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Verlagstext

Marko Martin, Schriftsteller und Weltreisender aus Passion, glaubt nicht an das jüngste Gerücht, alles sei heute nur digital und virtuell. Eine Nacht in Guatemala-City, ein Morgen in Lissabon, der via Angola nach Schwaben führt; ein Club in Vientiane, dessen Tür plötzlich von innen verschlossen wird: Raum für Geständnisse, Geschichten und ein Geschehen, das nicht in Reiseführern zu finden ist. Die jungen Männer, die dem Autor auf seinen Streifzügen durch die Kontinente begegnen, sind zweifelsfrei real, und die Geschichten, die sie ihm schenken, lassen gar eine Art Utopie aufscheinen: Erfahrungen sind vermittelbar, physische Lust und die reflektierte Freude am Erzählen sind stärker als Tabus und Pressionen. Ob in Bombay, Istanbul oder Tel Aviv, in Madrid, Berlin oder San José - es gibt sehr wohl noch Abenteuer zu erleben in dieser Welt. Marko Martin, ironischer Sprachspieler und skrupulöser Intellektueller zugleich, hat ein mutwilliges Vergnügen daran, ihr literarischer Chronist zu sein.

Über den Autor

Marko Martin, geb. 1970, verließ im Mai 1989 die DDR und lebt, sofern nicht auf Reisen, als Schriftsteller in Berlin. Als Autor bekannt wurde er durch seinen Roman «Der Prinz von Berlin». Seine Erzählbände «Schlafende Hunde» und «Die Nacht von San Salvador» erschienen in der Anderen Bibliothek. Es folgten «Treffpunkt 89», «Madiba-Days» und zuletzt die Liebeserklärung «Tel Aviv. Schatzkästchen und Nussschale, darin die ganze Welt».

Marko Martin

Umsteigen in Babylon

Erzählungen

Männerschwarm Verlag

Hamburg 2016

Pour H. – comme d’habitude

Sie müssen begreifen, dass das eigentliche Vergnügen des Körpers, wenn man es in seiner Stummheit belässt, auf ärgerliche Weise gleichförmig ist. Und Sie müssen wissen, mein Freund, nur ein in diesen Szenen ausgesprochenes Wort besitzt die Kraft, jene in einem solchen Licht erscheinen zu lassen, dass sie unvergesslich bleiben.

Milan Kundera, Das Buch der lächerlichen Liebe

Weshalb

In den Büchern der klugen alten Meister ist davon die Rede – auffindbar in versteckten Antiquariaten, geführt von kurzsichtigen Alten mit gichtigen Händen –, in den Autobiografien längst oder kürzlich Dahingegangener. Wohin gegangen?

Immerhin waren sie sich über das Woher im Klaren gewesen – oder gaben zumindest glaubhaft vor, es zu sein. Kleinbürger, Großbürger, Gymnasiasten, enthusiastische Entdecker väterlicher Bücherschränke oder staubiger Leihbibliotheken. Wir entdeckten die Stadt, den Sex, den Alkohol, die Freundschaft. Oh Octavio Paz! Oh Neruda, Moravia, Carpentier und Milo Dor! Oh Vargas Llosa! Ja, ein von jeglicher falscher und bemühter Ironie befreites, offenen Auges staunendes Oh all den Großen, die in höheren Jahren, nun selbst in ihren Bibliotheken sitzend oder jungen Journalisten bevorzugt weiblichen Geschlechts Auskunft gebend, des Surrealismus nicht vergaßen. (Oh Breton und Eluard, oh Nadia und Elsa!) Eine vielfältige Gier: das Leben und die Bücher, die Straße und die Studierstube, die Bars und die Einsamkeit in der Menge der Kinobesucher. Zeit der Schwarzweißfilme, Hotel du Nord, Zeit der Jugend. Erste Frauen, erste Zigaretten, Gedichte, und den Mantelkragen hochgeschlagen. Und sie waren sechzehn, höchstens zwanzig.

Oder aber: Diese schlaksigen Jugendlichen, derer Du manchmal in der U-Bahn oder auf Parkbänken ansichtig wirst: nachlässig rasiert, die Brillengläser verschmiert, in den verschwitzten Händen die Secondhand-Paperbacks von Jack Kerouac. Und dazwischen mitunter einer der ganz Schlauen, ganz Schwierigen, ganz Ausgebufften oder schlichtweg auch nur absolut Vereinsamten, vertieft in die Poeme von Ginsberg, Gary Snyder oder die Verse des frühen Wondratschek. Oh Chuck, oh Carmen! Du aber, Schreiber dieser Zeilen, Ende dreißig / Anfang vierzig, und noch immer Gast in heruntergekommenen Hotels, deren materialisierte, in Maßen jüngere Sternchen Du wie einst als Jüngling mit Herzklopfen erwartest, wenn sie die Klinke einer Sperrholztür drücken, was ist mit Dir?

Warum diese Absteigen in Mexico-City Madras Santiago Vientiane oder Alicante? Fusseliger Teppich, Zigarettenlöcher in Fenstervorhang und Bettdecke, mitunter eine Kakerlake im Bad, furchterregend flüchtige Hieroglyphe auf schlierigen Kacheln. Unter dem schmalen Balkon ein Ausschnitt vom Meer oder auch nur der Blick auf eine Seitenstraße, nach Sonnenuntergang unter verdächtigem Neongeflacker belebt – und Du, Du mit um die Hüfte geschlungenem Badetuch, Zigarettenrauch in die Luft blasend, kryptische Kringel als Fortsetzung Deines seltsamen Lächelns? Welche Begründung also für diese Art Existenz, für Paz und Wondratschek – ja ebendiese ! –, weiterhin auf Deinem Nachttisch, gleich neben den Präservativen, und auf dem Bettlaken noch immer der Abdruck eines zweiten oder dritten Körpers? In Deinem Alter, Mann, und statt Triumph, Scham oder gar der befremdenden Passivität Pasolini’scher Vorstadtwiesen-Dankbarkeit nichts weiter als diese Deine frohgemute, skeptische Verwunderung. Sie aber kamen vom Surrealismus und gingen in ihre Bücher.

