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Verlagstext

Die Aufsätze in diesem Band erkunden die vielfältigen Praktiken und Strategien von marginalisierten Homosexuellen, Spielräume zu eröffnen und zu erhalten. Das Verfertigen von Texten wird dabei konsequent als gleichrangige Praktik neben anderen begriffen. Von Spielräumen handeln die Fabeln der Literatur ebenso wie ihre Sujets. Wie schreiben jene, die nicht über die Macht verfügen, auf die Regeln der Poetik einzuwirken, aber doch öffentlich sprechen möchten? Und wo publizieren sie? Wie sprechen sie, ohne sich gänzlich den kulturellen Normen zu unterwerfen, die präzise festlegen, wer unter welchen Bedingungen das Wort ergreifen darf? Welche Masken trägt die schreibende Hand, wenn sie sich immer neu die Chance zur Intervention herausspielen muss? Und was lernten wir für unser Handeln von der Kraft und der Grazie des Handelns anderer, die ebenfalls für Vernehmbarkeit kämpften?

Über den Autor

Dirck Linck studierte Germanistik und Geschichte an den Universitäten Hamburg und Hannover, war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsschwerpunkt «Homosexualität und Literatur» der Universität-GH Siegen sowie am Sonderforschungsbereich «Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste» der Freien Universität Berlin und der Humboldt-Universität zu Berlin. Er promovierte mit einer Arbeit über Josef Winklers Romane und war von 1996-2007 Mitherausgeber und Redakteur der Zeitschrift «FORUM Homosexualität und Literatur». Zahlreiche Veröffentlichungen u.a. zu queerer Kunst, Ästhetik, Pop-Literatur und Literaturgeschichte. Er lebt in Berlin.

Dirck Linck

Creatures

Aufsätze zu Homosexualität und Literatur

Männerschwarm Verlag

Hamburg 2016

Wir danken dem Institut für deutsche Literatur an der Humboldt-Universität Berlin und der August-von-Platen-Stiftung an der Universität Siegen für die freundliche Unterstützung.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet die Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.ddb.de abrufbar.

Dirck Linck: Creatures

Aufsätze zu Homosexualität und Literatur

© Männerschwarm Verlag, Hamburg 2016

Umschlaggestaltung: Carsten Kudlik, Bremen, unter Verwendung einer Porträtaufnahme Irving Rosenthals von Jack Smith

1. Auflage 2016

ISBN Printausgabe: 978-3-86300-221-3

ISBN Ebook: 978-3-86300-226-8

Männerschwarm Verlag

Frankenstraße 29 – 20097 Hamburg

www.maennerschwarm.de

Inhalt

Vorbemerkung

«Welches Vergessen erinnere ich?»

Josef Winkler

«Perrudja»

Gesellschaft als ästhetische Erfahrung

«Männer, Frauen und die übrigen Geschlechter»

«Nun ist alles anders.»

«Die Reinheit fand Jäcki furchtbar.»

«Mourning and Militancy»

Der Hipster Irving Rosenthal

Camp Genius

Nachweise

Vorbemerkung

Die ältesten der hier versammelten Aufsätze wurden in einem Land geschrieben, das es nicht mehr gibt. Zwischen ihnen und heute liegen die zu Beginn der 90er Jahre auch von notorischen Pessimisten nicht vorhergesehenen materiellen und geistigen Verheerungen einer neoliberalen Austeritätspolitik, von der die Nachkriegsordnung Europas zerschlagen und auch die Idee der Sozialstaatlichkeit nachhaltig diffamiert worden ist, jene Idee, die in der Bonner Republik den allmählichen Zugang vorher illegitimer Subjekte zu Öffentlichkeit, Hochschulen und Kunstinstitutionen überhaupt erst möglich gemacht hatte (Subjekte übrigens, von denen man sich eine qualitative Veränderung dieser Öffentlichkeit, mindestens aber eine Vervielfältigung der Perspektiven auf die Welt erhoffte). Zwischen den alten Texten und heute liegt außerdem eine Universitätsreform, die aus der Logik dieser Politik hervorging, von der sämtliche Bereiche des Lebens einem rigorosen unternehmerischen Kalkül unterworfen werden, für das etwa universitäre «Homo-Studien» sich schlicht nicht auszahlen; liegt eine scharfe konservative Wende der schwulen Community, die das Begehren nach Veränderung des Ganzen durch ein Begehren nach Teilhabe am Ganzen ersetzte; liegt zuletzt das individuelle Ereignis einer Erkrankung, die meine Arbeitsfähigkeit zunehmend lahmlegt.

Das Angebot des Männerschwarm-Verlags, ausgerechnet in dieser prekären Lage eine Sammlung meiner Aufsätze herauszubringen, fand ich nicht nur deshalb verlockend, weil es meiner Eitelkeit schmeichelte. Vor dem Hintergrund der radikalen gesellschaftlichen Transformation, die dadurch entstanden ist, dass alle Felder dieser Gesellschaft und schließlich die Subjekte selbst in den Dienst des souveränen Finanzregimes gestellt wurden, scheint mir vielmehr genau jene Frage, die das Band zwischen den hier wieder vorgelegten Texten knüpft, dramatisch an Dringlichkeit gewonnen zu haben: die Frage, wie Menschen, die komplett ohne Macht sind, eigentlich handlungsfähig werden und bleiben. Wie können Menschen gegen die Verhältnisse etwas werden, also sinnlich-praktisch verhindern, dass sie in ihnen das bleiben müssen, was sie sein sollen? Nicht erst seit der AIDS-Krise sind Schwule auf diesem Kampfplatz erfahrene Veteranen, die wir befragen können. Die Aufsätze, die ich zusammen mit den beiden Verlegern ausgewählt habe, gelten ausnahmslos den vielfältigen Praktiken und Strategien von marginalisierten Homosexuellen, sich Spielräume zu eröffnen und diese zu erhalten. Das Verfertigen von Texten wird dabei konsequent als Praktik neben gleichrangigen anderen Praktiken begriffen. Von Spielräumen handeln die Fabeln der Literatur ebenso wie ihre Sujets. Wie schreiben jene, die nicht über die Macht verfügen, auf die Regeln der Poetik einzuwirken, aber doch öffentlich sprechen möchten? Und wo publizieren sie? Wie schreiben sie, wenn das, was sie vermeintlich definiert, als unnennbar gilt und vielleicht zugleich als etwas zurückgewiesen werden soll, das sie eben nicht oder nicht dauerhaft zu definieren vermag? Wie sprechen sie, ohne sich gänzlich den kulturellen Normen zu unterwerfen, die präzise festlegen, wer unter welchen Bedingungen das Wort ergreifen darf? Welche Masken trägt die schreibende Hand, wenn sie sich immer neu die Chance zur Intervention herausspielen muss? Und was lernten wir für unser Handeln von der Kraft und der Grazie des Handelns anderer, die ebenfalls für Vernehmbarkeit kämpften?

