Dr. Norden -94-


 Ich gehe meinen Weg allein


Roman von Patricia Vandenberg

Kirsten Oetting, eine sportliche junge Frau, fühlt sich nach einem Kenia-Urlaub mit Freunden schlapp und nervös. Dr. Norden verschreibt ihr ein Medikament gegen das Unwohlsein, doch Kirstens beste Freundin, die ehrgeizige Chemikerin Ruth, hat eine eigene Theorie: Sie vermutet, daß die unheilbare Krankheit, an der Kirstens Mutter sterben mußte, vererbt wurde. Damit ruft sie größte Ängste und Sorgen bei der Freundin hervor, die schließlich dazu führen, daß Kirsten den Heiratsantrag des geliebten Lutz Sandberg ablehnt.

Erst, als es fast zu spät ist, erkennt Kirsten, daß sie das Opfer einer heimtückischen Intrige sein sollte…


*


Der Tag begann für Dr. Norden ganz normal, als er seine Praxis betrat. Loni saß am Schreibtisch, das Wartezimmer hatte sich schon gefüllt.

Dr. Norden wusch sich die Hände und blickte dann auf die Karteikarte, die zuoberst lag.

Er lächelte, denn es dünkte ihn ein erfreulicher Anfang, daß Kirsten Oetting die erste Patientin war. Richtig krank war Kirsten nämlich nie, aber da sie viel Sport trieb, zog sie sich hin und wieder kleine Verletzungen zu. Einmal eine Sehnenzerrung, ein anderes Mal Schürfwunden oder Prellungen. Aber Kirsten nahm das hin, und sie nahm es mit Humor. Sie hatte Kraft und Temperament und war nicht wehleidig oder zimperlich. Was Dr. Norden jedoch am meisten freute, war die Tatsache, daß sie kein Muskelpaket wurde, sondern eine sehr attraktive junge Frau blieb.

Es war wohl drei Monate her, daß sie zum letzten Mal bei ihm gewesen war. Da war sie auf dem Tennisplatz ziemlich böse gestürzt und hatte sich den Rücken geprellt.

Als sie an diesem Morgen bei ihm eintrat, erschrak er, so durchsichtig und blaß schaute sie aus.

»Was haben wir denn diesmal wieder angestellt?« fragte er, um sein Erschrecken zu verbergen.

»Überhaupt nichts«, erwiderte Kirsten müde. »Ich bin schon seit Wochen zu schlapp, um überhaupt Sport zu treiben. Ich könnte dauernd schlafen.«

»Ja, dann müssen wir der Ursache wohl einmal zu Leibe rücken«, sagte er aufmunternd. »Jetzt zapfen wir ein bißchen Blut ab, und in ein paar Tagen wissen wir es genau, wie wir die Müdigkeit beheben können. Wie lange geht das denn schon so?«

»Seit ich aus dem Urlaub zurück bin«, erwiderte Kirsten.

»Wo waren Sie diesmal?« fragte Dr. Norden.

»In Kenia. Es war herrlich. Sie haben mich doch geimpft. Erinnern Sie sich nicht mehr?«

Doch, er erinnerte sich. Er war nur vollkommen abgelenkt gewesen, weil Kirsten sich so verändert hatte.

»Ich habe mich an alle Vorschriften gehalten«, sagte Kirsten, »und es ging mir die ganze Zeit auch bestens. Mit dem Urlaub hat es bestimmt nichts zu tun, daß ich mich so elend fühle. Den anderen geht es doch auch gut, und wir haben alle das gleiche gegessen und getrunken.«

»Wer war denn noch  mit von der Partie?« fragte Dr. Norden.

»Mein Chef, Lutz Sandberg, sein Freund Christopher Cannon und meine Freundin Ruth Grönning.«

Zwei Männer und zwei junge Frauen, da kam Dr. Norden ein Gedanke.

»Ein Baby kann nicht unterwegs sein?« fragte er mit einem dezenten Lächeln.