Ist es also vielleicht doch ein wenig Neid, gar eine versteckte Trauer? Aber nein, Du siehst dich höchstens um und hörst Dich antworten – Si, amigo, si –, Berührungen empfangend und gebend, schwitzend und in Maßen keuchend, doch weder Geld noch Manuskripte, noch Erfahrungen wechseln ihre Besitzer, und das Einzige, was Du in diesen Nächten, wenn das orange Laternenlicht von draußen und das Rattern der Klimaanlage alles ins Tropische verklären, was Du in solch verlotterten Stunden vermisst, ist lediglich die Kompaktheit einer Metapher, eines einzigen Satzes für all das. Oder etwa doch nicht, mein Freund? Weshalb nämlich schwelgt Deine Begründung, Dein Eingeständnis, Deine halbe Konkurserklärung dann derart in Details? Und weshalb noch immer dieses impertinente Grinsen, unangemessen einem Alter, in welchem andere bereits Väter sind, wissende Erzeuger von Söhnen, Töchtern und anderen bleibenden Memoiren.

Double

Die Hemden, die T-Shirts und die Adidas-Schuhe, Babak, die ganzen Klamotten.

Blaue Jogginghose, selbstverständlich irgendein Markenname, und dazu das weiße Muskelshirt: der erste Eindruck im Dämmer des Clubs, an der Bar hinter der Tanzfläche. Danach die erste Nacht, zusammen verbracht. Und am nächsten Abend jenes bis zur Mitte seiner dunkel behaarten Unterarme hochgekrempelte Hemd. Natürlich auch die Jeans. Pierre Cardin, du erinnerst dich. Sind wir etwa Dritte Welt? Die perfekte Dopplung, mein Freund. Das Wagenfenster bis zum Anschlag heruntergedreht, Musik im Autoradio, Ellenbogen im Fensterrahmen. Die Rolex an der linken Hand, die das Steuer hält. Herumfahren in der Stadt, Herumsuchen, ab und zu ein scheues, ein werbendes Lächeln in meine Richtung: Siehst du? An den Kreuzungen – träge trieft der vom Rot der Ampel gefleckte Regen auf den schadhaften Asphalt, versinken die Häuschen in der Zona Una in zusätzlicher Dunkelheit – schnell die Scheiben hochgedreht, und ich frage, vielleicht ein bisschen benebelt von all den geleerten Cervezas zuvor: «Wegen der Basidsch?» Logisch, ich höre dein Lachen.

Natürlich versteht Lucas nichts. Sieht mich von der Seite an, kneift die Augen zu und reißt sie wieder auf, beugt sich dann auf seinem Sitz ein wenig nach vorn, schaut nach oben auf den Wechsel von Gelb zu Grün und startet, ein winziges Schlingern der Reifen auf regennasser Straße.

«Was sagst du?»

«Wegen der Revolutionswächter, der Basidsch. In der Unterstadt rekrutierte Schlägertruppen des Regimes, die Jagd machen auf Frauen ohne Schleier, auf händchenhaltende Paare, auf Leute, die im Auto Musik hören …»

«Und wo soll das sein?»

Ich sag’s ihm, und er schaut mich an, als hätte ich Mars gesagt; die Welt ist zu groß. Babak, hörst du: Wo soll das sein?

Lucas schüttelt den Kopf, ein wenig ungläubig. «Nicht deswegen. Ich möchte nur nicht beklaut werden, keine kalte Knarre vor meinen Augen haben. Nicht heute Abend und vor allem nicht hier.»

Erneut waren wir unterwegs in Zone 1 der Hauptstadt. Schäbige, verfallene Palacios, Eisenjalousien, Rollgitter, übereinandergenagelte, morsche Bretter anstelle von Ladentüren, bröckelnde Balustraden, flügellahme, zu Fratzen entstellte Engel und Putten über Portalen, schiefe Dachtraufen neben winzigen, menschenleeren Balkonen, Regenfäden-Schicksalsfäden im Zentrum der Macht. Plaza Mayor, Kathedrale, Bischofssitz, und der Präsidentenpalast genau wie in Asturias’ Roman ein dunkelgraues Steinmonster mit barocker Lügenfassade. La nación, la dignidad, Allahu akbar! Klapp-klapp der Soldatenstiefel davor und das auf die Gewehre aufgepflanzte Bajonett nicht etwa mit blitzender, sondern enttäuschend stumpfer Spitze senkrecht über den Epauletten.

Macht Lucas, während wir die 6. Calle hinunterfahren, das Fenster aus Angst vor den an den Ecken Herumlungernden noch immer geschlossen, Madonnas neueste CD im Rekorder, irgendwelche Bemerkungen über Kasernenspiele, über willige, geile Soldaten, kennt er Geschichten von Freunden, die irgendwann einmal mit einem von diesen …? Natürlich macht er, natürlich kennt er. Mehr noch.

Babak, denkst du noch an meinen Spott und deine Antwort? Damals, als wir jeden zweiten Abend durch den Park Mellat schlenderten, vor und zurück, zickzack und diagonal, Blicke im Laternenlicht der Nacht, schnell weggedrehte Köpfe angesichts der Wärter mit ihren Schlagstöcken, aber trotzdem laufen laufen gucken laufen. Was haben wir schon außer dem Park? Höchstens noch die Shopping-Mall und die Terrasse von Our Fried Chicken, das vor der Revolution, höchstens meine Eltern wissen’s noch, Kentucky geheißen hatte.

«Lucas, zeigst du mir die Stadt noch einmal?»

«Komm schon, Stadtbesichtigung war gestern. Wir fahren ins SO 36

Nein, kein Witz: Er hat mir eure Stadt gezeigt. Sie haben sie mir gezeigt, Lucas und zwei seiner angeblichen Freunde aus dem Club, die auf den Rücksitzen lümmelten, sich jedoch immer wieder vorbeugten, Lucas berichtigten oder ergänzten, ihn langsamer fahren hießen, um mir – da links, dort rechts – etwas zu zeigen. Oder unvermittelt zu schreien anfingen, um uns alle zu schützen. «Letzte Woche ist hier einer draufgegangen, Dios, gib endlich Gas.» Lucas, östlich des Parque Central gerade an der Iglesia La Merced angelangt, fährt dennoch weiter im aufreizenden Schritttempo, um mich auf das Kuppelmosaik und den Löwen aufmerksam zu machen und: «Da vor dem Portal hat’s einen der Helden von El Señor Presidente erwischt, dem Roman unseres Nobelpreisträgers.»

