cover

[VERLAGSTEXT]

1937 verbringen Gertrude Stein und Alice B. Toklas wie jedes Jahr den Sommer in ihrem kleinen Château in Südfrankreich. Während Gertrude schreibt und Alice kocht, kümmert sich ein junger Mann aus dem Dorf um den Garten. Pierre ist gehörlos und umwerfend schön. Als eines Tages sein Vater verschwindet, verrät Pierre den beiden Demoiselles ein dunkles Geheimnis. Gertrude Stein liebt Kriminalromane und beginnt zu ermitteln.

[ÜBER DEN AUTOR]

Samuel Steward (alias Phil Andros) war eng mit Stein und Toklas befreundet. Sein Alter Ego im Roman ist der schwule Amerikaner Johnny McAndrews, der für kurze Zeit zu Besuch kommt und sich sofort in den Sekretär des Polizeichefs verliebt. Mit diesem Buch setzt Steward den beiden alten Damen auf ungemein charmante Weise ein Denkmal; die Lösung des Kriminalfalls ist dabei nicht unbedingt die Hauptsache.

SAMUEL M. STEWARD

EIN MORD IST EIN MORD IST EIN MORD

Aus dem amerikanischen Englisch von Kurt von Hammerstein

Edition Salzgeber im
Männerschwarm Verlag
Hamburg 2017

Für Martin, der einen Tag nach Gertrude geboren wurde, wenn auch nicht im selben Jahr.

1. EIN FAUN IM GARTEN

«Rosmarin, Muschi!» Gertrude kam atemlos in die Küche gepoltert, Alices Heiligtum, und schwenkte eine Handvoll Grünzeug über dem Kopf. Sie wedelte vor lauter Begeisterung damit herum. «Du glaubst nicht, wo ich den gefunden habe, er wächst unten am Fluss wild im Lehm; ich habe mir die Schuhe ganz dreckig gemacht.»

Alice hatte gerade den Boden der großen Kupferpfanne gescheuert. Sie setzte sie auf dem Metzgerblock ab, auf dem die Küchenmorde geschahen; dort wurden die Tauben und das andere Geflügel geschlachtet und ausgenommen, die sie für ihre Mahlzeiten zubereitete.

«Hervorragend, ganz hervorragend», sagte sie und kämmte ihren Pony, der beim heftigen Scheuern verrutscht war, wieder über den Talgbeutel auf der Stirn. «Ist dir noch nie aufgefallen, mein Schatz, dass eine ganze Ecke hinten im Garten von Rosmarin, Thymian und Estragon regelrecht überwuchert ist? Dort gibt es sie büschelweise.»

Gertrude war geknickt. «Und ich dachte, du würdest dich freuen.»

«Oh, das tu ich doch, Liebes, das tu ich. Wahrscheinlich ist es viel aromatischer, wenn es aus dem Lehmboden am Fluss dort unten kommt», sagte sie.

«Was gibt’s zum Abendessen», fragte Gertrude. Sie benutzte nie Fragezeichen. Die waren höchstens als Brandzeichen fürs Vieh zu gebrauchen, und mit Kommas konnte man sich den Mantel anziehen – aber beim Sprechen und Schreiben waren sie vollkommen nutzlos. Bei ihren Fragesätzen senkte sie die Stimme zum Ende hin, anstatt sie zu heben. Einige Zuhörer verwirrte das.

«Gebratenes Täubchen mit Wildreis und scharfer Soße aus Schalotten in Weißwein und einen Salat mit Öl und Estragonessig und einem Hauch gehobelten Trüffel, von dem, den Monsieur Dardaines Schwein für uns rausgeholt hat.»

«Ist das alles.»

«Ganz und gar nicht», erwiderte Alice. «Winzige grüne Erbsen mit Kräutern, neue Kartöffelchen aus dem Garten mit Minze und Petersilie, und frische Erdbeeren mit Himbeersoße und Schlagsahne. Und Wein.»

«Was gibt’s denn zu feiern», fragte Gertrude.

Alice wirkte gekränkt. «Um dir zu zeigen, dass ich dich liebe», sagte sie.

«Mich und gutes Essen.»

«Das auch.»