»Gott bewahre«, rief Kirsten aus, »das würde mir gerade noch fehlen!«

»Mögen Sie denn keine Kinder?« fragte Dr. Norden bestürzt.

»Nicht als möglichen Heiratsgrund«, erwiderte sie rasch. »Ach, ich weiß jetzt, was Sie denken, Dr. Norden. Der Chef verreist mit der Sekretärin! Aber dem ist nicht so. Wir haben halt die gleichen Interessen, sonst nichts. Lutz ist zum Ehemann und Vater nicht geschaffen und ich nicht zum Hausmütterchen. Wir vestehen uns viel zu gut, als daß wir uns das mit dem grauen Alltag kaputtmachen wollten.«

Wie sie es sagte, konnte man an ihren Worten eigentlich keinen Zweifel hegen, aber vielleicht gab sie sich diesbezüglich doch einer Selbsttäuschung hin. Ein seelischer Zwiespalt konnte manche merkwürdigen Beschwerden verursachen. Er wußte es nur zu gut. Täglich erlebte er es aus den unterschiedlichsten Konfliktsituationen.

Sie zuckte nicht mit den Wimpern, als er ihr das Blut abnahm. Der Puls war, wie er feststellte, leicht beschleunigt. Der Blutdruck etwas zu niedrig, aber nicht besorgniserregend.

»Kommen Sie bitte übermorgen wieder«, sagte er. »Dann wissen wir mehr und werden alles besprechen. Vielleicht ist es ein Eisen- oder Vitaminmangel. Wir werden schon dahinterkommen. Aus dem Stegreif kann ich es nicht sagen.«

»Also bis übermorgen«, sagte Kirsten.

»Augenblick noch Fräulein Oetting«. Er mußte Fräulein sagen, sie legten keinen Wert darauf, Frau genannt zu werden, obgleich dies sich eingebürgert hatte. »Ich schreibe Ihnen ein Rezept, das Ihnen über die Runden hilft.«

»Ja, danke, Herr Doktor, das ist nett. Ich habe nämlich schrecklich viel zu tun.«


*


Kirsten fuhr gleich zur Apotheke. Sie hatte einen flotten Sportwagen. Von Haus aus war sie nicht unvermögend und verdiente zudem sehr gut. Seit drei Jahren war sie bei dem bekannten, sogar berühmten Anwalt Dr. Lutz Sandberg Sekretärin. Seine rechte Hand, sein Ohr und sein Auge und sein Gewissen, wie er selber sagte.

Sie war Privatpatientin, allerdings so hoch versichert, daß sie nicht zu erschrecken brauchte, weil das Medikament, das Dr. Norden ihr verschrieben hatte, fast hundertvierzig Mark kostete.

Kirsten war mit ihrer Freundin Ruth in einem nahegelegenen hübschen Café verabredet, und da Ruth noch nicht da war, ließ Kirsten ein Glas Wasser kommen und schluckte eine der zweifarbigen Kapseln. Sie studierte auch den Beipackzettel, aber da sie von Medizin überhaupt nichts verstand, waren die lateinischen Worte böhmische Dörfer für sie. Ruth Grönning, die Chemikerin war, würde ihr die Zusammensetzung und ihre Wirkung wohl besser erklären können.

Jedenfalls fühlte sich Kirsten nach der Einnahme der Kapseln bald frischer. Vielleicht war das auch nur Einbildung, eine Art Suggestion, wie sie meinte. Sie war es gewohnt, sich selbst zu beobachten, und sie hatte bald nach dem Urlaub festgestellt, daß sie nervös und unkonzentriert war.

Ruth kam mit beträchtlicher Verspätung, wie immer sehr elegant und diesmal auch mit einer neuen Frisur, die sie viel jünger erscheinen ließ.

Ruth war nicht hübsch zu nennen. Sie hatte ein kantiges Gesicht und auch eine eckige Figur, obgleich sie sehr schlank war. Ein kleines Quadrat auf einem langen Rechteck hatte Christopher Cannon einmal mit unverhohlenem Sarkasmus gesagt, als Ruth nicht anwesend war. Es hatte Kirsten einen Stich gegeben, da sie wußte, daß Ruth sehr viel für den charmanten Christopher übrig hatte.

Und dann war da auch noch die sehr reizvolle Clarissa aufgekreuzt, die dann die letzten zehn Tage des Kenia-Urlaubes nicht mehr von Christophers Seite gewichen war, oder er nicht von ihrer. Man hatte das auslegen können, wie man wollte.

Darüber konnte Kirsten jetzt nicht mehr nachdenken, und sie wunderte sich sowieso, daß es ihr gerade jetzt in den Sinn gekommen war.

Jedenfalls sah Ruth an diesem Tag recht anziehend aus. »Entschuldige bitte die Verspätung, aber beim Friseur hat es so lange gedauert«, sagte Ruth.

»Dafür hat er sich aber besondere Mühe gegeben«, stellte Kirsten lächelnd fest.

»Geht es dir besser?« fragte Ruth. »Warst du endlich einmal beim Arzt?«

»Ja, und du kannst dich auch gleich mit dem Mittel befassen, das er mir verschrieben hat. Aber erst trinken wir Kaffee.«

Ruths grüngraue Augen, die ziemlich eng beieinanderstanden, ruhten forschend auf Kirstens Gesicht. Ruth war eine kluge Frau. Manche bezeichneten sie als Genie. Sie hatte mit ihren achtundzwanzig Jahren schon manchen männlichen und älteren Mitarbeiter überflügelt. Sie war in der chemischen Fabrik ihres Onkels mehr gefürchtet als beliebt. Mit Kirsten war sie seit zehn Jahren befreundet, obgleich Kirsten drei Jahre jünger war als sie.

Kirstens Vater, Dr. Oetting, war Teilhaber von Ruths Onkel gewesen. So hatten sie sich kennengelernt, als Dr. Oetting vor drei Jahren gestorben war. Kirstens Mutter hatte bald darauf wieder geheiratet, und so hatte Kirsten Halt bei der Freundin gesucht, da plötzlich alles, was ihr so wichtig gewesen war, in Trümmer fiel.

»Dann zeig’ einmal den Zettel her«, sagte Ruth, nachdem sie die erste Tasse Kaffee schnell ausgetrunken hatte.

Kirsten hatte ihn noch neben ihrem Gedeck liegen. Sie beobachtete Ruth, als sie den Zettel las. Aus dem Mienenspiel der Freundin war nichts zu entnehmen, aber Kirsten spürte, daß Ruth nachdachte.

»Nichts dagegen zu sagen«, bemerkte Ruth nach schweigsamen Minuten. »Sag’ einmal, machst du dir etwa Gedanken wegen des plötzlichen Todes deiner Mutter?«

Kirsten sah sie überrascht an. Tatsächlich war ihre Mutter vor einem halben Jahr plötzlich gestorben, aber Kirsten war innerlich so weit von ihr entfernt gewesen, daß sie dieser Tod nicht nachhaltig getroffen hatte.

»Wie kommst du darauf?« fragte sie.

»Es war doch Retikulozystose, soweit ich mich erinnere«, sagte Ruth. »Jetzt denk’ um Himmels willen nicht, daß ich dir einen Schrecken einjagen will, aber du solltest Dr. Norden darauf aufmerksam machen. Manchmal sind gewisse Anlagen erblich. Nicht die Krankheit selbst, sondern eben die Anlagen dazu«, fügte sie abschwächend hinzu.

Kirstens Augen weiteten sich schreckhaft. »Dr. Norden meinte, es könnte eine Mangelerscheinung sein, die mich so schnell ermüden läßt«, sagte sie leise.