Die Begriffe des Spielraums und des Spiels verwende ich für meine Lektüren in einem denkbar unemphatischen Sinn. In der deutschen Sprache gibt es die aus dem Bereich der Mechanik stammende eigentümliche Formel des ‹Spiel habens›, die eine gewisse Beweglichkeit innerhalb gegebener Begrenzungen beschreibt. Die Dinge, die nicht völlig festgestellt sind, haben noch Spiel, können sich aber nicht frei bewegen. Sie sind beweglich nur im Rahmen des Raums, den die Grenzen setzen. Ich möchte dieses ‹Spiel haben› in meinen Aufsätzen als eine etwas nüchterne Metapher politischen Handelns erläutern. Die Formel zeigt das Thema der Aufsätze an: queere Beweglichkeit in den Grenzen unwirtlicher Verhältnisse. Als Zeitkunst stellt die Literatur kulturelle Formen dieser Beweglichkeit in der Dynamik ihrer Abläufe dar, indem sie seit Jahrtausenden davon erzählt, wie die anderen Leute Formen für ihr Leben erproben – und sie ist als kritische menschliche Praxis der Abstraktion und Verwandlung selbst eine kulturelle Form dieser ständig neue und nicht feststellbare Formen generierenden Beweglichkeit.

Die Realisierung eines emphatischen Spielbegriffs hingegen, also das Schaffen wirklicher Bedingungen für ein ganz bewegliches Leben, das als freies Spiel der Kräfte und Vermögen die Geltung von fixierenden Grenzen grundsätzlich in Zweifel zieht, ist nicht mehr eine Sache der Kunst, sondern wäre die Sache einer Revolution. In meinen Aufsätzen geht es um die Literarisierung der historischen Strategien von Schwulen, sich innerhalb der vorgefundenen schlechten Verhältnisse sichtbar und vernehmbar zu machen. Das ist weit weniger als eine Revolution, aber es ist nicht wenig. Und ich würde mir wünschen, mit meinen Texten zu einer Würdigung dieser immer neu in die Verhältnisse eingreifenden Strategien beizutragen, die sich gerade nicht in der Verkörperung einer Identität erfüllen, sondern in der fortwährenden Arbeit am Wandel der Formen.

Die Texte blieben im Wesentlichen unverändert, sind aber alle noch einmal durchgesehen worden. Sachliche Fehler wurden ebenso korrigiert wie mir fremd gewordene grammatische Konstruktionen, überlebte sprachliche Idiosynkrasien und Aussagen, die mir heute als zweifelhaft erscheinen. Wo ich glaubte, eine Sache jetzt genauer sagen zu können als damals, habe ich es getan. Informationen, die sich für den Leser aus dem Kontext des Erstdrucks ergaben, habe ich für diese Ausgabe nachgetragen. Der Vortrag zum «Camp Genius» erscheint hier zum ersten Male.

In meinem beruflichen Leben habe ich viel Glück gehabt und deshalb Anlass genug, vielen dankbar zu sein, die am Eintreffen des Glücks beteiligt waren und ohne die meine Texte gar nicht oder jedenfalls nicht so entstanden wären. Erwähnt werden sollten in diesem Zusammenhang neben dem mächtigen Zufall unbedingt die im Gespräch immer wieder allen Uni-Frust wettmachenden Studierenden in Hannover, Siegen und Berlin, die guten Leute in den Hochschulverwaltungen, die nicht gegen, sondern für mich (und damit häufig gegen die Aktenlage) agierten, außerdem meine Kolleginnen und Kollegen am Siegener Forschungsschwerpunkt «Homosexualität und Literatur» sowie am Berliner Sonderforschungsbereich 626 und am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität, schließlich die Mitherausgeber und die Autor/inn/en der Zeitschrift FORUM Homosexualität und Literatur, deren Redakteur ich lange Zeit war.

Besonderes Glück hatte ich mit meinen «Chefs», weil sie mir über all die Jahre so selten als Chefs begegnet sind. Vor kurzem ist die deutsche Übersetzung des wunderbaren Buchs Rückkehr nach Reims erschienen, das Didier Eribon über die Schwierigkeiten geschrieben hat, sich als Schwuler und Arbeiterkind einen Pfad durch das bürgerlich geprägte Bildungssystem und die dornige Universitätslandschaft zu schlagen. Ohne Glück ist dies noch niemals jemandem gelungen; unterdessen aber hat die Lage sich für Leute mit der falschen Abkunft derart drastisch verschärft, dass wohl auch Glück nicht mehr weiterhilft. Ich danke also Wolfgang Popp, Jürgen Peters, Michael Lüthy, Gert Mattenklott, Gertrud Koch und Joseph Vogl für meine Spielräume in den vergangenen Jahrzehnten. Dem Andenken Gert Mattenklotts sei dieses Buch zugeeignet.

Berlin, im August 2016

«Welches Vergessen erinnere ich?»

Zum Umgang der aufklärerischen Ästhetik mit einem Tabu

Für Peter Sonntag

Geschichtsschreibung sieht sich angewiesen auf das Produktionsvermögen Erinnerung. Wir beziehen uns, die Gegenstände der Historiographik legen dies nahe, auf das, was wir erinnern, nicht auf das, was wir vergessen haben. Der Geschichtsschreiber kann aber im Auge behalten, dass er vergisst. Dass er womöglich das Wichtigste vergessen hat. Wir wurden statt dessen daran gewöhnt, uns das Gedächtnis nach dem Modell eines Speichers vorzustellen, in dem Wichtiges aufbewahrt wird. Was nicht aufbewahrt wurde, kann nicht wichtig gewesen sein. Das konnte man vergessen. Mittels dieses Speichermodells gelingt es, aus uns Ähnlichem und uns Unähnlichem einen historischen Raum der Notwendigkeiten und Kausalitäten zu konstruieren, in dem der Punkt unserer jeweiligen Gegenwart immer sinnvoll mit lokalisierbaren Punkten der Vergangenheit verbunden ist. Diese sinnstiftende Form des Erinnerns (Hubert Fichte spricht vom Ich, das im «Drehstuhl» sitzt und «eine überwundene Zeit»1 überschaut) bestimmt sowohl den Umgang einzelner als auch den Umgang von Gemeinschaften mit ihrer Vergangenheit. Elegische Zeitreflexion versenkt sich in den Schmerz, den das immer neue Abschiednehmen vom glücklichen Moment der Gegenwart bedeutet. Vergangenes Leid mildert sich im Rückblick aus einem glücklichen Jetzt. Vor allem aber: Sich als allzeit avanciert begreifende Modernität versichert sich rückblickend ihrer Erfolge bei dem Versuch, Unzeitgemäßes abzustoßen. Der Erinnernde im «Drehstuhl» führt sich auf diese Weise selbst gedanklich zurück auf die Straße des Erfolgs, die ihn so herrlich weit gebracht hat. Fichte hielt nicht viel von der «Sprache unserer Siegeranalysen und Siegersynthesen»;2 sie teile die Welt in Entwickelte und Unterentwickelte. Die Unterentwickelten müssen Entwicklung nachholen. Keiner hat den Konformismus solcher Geschichtsschreibung schärfer und verzweifelter kritisiert als Walter Benjamin in seinen – gegen die Sozialdemokratie formulierten – Geschichtsphilosophische[n] Thesen, in denen er den «Engel der Geschichte» auf «eine einzige Katastrophe» zurückblicken lässt. Benjamin warnt vor der Einfühlung in den historischen Sieger:

