terminal. Riesenrettungsgeschichte. Wir brauchen einen schönen Bericht. Ianelli und Jill Potosky gehen mit dir. Sie macht das Feature-Zeugs. Du konzentrierst dich auf die Hauptstory. Wir wollen wissen, wer schuld war.«

»Was ist, wenn die Israelis schuld hatten?«, fragte ich.

»Dann wirst du der Public-Relations-Mann für die El Fatah. Servus.«

Ianelli und Jill? Das war eine Verschwörung, um mich fertigzumachen, überlegte ich mir beim Anziehen. Ianelli war ein dreiundsiebzig Jahre alter Fotograf, der stur an seiner 30-Pfund-Grafelex festhielt, einer Kamera, wie man sie noch in den alten Filmen sieht, und die ich letzten Endes für ihn schleppen musste. Er hatte früher für die alte New Yorker Graphic über Schifffahrtsnachrichten berichtet und erzählte gern, dass bei ihm mehr Schauspielerinnen die Röcke gehoben hätten als bei Errol Flynn.

Jill Potosky war eine Emanze - der liebe Gott möge mir meine gehässigen Worte verzeihen -, die Eleanor Roosevelt an Bissigkeit noch übertraf. Sie war groß und blond, trug keinen Büstenhalter, hatte eine sehr königliche Haltung und ein feministisches Gehabe. Aber es machte ihr auch nichts aus, sich an unseren sexbesessenen Redakteur ranzuwerfen, wenn es ihrer Karriere förderlich war.

»Das Telefon klingelte.

»Hallo Partner.« Es war Jill. »Schon wach?«

»Nein, ich habe gerade einen schönen feuchten Traum, Hauptstar sind Sie.«

»Ich hoffe, Sie haben Ihre Windeln an«, sagte sie.

»Hab' ich. Warum kommen Sie nicht her und wechseln sie mir?«

»Klar, bevor Sie noch mehr von Ihrer infantilen Persönlichkeit offenbaren. Ich möchte, dass Sie mich auf Ihrem Weg zum Hafen abholen. Ich fürchte, mein alter Jaguar macht es nicht mehr...«

»Oh, macht er es nicht mehr«, höhnte ich. »Lassen Sie sich wirklich dazu herab, in meinem Chevy II zu sitzen?«

Es folgte Schweigen, dann ein gelangweilter Seufzer. »Ecke Universität und elfte Straße, Mr. Krales.«

»In fünfzehn Minuten, Miss Potosky«, sagte ich und betonte dabei das Miss. Ich füllte meinen Gucci-Flachmann (ein Geburtstagsgeschenk an mich) selbst mit Kognak und goss mir dann einen Schluck ein, um den Tag zu beginnen.

Bis nach Greenwich Village brauchte ich eine halbe Stunde. Potosky wartete an der Ecke. Sie trug einen gefütterten Anorak, eine Zipfelmütze von den New Yorker Rangers, Jeans - natürlich verwaschene - mit kleinen Blumenflicken und zwei gestickten Schmetterlingen auf jeder Hinterbacke. Ihr Presseausweis steckte auffällig an der Jacke. Hinzu kamen noch Schreibblock, khakifarbene Schultertasche, Schreibunterlage, tragbares Bandgerät, Straßenverzeichnis und ein kleines schwarzes Telefonbuch - die ideale emanzipierte Reporterin des Seventeen-Magazins war fertig. Sie erinnerte mich an die kleinen Mädchen in der dritten Klasse, die immer ordentliche kleine Federmäppchen mit Lineal und Bleistiftspitzer besaßen. Mädchen sind immer besser vorbereitet als Jungen. Ich hatte lediglich noch ein paar Blatt Briefpapier mit meinem Monogramm dabei und einen gelben Bic-Kugelschreiber - Reste aus meinen Ehe-Tagen -, der fast leer war. Was soll's, zum Teufel, ich würde das Ganze sowieso frisieren.

»Verfahren?«, fragte Jill, als sie in den Wagen kletterte. Sie sah frisch und guter Dinge aus. Kein Make-up oder Wasserstoff - nur Massen von natürlich blondem Haar, das sie schüttelte, als sie ihre Mütze abnahm, und ein Paar Beine, die irgendwo unter ihrem Kinn aufhörten. Nette, offene blaue Augen hatte sie auch, nicht so versoffene wie ich.

»Sie sehen nicht gerade begeistert aus«, sagte sie.

»Ich genieße den Gedanken nicht gerade, mir irgendwo auf einem Pier in Brooklyn den Hintern abzufrieren.«

Sie nahm eine Thermosflasche aus ihrer Schultertasche.

»Kaffee?«

»Klar.« Ich bot ihr meinen Flachmann an. »Mut?«

»Nicht dazu, danke.« Sie goss Kaffee ein und reichte mir den Becher.