Gertrude stützte sich mit einer Hand auf den Metzgerblock. «Ich bin jetzt müde, jawohl, und ich gehe jetzt hoch, um mein Nickerchen zu halten; ungefähr zwanzig Minuten bevor du fertig bist, kann Chen mich rufen. Und Wein möchte ich nicht. Davon krieg ich Bauchschmerzen.»

Alice nickte, während sie in einer Holzschüssel eine Soße anrührte.

Gertrude stapfte lautstark die Steintreppe zum Schlafzimmer hinauf und ließ sich erschöpft aufs Ehebett fallen. Bevor sie sich auf dem Quilt ausstreckte, den sie den ganzen Weg aus den Staaten nach Bilignin in Südfrankreich mitgebracht hatte, zog sie die schmutzigen Sandalen aus. Bald hörte man sie schnarchen.

Ein kleiner Teil der Welt kannte Gertrude Stein als Großmutter der amerikanischen Avantgardeliteratur (1937 war sie dreiundsechzig Jahre alt), die die Schreibstile Hemingways, Andersons und vieler anderer beeinflusst hatte, Meisterin des geheimnisvollen und hermetischen (manche sagten auch automatischen) Schreibens, und als das Licht der Welt für ihre Geliebte und Lebenspartnerin Alice B. Toklas. Sehr wenige wussten, dass sie für ihr Leben gern Krimis und Mordgeschichten las, aber fast niemand wusste, dass sie und Alice selbst schon einige Mordfälle gelöst hatten: die Fälschung und den Mord im Louvre, das Geheimnis des Küsters, der starb, weil er die Weinende Madonna beschützte, das Trauerweiden-Verbrechen, und den verheerenden Hollywoodskandal um den Tod eines Starlets.

Zurzeit war sie en bloc, wie die Franzosen sagen – eine Schreibblockade hatte sie befallen, die durch nichts zu überwinden war. Sie saß nur da, den Stift in der Hand und das französische Schulheft mit den leeren, linierten Seiten vor sich, und überlegte und überlegte und überlegte, bis sich kleine Blutstropfen auf ihrer Stirn bildeten, wobei sie natürlich wusste, dass es sich nur um Schweiß handelte. Selbst der mysteriöse Tod von Madame Pernollet, der Frau des Hotelbesitzers drüben in Belley, half ihr nicht, mit dem Kriminalroman zu beginnen, den sie unbedingt schreiben wollte, besonders wo sie schon einen so wundervollen Titel im Kopf hatte, Blut auf den Esszimmerdielen1.

Jedes Mal, wenn sie eine Schreibblockade befiel – was zum Glück nicht oft geschah –, meinte Gertrude, es ergehe ihr wie jemandem, der sich die Pulsadern geöffnet hatte. Sie wollte la gloire, und zwar reichlich, aber sie hatte dreißig Jahre schreiben müssen, bevor sie ihn zu schmecken bekam. Erst als sie ein von ihr geschriebenes Buch als Autobiografie von Alice ausgab, gelang ihr der Durchbruch. Auf ihrer Reise durch Amerika im Jahre 1934 wurde sie vergöttert, und die beiden genossen jeden einzelnen Augenblick – die aufgeweckten, hübschen Studentinnen, die alten Freundinnen, die Professoren, die Polizei, die Flugzeuge, deren Ausblick sie an Kubismus und französische Kunst erinnerte. Sie liebten die Menschenmengen in Hollywood und den Mordfall, den sie beide gelöst hatten – oh, Millionen und Abermillionen von Dingen, alle in Gertrudes Hinterkopf gespeichert, von wo sie sie abrufen konnte, wenn sie wieder zum Schreiben kam … was für eine wundervolle Erfahrung! Nur dass jetzt leider alles vertrocknet war. Verdorrt, bei Gott. Verflucht. Vorbei. Aufgehört. Terminé.

Nachdem sie ein paar Minuten tief geschlafen hatte, wachte sie noch einmal langsam auf und lag, halb dösend, groß und schwer im Bett. Sie hörte, dass Alice unten noch immer in einer Schüssel rührte. In der Ferne bimmelte eine Kuhglocke. Die Heuschrecken sangen irgendwo draußen ihr monotones Lied. Ein Wagen rumpelte über Kopfsteinpflaster.

Sie reckte ihre Arme aufwärts, fast als würde sie eine Gottheit anbeten, und ließ sie wieder fallen.