Die jeweils Herrschenden sind aber die Erben aller, die je gesiegt haben. Die Einfühlung in den Sieger kommt demnach den jeweils Herrschenden allemal zugut. […] Der Konformismus, der von Anfang an in der Sozialdemokratie heimisch gewesen ist […], ist eine Ursache des späteren Zusammenbruchs. Es gibt nichts, was die deutsche Arbeiterschaft in dem Grade korrumpiert hat wie die Meinung, sie schwimme mit dem Strom.3

Und es gibt nichts, was die Schwulenbewegung, was ‹uns› in dem Grade zu korrumpieren vermag wie diese Meinung. Eine Geschichtsschreibung der Sieger scheidet den integrierten und auf Integration bedachten (europäisch-amerikanischen) Schwulen der Gegenwart vom unterdrückten Homosexuellen der Vergangenheit und zugleich von der mitlebenden Klemmschwester, der exzentrischen Tunte, dem aufgeputzten Ledermann, den Homosexualitäten der großen Rest-Welt. Der auf Gleichheit und ‹Normalität› pochende Schwule liefert den Maßstab, an dem Tunte und Klemmschwester und überhaupt alle sich gefälligst orientieren sollen.4

Siegergeschichte aber erschwert Selbst- und Zeitreflexion: Ausgeblendet bleibt hier nämlich, in welchem Ausmaß die Erinnerung ein Prozess ist, der das keineswegs überwundene Vergangene ständig verändert und herstellt. Fritz Mauthner nannte die Anstrengung der Erinnerungskraft «journalistisch im höchsten Sinne».5 Ihr Interesse sei immer das des Tages, also der Gegenwart.6 Noch dort, wo Erinnerung sich unwillentlich einstellt, passt sie die Gelegenheit des aktuellen Augenblicks ab, um mit Vergangenem gegen die Idee vom Fluss der Zeit zu intervenieren. Die Vorstellung vom Gedächtnis als Speicher lässt nicht zu Bewusstsein kommen, dass Vergangenes im Heute nicht nur aufgehoben, sondern auch wirkend präsent ist, als Ungleichzeitigkeit nämlich. Adorno hat in Minima Moralia deshalb Jean Pauls Satz von den Erinnerungen, die uns niemand nehmen könne, ausdrücklich nicht zugestimmt. Adorno gibt zu bedenken, dass auch «die seligste Erinnerung» widerrufen werden könne «durch spätere Erfahrung».7 Weil Erinnerungen zerstörbar sind und sich wandeln, warnt Adorno davor, ein «Archiv seiner selbst» anzulegen; dabei nämlich beschlagnahme

das Subjekt den eigenen Erfahrungsbestand als Eigentum und macht ihn damit wieder zu einem dem Subjekt ganz Äußerlichen. […] Erinnerungen lassen sich nicht in Schubladen und Fächern aufbewahren, sondern in ihnen verflicht unaufhörlich das Vergangene sich mit dem Gegenwärtigen. […] Gerade wo sie beherrschbar und gegenständlich werden […], verschießen die Erinnerungen wie zarte Tapeten unterm grellen Sonnenlicht.8

Homosexuelle haben zwei Geschichten: eine, in der sie sich nicht wiederfinden, und eine, die sie nicht finden. Nicht wiederfinden können und wollen sie sich in der Geschichte des wollüstigen Sodomiten, des kranken Päderasten, der unglücklichen Tante mit starker Mutterbindung. Nicht finden können Homosexuelle in den Archiven eine eigene Geschichte mit eigenen Bildern, Überlieferungen, Wörtern. Ihre Geschichte ist zusammengesetzt aus Wörtern und Bildern, die nicht von ihnen gemacht wurden, mit denen sie aber gleichwohl gelebt und gearbeitet haben. Darüber lässt sich reden. Das Eigene liegt dann in der Art und Weise des Umgangs mit dem Fremden. Alternativ hat sich die Vorstellung herausgebildet, es ließe sich der Geschichte absagen, es ließe sich eine Gegengeschichte schreiben, die zu zeigen vermag, wie ‹wir› wirklich sind, und die in der Selbstdarstellung ohne die fremden Wörter und Bilder auskommen könne. Homosexuelle, die beginnen, sich ihre vorenthaltene Geschichte zu erarbeiten, laufen wie die Angehörigen anderer gesellschaftlich marginalisierter Gruppen Gefahr, dabei fundamentalistisch zu werden. Emanzipationsgeschichte wird so in doppelter Weise zu einer Siegergeschichte des Vergessens: Sie vergisst aktualisierbare historische Alternativen, die sich bislang nicht durchsetzen konnten, und sie vergisst, dass jene Formen der Homosexualität und des Redens über Homosexualität, die sich als ‹emanzipativ› durchgesetzt haben, tief geprägt sind von den Verhältnissen, in denen sie sich durchsetzen konnten.

Ich habe, als ich mich auf die Mitherausgabe einer lesbisch-schwulen Literaturgeschichte vorbereitete und erneut die Texte einer öffentlich werdenden Rede der Homosexuellen las, die Schriften von Karl Heinrich Ulrichs zum Beispiel und die von Magnus Hirschfeld, ich habe mich, als ich das alles las, an Kafkas Rotpeter erinnert. Diese Texte und jene literarischen Werke, die in ihrem Kontext entstanden, sind beinahe allesamt Berichte für eine Akademie. – Nur dass der zivilisierte Affe Rotpeter beim Berichten bedenkt, was ihm passiert ist.