Darauf das Protest-Stakkato von hinten: «Von wegen Held. Ein Schwein war das, Oberst José Parrales Sonriente. Außerdem haben die unseren Nobelpreisträger dann fast fürs ganze Leben ins Exil getrieben, ich hab an der Universität studiert, anstatt mich dort nur aufm Klo herumzutreiben und Typen aufzureißen, amigo

«Und wo bist du schließlich gelandet?»

Lucas drehte den Kopf zu mir und wiederholte laut, für alle im Wagen bestimmt: «Und wo ist er gelandet? Bei Nuestro Diario, dem Schundblatt! Nur deshalb weiß er, dass vor ein paar Tagen an der Merced wieder mal einer erstochen wurde, vom Kinn bis zum Kehlkopf aufgeschlitzt. Klaro, sie haben’s ja selbst erfunden, die Burschen, und am Morgen danach hatten’s alle, mit Bild und rotem Kreis über der Wunde, vor ihrer Nase, als sie in den klapprigen Bussen zur Arbeit fuhren.»

«Als ob du jemals in deinem Leben Stadtbus gefahren wärst, Lucas. Hör zu, wir sind gleich da, setz Bernardo ab und dann mich. Übrigens, fahrt ihr weiter zu deiner Mutter oder ergatterst du dir eine Hotelnacht, wieder mal?»

Klaro, Babak: Wahre Freunde. Denen man den Fremden vorführt, die sich als Stadtführer gegenseitig übertrumpfen, bis der Überdruss, die Eifersucht überhandnimmt, la gossip, nicht wahr? Was dir Shahriyar über den Weißen Palast erzählt hat, stimmt schon. Dort haben sich ’43 tatsächlich Stalin, Roosevelt und Churchill getroffen. Aber Gott, als ob er dabei gewesen wäre. Oder einer aus seiner Familie, den neureichen Protzen. Weißt du, was sein Großvater war? Sockenverkäufer! An der Ecke zur Zitadelle hat er gestanden und die von seiner Frau gestrickten Socken verkauft. Weshalb sollte ich mich nicht erinnern? Einen Knuff in deine Schulter als ziemlich sanfte Art, meinen Ärger abzureagieren. Nicht, dass Shahriyar, die aufgedrehte Tunte mit der Digitalkamera, weniger Schmock als ihr alle gewesen wäre. Aber du – gern doch, Habibi – sahst eben besser aus. Noch besser als deine aufgestylten Kumpane, so ein richtiger Good-for-nothing zum Reinbeißen und Durchnehmen, und als ich dir den Knuff gab, war doch das deine Antwort: Recht hast du. Bestraf mich. Fang schon mal an, ja? Er wird mir jetzt schon steif.

Ich sage: «In Berlin gibt es eine Diskothek mit gleichem Namen. SO für den Südosten der Stadt, ehemaliger Postbezirk 36. Alternativ-Punk und noch immer ein Kultladen.»

Lucas sagt, den Ellenbogen wieder über dem heruntergesurrten Wagenfenster: «Wahrscheinlich ist sie das Original. Wirst gleich sehen, was die hier daraus gemacht haben.»

Die hier, Babak. Die Schweine, von denen einer Oberst Sonriente hieß, wenn auch nur in einem Roman. Jedenfalls nicht seine Stadt, nicht deine Stadt. Besetztes Territorium, eigentlich Feindgebiet, nur per Mittelklassewagen zu durchqueren, in regelmäßig wechselndem Outfit. Um es denen zu zeigen. Dazu sieht er ja auch noch aus wie du. Die gleiche Körpergröße und diese Witze über mich, den einen Kopf Größeren. Die penibel wegrasierten Rückenhaare, das George-Michael-Bärtchen gestern, heute die glatte Haut mit dem Duft von importiertem Aftershave. Und selbst beim Sex, ich schwör’s, die gleichen Bewegungen. Beckenkreisende Schlampenmutwilligkeit und die ewigen Dreier-Fantasien (nicht, dass ihr euren Freunden jemals gönnen würdet, gemeinsam an euren zufällig aufgepickten Ausländern herumzumachen), diese Obsession mit Orgien in Ermanglung anderer Aktivitäten, aus Mangel an Zeit, Zukunft, Hoffnung. Time is not on our side. Und gerade deshalb diese noch in winzigster Hautreibung wiedererkennbaren Umarmungen, eure Umarmungen, stammelndes Geflüster ins Ohr, Schwimmer in Seenot auf der Suche nach Land. Anfang dreißig, die Brille mit dem modisch schwarzen Rahmen regelmäßig ins Handschuhfach des Autos, in die Brusttasche des Armani-Hemds gesteckt, um blinzelnd jünger zu wirken, das ebenfalls schwarze Haar dennoch am Hinterkopf schon einen winzigen Tick gelichtet – deshalb der Kurzhaarschnitt –, und bei alldem eure dunklen Augen erschrocken oder werbend, mitunter sogar abwehrend: So schlimm ist es hier ja auch wieder nicht. Die Mundwinkel, die euch in solchen Momenten Lügen strafen. Selbstverständlich erzähl ich ihm von dir, was glaubst du? Lucas weiß nur nicht so recht, ob er begeistert sein soll, geschmeichelt oder irritiert.

«Unser SO 36 … Dort kannst du in Ruhe was machen oder jemand mitnehmen, dem du vertraust. Der aus guter Familie kommt und dich nicht ausraubt. Nicht, dass ich allzu oft dort wäre.» Babak, hab ich’s nicht gesagt?