«Ah, la gloire!», murmelte sie, drehte sich auf die Seite und begann wieder zu schnarchen. Ihr letzter bewusster Gedanke war: «Zur Hölle mit Hemingway.»

Alice sah durchs Küchenfenster in den Garten und betrachtete zufrieden die frisch getrimmten Buchsbaumhecken mit ihren glänzenden Blättern und den Haufen Unkraut, den der junge Pierre Desjardins gerade gejätet hatte. Was für ein stattlicher junger Bursche! Ein blonder Kerl von einem Mann, mit nacktem Oberkörper, die Haut glänzend vor Schweiß. Seine Muskeln wirkten wie eine idealische Landschaft – Hügel und Täler, braun und wunderschön, allesamt in unablässiger Bewegung, aufwärts und abwärts, während er mit der Hacke arbeitete –, und als er sich nach ein paar letzten Unkrauthalmen bückte, zeichneten sich seine prachtvollen Schenkel unter dem dünnen blauen Stoff der Arbeitshose ab und sein Bizeps schwoll an, auch die Muskeln im Unterarm korrespondierten mit den Bewegungen seiner Hände.

«Auch wenn ich meinen Schatz liebe», murmelte sie, «kann ich die Schönheit noch immer bewundern, wie und wo sie mir auch begegnet.»

Was für ein Jammer, dass solch ein schönes junges Geschöpf von Geburt an behindert war. Er war taubstumm, un sourd-muet. Sie verständigte sich mit ihm in Zeichensprache – nicht durch Lippenlesen – und in Bilignin war sie neben seinem Vater die Einzige, die das konnte. Wenn sie mit ihm sprach, wurden ihre schmalen Hände zu Schmetterlingen, zu kleinen blitzschnellen Kolibris, sie zuckten und flatterten, schwiegen und gestikulierten. Es fiel ihr leicht, denn in ihrer Jugend war Alice eine versierte Pianistin gewesen.

Alice erinnerte sich, dass Gertrude und sie lange über den jungen Mann gesprochen hatten, bevor sie ihn engagierten, einmal in der Woche bei ihnen zu arbeiten. Alice, die selten etwas vergaß, erinnerte sich an jedes einzelne Wort …

«Mir gefällt das nicht, mir gefällt das ganz und gar nicht», hatte Gertrude gesagt.

«Was denn, mein Schatz?»

«Dass du die Einzige wärst, die mit ihm reden kann. Du weißt, wie gerne ich mich unterhalte, mit Nachbarn und überhaupt. Daraus ziehe ich viele Ideen für meine Arbeit als Schriftstellerin, und es macht mich rasend, dass ich es mit ihm nicht kann.»

«Sag mir einfach, was du wissen möchtest, und ich stelle ihm deine Fragen», sagte Alice.

«Also gut. Frag nach seinem Vater Grand Pierre, ob der alte Mann vorhat wieder zu heiraten, und ob er eigentlich zur Schule geht und womit er später sein Geld verdienen will, all so was eben.»

Alice seufzte. «Was für ein schöner junger Mann. Dieses Gesicht und dieser Körper. So rein. Besser als der David. Oder Antinoos. Ich glaube, ich könnte mich fast in ihn verlieben.»

«Mir geht es genauso», sagte Gertrude. «Sind wir jetzt andersrum.»

«Oh, sag so was nicht», kicherte Alice. «Da sei der Tod vor.»

«Und dieser Körper, Grundgütiger, er muss mindestens zwei Meter groß sein.»

«Eins dreiundachtzig», sagte Alice. «Ich habe ihn gefragt.»

«Aber es gefällt mir trotzdem nicht», sagte Gertrude verdrießlich. «Dass du die Einzige bist, die mit ihm sprechen kann.»

«Du könntest es lernen, Schatz.»

Gertrude betrachtete die dicken Finger an ihren Händen. «Ich bin zu ungeschickt», sagte sie. «Und zu faul. Warum soll ich es nicht zugeben.» Ihr Gesicht bekam einen nachdenklichen Ausdruck. «Ich frage mich, wie seine Stimme klingt, das frage ich mich.»

«Er hat keine Stimme», sagte Alice. «Ich habe sie nie gehört. Vermutlich ist es ein Krächzen.»

«Meinst du, er ist … auch so.»