Rotpeter lehnt höflich das Ansinnen der Akademie ab, er möge doch vom «äffischen Vorleben»9 berichten. Nicht, dass er etwas zu verschweigen hätte. Rotpeter hat die «Erinnerungen der Jugend» vergessen, und er weiß, dass seine erfolgreiche Entwicklung, die ihn erst berechtigt, in einer Akademie zu sprechen, «unmöglich gewesen [wäre], wenn ich eigensinnig an meinem Ursprung hätte festhalten»10 wollen. Er hat sich auf die Höhe einer fortgeschrittenen Kultur gebracht, indem er sich mit ihr synchronisierte. Rotpeter erinnert sich genau an ein Vergessen. Entwicklung ist, gibt er der Akademie zu verstehen, nur durch den «Verzicht auf jeden Eigensinn»11 zu haben. Und Rotpeter weiß, dass er sich nicht freiwillig synchron schaltete. Er redet von Machtverhältnissen. Ehemals «freier Affe» von der Goldküste, war er eingefangen worden und hatte seine Entscheidung, wie es weitergehen sollte, in einem Käfig zu treffen. Der stand im Bauch eines Schiffs, das ihn in die Kultur brachte, nach Europa. Der Entscheidung Rotpeters blieb also «immer vorausgesetzt, daß die Freiheit nicht zu wählen war».12 Rotpeter redet über «Auswege». Einer wäre das freie Meer gewesen. Auf dem hätte er ein Weilchen geschaukelt und wäre dann ersoffen. Die beiden anderen Auswege sind: «Zoologischer Garten oder Varieté».13 Der Zoo steht für erneutes Käfigleben. Rotpeter geht zum Varieté und lernt. Er lernt, Menschen nachzuahmen. Er lernt, was in einem Varieté zu lernen ist: Dinge zu tun, die niemand freien Willens tun würde. Manchmal verbrennen die Menschen ihm das Fell, damit er schneller lerne. Im Wesentlichen aber lernt er, um aus dem Käfig herauszukommen. Er lernt «rücksichtslos», weil er muss, das Spucken zuerst, dann das Schnapstrinken, vorzüglich aber den Handschlag, denn der «bezeugt Offenheit».14 Wer in menschlicher Gesellschaft leben will, begreift Rotpeter, muss stilisierte Kommunikationsweisen beherrschen, die Distanz überbrücken. Er muss, will er gegen ihn gerichtete Aggressionen abwehren, sein verhülltes Inneres auf entwaffnende Weise in eine äußerlich erkennbare Erscheinungsform des Verhaltens bringen, den Handschlag. Um die Menschen davon zu überzeugen, dass er kein unberechenbarer Affe mehr ist, muss er Menschenverhalten glaubhaft nachahmen können. Das – sich durchschaubar zu machen und sich als Jedermann zu inszenieren – müssen schwule Rotpeter, die Integration wollen, im gesellschaftlichen Zirkus auch lernen. Sehr erwünscht ist, dass sie in ihrer Rolle aufgehen. Mit seiner Kunst, dank seiner Kunststücke macht Rotpeter jene Karriere, die ihn geradewegs in die Akademie führt. Er wiederholt aber eigensinnig: «Es verlockte mich nicht, die Menschen nachzuahmen; ich ahmte nach, weil ich einen Ausweg suchte, aus keinem anderen Grund.»15 Und Rotpeter redet, wenn er sich an sein Vergessen erinnert, von dem Preis, den er für seine Entwicklung zu zahlen hatte, denn durch diese Entwicklung verschlossen sich ihm «die Erinnerungen immer mehr»:

War mir zuerst die Rückkehr, wenn die Menschen gewollt hätten, freigestellt durch das ganze Tor, das der Himmel über der Erde bildet, wurde es gleichzeitig mit meiner vorwärts gepeitschten Entwicklung immer niedriger und enger […], der Sturm, der mir aus meiner Vergangenheit nachblies, sänftigte sich; heute ist er nur ein Luftzug, der mir die Fersen kühlt.16

Ich habe diesen Umweg über Kafkas Ein Bericht für eine Akademie genommen, weil dieser Text einer der sehr großen Texte über unseren Umgang mit Geschichte, Bildung, Entwicklungsmodellen und kultureller Differenz ist. Ich erinnere an Rotpeters Entwicklungswissen, um Zweifel an der These zu säen, dass die Geschichte der Literarisierung von Homosexualität sich umstandslos als Emanzipationsgeschichte, als Geschichte zum ‹Eigenen› hin, erzählen lässt. Rotpeters Rede legt nahe, sie vielmehr als eine Geschichte der Disziplinierung, des Vergessens und der Eliminierung von Ungleichzeitigkeit zu untersuchen. Und sie legt nahe, die Formen der ‹eigenen› Rede als Ausweg zu begreifen. Immer vorausgesetzt, dass die Freiheit nicht zu wählen war. Den Blick so eingestellt, möchte ich die deutsche bürgerliche Ästhetik der Aufklärung als den Käfig vorstellen, in dem Homosexuelle, die sich öffentlich erzählen wollten, ihre Auswege entwickelten, die sie allerdings so selten nicht mit Freiheit verwechselten. Das ist etwas anderes, als auf die Bedingungen verhüllter und chiffrierter Rede zu verweisen. Ich bin interessiert an den Bedingungen jeder literarischen Rede über Homosexualität, weil gerade das vermeintlich offene Sprechen sich der Käfigordnung fügen musste. Am Ende will ich dann aber auch an den Luftzug aus der vergessenen äffischen Freiheit erinnern, der manchmal noch Rotpeters Fersen kühlt.

«Welches Vergessen erinnere ich?»17 Die Frage stammt von Hubert Fichte, der in einem riesigen Werk, das sich auch seinem Interesse an der Struktur des individuellen und des kollektiven Gedächtnisses verdankt, ein polychrones Erzählen entwickelte, in dem verschiedene Vergangenheiten als gleichzeitig präsent erscheinen. Fichte hat dieses Interesse am aus vielen fortwirkenden Vergangenheiten zusammengesetzten Ich18 stets mit dem Interesse an einer Homosexualität verknüpft, die gekennzeichnet ist durch Geschichtslosigkeit. Er sucht das ‹Eigene› nicht in einer von der Unterdrückung vermeintlich zugestellten wahren Geschichte, sondern in der spezifischen Polychronie des Bewusstseins und des Verhaltens von Homosexuellen. In der geschichteten Innerlichkeit des Schwulen ist Geschichte als Käfigerfahrung und als auf sie reagierender Lernprozess, als Gefahrensituation und als Entwaffnungstaktik zugleich vorhanden. Synkretismus ist nur ein anderes Wort für Polychronie.

In Fichtes Versuch über die Pubertät erfährt der im Augenblick seine Homosexualität realisierende Erzähler einen Erinnerungssturz, den Fichte erzählerisch als Polychronie organisiert:

Eine Tunte! Eine Tunte! Eine Tunte! Ein Warmer! Ein Lauwarmer! Ein Warmer Bruder! Ein Huch-Nein! Eine Töhle […]! Eine Triene! Eine Schwuchtel! Ein Arschficker! […]

Ich bin Gründgens, Patroklos, Plato, Lionardo, Michelangelo, Buxtehude, Mozart, Friedrich der Große usw. – ein ganzes Stollwerckalbum.19

In dieser präsentisch erzählten Passage sind die von außen an den Homosexuellen herangetragenen Schmähungen und die zu ihrer Abwehr konstruierte Kette der Namen vermeintlich homosexueller Genies – mit solchen Ketten erschleicht man sich Kontinuität – in den Homosexuellen hineinverlegt worden. Hier bleibt nichts äußerlich. Martin Dannecker hat in seiner Studie Der Homosexuelle und die Homosexualität die scheinbar emanzipative Setzung einer homosexuellen Wirklichkeit, die mit den historisch tradierten homophoben Bildern vom Homosexuellen nichts zu tun haben soll, als «Mystifikation mit positiven Vorzeichen»20 bezeichnet. Sie ignoriere, dass Zuschreibungen und Tabus verinnerlicht würden und deshalb Teile der homosexuellen Wirklichkeit blieben. Sie ignoriere außerdem, dass homophobe Bilder mitunter Folge richtig gesehenen, aber unangemessen interpretierten differenten homosexuellen Verhaltens seien. Eine vom Faktischen absehende Selbstdarstellung – Dannecker nennt beispielhaft das Beharren darauf, nicht so promisk zu leben, wie man es mehrheitlich tatsächlich eben doch tut – verfalle der «Ideologie von der Gleichheit der Homosexuellen» und kümmere sich bei ihrem Versuch, Homo- und Heterosexuelle zu synchronisieren, weder um die historisch gewachsene «reale Diskrepanz noch um ungleichzeitige Entwicklung».21 Die Verachtung, die Homosexuelle dem bemerkbar differenten Homosexuellen entgegenbringen, dessen Verhalten sie als Bedienung der ‹falschen› Bilder interpretieren, gilt dem Fortdauern einer vermeintlich überholten Vergangenheit. «Tunten zwecklos.» Tunten kann man vergessen.22