»Sehr häuslich«, stellte ich fest. »Als wenn wir die Nacht miteinander verbracht hätten.«

»Das würden Sie nicht wollen«, sagte sie. »Ich bin nicht sehr gut im Bett.«

»Das macht nichts, ich auch nicht«, erklärte ich.

»Dann würde ich es auch nicht wollen«, sagte sie. »Deshalb lassen wir es beim Beruflichen. Sagen Sie mir bloß, sind Sie nicht aufgeregt, dass Sie über diese Schiffskollision berichten können?«

»Hat man erst einen gesehen, dann kennt man sie alle«, antwortete ich.

»Oh, ich vergaß, sagte sie, »Sie haben ja bereits über den Untergang der Titanic geschrieben.«

»Alle Berichte über Katastrophen enden gleich«, behauptete ich.

»Wirklich?«, fragte sie und zog dabei eine Augenbraue hoch. »Und wie geht das vor sich?«

»Ich erkläre es Ihnen«, sagte ich. »Und dann sehen Sie, ob ich Unrecht habe. Zuerst sitzen wir die halbe Nacht rum und frieren und sehen nichts, weil die Behörden das Gelände abriegeln, und die andere Hälfte trinken wir Kaffee in irgendeinem Warteraum oder Krankenhaus oder auf einer Polizeiwache - es ist egal, weil sie alle gleich aussehen und der Kaffee wie Affenpisse schmeckt. Irgendein Kerl kommt dann raus und verliest stündlich die Nachrichten - soundsoviel Tote, soundsoviel Dollar Schaden. Und dann bekommen wir die berühmte Übersichtserklärung.«

»Die lautet...«

»Die lautet, dass der Lotse taub war. Dann hört man von den toten Feuerwehrleuten, die am Morgen zuvor böse Vorahnungen hatten, und von dem Polizisten, der für seinen kranken Freund einsprang und dem nun der brennende Balken auf den Kopf gefallen ist. Alle Medien bekommen das gleiche Zeugs, weil es nur eine Quelle gibt. Einmal unter Millionen erwischt man dann einen Kerl, der ehrlich ist und einen Hinweis gibt und sagt, die Firma sei zu knausrig gewesen, um die Feuerlöscher neu zu füllen; damit bringt man sich dann selbst in die Bredouille. Aber die Nachrichtenfressenden Leser sind an solchen Gesichtspunkten nicht interessiert. Sie wollen die blutige Statistik, den Augenzeugenblödsinn. Sie wissen schon, dies ...und dann fingen die Kleider von Mr. Goldberg Feuer, und das einzige, was von ihm übrigblieb, war seine Gürtelschnalle. Dieses Zeugs, das wollen die Leser.«

«Aufgemotzt und zynisch«, sagte Jill Potosky.

»Sie werden ja sehen, ob ich mich täusche. Versuchen Sie, mit irgendetwas Neuem rauszukommen. Irgendwas, das sich nicht wie jede andere Katastrophengeschichte seit der Arche Noah anhört.«

Wir fuhren schweigend über die Brooklyn Bridge. Links lag Brooklyn, die Heimat meiner Väter. Im Gegensatz zu dem sündigen Viertel, das wir gerade verlassen hatten, war das Kirchenviertel nachts ganz ruhig, denn alle guten und ehrlichen Leute schliefen ruhig in ihren Betten und träumten von Sechserpackungen Bier und Puterbeinen. Sie ahnten ja nichts davon, dass sie am nächsten Tag mit ihrem Puter eine prima Katastrophengeschichte runterschlucken mussten. Eine schicksalschwangere Preiselbeersoße auf die Eintönigkeit des Feiertags. Zum ersten Mal seit Jahren würde nicht die Parade bei Macy die große Thanksgiving-Titelgeschichte stellen. Dafür konnte man dankbar sein.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Wie ich gesagt habe: Hat man erst einmal eine Katastrophe gesehen, kennt man sie alle.

Es war noch nicht einmal sechs Uhr, aber auf dem Pier drängte sich mehr als die notwendige Anzahl von Bullen, Ambulanzen und offiziellen Herumlungerern. Ein paar Zollleute waren mit dem Caravan gekommen, und der Bürgermeister hatte seinen Adlatus Farbner geschickt, der die Stellung halten sollte, während Seine Ehren seinen morgendlichen Becher Bullrich-Salz leerte und seine Vorbereitungen traf, um sein Thanksgiving-Dinner zu unterbrechen und zum Katastrophenort zu eilen.