Wie Lucas, nachdem er seinen Wagen in einer abschüssigen Nebenstraße geparkt, den CD-Player unter dem Vordersitz versteckt und die Türen abgeschlossen hat, dem hier schon wartenden, in Lumpen gekleideten Strichmännchen ein paar zerknitterte Quetzalscheine in die schwielige, verschmutzte Hand drückt. Wie er kurz vorm Ausflippen ist, als der Abgerissene mit schiefem Lächeln und devot gebeugtem Rücken – eine Bitte, Señor, vielleicht auch eine kleine Drohung – das Doppelte erheischt und ein weiteres labbriges, ausgeblichenes Scheinchen zugesteckt bekommt, damit er im Halbdunkel der Nacht auf den Wagen aufpasst. Schmierige Intimität, deine Worte, Babak, deine Worte. Wie nebenbei hingeworfen nach jenem Dinner in Shahriyars Wohnung, an dem Abend, als er sich – Überraschung! – angeblich zwei boys aus der Unterstadt kommen lassen wollte. Downtown-people, aber sie ficken ihn; nötig, wie er’s hat.

Das Eisengittertor vor dem Club. Das Kopfnicken des bulligen Wachmanns im Schatten dahinter, als er im trüben, flackernden Licht der einzigen Straßenlaterne Lucas erkennt. Lucas’ jetzt schon besser versteckter Ekel, nachdem die Tür sich geöffnet hat und die schwielige Pranke des Wachmanns auf seinem dezent nach Bulgari duftenden Nacken gelandet ist. («Du hast es erkannt, nicht wahr? Mein Lieblingsduft, diese Klasse! Nein, nicht hier in der Stadt, das wäre zu teuer. Im Flughafen von San José, bei einem Zwischenstopp, zu einer dieser Superpreis-Aktionen. Eau de Toilette plus Shampoo und Aftershave, unschlagbar.» Abu Dhabi, erinnerst du dich? Die Shopping-Malls von Abu Dhabi und die verdammten Wunschlisten deiner Freunde.)

Und auf einmal der Geruch von Sex in der Luft. Bier, Reinigungsmittel, das Rauschen der Fernseher in den türlosen Räumen. Schlierige Schemen von Achtzigerjahre-Pornos huschen über schadhafte Bodenfliesen, Quietschen der zerschlissenen Ledersofas, Stöhngeräusche aus lichtlosen Holzverschlägen, und dein Blick, Lucas, dein Blick: Hättest du hier nicht erwartet, was? Kann sich schon sehen lassen im Vergleich zu Amsterdam oder Berlin, nicht? SO 36!

«Nicht, dass ich Berlin kennen würde. Weder London noch Madrid. Und von den Staaten auch nur San Diego, als wir, Mutter und ich, einmal Vater besucht haben, als er dort eine Art Ausbildung machte.»

«Eine Ausbildung?»

Klar, Babak, wieder mal richtig getippt. Natürlich war das danach, nach dem Club-Besuch. Als wir wieder im Auto saßen, dem gesicherten Wagen, eurer mobilen Heimat, wo sich reden lässt ohne Angst vor gespitzten Ohren, reden von der Zähigkeit all dessen und man dennoch losbrausen kann, Touch von Gefahr und Schnelligkeit, Illusion rasanter Existenz. Africa Boulevard, Schnellstraße und Stadtautobahn, unter den gigantischen Bildern der religiösen Führer hindurch, die jedes Brückengeländer in Beschlag nehmen, flutsch!, und gleich jagen wir an den mit Brettern und Wellblech zugestellten Ständen des Mercado vorbei, irgendwann rechts eine Kopie des Eiffelturms, Idee des skurrilen Mörder-Präsidenten Ubico, Datum 1934 (Oh, ihr Stadtkenner!), doch der Wagen braust weiter, verlangsamt das Tempo angesichts der Wachleute vor einem Bankgebäude, denn schon sind wir – wie damals in der Nähe der ehemaligen Sommerresidenz der gestürzten Pahlavis – im Norden der Stadt, haben eine andere, eine bessere Zone erreicht, Una Dos Tres et Viva la Vida!

«Eine Ausbildung, Lucas?»

Du siehst, Babak, die gleiche Vertrautheit. Sekundenkomplizenschaft, der Schwimmer und das Ufer, das vermeintliche, dabei habe ich weder Wagen noch wohlhabende Familie, ich nicht, Reisender mit leichtem Gepäck und gewissem – ja, das schon, ich sehe dein Grinsen – sagen wir: Gespür. Eine Ausbildung?

Lucas macht sich am CD-Player zu schaffen, der sich wieder an seinem Platz befindet, aber noch singt Madonna nicht, auch ist zumindest der rechte Hemdärmel – «right hand, action hand» – ach Babak, deine Sprüche – nur nachlässig nach oben gerollt, Erinnerung an das Treiben kurz zuvor in einem der Räume, in dem eine Glühbirne baumelte und zwei Plastikstühle standen, auf denen irgendwann zwei herangeschlurfte Jungs mit vollem, blauschwarz schimmerndem Haarschopf Platz nahmen. Dein Flüstern, Lucas, deine Lippen an meinem Ohr. Just Mayas, but usually they suck well. Und doch warst gleich darauf du es, der auf die Knie gegangen ist, deine Pierre-Cardin-Jeans-Knie auf dem von Zigarettenkippen und Speichel besudelten Boden, auf Shahriyars edlem Wohnzimmerteppich, und die Jungs, die du Mayas nanntest, Basari-Handlanger aus dem Südteil Teherans, bedientest, deine Augen schamhaft von meinen abgewandt angesichts ihrer ausgeleierten Slips, ihres verschwitzten Schamhaars, ihrer großen Dauer-Thema-Eurer-Partys-Schwänze, doch gleichzeitig als Geste des Vertrauens dein hochgereckter Arm (der so eilig hochgekrempelte Hemdärmel) und in deiner Faust Autoschlüssel und Geldbörse, mir zur Aufbewahrung, zum Schutz übergeben.

Lucas fummelt weiter am CD-Player herum, der sich wieder an seinem Platz befindet, aber noch singt Madonna nicht, gerade fahrt ihr an den Betonklumpen der neuen Ministerien vorbei, unter den Bäumen davor erneut allerlei Herumlungernde, Lucas nimmt und nimmt den Fuß nicht vom Gaspedal, und auf einmal sehe ich, wie ein Aufblitzen und gleichzeitiges Verlöschen, dieses Zucken im Gesicht, schmerzversehrte Zehntelsekunde.

«Ich lebe bei meiner Mutter. Sie hat dieses Apartment in Zone 10, und wir verstehen uns prächtig.» Lucas …?