Danneckers Argumente gegen die «Normalisierung» des Homosexuellen durch den Homosexuellen halte ich für hilfreich beim Nachdenken über das Thema der Tagung, für die ich diesen Text schrieb, über «Erinnern und Wiederentdecken», über «Tabuisierung und Enttabuisierung der Homosexualität in Wissenschaft und Kritik». Diese Normalisierungsversuche vollziehen für den gesellschaftlichen Raum einen Normalisierungsversuch nach, der in der neueren Literaturgeschichte als Enttabuisierung eines tabuisierten Gegenstandes erscheinen kann.

Männerliebe wird im 19. Jahrhundert Thema und Gegenstand einer Literatur, die weiterhin im Banne jenes mächtigen Tabus stand, das die Tabuisierung der Männerliebe in der Literatur des 18. Jahrhunderts erzwungen hatte, weil es forderte, dass ästhetische Rede nicht unabhängig von ethischen Normen formuliert werden dürfe. Wenn aber die Zusammenschaltung von ästhetischer und moralischer Rede bestehen blieb, ist zu fragen, welche Männerliebe enttabuisiert und darstellbar wurde. Das in der Aufklärung geschlossene Bündnis von Ethik und Ästhetik möchte ich verfolgen als die Ursache der Tabuisierung und beschreiben als den Rahmen, der die Form der Homosexualität definierte, die dann, vermeintlich gegen das Tabu, literarisch zulässig wurde. Kein wie auch immer bebildertes Stollwerckalbum ändert ja etwas daran, dass Männerliebe in der deutschen Literatur vor Platen kaum vorhanden ist, nicht als Gegenstand der Selbstartikulation und nicht als Thema oder Stoff der Fiktion.

Jedes Erinnern ist immer auch das Erinnern eines Vergessens, weil jede Erinnerung sich auf ein Ganzes bezieht, das ihr fehlt. Goethe schreibt am 29. Dezember 1787 an seinen Herzog, dass er von der «Liebe der Männer unter einander», die ihm in Rom vor Augen gekommen sei, «kaum reden, geschweige schreiben» könne, will die «Materie» aber doch in «künftigen Unterhaltungen»23 ausbreiten. Von denen wissen wir nichts. Sie sind vergessen – daran erinnert Goethes Brief. Die Texte und Namen, die wir erinnernd zusammentragen, sie beziehen sich auf eine homosexuelle Vergangenheit, von der wir wenig wissen, auf nie geschriebene Bücher, auf vergessene Wörter und vergessene Menschen. Auf Scham. Die Literatur der Aufklärung und die Ästhetik, auf der sie beruht, bilden einen Diskurs der Vernünftigkeit, der die Ausgrenzung des Homosexuellen notwendig machte. Wer das verstehen möchte, muss ernstnehmen und nachvollziehen, dass der und das Homosexuelle in dieser Zeit nur im Begriff des radikal Bösen fassbar waren.

Dies musste am Beginn der Aufklärung noch nicht ästhetische Ausgrenzung bedeuten. Grimmelshausen war am Alltag interessiert gewesen. Laster inklusive. Die neue Gattung des Romans, dessen offene Form ja auf Vielfalt angelegt ist, schien am Übergang von der höfischen zur bürgerlichen Kultur, von der christlichen Gesetzesethik zur naturrechtlich organisierten Kommunikationsgesellschaft neue Freiräume zu bieten. Der Reichtum der Barockliteratur, die relativ frei von klerikaler Bevormundung hatte entstehen können, stand in einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft auch der zunächst noch kleinen bürgerlichen Bildungselite zur Verfügung. Potenziell wenigstens. Der Reichtum wurde bemerkt, gelobt wurde er nicht. Der ernsthafte Gotthard Heidegger sieht sich 1698 beim Lesen der «Romanen» und beim Schreiben seiner Mythoscopia Romantica mit einer ganz und gar polizeiwidrigen Ordnung konfrontiert, mit dem Laster:

Lüsterne Brunsten / Sehnungen / Eifersuchten / Rivalitaeten oder (teutsch mit ihnen zureden /) Samthoffnungen / Liebes=Liste / Nacht= und Hinder=Thür oder Fenster=Visiten / Küsse / Umbarmungen / Liebesohnmachten / Butzwerk / Hahnrehen / Buhler=Träume / Gärten / Palläst / Lust=Wälder / Schildereyen / Götzen=Tempel / Musicen / Däntze / Schau und Ritter=Spiele / Entführunge / Irr=reisen / Verzweiflungen / begonnene und vollbrachte Selbstmörd / Zweykämpff / See=Stürm / Gefangenschafften / Kriege / Blutbäder / Verkleidungen / Helden / Heldinnen / Wahrsagereyen / Beylager / Krönungen / Feste / Triumphe.24