»Oder einfach Arbeitsüberlastung«, sagte Ruth. »Ich finde, daß Lutz dich weidlich ausnützt.«

»Das ist nicht wahr«,  widersprach Kirsten heftig. »So empfinde ich es nicht.«

»Aus purer Freundschaft läßt du dich ausnützen«, erklärte Ruth, »dabei sollte man doch meinen, daß er etwas mehr als Freundschaft für dich empfinden müßte.«

Ihr Blick wurde lauernd, aber Kirsten bemerkte das nicht. Sie starrte auf ihren Teller.

»Eines Tages wird auch so eine Art Clarissa in sein Leben treten, und dann bist du abgemeldet«, fuhr Ruth fort. »Aber lassen wir das. Deine Ergebenheit für Lutz kenne ich ja.«

»Ich bin ihm nicht ergeben«, prostestierte Kirsten. »Wir verstehen uns. Wir akzeptieren und tolerieren uns gegenseitig. Wir sind keine einfältigen Kinder.«

»So weit so gut«, sagte Ruth, »aber er scheint nicht einmal zu sehen, daß du von Tag zu Tag weniger wirst. Ich mache mir jedenfalls meine Gedanken. War deine Mutter eigentlich länger krank?«

»Was hast du nur mit meiner Mutter?« fragte Kirsten gereizt. »Sie war nicht krank, sie war sehr lebenslustig, was sie ja auch bewies, als sie so kurz nach Vaters Tod wieder heiratete. Sie konnte nicht ohne Vater leben.«

»Und du willst beweisen, daß du das sehr gut kannst«, sagte Ruth. »Ich bin besorgt um dich, Kirsten. Du hast dich in den letzten Wochen zu sehr verändert, als daß ich es einfach so hinnehmen kann. Ich nehme es Lutz übel, daß er darüber hinwegsieht.«

»Und ich mag nicht, daß du so redest, Ruth«, sagte Kirsten.

Es war das erste Mal, daß sich die Freundinnen sehr schnell und ziemlich kühl voneinander trennten. Kirsten war in äußerst gereizter Stimmung, als sie zu ihrer Wohnung fuhr. Es war eine sehr hübsche Maisonettewohnung in einem schönen Wohnviertel am Rande der Stadt. Dr. Oetting hatte seine einzige Tochter wohlversorgt hinterlassen. Kirsten hatte aus ihrem Elternhaus, das verkauft worden war, als ihre Mutter wieder geheiratet hatte, die schönsten Möbel mitnehmen können. Sie war mit ihrem Leben in den letzten Jahren immer zufrieden gewesen, aber an diesem Tag war die durch Ruths Bemerkungen in Konflikte gestürzt worden.

Jetzt mußte sie unentwegt an ihre Mutter denken. Sie hatte sie nur noch selten bis zu ihrem Tode gesehen. Sie hatte den zweiten Mann ihrer Mutter abgelehnt, ohne ihn je richtig kennengelernt zu haben. Er war Arzt in einer oberbayerischen Kleinstadt. Von ihm wußte Kirsten nur den Namen und daß ihre Mutter ihn kennengelernt hatte, als ihr Mann während eines Kurzurlaubes eine Nierenkolik bekommen hatte.

Der Beerdigung war Kirsten ferngeblieben, aber Dr. Wenninger hatte ihr dann den Schmuck geschickt, den ihre Mutter als einzigen Besitz mit in diese Ehe genommen hatte.

Er hatte freundliche, verbindliche Worte dazugeschrieben, sie hatte knapp den Empfang des Päckchens bestätigt.

Doch nun gingen ihr andere Gedanken durch den Sinn, und sie suchte Dr. Wenningers Telefonnummer aus dem Durcheinander heraus, das in ihrem Schreibtisch herrschte. Sehr genau nahm es Kirsten daheim nicht mit der Ordnung. Im Beruf war sie dafür um so korrekter.

Flüchtig ging es ihr durch den Sinn, daß sie eigentlich nur für ihren Beruf und deshalb auch für Lutz Sandberg lebte.

Und als sie dann Dr. Wenningers Telefonnummer endlich gefunden hatte, dachte sie an Ruths Bemerkung, daß auch in Lutz Sandberg Leben eine Clarissa treten könnte.

Sinnend blickte sie zum Fenster hinaus. Es war schon dunkel geworden.

Ruth hatte viel für Christopher übrig, dachte sie. Sie hat es nicht verwunden, daß er sein Herz an Clarissa verloren hat.

Aber Clarissa war nun einmal ein liebenswertes Geschöpf, so fröhlich, so unbeschwert, so unglaublich anziehend. Da konnte ein Mann schnell sein Herz und auch seinen Verstand verlieren.

Ein Dummchen hatte Ruth Clarissa genannt. Sexy und sonst nichts dahinter.

Nein, so ist Clarissa nicht, dachte Kirsten jetzt. Warum kann Ruth nur manchmal so verletzend sein. Warum kann und will sie weh tun.

Auch in Kirstens Herz hatte sie einen Stachel gestoßen an diesem Tag, einen Stachel, der schmerzte.

Kirsten wählte die Nummer von Dr. Wenninger. Eine Frauenstimme meldete sich. Er hat schon wieder eine, dachte Kirsten, und trotzig sagte sie: »Ich möchte Dr. Wenninger sprechen. Hier spricht Kirsten Oetting.«

»Einen Augenblick, Fräulein Oetting«, sagte die weibliche Stimme ruhig. »Ich rufe Dr. Wenninger.«

Dann war er am Apparat. »Es freut mich, Kirsten, daß du dich meldest«, sagte er.

Das Du irritierte Kirsten, aber sie hatte sich etwas vorgenommen, und sie wollte es durchführen.

»Ich muß Sie sprechen, Herr Dr. Wenninger«, erklärte sie stockend. »Könnte ich Sie am Wochenende besuchen?«

»Sehr gern. Ich freue mich, ich bin immer daheim«, kam die Antwort.

Kirsten wollte noch einiges sagen, aber der Gong schlug an.

»Gut, ich komme am frühen Nachmittag«, sagte sie deshalb nur.


*


Vor der Tür stand Dr. Sandberg, hochgewachsen, breitschultrig und kraftvoll.

»Ich muß doch einmal sehen, wie es dir geht, Kirsten«, sagte er. »Bin gerade zurück aus Kopenhagen.«

»Alles glattgegangen?« fragte sie.

»Bestens. Es gibt keine Scheidung. Den Kindern bleiben die Eltern erhalten. Ist doch auch blöd, wegen solcher Lapalie auseinandergehen zu wollen. Larsen hat diesen läppischen Seitensprung längst bereut, und seine Frau hat ihm verziehen. Würdest du mir auch einen Seitensprung verzeihen, Kirsten?«

»Dumme Frage, wir sind nicht verheiratet«, erwiderte sie ironisch.

»Und wenn wir verheiratet wären?« fragte er mit einem Augenzwinkern. »Aber ich würde ja keinen Seitensprung wagen, wenn ich mit dir verheiratet wäre.«

»Ich würde auch keinen verzeihen«, erwiderte sie aggressiv.

»Aber du würdest mich doch heiraten nach der langen Probezeit«, sagte er leichthin.

»Wieso Probezeit?« fragte sie.

»Nun, wir haben uns doch drei Jahre auf Herz und Nieren geprüft, und ich habe mich immer als Gentleman benommen. Du kannst nichts Nachteiliges über mich sagen. Ich möchte, daß wir endlich heiraten.«

»Großer Gott«, seufzte Kirsten, »wie kommst du denn darauf?«

»Es war schön zu erleben, wie glücklich die beiden Kinder waren, als Mami und Papi sich in die Arme sanken. Ich bin jetzt vierunddreißig, Kirsten. Ich möchte auch Kinder haben. Bei mir hat es geschnackelt.«

Und da lag sie schon in seinen Armen. Er küßte sie, daß ihr die Luft wegblieb, und in diesem Augenblick wußte sie es ganz genau, daß es eben doch nicht nur Freundschaft zwischen ihnen war.

»Ich bin halt auch so ein schwerfälliges Nordlicht, Kirsten«, flüsterte er dicht an ihrem Ohr, »aber ich habe es mit der Angst bekommen.«

»Warum?« fragte sie bebend, da sie ja selbst so voller Angst war.

»Daß ein anderer kommen könnte, der dich mir wegnimmt«, erwiderte Lutz.

»Es könnte ja auch eine andere sein, die dein Herz gewinnt, so wie es bei Clarissa und Chris war«, sagte Kirsten. »Es scheint so, als hätte sie Hoffnungen in Ruth zerstört.«

»Aber Kirsten, Ruth ist doch keine Frau, die einen Mann fesseln kann«, sagte Lutz. »Dachtest du etwa, daß Chris ernsthaftes Interesse an ihr gehabt hätte? Sie ist nicht Fisch noch Fleisch. Sie kann doch keine Wünsche wecken in einem Mann. Sie ist einfach ein Blaustrumpf.«

Kirsten entzog sich seiner Umarmung. »Was hast du gegen Ruth?« fragte sie bestürzt.

»Gar nichts! Sie ist klug und vielseitig interessiert. Aber sie ist doch ohne jeden Reiz. Ihr fehlt das gewisse Etwas, das einen Mann anzieht. Ihr fehlt alles das, was du besitzt, was ich an dir liebe.«

»Was du an mir liebst«, wiederholte sie tonlos.

»Ja, begreifst du noch immer nicht, daß ich dich liebe? Muß ich es dir wirklich erst sagen? Ich habe dich vermißt, Kirsten. Mein Gott, du siehst doch auch so aus, als hätte dir etwas gefehlt. Du bist so blaß, Kleines. Es wird dir doch nicht wirklich etwas fehlen?«

Seine Stimme klang besorgt, und wieder fühlte sich Kirsten von seinen Armen umfangen. Warm wurde es ihr, und Glück erfüllte sie. Sie legte ihre Arme um seinen Hals.

»Ich höre es so gern, Lutz«, flüsterte sie, ohne noch zu überlegen. »Ich bin froh, daß du wieder da bist. Es waren drei Tage, die mir wie drei Jahre vorkamen.«

»Tschapperl«, sagte er zärtlich. »Du solltest doch eigentlich längst fühlen, was du mir bedeutest. Ich bin halt kein stürmischer Liebhaber, aber was ich haben will, halte ich auch fest. Jetzt bleiben wir zusammen.«

Und sie schwebte wie auf Wolken. Alle schweren Gedanken waren weggewischt. Sie gab sich seinen Küssen, seinen Liebkosungen hin. Und vielleicht war es tatsächlich nur dies, was ihr gefehlt hatte, und was an heimlichen, uneingestandenen Wünschen in ihr gewesen war.

Sie dachte auch nicht mehr daran, warum sie Dr. Wenninger besuchen wollte.


Am nächsten Morgen wurde sie wachgeküßt. »Wache ich, oder träume ich?« fragte sie verwundert.

»Ich bin jedenfalls wirklich da«, erwiderte Lutz mit seinem warmen, bezwingenden Lachen. »Und heute werden wir gemeinsam in die Kanzlei fahren. Es bleibt selbstverständlich zu überlegen, ob ich nicht nach einer anderen Sekretärin Ausschau halten muß, wenn wir erst verheiratet sind.«

»Kommt gar nicht in Frage«, erwiderte Kirsten. Und leiser fügte sie hinzu: »Ich glaube, ich wäre schrecklich eifersüchtig.«

Lutz küßte sie auf die Nasenspitze. »Mich sturen Esel müßtest du doch eigentlich kennen. Bei mir wird es niemals einen Seitensprung geben.«

Kirsten verdrängte alles, was in wirren Träumen ihren Schlaf belastet hatte. Sie lauschte seiner Stimme, die dann im Bad fröhliche Lieder schmetterte, sie kochte Kaffee und Eier, röstete Toast und deckte den Tisch.