Natürlich ging es mich nichts an, Babak, natürlich weiß ich das. Natürlich wollte ich mehr erfahren. Erinnere dich, meine Fragen hatten dich ebenfalls gelöchert. Damals, als ich durch die Wohnung ging, deine Mutter in der riesigen Küche beim Zubereiten des Lunch und so froh für ihren Sohn, den Traurigen, den Schönen, den im abgesteckten Rahmen seiner Touristenvisa Weltreisenden, dass er in Amsterdam diesen Deutschen aufgetan und mit ihm Freundschaft geschlossen, ja ihn sogar hierher nach Teheran gebracht hatte: Komm und sieh! Und was ich sah, Babak, war deine Mutter, deren Foto auf dem Nachttisch deines Zimmers stand, in dem wir schliefen, ohne dass es hochgezogene Augenbrauen gegeben hätte – sogar geklopft hat sie, als das zweite Telefon schrillte, draußen im Vestibül, und am Apparat dein Vater. Hatte ich nach dem Abendessen bei ihm etwa keine Fragen gestellt, als wir – wieder einmal – durch die Stadt rasten, die Musik an den Ampeln schnell leise stellten und du auf den Park zeigtest wie Lucas jetzt mit seiner Rolexhand auf ein schmiedeeisernes, rundes Urinal, ebenso wie die lächerliche Eiffelturmkopie eine Marotte jener inzwischen nur noch korrupten, bis vor Kurzem jedoch blutrünstigen Herrscher, von denen er mir nicht erzählen will, weil es in diesem Urinal eben manchmal nach Einbruch der Dunkelheit ja doch action gab, mitunter sogar – oh Lucas, Dein entschuldigendes Lächeln – mit einem oder zwei der schwarz uniformierten Polizisten, die nicht zum Abkassieren oder Schlagen, sondern zum Abschlagen ihrer Körpersäfte hierhergeschlendert waren. Und dennoch wollte ich es wissen, ein wenig müde eurer mit dem schlechten Gewissen wollüstiger Pubertierender vorgetragenen Teheraner Verbotsübertretungs-Geschichten, wollte wissen, weshalb deine Mutter allein lebt, die Frau in der Küche, im Salon, die auf dem Foto neben deinem Bett aussieht wie Romy Schneider, einen kleinen Babak mit Kapitänsmütze auf dem Arm, glasgerahmtes Venedig 1973.

«Weil sie es ihm nie verzeihen konnte, sechs Jahre später die Familie hierher zurückgebracht zu haben. Weil er das schon Erreichte im Ausland so schnell aufgegeben hatte, nur um mit den Mullahs Geschäfte zu machen, geblendet von windigen Versprechen. Weil er kurz darauf alles, fast alles verlor und wir nun hier festsitzen und nicht mehr rauskönnen. Weil sie wegen lackierter Fingernägel im Haus der Revolutionswächter zusammengeschlagen wurde, während er gerade mit einflussreichen Basaris, die gute Drähte nach oben besaßen, um irgendwelche Konzessionen feilschte. Weil er glaubt, sich für uns aufgeopfert zu haben, und sie, und das noch heute, jedes Mal, wenn sie sich treffen, sich in Andeutungen und Vorwürfen ergeht, worauf dann auch er den Tränen nahe ist. Und weil ich, wenn du es so genau wissen willst, mich von den Angestellten ebendieser Basaris ficken lasse, dreivierfünf hintereinander, und ich das Orgie nenne, die Augen schließe und von einer anderen Welt träume. Mit mehr als nur einem Touristenvisum für Freigänger, die in Amsterdam einmal vögeln dürfen ohne die Furcht, womöglich gesteinigt zu werden. Ein Leben, in dem man einfach reist und solch unverschämte Fragen stellt wie du, mein Freund.»

Du hast geschrien, Babak, du hast geweint. Und am nächsten Morgen, deine Mutter mit dem Frühstückstablett an der Tür – oh, Offenheit der gefallenen Oberschicht –, sah jeder in den Augen des anderen, dass die Exotik gegangen und die Erkenntnis gekommen war, deprimierender Wechsel. Seither aber schreibe ich dir diese Briefe, und du, du schaltest spätnachts den Computer ein, antwortest und stellst Fragen. Nein, dieser Lucas hat weder getobt noch nasse Augen bekommen, nur schneller ist er gefahren, um mit mir bald im Hotel zu sein, um nur für Stenogrammsätze Zeit zu finden.

Lucas sagt: «Das waren die Amerikaner.»

«Was waren die Amerikaner?»

«Das mit der Ausbildung. Sie haben damals das Militär ausgebildet. Gegen die Guerillas. Das Militär und die Paramilitärs.»

«Damit sie die Ordnung wiederherstellen, was? Damit sie Massaker verüben.»

Weshalb sollte ich nicht urteilen, Babak, warum sollte ich es mir verkneifen, ein Zeitungsleser wie jeder andere?

«Du musst mich darüber nicht belehren, ich weiß es selbst.»

«Und …?»

«Ob ich es ihm auf den Kopf zugesagt habe? Ob er mir etwas erzählt hat? Ob wir überhaupt noch miteinander reden?» Siete-ocho-nueve, Lucas startet durch und gibt Gas, gleich sind wir in Zone 10, denn das Encuentro in der 5. Avenida hatte ebenso geschlossen wie jene andere Bar in der 4. Calle.

«Heute ist Montag, das ist immer schlecht», Lucas’ Stimme in gleichbleibendem Entschuldigungston, die Straßenlaternen stehen nun enger, die Häuser höher, und auf den Grasstreifen vor den Umfriedungsmauern lungert kein Gesindel mehr. Deine Worte, Lucas, von vorhin.

Klar, Lucas hat Gesindel gesagt. In exakt jenem Ton, mit dem du von den Downtown-people gesprochen hattest, von euren virilen Südstadt-Fickern mit den altmodischen Slips, großer Schwanz und keine Fragen. Voller Angst und Sehnsucht, ihr. Nein, nicht die Bettler. Die Stricher, Babak. Die Stricher. Die hochgewachsenen Maya-Mischlinge und die Mulatten, Söhne schwarzer honduranischer Paramilitärs, Lucas’ Generation. Geiles, gefährliches Gesindel, das in der Straße hinter dem Präsidentenpalast im nächtlichen Nieselregen hin und her läuft, den Kopf in die Fenster der stoppenden Wagen aus Zone 10 steckt, den Jeans-Arsch kreisen lässt, die Augen zu schmalen Schlitzen verengt. «Siehst du den da? Den mit der Ausbuchtung neben dem Reißverschluss, in Höhe seiner Hand? Der größte Schwanz der Stadt. Zumindest behaupten sie das. Die Billigen akzeptieren Quetzal, die anderen nur Dollars, aber die stehen nicht hier.»