Ich schaute mich unter den versammelten Journalisten um. Von den Top-Leuten war keiner da. Selbst die Rundfunkanstalten hatten ihre zweite Besetzung geschickt. Jetzt hieß es bloß noch abzuwarten, bis das angeschlagene Boot langsam hereintuckerte, und das konnte noch Stunden dauern. Ich bekam wieder das hysterische Gefühl, das mich immer überkommt, wenn ich an einer irren Geschichte dran bin und nichts passiert. Höhere Chargen der Küstenwache waren nicht da. Das Hauptgeschehen musste im Hauptquartier der Küsten wache in Manhattan stattfinden. Ich ließ Potosky allein und fuhr über den Prospect-Expressway zurück, von dem man die öden Zweifamilienhäuser von Red Hook überblicken konnte. Die Sonne ging über Battery Park auf, dem ältesten Teil der Stadt - dies war ein prima Ort für Thanksgiving. Genau an dieser Stelle hatte Peter Minuit den Indianern Manhattan abgekauft, und der krummbeinige Peter Stuyvesant hatte hier dem Herzog von York getrotzt. In jener guten alten Zeit, als die Luft noch sauber war, waren unzufriedene Irokesen die einzigen Räuber, und man konnte Stör noch mit der großen Zehe aus dem Fluss angeln.

Das Küstenwachen-Gebäude ist eine große, schmutzig-braune Angelegenheit in der Whitehall Street, nicht weit entfernt von der berüchtigten Musterungskommission. Der Konferenzraum bot ein Durcheinander von Drähten und fluchenden Rundfunk- und Fernsehtechnikern. Auf dem langen Eichentisch standen die unvermeidlichen Kaffeebehälter. Wieder dieser verdammte Kaffee. Jedes Mal, wenn es ein Unglück gab, wurden die Kaffeefirmen reich. Wenn es jeden Tag ein Flugzeugunglück, ein Erdbeben oder ein Grubenunglück gäbe, würde Maxwell House mit seinem Gewinn glatt General Motors überflügeln.

Ich hatte bereits die dritte Tasse. Mein Magen begann zu rumoren, deshalb beruhigte ich ihn mit einem Kopenhagener, der anscheinend mit Uhu gefüllt war. Bill Morrissey, der Polizeireporter der News, stand in einer Ecke und sprach mit einem Haufen Lametta, und Marty Appelbaum, ein Mann von der Times, der gerade aus Südostasien zurückgekommen war, hatte gerade einen anderen Offizier in die Zange genommen.

Ich ging langsam zu Appelbaums Kaffeeklatsch rüber. Sein Offizier war ein bartloser junger Mann mit gestutzten Koteletten und sorgfältig aufgetürmtem Schopf, wie es bei den Militärs zurzeit in ist. Auf seinem Namensschild stand De Forrest; alteingesessene Küstenwachen-Familie, nehme ich an.

»Sie war groß und blond«, sagte er. »Ich glaube, ihr Name fing mit L oder J an, ich weiß nicht mehr, wie.«

Appelbaum schüttelte den Kopf. »Kenn ich nicht.«

»So'n Ivy-League-Typ. Wirklich Klassefigur, toll proportioniert. Lisa oder Leonore. Ich hab' sie, wie ich sagte, auf einer dieser UNO-Partys kennengelernt. Ich geh' da hin, weil da immer 'ne Masse netter Bienen ist. Und diese war wirklich 'ne Wucht. Sie sagte, sie arbeite für die Times - aber ich war stockvoll und konnte mich am nächsten Morgen nicht mehr an ihren Namen erinnern. Aber ich erinnere mich noch an die Figur. Sie geht mir nicht...«

Appelbaum sah gelangweilt aus. Er war nicht rasiert, in seinem Schnurrbart klebte Zahnpasta. »Krales hier kennt sie vielleicht. Der hat schon jede Zeitungsmaid der Stadt im Bett gehabt.«

»Also, ich hab' da ein Mädchen auf dieser UNO-Party kennengelernt«, begann De Forrest.

»Hab's schon gehört«, sagte ich. »Ich glaub', ich weiß, von wem Sie reden.«

»Wirklich?« Er sah mich mit erschreckender Begeisterung an und blies mir eine Wolke Mundwasser ins Gesicht.

»Jaah, die Puppe heißt nämlich Jill Potosky.«

Das stimmt, Mann, das stimmt«, sagte er und packte mich am Arm. »Kennen Sie sie?«

»Klar, sie arbeitet für die Times. Appelbaum ist mit ihr befreundet. Deshalb hat er Ihnen auch nichts gesagt.«

»Oh, ich verstehe. Ich glaube, da hab' ich 'nen Fehler gemacht.« Das schien ihn überhaupt nicht zu bekümmern. Im Gegenteil, er strahlte förmlich vor Freude.