«Und wennschon», lächelte Alice. «Die kaputten Gefäße machen das wieder wett. Er könnte Mann oder Frau sein.»

«Sieh ihn dir doch an», sagte Gertrude. «Er ist ein Mann.»

«Ich hab ihn mir angesehen.»

«Sein Vater ist überfürsorglich. Ein Tyrann.»

«Aber der sieht selbst auch gar nicht schlecht aus», sagte Alice. «Dieser Bauernkörper, die großen Hände, der kleine … äh … derrière

«Hey, das geht zu weit», sagte Gertrude finster.

«Du hattest dein Abenteuer», sagte Alice etwas bitter. «Warum darf ich das nicht? Du hast Madeleine Rops angeschmachtet. Und Suzanne. Warum soll ich nicht auch meinen Augenschmaus haben?»

«Weil du mein bist und ich dein, und mehr ist dazu nicht zu sagen und war es schon seit dreißig Jahren nicht, und das bleibt auch in Zukunft so, hoffe ich, und du auch.»

«Du bist süß», sagte Alice.

«Ich muss aber zugeben», sagte Gertrude, «dass der Junge von allen Leuten in Bilignin am besten aussieht, und nicht nur das. Ich frage mich, welche Landpomeranze ihn einmal abbekommt, wahrscheinlich irgendein Flittchen aus der Umgebung mit Hasenzähnen oder irgendein spindeldürrer Junge, ich nehme an, er hatte schon Erfahrung, bei dem Aussehen geht das ja gar nicht anders.»

«Ja», sagte Alice. «Aber in Bilignin leben nicht mal zwanzig Menschen, also hat er nicht viele Rivalen, gegen die er antreten muss.»

«Trotzdem», sagte Gertrude.

Alice fuhr fort. «Sein Vater ist schrecklich eifersüchtig, irgendwie komisch, ich meine, er lässt ihn kaum aus dem Haus. Und seit die Mutter tot ist …»

«Woran ist sie gestorben», fragte Gertrude.

«Irgendeine geheimnisvolle Krankheit. Sie soll noch Tage später im Dunkeln geleuchtet haben.»

«Grundgütiger», sagte Gertrude. «Was um alles in der Welt …»

Alice zuckte mit den Schultern. «Irgendeine Medizin, Gift. Vielleicht Phosphor. Für das Knochenmark.»

«Der Vater ist nett», sagte Gertrude.

«Furchtbar jähzornig», sagte Alice. «Einmal ist er auf eine Harke getreten, und die ist ihm dann gegen den Kopf geschlagen, da ist er so wütend geworden, dass er sie in tausend Stücke geschlagen hat.»

«Ts», machte Gertrude.

«Von so einem Vater großgezogen zu werden», sagte Alice, «der einen nie rauslässt, außer am Samstagabend, um im Dorf Boules zu spielen, und dann kommt Papa mit und passt auf, dass er keinen Ärger macht oder mit einem der Mädchen redet.»

«So wie’s aussieht, wird er bestimmt einer von uns.»

«Kann sein. Aber er hat’s geschafft, dass Pauline aus Belley verrückt nach ihm ist.»

Gertrude brummte missbilligend. «Die ist ein Flittchen. Die ist nach allem verrückt, dem was in der Hose baumelt.»

«Sei nicht vulgär, Liebes», sagte Alice.

«Ist meine Sache», sagte Gertrude und stapfte aus der Küche.

Alice seufzte, weil Gertrude es immer schaffte, das letzte Wort zu behalten, und rührte weiter in der Schüssel.

2. KLEINE PROBLEME HIER UND DA

In der Küchentür erschien ein Faun mit nacktem Oberkörper und in verschlissener Hose.

Alice stellte ihre Schüssel ab. «So früh?», fragte sie ihn.

«Ja», seine kräftigen, gebräunten Finger zuckten. «Die Buchsbaumhecke ist gestutzt und alles ist erledigt. Ich kann noch nicht viel mit den Rosen machen», sagte er. «Die Büsche sollten erst Anfang des Jahres wieder beschnitten werden. Aber ich komme dann und erledige das, wenn Sie in Paris sind.»

Alices Finger flimmerten. «Du bist ein guter Junge», und dann: «Wie geht es dir? Wirst du im Herbst wieder auf die Gehörlosenschule gehen?»