«Und du, Lucas?»

«Was meinst du? Ich und bezahlen? Honey!» Euer Griff zur Rolex und dann sogleich zum Kinn, mit Gillette rasiert und noch markant mit Anfang dreißig; also bitte. Und wisst dennoch merkwürdig gut Bescheid.

«Hier kennt doch jeder jeden. Ich meine in den Clubs, im SO 36. Und der hat mit diesem schon rumgemacht. Ohne Geld, meine ich. Natürlich. Außerdem darf die Familie nichts erfahren.»

«Und die Polizei, die Patrouillen?»

«Wieso die Polizei? Der ist das doch egal, es ist ja nichts Verbotenes. Außer du bist ein Geschäftsmann mit Frau und Kindern, so ein richtig kleiner ohne Protektion, dann halten sie schon mal die Hand, die Hände auf. Aber nicht bei uns. Nicht bei uns.»

Wäre über Lucas’ Gesicht nicht genau in diesem Moment der Nachhall, die Spur eines winzigen Triumphs gezogen, ich wäre nicht darauf gekommen. Dein Vater, ja? Noch immer einer der Zampanos, was? Da kuschen die Bullen, da wagen sie nichts, da kann dein Wagen ruhig vorm SO 36 parken. Ist das so, Lucas? Aber nein, ich frage nichts, denn er spricht weiter. Sagt, in der Pose eines resignierten Kenners, er tut mir leid, wie er den Rücken gegen den Fahrersitz drückt, so verdammt sexy und verflucht allein, sagt: «Nur drüben ist es noch schlimmer, in El Salvador. Mein Ex-Freund hat für ein paar Monate da gearbeitet, und ich Idiot habe hier auf ihn gewartet, beinahe keusch.»

Denkst du an Isfahan, Babak? In Isfahan ist es übler. Das Hin- und Herwandern auf der Brücke, die Geilheit und die gegenseitige Verachtung, Nacht für Nacht.

«Wenn du wirklich was erleben willst, musst du rüber nach San José. Solange du dir Miami nicht leisten kannst, aber wer kann das schon.»

Oder nach Abu Dhabi. Auch Istanbul wäre okay. Aber wovon sie alle schwärmen, alle, ist Tel Aviv. Stell dir vor, ausgerechnet das verbotene, ihnen unzugängliche Tel Aviv, der Traum von nackten Israeli-Soldaten.

Wie Lucas reagiert hat? Wenn du’s wissen willst: mit Grinsen und einem Griff an meinen Schritt. «Erzähl mir nicht von anderen Gegenden. Wir Bewohner kleiner Länder mögen das nicht, verstehst du. Fühlen uns gedemütigt. San José habe ich gesagt, San José in Costa Rica. Und als Traum unseren Traum. Miami, nicht irgendwelche Orte im Nahen Osten.» Lucas’ massierende rechte Hand und sein Botschaften aussendender Blick.

Nein, nicht bei seiner Mutter. Zu mir ins Hotel. Woher soll ich das wissen? Vier Sterne oder fünf, jedenfalls war es ein Camino Real, und Lucas hat genauso durch die Zähne gepfiffen wie du, als wir am ehemaligen Hyatt vorbeifuhren, damals, in Sichtweite des Evin-Gefängnisses. Ihr mögt Ketten, oder? Sicher, ich hab das gleiche Wortspiel gemacht. Nur um die Reaktion zu testen: haargenau die gleiche. «He, Arschloch, du hast gut reden, eine Reiseagentur oder eine Zeitung, die dir hier ein Zimmer bezahlt, und anstatt dankbar zu sein …»

Und in der Hotelhalle war es still, wenn auch anders still als draußen in der Stadt. Kein Geschrei mehr der frisch adoptierten Babys, keine Mickymäuse neben dunklen Gesichtchen in Kinderwagen, besorgt beäugt von Gringo-Paaren, die sich hier tagsüber gegenseitig mit geflüsterten Ratschlägen überboten. Weltraumstille, sauber und steril, ganz anders als in den Calles mit ihrem im Regen dampfenden, sirrenden Schweigen rund um die geschlossenen, mit Eisenriegeln verrammelten Bars, die Lucas’ Reden von den Geheimnissen der Nacht zunehmend hoffnungsloser gemacht hatten, bis er dann schließlich mit Vollgas die Avenida La Reforma herunterraste, schlingernde Reifen, nur um schneller hier zu sein, eben in jener anderen, weniger bedrohlichen Stille. Hier, im Licht der Lüster, vervielfacht von all den Spiegeln und den Marmorböden der Lobby. Hier, im Angesicht der drei oder vier in routinierter Höflichkeit ihre Übermüdung weglächelnden Rezeptionisten, die sich an den Knoten ihrer Krawatte greifen und ein gesetztes Buenas Noches wünschen, da sie auch Lucas für einen Ausländer halten, was ihn ebenso stolz macht wie dich in Teheran, als man auch dich im BoulMich auf Englisch ansprach. Gut, zuerst warst du tödlich beleidigt, dass der Kellner, offensichtlich ein ganz neuer, in dir nicht den Stammgast erkannte, doch dann.

«Du hast mir noch immer nicht erzählt, wo du überall warst.»

«Die übliche Tour», sage ich. «Zumindest nehme ich das an. Antigua …»

«Der Bruder meines Vaters hat dort ein Häuschen, na ja, eher ein Haus, wenn du verstehst.»

Nein, nicht in Ramsar, oben am Kaspischen Meer. In Antigua, der kolonialen Barock- und Erdbebenstadt. Nein, wieder falsch geraten: auch nicht im Lift. Dieses Gespräch dann bereits schon im Bett, Seite an Seite, wir beide nackt, die Hände auf dem Körper des anderen.

«Dann mit dem Flieger ein Tagesausflug zu den Maya-Tempeln von Tikal, Dschungelarchitektur von Unterordnung und Angst. Danach zurück in die Hauptstadt und von da über die Sierra Madre zum Lago Atitlán.»

Lucas möchte irgendetwas sagen, wahrscheinlich erneut eine verwandtschaftliche Note setzen, doch ehe es dazu kommt – der Knuff in den Oberarm, Babak –, sage ich: «Santiago Atitlán. Die Kirche und der Blick über den See. Unvorstellbar, dass hier 1982 die Armee dieses Massaker verübt hat, eines von vielen.»

«Du weißt Bescheid», sagt Lucas, und obwohl ich genau hinhöre, weiß ich nicht, ob es erleichtert oder verängstigt klingt. Nicht, dass es einen Unterschied machen würde. Du weißt Bescheid, okay, lassen wir’s dabei bewenden, ja? Du weißt, was du im Internet oder wegen mir auch im Gespräch mit einem der übriggebliebenen oder wiedergekommenen oder was-weiß-ich-denn Campesino-Padres herausgefunden hast, aber was den Ex-Mann meiner Mutter betrifft, ja, den Vater …

Jedenfalls hat er mir den Mund mit seiner Zunge verschlossen, hat das Licht gelöscht und dann … Das Vorhersehbare, Babak, das Übliche. Ja. Angenehm, eine schöne Fortsetzung der gestrigen Nacht, aber welche Teufel hatten mich geritten, dass ich – danach, mitten in unsere Erschöpfung hinein – Maschhad sagte? Beim nächsten Mal würde ich von hier aus gern in den Nordosten reisen, nach Maschhad.

Tut mir leid, dass du es als Angriff verstanden hattest, ungerecht und unerwartet in das so einträchtig schwere und dann immer leichter werdende Atmen von uns zwei hineingestoßen. Weshalb Maschhad, bist du verrückt? Dort wohnen die Fanatiker, die Imam-Reza-Anbeter. Was willst du in der verdammten Mullah-Stadt, wenn ich dir doch hier alles biete.

«Gott», sagt Lucas. «Dort haben sie dich hingekarrt? Chichicastenango, wo die verschrumpelten Mayas sonntagmorgens ihre Kochbananen feilboten und neben Maniokhaufen hocken, die größer sind als sie? Wo sie auf der Freitreppe vor der Kirche Blumen verkaufen, für ihren faulen Zauber mit dem Feuer-und-Asche-Spektakel auf dem Hügel zum Friedhof? Dort warst du? Guck an, und ich kenn’s nur aus der Schule! Chi-Chi-Armani, haben wir damals gerufen, nein: gebrüllt. Nur um unsren bebrillten, unterbezahlten Lehrerbüttel zu ärgern, weil aus seinem Mund dieses Chichicastenango noch blöder und irgendwie bedrohlicher klang, als es sowieso schon war. Diese Namen …»

«Maschhad.»

«Was, Honey?»

Ich sage: «Nichts.» Und dann?

Und dann habe ich seine Hand genommen, so wie damals. Genau so, Babak. Und dann seid ihr eingeschlafen, im Abstand der Jahre und der Kontinente. In regelmäßigem Senken eurer rasierten Brust, frischer Schweiß, dieser leichte Duft nach Hautcreme, und eure Hände, verkrampft in meiner, als wäre es der Halt. Ausgerechnet. Nein, falsch: Du hast mich nicht lächeln sehen. Weder damals noch jetzt. Weder weinen noch lächeln. Nur dieses leichte Schlucken, später, nicht mal ein Würgen, zweifellos lautlos am frühen Morgen, unter dem Geschrei der gekauften Babys unten am Pool, dem Singsang des Muezzins, gefiltert zu gemurmelten Gerüchten hinter den schweren Vorhängen vor den Fenstern in zwei Städten, einem einzigen Leben.

Das Drumherum. Eine Abschweifung

Es war nicht allein der Sex. (Nicht, dass es ihm nicht gefallen hätte.)

Es war auch nicht die Tatsache, dass er sich gerade auf einem Bett in Höhe der S-Bahn-Gleise herumtrieb, die vom Zoo hinüber zum Savignyplatz und von da weiter nach Potsdam führten. (Nicht, dass es ihn gestört hätte.)

Es war nicht einmal – nicht dies allein, sagte er sich währenddessen –, weil er die in zehn Meter Abstand vorbeigleitenden Abteile mit Schemen bevölkert sah und ihnen für einen Sekundenblick das Gratis-Spektakel von Hotelsex bot. (Nicht, dass es ungewöhnlich wild zugegangen wäre. Nicht, dass er glaubte, ihm gänzlich unbekannten S-Bahn-Passagieren irgendetwas bieten zu müssen.)

Es war nicht so – wenn ihm auch, während auf dem Bett der nackte Tänzer vor ihm kniete, ehe sie die Stellung wechselten, etwas seltsam vorkam, wie detailliert er das alles wahrnahm –, dass es ihn über Gebühr erregt hätte, sich selbst auf einer weißen Daunendecke inmitten eines hellen Fensterrechtecks und damit wiederum in der Mitte einer roten Backsteinwand zu sehen, die als Spiegelbild von den Zugfenstern zurück in ihr Zimmer geworfen wurde; außen-innen-außen. (Nicht, dass er ein untergründiges Triumphgefühl verspürte, sich, jetzt gerade, dieses ihr Zimmer denken zu hören, begehbar durch Lobby, Lift und den leicht nach links gebogenen, mit einem grünen Spannteppich belegten Gang im zweiten Stock. Auch nicht, dass er sich in diesem Moment allzu ausgiebig an eine Szene aus Der Körper des Schattens des Kutschers erinnert hätte – obwohl drüben im Zwiebelfisch am Savignyplatz bestimmt genug Typen herumhingen, die nicht nur Peter Weiss noch persönlich gekannt hatten oder zumindest das Suhrkamp-Buch in der Erstausgabe besaßen, sondern auch noch alle üblichen Dritte-Welt-Pamphlete von Ches nihilistischen Heldentaten bis zu Enzensbergers stilvollerem Widerruf im Verhör von Habana ihr Eigen nannten in ihren schönen mietpreisgebundenen, großräumigen Abgezogene-Dielen-Wohnungen zwischen Grolman- und Schlüterstraße: allwissende, wenngleich nicht immer gänzlich idiotische Leute, die seine Väter hätten sein können oder – was das Alter betraf – Miguels Großeltern. Oder war das etwa bereits Esteban? Nicht, dass er gern den Überblick verlor.)

Es war auch keineswegs so, dass er sich und den jeweils anderen ohne Unterlass – das heißt im Drei-Minuten-Abstand der frühabendlichen S-Bahn-Züge – gespiegelt sehen musste, in einer gleiserbebend urbanen Abart ganz gewöhnlichen Narzissmus. (Nicht, dass sie in der kurzen Ewigkeit ihrer Begegnung dauernd in den gleichen Positionen verharrt hätten. Nicht, dass sie nicht auch auf dem Bett herumgerollt wären, ihre Münder und Gliedmaßen ineinander verschlungen. Nicht, dass nicht zumindest für den Bruchteil von Sekunden der nahe Savignyplatz in seinem Hirn aufgetaucht wäre und dazu der unnötige Kalauer: Lieber 69 als 68. Nicht, dass er irgendwann nicht auch sein Becken an den herausgestreckten Hintern des anderen gedrückt gesehen hätte. Und auch nicht, dass er beim Liebemachen dauernd etwas sehen musste, obwohl er doch, ehe er seine Zunge auf Wanderschaft schickte, schon sehr genau hinschaute, wie sich da vor ihm Fäuste ballten und, in Höhe des gesenkten Kopfs mit dem Kraushaar, ins Laken drückten, wie Knöchel unter dunkelbrauner Haut sichtbar wurden und die lose geknüpften Leder- und Freundschaftsbänder an den Handgelenken, wie all die Silberreife in sanfte Bewegung gerieten. Nicht, dass er der Versuchung widerstanden hatte, als dann er in dieser Position kniete, ab und zu, dann jedoch einen beinahe herausfordernd zu deutenden Blick in die von Zugabteilen durchschnittene Dunkelheit da draußen zu werfen.)

Es war ebenfalls nicht so, dass sich bei solchen Gelüsten unter der Hand etwa die große Rache breitgemacht hätte. (Nicht, dass sie überhaupt keinen Raum beansprucht hätte, diese winzig kleine Vergeltungsfantasie gegenüber all den Blassen-Schlauen-Überklugen, die er sich da in den Zugabteilen vorstellte zusammen mit dem Lebensgepäck ihrer faden, verzweifelten Ironie und dem Pawlow’schen Automatismus, der sie alles, was ihre austarierte Ordnung zu stören drohte, als Klischee abheften und entsorgen hieß. Nicht, dass er angesichts jener Szenen – Miguel war zum Duschen ins Bad gegangen, Esteban hatte das Zimmer betreten und sich sogleich mit beinahe beleidigender Selbstverständlichkeit ausgezogen und zu ihm aufs Bett gelegt – sich dieser Minuten-Allmacht schämte: sein nackter Körper in Umarmung mit dem zweiten Tänzer-Choreografen, währenddessen er erneut zu sehen meinte, was sich da draußen derlei Zugpassagiere beim Sekundenblick ins Zimmer nun wohl gerade zusammengrübelten: So einfallslos – das Leben parodiert ein Porno-Klischee. Wie naiv –, als sei hinter diesem Fenster das wahre Leben. Er aber, er kannte derartige Diskurse und spürte gleichzeitig warme Lippen um seinen Schwanz, und ein bisschen sündenstolz auf seine Schlampenweisheit wurde er da schon.)

Keineswegs aber war es so, dass er sich etwas darauf eingebildet hätte, quasi aus der Menschenmenge heraus ausgewählt, hineingezogen, herausgezogen und dann quer durch die Hotellobby in den Fahrstuhl, über den ewig langen Flur (links drehend) und schließlich in dieses Zimmer und aufs Bett verfrachtet worden zu sein: Er kannte die schnellen Entscheidungen derer aus jener Weltgegend, ihr Lächeln, die fast rührende Konsequenzlosigkeit ihrer Mi vida-Schreie und die selbstvergesslichen, vor allem aber absichtslos ihn vergessenden Gesten danach. (Nicht, dass auch nur einer von beiden dieses Mi vida angebracht hatte – weder mi amor noch que lindo. Nicht aber, dass sie nicht geschrien hätten, einer nach dem anderen und ab und zu natürlich auch er.)

Nicht so war es, dass er geahnt geschweige denn gewusst hatte, dass während der gerade in der Stadt stattfindenden Tourismusmesse die grazile, personenreiche Tanzgruppe des Schwerpunktlandes in diesem Hotel logierte, an welchem er an diesem Abend vorübergegangen war mit dem Ziel, sich im Delphi einen Film anzuschauen. (Nicht, dass er an solchen Tagen, ähnlich der Woche der Berlinale, nicht eine freudige, weil sich kaum auf eine geplante Erfüllung kaprizierende Spannung gespürt hätte, diesen vagen Frühlingsduft von internationalem Flair in der größenwahnsinnigen Kleinstadt der Currywürste. Nicht aber, dass er deshalb jedes Jahr das Messegelände am Kaiserdamm durchstreift hätte. Nicht, dass er überhaupt nie dort gewesen wäre und keine schnellen, unerwarteten und weniger erotischen als überraschenden Begegnungen gehabt hätte. Nicht, dass er aber nicht selbst dort seine Augen für die Parodie, nein: Karikatur gehabt hätte, für das irgendwann wohl auch ihn betreffende Menetekel in Gestalt alternder Einheimischer, die sich mit verzweifeltem Lächeln und Papptüten voller Prospekte vor allem an den arabischen Ständen herumdrückten im folgenlosen Versuch, mehr als einen Blick aus den Augen der jungen Touristikangestellten Jemens, Syriens oder des Oman aufzufangen. Nicht, dass ihm bei solchem Anblick der aufkeimende Spott nicht in der Kehle steckengeblieben wäre.)

Natürlich war es auch nicht so, dass er etwa gezögert hätte oder gar verlegen geworden wäre, von den beiden mit einem einzigen HolaSí!eigentlichen Arbeitdanachund