Hier wäre doch wohl, möchte man meinen, auch für die Sodomiterei noch ein Plätzchen zu finden gewesen. Lohenstein hatte ja einen Platz für sie gefunden. Im Rückblick erscheint dieser historische Moment als vertane Chance, als Angebot. Es wurde abgelehnt. Denn diese Literatur sprach zwar die Fantasie an und befriedigte zugleich das Bedürfnis, sich über Realität zu informieren, allein sie zeigte diese Realität nicht als eine vernünftige. Sie setzte, weil sie das Publikumsinteresse an literarischer Wirkung einkalkulierte, auf Affekte. Auf gemeine Sinnlichkeit. Dem Bürgertum kam es aber auf Affektkontrolle an, auf Beherrschung und Veredelung der Sinnlichkeit. Mit der Wiederentdeckung von Aristoteles und Horaz, denen man die Regeln entnahm, kehrte die Tugend in die deutsche Poetik ein. Für die Moralisierung der Literatur steht Johann Christoph Gottsched. Sein Versuch einer critischen Dichtkunst von 1730 ist eine, dann Auflage für Auflage penibler durchgearbeitete, Regelpoetik. Ein Musterbuch, systematisch, normativ, widerspruchsfrei, zweckmäßig. Individualität ist nicht gefragt. Anhand seiner Regeln soll jeder jede Form der Literatur herstellen können. Im Namen der Vernunft. Die Geburt der Tugend fand innerhalb der großen gesellschaftlichen Debatten über die Natur des Menschen statt. Die teleologische Tugendlehre ersetzte Gott, in dessen Namen noch Heidegger den Roman bekämpft, durch die Natur und die Vernunft. Wo der Mensch als Einzelner in der Literatur erschien, wurde er nicht als Individuum vorgeführt, sondern als Vertreter des ganzen sich zweckorientiert entwickelnden Menschengeschlechts. «Tugend», so erläutert Friedrich von Blanckenburg 1775 im Vorwort zu seinem Roman Beyträge zur Geschichte deutschen Reichs und deutscher Sitten, sei «der Zustand der Seele […], in dem alle Empfindungen und Vorstellungen, die der Bestimmung des Menschen überhaupt» entsprechen, «ihren Platz finden müssen».25 Wer die hierarchisch gegliederte ständische Gesellschaft abschaffen wollte, musste Modelle einer neuen Ordnung entwerfen, die ihre Stelle einnehmen konnte. Diese neue Ordnung sollte dauerhaft funktionieren, denn da die Gesellschaft Zwecke verfolgte, musste sie an Planbarkeit interessiert sein. Die Schriftsteller verstanden sich in der heroischen Phase der Aufklärung zunächst nicht als Kritiker dieser Gesellschaft, sondern als deren Avantgarde. Entsprechend produzierten sie ihre Literatur nicht für eine separierte ästhetische Sphäre, sondern stellten ihre Texte in den gesellschaftlichen Raum hinein. Als Beiträge zur antihöfischen Diskussion über gesellschaftliche Entwicklung und Natur. Der Natur konnte die Regeln entnehmen, wer alle Menschen mit gleichen Rechten und Pflichten ausstatten und dann zielstrebig auf den Weg schicken wollte. Die «Natur» der Aufklärer war vorbildlich, weil sie sittsam war. Einer der nun stark rezipierten ästhetischen Grundlagen-Texte, der Pseudo-Longin, empfiehlt dem Schriftsteller,

die Schöpferin der Menschen, die Natur, nachzuahmen, die uns die Schamteile nicht ins Gesicht setzte und die Ausscheidungen der ganzen Körpermasse nicht bloßlegte, sondern so viel als möglich verbarg, und ihre Abzugskanäle […] möglichst weit wegrückte.26

Dieses natürliche Wegrücken des Sexuellen und Kreatürlichen hat Literatur durch ästhetische Distanzierung nachgeahmt. Wer zu ihr nicht bereit oder fähig war, verletzte die sich vervollkommnende Natur und die Idee gesellschaftlicher Vervollkommnung gleichermaßen. Er war tugendlos, lasterhaft. Am schlimmsten aber: Er bewies seinen schlechten Geschmack. Das Laster sollte ästhetisch nicht sein. Wo es nicht gelang, Sexualität als Natur – wie prekär auch immer – zu disziplinieren, durch Einbindung in die Ehe etwa, erschien sie als Unnatur, die den Bestand der moralischen, politischen und ästhetischen Ordnung gefährdete, und wurde aus der Literatur ausgeschlossen. Der Ausschluss entsprach dem bürgerlichen Bedürfnis nach Durchrationalisierung der Gesellschaft. Die Literatur der Aufklärung tabuisiert Homosexualität, weil sie Sexualität tabuisiert.

Bürgerliche Abwendung von der höfischen Welt bedeutete von Anfang an auch Abwendung vom feudalen Allianzdenken, das strikt schied zwischen der auf Standes- und Machtüberlegungen beruhenden Ehe und der auf Sinnlichkeit beruhenden Sexualität. Die höfische Liebe fand außerhalb der Ehe statt. Mit dieser Libertinage gedachte das Bürgertum aufzuräumen. Indem es Ehe und Liebe miteinander verband – kaum ein Drama des frühen 18. Jahrhunderts behandelt nicht die von dieser neuen Verbindung produzierten Konflikte –, übertrug es gesellschaftliche Ordnungskriterien auf das Einzelleben. Spontan entstehendes/vergehendes Gefühl und Dauerhaftigkeit der Bindung waren im Bündnis von Liebe und Ehe widersprüchlich genug verkoppelt. Das Bündnis blieb ständig bedroht von der unberechenbaren Sexualität. Und je mehr Ehe und Familie zum Bollwerk gegen die sich als disharmonisch ausdifferenzierende Gesellschaft ausgebaut wurden, desto stärker musste die das Idyll gefährdende Sexualität diszipliniert werden. Die Ungebundenheit des Libertins war eine beständige Provokation der Disziplinargesellschaft. Thomas Mann hat sehr genau gewusst, warum er noch in diesem Jahrhundert die «freie, allzu freie Liebe»27 des Homosexuellen als gesellschaftlichen Affront vorstellte.

Sobald Kunst sich für das Unsittliche interessierte, zog sie den Verdacht auf sich, selbst außerhalb des sozial und moralisch Guten zu stehen. In dieser Situation verlor die Männerliebe jede Chance auf ästhetische Integration. Weder Edward II. noch der verbrannte Sodomit von der Richtstätte waren jetzt noch literaturfähig.

Zwangsläufig war die Verkoppelung von Ethik und Ästhetik aber nicht. Es gab andere Konzepte. Der Begriff des «Wunderbaren», wie er in der Poetik von Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger entwickelt ist, schloss das Naturwidrige nicht von vornherein aus. Zwar hat die von Gottsched geforderte «Wahrscheinlichkeit» der Literatur auch bei Bodmer/Breitinger ihren Grund in der anzustrebenden Übereinstimmung der Dichtung mit den «Gesetzen der Natur».28 Dann aber erweitern die beiden Philologen den Begriff der «Wahrscheinlichkeit» um die Kategorie des «Wunderbaren», das als «äußerste Staffel des Neuen»29 den Gesetzen der Natur scheinbar widerspricht, aber durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse bestätigt wird. (Von nun an gibt es science fiction.) Und schließlich gehen Bodmer und Breitinger noch einen Schritt weiter und öffnen der Fantasie den Raum: Sie erklären auch «eine gantz andere Natur» mit «gantz anderen Gesetzen» für vorstellbar, eine Natur, die der «Schöpfer bey andern Absichten»30 hätte hervorbringen können. Mit dieser Einführung der Idee ‹möglicher Welten› hebeln sie die aufs Bestehende fixierte Poetik Gottscheds listig aus. Vorstellbar ist schließlich beinahe alles, und der allmächtige Schöpfer hätte mit anderen Absichten auch die von Horaz verbotene Chimäre31 oder den Päderasten hervorbringen können. «Wahrscheinlichkeit» wird hier nicht auf Realität und ethische Normen bezogen, sondern läuft auf die innere Widerspruchsfreiheit einer möglichen Welt hinaus. Die Wahrheit liegt dabei im Kunstwerk selbst, das sich die Regeln gibt. Erst der an bürgerlicher Moral nicht so sehr interessierte Goethe wird dies wieder aufgreifen.32 Denn nicht die beiden Schweizer, sondern Gottscheds Moralismus bestimmte den Fortgang der deutschen Literatur. Bodmer/Breitinger setzten sich gegen die christlich-platonische Metaphysik des Schönen nicht durch. Die Kunst blieb an die Natur gekoppelt, das Wahre und die Natur blieben identifiziert mit den im Diskurs vorgegebenen Ideen, und die Ästhetik blieb im Bündnis mit der Vorstellung von einer planbaren Zukunft. Denkbare alternative Schöpfungen waren ebenso wenig gewünscht wie eine Literatur, die auf geschichtsphilosophische Reflexion verzichtet. Der Literaturbegriff des Publikums und der Literaturwissenschaft in Deutschland ist bis heute nicht frei von ethischen Kategorien; eine sich als autonom begreifende Ästhetik blieb hier immer suspekt.33