«Wenn ich meinen Vater überzeugen kann», antwortete er. «Er möchte, dass ich bleibe und ihm bei der Arbeit helfe. So Sachen wie Kühe melken und füttern, und mich um die Weinstöcke kümmern. Sie wissen schon, was auf einem Weinberg so anfällt.»

Das Zeichen für «Melken» brachte Alice ein wenig durcheinander. Es erinnerte sie an andere Dinge.

«Natürlich», sagten ihre Finger. «Und geht es dir gut?»

Ein Runzeln verfinsterte seine glatte Stirn, löste sich dann jedoch wieder auf wie eine Wolke im Sommer. «Ach ja», sagte er, doch seine Finger bewegten sich zögernd.

«Stimmt etwas nicht?»

Er schüttelte den Kopf, blickte dabei jedoch zu Boden und drehte den rechten Fuß verlegen hin und her. «Mein Vater», sagte er – und seine Zeichen kamen langsam. «Er streitet sich mit Monsieur Debat.»

Alice machte ein Zeichen der Ungeduld und dann der Zustimmung.

«Mach dir nichts draus», sagten ihre Finger. «Jeder streitet mit Debat. Worum geht es denn?»

Wieder schaute der junge Mann zu Boden. «Ich weiß es nicht genau. Es geht um irgendetwas, das Vater gehört.»

Alice kam näher und tätschelte ihm die Schulter. Seine Haut war warm und feucht. «Mach dir nichts draus», wiederholte sie. «Das geht vorbei. Ich wünschte, Debat würde irgendwo anders hinziehen. Keiner mag ihn.»

Der junge Mann seufzte und seine Finger beschrieben ein verschlungenes Muster. «Das kann er leider nicht. Seine Frau ist tot und er wird in Bilignin bleiben. Wie mein Vater, wo Mutter doch auch tot ist. Ohne eine Frau will auch er nicht wegziehen. Wir müssen auf dem Lande leben, wie Debat.»

«Ach ja», erwiderte Alice. «Ihr mit euren Weinbergen und er mit seinem Getreide. Es ist eine Schande.»

«Wir können das nicht aufgeben», sagte der junge Mann. «Genauso wenig wie er. Alle Franzosen lieben das Land.»

«Du wirst noch lernen, glücklich und zufrieden zu leben», sagte Alice.

Der Junge schaute wieder zu Boden, und seine Hände, auf der Höhe des Schrittes, erwiderten: «Das hoffe ich.»

«Dann geh nach Hause», ermunterte ihn Alice, «und übe dich in Zufriedenheit. Kommst du nächste Woche wie gewohnt?»

«Natürlich.»

«Dann solltest du vor dem Château das Unkraut jäten und das Eisentor streichen.»

«Verstanden», sagte der junge Mann und sein Gesicht erhellte sich zu einem Lächeln.

Alice tätschelte noch einmal seine Schulter und ihre Finger sagten: «Mach dir keine Sorgen, das wird schon wieder.»

«Vielleicht», sagte der Junge. Er nahm sein Werkzeug auf und wandte sich zum Gehen, lächelte Alice noch einmal zu und berührte zum Abschied mit einem Finger die Stirn.

Sie schaute ihm hinterher, als er den Pfad hinunterging – sein geschmeidiger Körper in anmutiger Bewegung, die Hacke über der bloßen Schulter, der schmale Hintern und die glatten starken Schenkel, an die sich die blaue Hose eng anschmiegte. Beim Gehen tanzten seine Rückenmuskeln einen langsamen Trepak. Auf halber Strecke den Pfad hinunter stellte er den Eimer ab, nahm die Hacke auf die andere Schulter und hob den Eimer mit der anderen Hand wieder auf. Sein Rücken war von der Sonne zu einem dunklen Rotbraun gebrannt und ein schmaler Streifen Haare zog sich hinab bis unter seine Gürtellinie. Alles in allem war es ein bildschöner muskulöser Körper, und Alice seufzte.

«Mein Gott», sagte sie sich. «Was ist dieser Junge doch für eine Schönheit. Wäre ich nicht so, wie ich bin, oder wenn ich schwul wäre, würde er noch vor Sonnenuntergang mir gehören, komme, was da wolle.» Sie seufzte und ging zurück ins Château.

Etwas später kam Gertrude die Treppe hinunter in die Küche und gähnte herzhaft. Sie hatte einen Leinenrock angezogen und trug eine rosa Chiffonbluse mit Glockenärmeln unter einer gelben Steppweste. Ihre leichten Wollsocken passten gut zu den braunen Sandalen. Der Wirbel am Hinterkopf stand widerspenstig aus ihrem römischen Kurzhaarschnitt hervor. Sie benutzte nur selten einen Kamm, sondern glättete ihre Haare einfach mit den Händen, was bei ihrem römischen Senatorenlook kein Problem war.

«Konnte nicht wirklich schlafen», verkündete sie.

«Schade», sagte Alice.

«Ist P’tit Pierre schon weg», fragte sie.

«Seit ungefähr einer halben Stunde.»

«Verdammt, ich wünschte, ich könnte so wie du mit ihm sprechen.»

«Das hast du schon mehrfach gesagt», sagte Alice. «Aber wozu? Er hat nicht viel zu sagen und ich kann ihm alles über den Garten erzählen. Wenn du willst, kannst du ja die Gebärdensprache lernen.»

«Nicht mit meinen Wurstfingern», sagte Gertrude. «Aber du weißt doch, wie gern ich mit den Leuten rede und ihnen zuhöre. Ich will alles über jeden erzählt bekommen, und zwar laut und deutlich. Ich will wissen, wie das mit ihm und seinem Vater ist, meinst du, sie können irgendwas miteinander anfangen, wie kommen sie zurecht, seit die Mutter tot ist, wer näht, wer kocht, das möchte ich natürlich wissen, und wenn ich’s nicht weiß, ärgert es mich.»

Alice seufzte. «Das hast du mir alles schon mal erzählt», sagte sie.

«Ich weiß», sagte Gertrude. «So funktioniert nun mal mein Gehirn.»

«Es ist ein Zeichen von Senilität.»

«Ist es nicht», sagte Gertrude bestimmt. «Erinnerst du dich nicht an Die Jagd nach dem Schnark, dort steht, wenn ich dir etwas drei Mal sage, dann weißt du, dass es wahr ist.»

«Na schön», sagte Alice. «Beim nächsten Mal werde ich ihn das alles fragen.»

«Das ist dann immer noch kein richtiges Gespräch», brummelte Gertrude.

«Wenn ich es mir recht überlege, dann ist doch etwas mit P’tit Pierre nicht in Ordnung», sagte Alice und stützte sich mit beiden Händen auf dem kalten Herd ab.

Gertrude war begeistert. «Was ist es, sag es mir sofort. Es gibt nicht viel, was wir uns erzählen könnten, bevor die Gäste kommen, und du weißt, wie sehr ich Klatsch liebe, und du und ich, wir haben schon fast nichts mehr zu bereden, und wann kommen die nächsten Gäste überhaupt.»

«Johnny McAndrews wollte in zwei Wochen hier sein. Und Cecil Beaton und Francis Rose etwas später.»

«Diese beiden Schwuchteln», sagte Gertrude mit leichter Verachtung.

«Aber, aber, Schatz», sagte Alice. «Sprich nicht schlecht von deinen Pilgern und Anhängern. Und, was das betrifft, auch von dir.»

«Hmpf. Frauen sind keine Schwuchteln, alle Schwuchteln sind männlich.»

«Du meinst, so wie Radcliffe-Hall?»

Gertrude beschloss diesen Einwurf zu überhören. «Erzähl mir, was mit P’tit Pierre los ist, nun mach schon.»

«Nun, irgendetwas macht ihm Sorgen», sagte Alice. «Er wirkte auf mich ein bisschen wie ein geprügelter Hund, als ob irgendetwas schiefgelaufen wäre oder als hätte ihn jemand irgendwie verletzt.»

«Wie kannst du denn das alles an seinen Fingern ablesen.»

«Na, komm», sagte Alice. «Bei einem Taubstummen ist man doch nicht nur auf die Finger angewiesen. Wie bei jedem anderen schaut man auf das große Ganze. Da ist zum Beispiel die Körpersprache. Daher komm ich darauf. Durch seine Gesten. Erstens drehte er den einen Fuß immer hin und her, und zweitens schaute er mir nicht ins Gesicht. Man liest all die Zeichen zusammen. Irgendwas ist ihm zugestoßen, über das er nicht sprechen möchte. Oder über das er zumindest nicht sprach.»