»Wenn Sie sie kennenlernen wollen...«

»Natürlich will ich das.«

»Okay«, sagte ich und befreite mich von seinen Schwitzehändchen. »Erzählen Sie mir was Genaueres über diese Kollision, Zeuge, das die anderen Zeitungen nicht haben. Sie wissen schon - wer tatsächlich die Schuld hat, und was die Küstenwache zu unternehmen gedenkt. Und welche Funksprüche, falls überhaupt, zwischen den beiden Schiffen vor dem Zusammenstoß gewechselt wurden.«

»Aber das kann ich nicht«, sagte De Forrest. »Ich bin doch im Kasino.«

»Ihr Privatleben interessiert mich nicht. Ich brauche lediglich Informationen.«

»Das Kasino, das Kasino«, quiekte er. »Wissen Sie nicht, was das ist? Ich muss den Kaffee und das Essen bringen. Ich habe mit dem anderen Kram nichts zu tun. Ich könnte an diese Informationen nicht herankommen, selbst wenn ich wollte.«

»Dann müssen Sie eben sehen, wie Sie herankommen, mein Freund«, sagte ich und ging schnell weg, indem ich leichtfüßig über die knienden Techniker und Drähte hinwegsprang.

Alle gingen in Position für die Presseerklärung, die endlich herausgegeben werden sollte.

Der PR-Mann der Küstenwache war wiederum ein junger, kurzgeschorener Bubi mit saubergeschrubbtem Gesicht und hängender Unterlippe, wie bei einer Babypuppe. »Ich bin Lieutenant Paul Goldburg«, sagte er. »Goldburg mit einem u wie's gesprochen wird, wenn Sie mich zitieren wollen, obwohl ich es in den meisten Fällen vorziehe, einfach als Sprecher der Küstenwache bezeichnet zu werden.«

Bevor er weitere Richtlinien bekanntgeben konnte, war der Raum plötzlich in ein Inferno von Licht getaucht. Alle Fernsehkameras liefen. Goldburg blinzelte mit den Augen, schwitzte und versuchte offensichtlich, gelassen zu wirken.

»Kamera läuft?«, fragte er und protzte ein bisschen damit, dass er sich im Jargon auskannte.

»Bitte, erzählen Sie uns, was passiert ist!«, rief einer der Medienhelden. »Benutzten Sie dazu Zeigestock und Landkarte.«

»Nun, dies hatte ich auch vor«, sagte Lieutenant Goldburg steif.

Er schwenkte den Stock und zeigte uns, wie das eine Schiff aus der einen und das andere Schiff aus der anderen Richtung kam und wie sie zusammengestoßen waren. Er wiederholte dies ungefähr zehnmal für die verschiedenen TV-Stationen und schaute müde, aber glücklich aus, als ich endlich auf ihn zukam.

»Lieutenant, ich bin Josh Krales vom Event...«Er nickte. »Ich habe ihren Namen schon mal gelesen.«

Ich fühlte mich geschmeichelt, ob ich wollte oder nicht. »PR-Chef für die Küstenwache«, sinnierte ich. »Seltsamer Job für einen Juden, nicht wahr?« Ich sprach in dem scherzhaften und freundschaftlichen Ton, mit dem man gern Vertrauliches herausholt.

Der Lieutenant schüttelte den Kopf. »Ich bin kein Jude, Mr. Krales.« Er sagte dies in dumpfer Resignation, als ob er dieses Wort schon hundertfach wiederholt hätte.

»Mein Fehler«, sagte ich, zuckte mit den Schultern und nickte. Ich versuchte, es so hinzustellen, als ob ich diesen Fehler jeden Tag ein paarmal machte. Dummkopf, sagte ich mir insgeheim. Jeder, der Goldburg heißt und kein Jude ist, will auch nicht, dass man ihn für einen hält.

»Es gibt viele Nicht-Juden mit diesem Namen in Amerika«, sagte der Lieutenant.

»Haufenweise«, tönte ich. Ich konnte mir vorstellen, wie viele nette jüdische Mädchen bereits versucht hatten, ihn sich zu angeln, wie viele überquellende jüdische Mamas er bereits kennengelernt hatte, und wieviel gehackte Leber er schon widerwillig in sich reingestopft hatte, obwohl er doch bloß ein bisschen unter die Bettdecke wollte - und dass er dies auch ohne weiteres gedurft hätte, wenn sein Name Ferguson oder De Forrest gewesen wäre.

»Eigentlich stamme ich aus einer Mennoniten-Familie«, sagte er.

»Also, das ist ja so weit von einem Juden entfernt wie sonstwas.«

»Das stimmt«, sagte Lieutenant Goldburg und nickte nachdrücklich.

»Ich nehme nicht an, dass Sie mir etwas über die Meinung der Küstenwache zu diesem Unfall sagen wollen«, lockte ich und wandte mich halb ab, so, als ob ich nichts erwartete.

»Die Meinung der Küstenwache lautet, Mr. Krales, dass zwei Schiffe auf See kollidiert sind«, sagte Lieutenant Goldburg.

»Wissen Sie, dass man die Küstenwache die jüdische Marine nennt?«, fragte ich und verließ ihn, damit er weiter über die Wahl seiner Karriere nachdenken konnte.

Der Funkwagen der Daily News war vor dem Gebäude geparkt. Ich durfte eintreten, nachdem ich mit meinem Flachmann gewedelt und eine Flasche Bourbon bereits die Runde machte. In zehn Minuten war der Wagen gerammelt voll.

Der Mann von der AP-Agentur kreuzte mit Ianelli und O'Malley, dem News-Fotographen, auf. Morrissey hatte irgendeinen alten befreundeten Bullen mitgeschleppt, und Appelbaum hatte den wachhabenden Jungen an der Tür überredet, sich auch ein paar Drinks zu gönnen. Mit trunkenen Hallos schoben wir ab, als der Polizeifunk durchgab, dass die Mannschaft der Charles XII ins Beekmann-Hospital gekommen war.

Um das Krankenhaus waren so viele Funk- und Fernsehwagen kreuz und quer herumgeparkt, dass die Ambulanzwagen nicht durchkommen konnten.

Ein grimmig dreinblickender Assistenzarzt mit hellblondem Haar, blauen Augen und dem saubersten weißen Kittel, den man sich vorstellen kann, schaute angewidert auf die Meute der Reporter, die sich in die Notaufnahme drängte.

»Irgendwelche ernsten Verletzungen, Doktor?«, rief einer.

»Die Männer stehen noch unter den Einwirkungen von Schock und Kälte«, sagte er. »Es wurde Bettruhe für sie an-

geordnet. Manche haben Beruhigungsmittel bekommen. Ich werde absolut unter keinen Umständen erlauben...«

»Entschuldigung, Doktor«, sagte ich, »aber Mr. Bergström hat gesagt, dass ich den Kapitän kurz interviewen könnte...«

»Der schwedische Botschafter«, erklärte ich. »Ich habe ihn in Washington angerufen, und er bat mich, als so eine Art inoffizieller Vertreter von ihm zu fungieren, bis er eintrifft...«

Der Arzt schaute mich an, als ob ich der Blinddarm von Mao Tse-tung sei.

»Und wer sind Sie, Sir?«

»Gunnar Lindström vom Event, Sir«, antwortete ich freundlich und zeigte kurz meinen Presseausweis. »Meine Eltern stammen aus Schweden, und ich kann Schwedisch...«

Irgendjemand hinter mir stöhnte laut auf.

Ich drehte mich um, um den Verräter ins Auge zu blicken. Arthur Miller, der Renommierschwarze bei ABC, lachte mir ins Gesicht, während er in seinem Cardinanzug-Ärmel die Faust ballte.

»Sagen Sie doch etwas auf Schwedisch, Mr. Lindström«, sagte er.

»Svenskfilm industri, Armleuchter«, brüllte ich.

»Er heißt nicht Lindström, sondern Humperdinck«, warf Appelbaum ein.

»Ich habe jetzt genug von dieser albernen Komödie«, antwortete der Assistenzarzt bissig. »Auf Anordnung der Krankenhausleitung sind Besuche und Interviews untersagt...«

»Was will er verbergen?«, rief irgendjemand.

»Die schrecklichen Zustände in diesem Krankenhaus!«, brüllte ich. »Und glauben Sie ja nicht, dass die Öffentlichkeit davon nichts erfährt...«

»Wenn die Herrschaften nicht innerhalb von fünfzehn Minuten mit all ihrem Drum und Dran verschwunden sind, lass ich sie durch unsere Aufsicht hinauswerfen.«

Ich wanderte in eine Telefonzelle, nahm eine gebogene Papierklammer mit, steckte beide Enden durch die Löcher in der Gabel und versuchte, ein Freizeichen zu bekommen. Nach ein paar fruchtlosen Minuten warf ich seufzend eine Münze ein. Ich rief zuerst das Büro an und erzählte ihnen, dass ich nichts hätte.

Als nächstes rief ich in der Wohnung meiner Frau an. Mein Sohn hob bereits beim ersten Läuten ab.

»Ich dachte, du kämst zu uns, Dad«, sagte er. Er klang nicht besorgt. Nachdem er als kleines Kind schon immer mit ansehen musste, wie sich seine Eltern laufend stritten, hatte er mit sechs schon seine Schocktherapie hinter sich.

»Ich wollte ja kommen, Quentin, aber dann musste ich zur Arbeit. Was ist los?«

»Oh, wir haben 'ne Party. Mami ist in der Küche und kocht, und ich darf nicht rein...«

Am anderen Ende der Leitung rumorte es, und dann kam meine Ex-Frau an den Apparat. »Hast wohl einen zu dicken Kater, um dein Versprechen zu halten, was?«, fragte sie mit diesem sarkastischen Boulevardkomödienton.

»Mit dir will ich nicht reden.«

»Natürlich nicht, Joshua.« Sie nennt mich immer so, wenn ich ihr Geld schulde. »Aber da ist noch diese Kleinigkeit von ausgebliebenem Scheck. Heute ist der achtundzwanzigste. Er sollte doch eigentlich am ersten da sein...«

»Ich hab' ihn per Pony-Express geschickt«, antwortete ich. »Über die Chisholm Route, Nordwest-Passage. Was bist du eigentlich für ein Mensch, etwa antiamerikanisch.«

»Haben sie auf der Chisholm Route auch 'nen Schuldturm für nicht bezahlte Alimente?«

»Feiert ihr drüben bei euch?«, fragte ich.

»Ja, aber du bist nicht eingeladen.« Ich konnte fast bildlich sehen, wie sie ihre Zunge herausstreckte.

»Kommen auch ein paar Kinder?«, fragte ich. »Hat mein Sohn auch gebührend Umgang mit seinesgleichen?«

»Es kommen Kinder. Jetzt aber, was den Scheck betrifft...«

»Was kochst du?«

»Eine Ente!«

»Zu Ehren deines neuen Freundes, dem Quacksalber?« Sie geht mit einem Gynäkologen. Jeden Abend bete ich dafür, dass er sie heiratet oder aus dem Sattel hebt.

»Ja, und wenn du zum Abendessen kommst, dann mache ich einen Kapaun. Aber...«

»Ich bring' ihn morgen Abend mit. Kann ich jetzt bitte mit meinem Sohn sprechen?«

»Nein, ich fürchte, dass er nach dem 30-Sekunden-Gespräch mit dir schon aufgeregt genug ist.«

»Kannst schlecht das gleiche von dir behaupten oder?«

»Nein, Liebling, ich fürchte, dein Charme beschränkt sich immer noch auf sechsjährige Jungen. Also, ich erwarte dich morgen Abend. Komm, nachdem das Kind im Bett ist, denn eigentlich ist es ja nicht dein Besuchsabend, und wir möchten doch nicht, dass er sich wieder zu sehr aufregt.«

Sie hängte auf und ließ mich mit einem Ohr voll stummer Luft und den normalen Mord- und Totschlaggedanken allein, die ich immer nach unseren Wortgefechten habe. Innerhalb weniger Stunden war ich nun von einem gehässigen Redakteur aus dem Bett geworfen, von einer Vassar-Absolventin gönnerhaft behandelt, von einem Mennoniten zurechtgewiesen, von eigenen Kollegen verraten, von einem Assistenzarzt bedroht, von meinem Sohn getadelt und von meiner Frau k. o. geschlagen worden. Die Welt zeigte mir wieder einmal überdeutlich, dass ich ein Ausgestoßener war. Dafür hatte ich dann auch zwei Worte für die Welt übrig, und sie lauteten nicht Fröhliches Thanksgiving.

 

 

 

 

  Drittes Kapitel

 

 

Der New Yorker Event ist das Produkt von drei Fusionen, zwei Aufkäufen und einem Aktien tausch. In der letzten Runde hat Hearst dafür geboten, Newhouse zog sie in die nähere Wahl, aber schließlich fiel sie der Pritchard-Gruppe in die Hände, einer Kette von ländlichen Wochenblättern und Kleinstadtreklameheften, die sich eine großstädtische Fassade geben wollten, damit ihre Bosse eine Ausrede hätten, um in die Stadt zu fahren und sich dort zu gebärden wie bei einem Treffen der alten Kameraden. Der alte Pritchard - falls es jemals einen gegeben hat - soll ein weiser alter Typensetzer gewesen sein, der die ersten Exemplare seiner neuen Zeitung noch mit Tabakflecken auf der Leitartikelseite rausschickte. Seine Epigonen sind ein Haufen Sparkommissare aus dem Mittelwesten, solchen Typen mit Baumwollanzügen, kurzärmeligen weißen Hemden mit Schweißrändern unter den Armen, kurzem Haarschnitt und glattgeschorenen Koteletten. Sie sehen alle gleich aus, kleiden sich und reden gleich, angefangen vom Vizepräsidenten bis runter zum zweiten Buchhalter, so dass ich niemals unterscheiden kann, wer der Boß ist. Sie kommen zweimal im Jahr in die Stadt, eine ganze Armee, und schnüffeln grüppchenweise die einzelnen Zeitungsabteilungen durch. Wenn sie wieder wegfahren, nehmen sie gewöhnlich fünfzehn oder zwanzig Jobs mit.