Als Gottsched den Narren von der Bühne vertrieb, machte er auch den Sodomiten unmöglich. Zwar sollte dem Leser «allezeit die Tugend belohnt und das Laster bestraft»34 vorgestellt werden, aber dieses Laster durfte anders als etwa der Mord oder der Betrug nicht einmal zur moraldidaktischen Belehrung eingesetzt werden. Tabu war der zwecklose sodomitische Akt, weil er Natur und Vernunft insgesamt negierte. Unnennbar heiße die lasterhafte Willensentscheidung des Sodomiten, so Kant in seiner Metaphysik der Sitten, als «Läsion der Menschheit in unserer eigenen Person», sie könne «durch gar keine Einschränkungen und Ausnahmen wider die gänzliche Verwerfung gerettet werden».35

Männerliebe erfüllt den idealistischen Begriff des Bösen vollständig. Sie ist abgeschmackt, insofern sie als Verbindung des Unnatürlichen mit dem Tierischen das theoretisch Scheußliche bedeutet. Sie ist ekelhaft als das sinnlich Scheußliche, weil die den Päderasten zugeschriebenen Sexualpraktiken das Unnatürliche mit dem sinnlich Abstoßenden, dem Anus und dem Kot, verbinden. Sie ist böse als das praktisch Scheußliche, weil der Päderast sich um seiner Lust willen der auf Zwecke ausgerichteten Gattungsbestimmung verweigert und den Begattungsakt durch Verkehrung verhöhnt. Der lasterhafte Wille des Päderasten bedeutet zuletzt die positive Verletzung der Idee des Guten und ist deshalb schlechthin das ethisch Hässliche. Hier liegt die Ursache für das existenzielle Außenseitertum des Homosexuellen. Rotpeters Käfig. Wie hätten Päderasten sich erzählen können in solchem Rahmen? Wie hätten sie, dies alles verinnerlichend, sich auch nur für berechtigt halten dürfen, ihre Stimme zu erheben? Wer in der Akademie der bürgerlichen Öffentlichkeit sprechen wollte, schien dazu verdammt zu sein, sich einen ontologischen Status zu erwerben, sich aus der Negativität herauszuarbeiten. Auswege.

Woher kommen die Wünsche? — Weder im Empfindsamkeitsdiskurs noch in der Mitleidsästhetik noch in der Ästhetik des Erhabenen war Raum für eine Darstellung der Männerliebe. Um als empfindsam zu gelten, hätte der Homosexuelle beweisen müssen, dass er seine Sinnlichkeit dauerhaft disziplinieren und organisieren kann, in einer monogamen Paarbeziehung. Noch aber boten sich homosexuelle Ehe und Regenbogenfamilie als Auswege nicht an. Auch die vorarbeitende literarische Darstellung einer glücklich geglückten Paarbeziehung hätte dem Päderasten nicht geholfen. Da er in der Natur keinen Ort hatte, hätte sie vermutlich den Eindruck hinterlassen, nur eine abgeschmackte Parodie der bürgerlichen Ehe zu geben. Der Päderast bleibt als literarische Figur, wo er überhaupt erscheint, ein Libertin. Um für die Darstellung eines Konflikts zwischen Sinnlichkeit und Moral, um für die Mitleidsästhetik infrage zu kommen, hätte er sich als jener nur grundsätzlich moralische «gemischte Charakter» ausweisen müssen, den Lessing für die Bühne entwickelte.36 Denn allein mit ihm, der den statisch tugendhaften Helden Gottscheds ablöste, kann der mutmaßliche Zuschauer sich identifizieren, der aus der ästhetischen Distanz genießt, was einem anderen zustößt, während es an ihm vorübergeht. Grimminger verweist mit Recht darauf, dass die Lasterhaften ebensowenig wie die Fürsten literarisch als Identifikationsfiguren zu gebrauchen waren:

Jene sind zu sehr unter dem Rang der Menschlichkeit, diese ragen zu sehr über ihn und alle Mitmenschlichkeit hinaus.37

Auch hier bestätigt sich Hans Mayers These, dass Aufklärung gescheitert ist an einem Gleichheitsideal, das vom konkreten Individuum absieht, um einen abstrakten ‹Mittelmenschen› zu konstruieren.38

Um schließlich in pathetisch-erhabener Rede erscheinen zu dürfen, hätte der Päderast seine Natur und alles Momentane der Idee opfern müssen, z. B. durch den Nachweis, als Homosexueller ein tapferer Soldat sein zu können. Weil sein Wille aber das ethisch Böse verlangte, konnte es ihm als existenziell unmoralischem Menschen bis ins 19. Jahrhundert gar nicht gelingen, sich als guter Bürger auszuweisen. Sein eigensinniges Beharren darauf, den natürlichen Pflichten nicht nachkommen zu müssen, ließ ihn in jeder Hinsicht als bürgerlich unzuverlässig erscheinen. Ernst Carl Wieland hat das 1783/84 in Geist der peinlichen Gesetze in juristischer Rede ausgedrückt:

Was die unnatürliche Unkeuschheit betrifft: so ist sie schon aus dem Grunde strafbar, weil sie den ursprünglichen Anordnungen und folglich den Gesetzen der Natur widerspricht. Sie wird aber noch strafbarer in Beziehung auf die bürgerliche Gesellschaft, weil der Wollüstling, der sich diesen Lastern überläßt, gewöhnlich ein schlechter Bürger ist.39

Diese Vergangenheit ist präsent noch in der von manchen Homosexuellen in Konflikten wie ein Argument vorgebrachten Nennung reputierlicher Homosexueller, deren Namen auch Hubert Fichtes Erzähler einfallen, als er sich schämt.