«Wir müssen herausfinden, was», sagte Gertrude. «Irgendwie.»

Alice nickte weise. «Das werden wir, Schatz. Das werden wir.»

3. EINE VERPASSTE CHANCE

Gertrude und Alice liebten diese Ecke Frankreichs, in der sie den Sommer und den Herbst verbrachten. In der Provinz Ain schien der Himmel weiter zu sein als irgendwo sonst in Frankreich, und die Luft war kühler und klarer. Eines Tages vor zehn Jahren hatten sie die Gegend bereist und über einem weiten und fruchtbaren Tal ein altes Château mit einer niedrigen Böschungsmauer erblickt.

«Da muss ich leben», sagte Gertrude.

«Das könnte schwierig werden», sagte Alice. «Da wehen Gardinen im Wind. Es ist offensichtlich bewohnt.»

«Trotzdem», sagte Gertrude.

Es war tatsächlich bewohnt, und zwar von einem Offizier, der nicht die geringste Absicht hegte wegzuziehen. Aber als Gertrude und Alice nach Paris zurückkehrten, ließen sie hier und da verschiedenen Freunden gegenüber ein paar Worte fallen, mit dem Ergebnis, dass der erstaunte Offizier sich plötzlich mit einer Beförderung versehen auf einem weit entlegenen Posten wiederfand. Und Gertrude und Alice bezogen kurz darauf das alte Château in Bilignin.

Es war der perfekte Ort für sie. Es gab einen kleinen französischen Garten mit einigen von Hecken eingefassten Blumenbeeten, und vom Garten und aus den Fenstern hatten sie über die niedrige Mauer hinweg freie Sicht auf ein dunkles und nebliges bewaldetes Tal und einen Ring blauer Berge, mit dem Mont Blanc im Hintergrund. Zur anderen Seite hin war das Haus von einer hohen Mauer und einem Eisentor geschützt. Als sie einzogen, modernisierten sie das alte Château ein bisschen, mit einem neuen Warmwassersystem und einem neuen Herd für die Küche. Den Rest des Hauses beließen sie mehr oder weniger in seinem alten Zustand, und eines Tages entdeckte Johnny McAndrews mithilfe eines feuchten Tuches und durch vorsichtiges Ziehen, dass die Tapeten Lage um Lage durch die Zeiten der Revolution und des Empire bis hin zu Ludwig XVI. zurückreichten. Der hohe Salon im Erdgeschoss war mit Trompe-l’œil-Darstellungen von Jagdhörnern und Obstkörben dekoriert, und dort stand Gertrudes geliebter alter Schaukelstuhl, eine Art Thron, auf dem nur sie sitzen durfte.

Ein Strom von Besuchern und Pilgern setzte ein, einige kamen in das alte Château, um Gertrude die Ehre zu erweisen, andere waren einfach alte Freunde. Und hier wohnten die beiden also mit ihren Hunden Basket und Pepe von April bis Oktober und bewirteten die Gäste, die aus Paris kamen, um sie zu besuchen.

Gertrude und Alice waren recht beliebt bei den fünf Familien, die in dem Dörfchen Bilignin lebten, und auch bei vielen aus der nahe gelegenen Ortschaft Belley. Aber zwei ihrer Nachbarn, einen Mann und eine Frau, konnten weder Gertrude noch Alice ausstehen. Die eine war Mademoiselle Guerre, ein uralter Truthahngeier von Frau, die im Mittelalter noch als Hexe gegolten hätte. Sie lebte in Belley und somit drei Kilometer abseits der üblichen Pfade von Gertrude und Alice.

Der andere war Monsieur Debat und mit ihm hatten sie nicht so viel Glück. Er war ein kräftiger, griesgrämiger, gut aussehender Mann in den Vierzigern, auch wenn alle ihn nur den Alten Debat nannten. Ihm gehörte ein Stück Land im Tal unterhalb des Châteaus, und sein Weg dorthin führte ihn jeden Morgen durch ihr Blickfeld. Anfangs hatten Gertrude und Alice noch mit einem höflichen «Bonjour» versucht, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Doch da sie von ihm nie etwas anderes als ein Grunzen oder ein bloßes Starren zur Antwort erhielten, gaben sie es bald auf, freundliche Umgangsformen zu pflegen. Außerdem erfuhren sie, dass jeder in Bilignin den Alten Debat hasste; geradezu verabscheut aber wurde er von Pierre Desjardins Vater – Grand Pierre, wie er im Dorf hieß, während sein attraktiver Sohn Petit Pierre genannt wurde, obwohl er einige Zentimeter größer als sein Vater war.

Es war ein klarer und frischer Montagmorgen, und noch lag der Tau schwer auf den Hecken und Rosenbüschen im Garten. Alice beschnitt mit einer Gartenschere einige Pflanzen, an die sie P’tit Pierre nicht heranlassen wollte. Mit ihrer schmalen, gebeugten Gestalt (sie wurde in diesem Jahr sechzig), ihrem Pony und dem leichten Schnurrbart sah sie aus, als lebte sie schon seit ewigen Zeiten in diesem Garten.

Sie schaute über die niedrige Schutzmauer hinweg, weit in die flache Ebene des Tals hinein. Der Alte Debat hatte mit dem Pflügen schon begonnen und ging hinter dem Pferd her, das den Pflug zog. Er war so weit entfernt, am hinteren Ende, wo sein Acker von Bäumen und Unterholz begrenzt wurde, dass Alice ihn kaum erkennen konnte.

«Basta!», sagte sie mit James’scher Inbrunst und wollte gerade wieder mit dem Stutzen fortfahren, als sie eine weitere Figur sah, einen Mann, der zügig auf den Alten Debat zuschritt.

«Wer kann das wohl …», sagte Alice und spurtete quer durch den Garten zum Salon. Sie lief durch die große Tür und nahm sich das Fernrohr, das auf dem Klavichord lag. Dann eilte sie zurück durch den Garten, zog das Rohr zu seiner vollen Länge aus und entfernte die Schutzkappe von der Linse. Das aus Messing und Leder zusammengefügte Fernrohr gehörte zu ihren Lieblingsgegenständen, und sie zog es Gertrudes ausgezeichnetem Fernglas vor.

Allerdings war es nicht leicht zu handhaben – fast einen Meter lang, und kaum ruhig zu halten. Sie kniete an der Schutzmauer und balancierte das Fernrohr auf dem groben Feldstein. Das Pferd und Monsieur Debat waren plötzlich klar und deutlich zu erkennen. Als sie das Fernrohr ein Stück nach rechts bewegte, sah sie den anderen Mann das Feld entlanglaufen. Er hatte einen Arm erhoben – wer war das? Sie kniff die Augen zusammen und endlich konnte sie ihn erkennen. Es war Grand Pierre.

Fast rannte er auf Debat zu, der sein Pferd anhielt und sich umdrehte.

«Grundgütiger!», sagte Alice laut. Sie würde gleich Zeugin einer Auseinandersetzung werden. Durch ihre Aufregung wackelte das Fernrohr noch mehr als zuvor. Der Schatz würde ihr nie verzeihen, wenn sie ihr nicht Bescheid sagte.

Alice lief zurück ins Haus und rief die Treppe hinauf: «Komm, Schatz, schnell! Bring dein Fernglas mit. Beeil dich!»

«Was», brüllte Gertrude.

«Beeil dich!», rief Alice. «Vielleicht bekommen wir gleich einen Streit zu sehen.»

«Was», brüllte Gertrude wieder.

«Verdammte Schwerhörigkeit», murmelte Alice und versuchte es noch einmal. Aber sie musste es noch ein weiteres Mal wiederholen. Ohne noch länger zu warten, flitzte sie dann zurück in den Garten, kniete sich an die Mauer und brachte das Fernrohr erneut in Position.

Außer Debat war niemand zu sehen. Das Pferd hatte am bewaldeten Ende des Feldes gewendet und zog nun eine neue Furche in Richtung Alice und Château. Sie musterte Debats Gesicht – ein hartes und grausames Gesicht. Er schien errötet und verschwitzt – aber warum auch nicht? Die Sonne stand am Himmel wie ein praller, heißer Ball und Pflügen war eine anstrengende Arbeit.

Doch wo war Grand Pierre?

Gertrude kam mit dem Fernglas in der Hand aus dem Haus gelaufen. «Was gibt’s denn, Muschi, was um alles in der Welt ist denn los.»