Ihre Strategie ist einfach: Das Wall Street Journal - Gott segne sein mitfühlendes Herz - hat sie vor ein paar Jahren jedem vorgemacht. Großstadtzeitungen sind die Friedhöfe für die todgeweihte Industrie. Geld macht man in den Vororten und auf dem Land, dann steckt man es wieder in die Stadtzeitung und nennt es einen Verlust. In der Zwischenzeit werden, nur um am Ball zu bleiben, das Personal reduziert, ganze Kolumnen gestrichen und noch andere kleine Einsparungen vorgenommen, die einem dann die Bewunderung der Makler und in den Geschäftsnachrichten der Wochenzeitungen das schmückende Beiwort hartgekocht oder unsentimental einbringt. Langsam geht es bergab mit der Zeitung.

Als ich durch Downtown Manhattan zurückfuhr, stellte ich mir vor, wie all die riesigen Gebäude von Wall Street zusammenkrachten und durch Schnellimbissbuden ersetzt würden, in denen Millionäre mit Schweinerüssel und Schnürbandkrawatten säßen, sich Essen ins Gesicht steckten und gelegentlich einen gespaltenen Huf ausstreckten, um einen vorbeigehenden Juden die Treppe runterzustoßen. Solche Wirkung hat nämlich Alkohol auf mich. Ich werde dann so apokalyptisch. Bis ich in meinem Büro war, war ich bereits soweit und wollte die erste Handgranate werfen.

Der Event ist in dem alten World-Gebäude in der Barclay Street. In der Halle hängen immer noch Bilder von Pulitzer, Brown, Scripps, Howard und anderen heute vergessen Berühmtheiten an der Wand. Diese historischen Visagen haben etwas Koboldhaftes, ja, sogar Bösartiges an sich. Eine ansehnlichere Sammlung von liederlichen, hinterhältigen Schurken hat es nie gegeben, noch nicht mal in politischen Clubhäusern oder auf der Straße des Todes. Reporter waren damals wirklich schleimige Kerle: Trinker, Schürzenjäger, Plagiatoren - kurz gesagt, ein toller Haufen. Ich war ihrem Ruf ins Garn gegangen und Zeitungsmann geworden in der Hoffnung, genauso zu werden wie sie. Also war ich nun ein Trinker, Schürzenjäger und Plagiator.

Kein Wunder, dass ich an Thanksgiving allein und ohne Freunde dastand.

Wegen der gekürzten Arbeitszeit war der Großteil der Angestellten bereits früh nach Hause gegangen. Die neue Schicht würde um acht kommen. In der Zwischenzeit war nur der Kader da: ein Redaktionsbote, der den Fernschreiber im Auge behielt, und der alte Sam Rafferty, ein heruntergekommener alter Trinker, der die Todesanzeigen bearbeitete und die Redakteure zu Hause alarmierte, falls ein nationaler Notstand ausbrach.

Jill Potosky war ebenfalls dort. Sie saß mit gekreuzten Beinen an ihrer Schreibmaschine. Eine Zigarette hing in ihrem Mundwinkel, und ein 3H-Bleistift steckte in ihrem Haar.

»Sie hatten Recht mit dieser Geschichte«, sagte sie. »Die Leute sagten fast genau das, was Sie schon vorher erzählt hatten. Ich nehme an, deshalb merkt auch keiner, dass Sie die meisten Geschichten auf dem Barhocker schreiben.«

»Diese Art Bericht liegt Ihnen sowieso nicht. Sie sollten

lieber für die Frauenseite der Times etwas über weibliche Maurer schreiben.«

Sie lächelte süß. »Und Sie sollten diplomatischer Korrespondent beim Screw werden.«

»Krales«, krächzte Rafferty, »Telefon.«

»Wir werden dieses Geplänkel später fortsetzen«, sagte ich.

»Das werden wir auf keinen Fall«, antwortete Jill.

»Das werden wir auf jeden Fall«, sagte ich und schlug auf den Hörer. »Wer ist da?«, brüllte ich.

»Was sind das für Manieren am Telefon, Mr. Krales?« Die Stimme klang sanft und verschwörerisch.

»Wer, zum Teufel, ist dran?«

»Immer langsam. Bill De Forrest am Apparat. Erinnern Sie sich? Von der Küstenwachzentrale heute Morgen. Fällt es Ihnen wieder ein?«

»Klar, der geile Matrose.«

»Hören Sie auf, Krales. Sie bekommen, was Sie wollen. Nicht, dass Sie es verdienten. Ich habe die Times angerufen, um mit der Potosky zu sprechen, und die sagten mir, sie hätten nie von ihr gehört...«

»Sie müssen eben ihre Nebenstelle wissen, um durchgestellt zu werden«, sagte ich. »Sonst glaubt man nur, dass Sie einer von diesen verrückten Anrufern seien.«

»Oh, ja?« Er klang skeptisch. »Kennen Sie die Nebenstelle?«

»Ich weiß ihre Privatnummer, Admiral.«

»Mann, toll. Hören Sie, es tut mir leid, wenn ich ein bisschen schnodderig klang, aber ich dachte. Sie hätten mich gepflanzt, und...«

»Reden Sie.«

»Nun...« Seine Stimme klang leise und zögernd. »Ach, scheiß drauf, was kann mir schon passieren? Der Mann, mit dem Sie reden sollten, heißt Captain Olson; er hat die Bergungsarbeiten beaufsichtigt. Ein richtiger Captain Queek, der wie ein Loch säuft. Ab 10 Uhr morgens ist er stockvoll. Der hat nun mit den Oberen hier per Bordfunk gesprochen. Er sagt, dass die Israelis die Steuerbord-Vorfahrtsregeln nicht beachtet hätten, dass sie also schuld seien.«

»Wo ist der jetzt?«

»Dampft mit der Ben Gurion zurück. Danach fährt er nach Staten Island zum Hafen zurück. Sollte dort ungefähr um vier oder spätestens um fünf ein treffen. Rufen Sie doch einfach den Hafen an, und fragen Sie, ob die Rensselaer schon da ist.«

»Warten Sie einen Moment«, sagte ich. Ich ging hinüber zur Adressenkartei auf Raffertys Tisch, guckte die Adresse und die Telefonnummer von Potosky nach und gab sie De Forrest durch.

»Heeh, danke, Krales«, sagte er. »Wir sollten uns mal Wiedersehen.«

»Klar«, sagte ich. »Nächstes Mal, wenn es wieder eine Schiffskollision gibt, ruf' ich Sie an.« Ich grinste Potosky zu, als ich beim Herausgehen an ihr vorbeiging. Sie ahnte ja nicht...

Ich hatte noch ein paar Stunden totzuschlagen, und die Bibliotheken waren geschlossen, also dachte ich, ich könnte noch was trinken.

Ich fuhr zum Howard-Johnson-Restaurant, Ecke Broadway und sechsundvierzigste Straße. Zwei alte Damen in Schleierhütchen und Rougeflecken auf den gelblichen Wangen saßen an der Bar und tranken Manhattans. Ich gesellte mich zu ihnen und bestellte das gleiche.

Es fing an, mir Spaß zu machen, doch ein Anruf bei der Küstenwache bestätigte mir, dass die Rensselaer bereits eingelaufen war. Also musste ich wieder über die Brooklyn Bridge fahren, aber diesmal über Gowanus Parkway zum Belt, einer Ringstraße, die um Brooklyn herumführt.

Die Rensselaer lag gemütlich an ihrem Ankerplatz. Man sah ihr nicht an, was hinter ihr lag. Ein Wachtposten führte mich zu Kapitän Olsons Quartier, klopfte gegen eine rostige Metalltür und trat mit einer ironischen Verbeugung zurück, als er mich in die Kajüte eintreten ließ.

Der Raum war klein und sah völlig anders aus, als man es von den Kinohelden her kannte. Kapitän Olson stand hinter seinem Schreibtisch auf und streckte mir die Hand hin, die sich hart wie ein Enterhaken anfühlte. Eine halbleere Flasche Bourbon, Marke Early Times, stand auf dem Schreibtisch.

»Ich hab' Ihren Namen, beziehungsweise Ihr Anliegen, nicht verstanden, Sir«, sagte er.

Ich suchte verzweifelt nach einem Zeitungsnamen, der vor seinen Augen Gnade finden konnte.

»Kilkenny, Sir US News and World Report 

Kapitän Olson nickte und setzte sich. Ein kleiner Mann Ende Vierzig mit verkniffenem, gerötetem Gesicht und kurzen sandgrauen Haaren. In seinen lächelnden Augen war dieses alkoholisierte Glitzern und in seinen Bewegungen eine Übergenauigkeit - er musste sich auf das Anzünden seiner Zigarette mehr konzentrieren als Einstein auf seine e = mc2, womit sich Trinker immer verraten. Er hatte wahrscheinlich seit zehn Jahren keine anständige Mahlzeit mehr genossen und würde dies wahrscheinlich erst wieder tun, wenn er schließlich bei der Heilsarmee gelandet war. Aber trotzdem war er Kapitän eines Schiffes, obwohl er genügend trank, um es abzubuddeln.

»Was kann ich für Sie tun, Sir?«, fragte er.

»Wir sind an ein paar Informationen über die heutige Schiffskollision interessiert.«

»Ah, ja.« Sein schmaler Mund verzog sich um einen Millimeter, als er den Versuch zu einem gewinnenden Lächeln machte.

»Dieser unglückliche Zwischenfall an der Verrazano- Brücke, falls ich mir diese kleine Umschreibung erlauben darf.«