Alternativ zum idealistischen Diskurs wäre die Männerliebe allein in einer Ästhetik des Bösen darstellbar gewesen, die aber in Deutschland ansatzweise erst von der Romantik entwickelt worden ist. Darstellbar wurde sie schließlich nicht durch eine Änderung des ästhetischen Diskurses, sondern eine des ethischen Diskurses. Nicht der Diskurs öffnete sich für das Grauen der Fremdheit, sondern der Homosexuelle unterwarf sich den Normen des Diskurses. Als ästhetische Erscheinung wurde der Homosexuelle zulässig, nachdem er von der naturwissenschaftlich-psychiatrischen Rede des 19. Jahrhunderts seinen Platz in der Natur zugewiesen bekommen hatte. Und indem er (auch literarisch) demonstrierte, ihn einnehmen zu wollen. Die Natur befreite ihn von seinem «bösen» Willen – also wollte er Natur sein. Karl Heinrich Ulrichs hat seine Theorie, der Homosexuelle verberge eine weibliche Seele in einem männlichen Körper, mit der er die Integration der Homosexuellen in die Ordnung der Natur ermöglichte, ausdrücklich aufgestellt, um mit ihr den Beweis anzutreten, dass die «Urninge» nicht «außerhalb der sittlichen Weltordnung»40 stehen. Er unterwirft sich dem Geschmack und der Norm zugleich, indem er erstens die «rein factische Mangelhaftigkeit der urn.[ischen] Liebe» konzediert und die «Urninge» als «den Händen der Natur zwar mißrathene Geschöpfe» bezeichnet, aber zweitens zugleich darauf besteht, dass sie eben doch «aus ihren Händen hervorgegangene»41 Menschen seien. Das zeugte ebenso wie Platens frühe Berufung auf Natur42 von persönlichem Mut und blieb doch Sklavensprache. Es war ein Ausweg. Spätere Erfahrung lässt ihn als Sackgasse erscheinen. Dass Teile der Homosexuellenbewegung die Strategie als Befreiung missverstanden, hat dem Nachdenken über die Potenzialität der Homosexualität nicht geholfen. Emanzipation meint allemal nachholende Entwicklung, Orientierung an den Siegern. Spucken und Handschlag.

Das Bürgertum organisierte seine kollektive Erinnerung als Menschheitsgeschichte, in der sich die sittliche Idee verwirkliche, Stufe für Stufe. Der Streit zwischen den Alten, die in der Kunst der griechischen Antike das endgültige und regelgebende Vorbild sahen, und den Modernen, die mit Selbstbewusstsein eine neue Kunst für ihre neue Gesellschaft entwerfen wollten, war entschieden worden zugunsten der Modernen. Friedrich von Blanckenburg folgerte in seinem Versuch über den Roman,

daß ein Theil dieses Alls, dieser Erde seiner Vervollkommnung näher ist als je ein andrer Theil es war, – daß einige Krümmungen und Umwege auf der Bahn zum Ziel, zum allgemeinen Endzweck der Natur, mehr durchlaufen sind; – daß alle die von Morgenländern und Griechen besessenen Vollkommenheiten und Vorzüge nicht das sind, was man eigentlich glaubt.43

Die Fortschrittsidee verwandelte in wenigen Jahren das seit der Renaissance vorbildliche Alte in zurückgelassene und überwundene Vorzeit. Die alten Vorzüge wurden zu Kennzeichen des Abgelebten. Auch die Männerliebe der Griechen, die innerhalb einer sich auf die Antike beziehenden Kultur unter den Gebildeten seit der Renaissance mit vorsichtigem Verständnis rechnen konnte, wurde nun zum Bestandteil unsittlicher Vorzeit, die in der Geschichte zurückgelassen werden müsse. Als Christoph Meiners 1775 seine Betrachtungen über die Männerliebe der Griechen anstellte, erklärte er diese Liebe schon zweckrational mit der unvollkommenen Verfassung eines regellosen Zeitalters, «wo das Recht des Stärkeren das einzige Recht war» und die Männerliebe ständig in Kämpfe verwickelte «Heldenseelen» mit einem zuverlässigen Mitstreiter versorgte.44 Winckelmann wird unter den Gebildeten geduldet als Antiker, als lebendes Fossil. Herders Spott über einen nicht Zeitgemäßen, der seine Träume in die Geschichte projiziert,45 ist milde. Aber es ist Spott. Winckelmanns Tod hingegen bestätigt das zeitgemäße Bild vom Päderasten. Deshalb ließ keiner sich diesen Tod entgehen. Meiners zweifelt nicht daran, dass auch in der Antike die sexuelle Männerliebe eine «die heiligsten Gesetze der Natur zerstöhrende Liebe» war, die die Griechen zu einem Zeitpunkt heimsuchte, als sie ihre «Körper durch übermäßigen Genuß bis zur Erschöpfung geschwächt»46 hatten. Zu übermäßigem Genuss neigt der deutsche Bürger nun nicht. Hegel prophezeit, das Negative, zu dem die zwecklose Päderastie gehört, werde im Gang der bürgerlichen Geschichte «zu einem Untergeordneten und Überwundenen»47 verschwinden.

Die von Dannecker angesprochene «ungleichzeitige Entwicklung», hier wird sie fassbar. Der Sodomit, der das Tabu verinnerlicht, entwickelt sein Selbstverständnis unter Bezugnahme auf eine vergangene und von der Gegenwart vorenthaltene Heimat: die Antike und die höfische Welt. Er bleibt zurück, und als historisch Zurückgebliebener wird er verdammt. Heine weiß, was er tut, als er Platens aristokratische Abkunft in Munition verwandelt. Schwule gehören zur abdankenden Klasse, das sahen erst die Bürger so und dann die Vertreter des zukunftsgewissen Proletariats, die dem dekadenten Bürger alles zutrauten. Der Homosexuelle steht für das, was einer Gesellschaft bevorsteht, die die Zügel schleifen lässt. Zügellose Sexualität.

Seit dem empfindsamen Diskurs blieb die Sexualität das Ungeheuer, das in der gesellschaftsbildenden Männerfreundschaft lauerte. Wo die Freunde sich gehen ließen, war es als Angst und Verdacht zur Stelle. Die Ablösung der empfindsamen Ästhetik durch eine Ästhetik der Erhabenheit wurde argumentativ auch durch den Verweis auf das Ungeheuer abgesichert. Der mächtig nach Deutschland hineinwirkende Rousseau warnte vor dem Freundschaftskult:

Was für weibische Sitten sind das? […] Während […] die Künste sich vervollkommnen […], wird die echte Tapferkeit entnervt, die militärischen Tugenden verschwinden […]. O Tugend, erhabene Wissenschaft der schlichten Seelen […]. Genügt es nicht, um deine Gesetze zu erkennen, wenn man in sich geht und die Stimme des Gewissens hört, wenn die Leidenschaften schweigen.48

Erhaben war jetzt der ins Großartige gesteigerte Triumph des Normativen über die Sinnlichkeit des Menschen. Erhaben war die Unterwerfung unter das Gesetz, das für alle zu gelten hat. Für alle. Immer wieder die Moral, immer wieder die Leidenschaften, die ihre Gefährlichkeit erst aus der Heftigkeit beziehen, mit der sie ausgeschlossen werden. Immer wieder der Differenzen draußenhaltende Rückzug auf den fiktiven Durchschnittsmenschen. Das ist alles Rotpeters Käfig. «Die Seele des Menschen», schreibt Johann Jakob Engel in seinen Ideen zu einer Mimik,

sucht ihre eigne Natur in andern, kann sich nur insoferne in diese andern versetzen, als sie ihre eigene Natur in ihnen wiederfindet. […] Weg also aus dem Drama mit allem, worinn die Seele nur den mindesten Widerspruch […] mit ihrem eigenen Wesen fühlt […]49

Weg mit dem Päderasten.

Betrachtungen über den ersten Grundsatz aller schönen Künste und Wissenschaften: