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Für dich


HEIDI LEHMANN: „Bienenjunge“
1. Auflage, März 2020, Periplaneta Berlin, Edition Periplaneta

© 2020 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin
https://periplaneta.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Die Handlung und alle handelnden Personen sind erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen wäre rein zufällig.

Lektorat & Projektmanagement: Laura Alt
Coverfoto: aphoto4you / stock.adobe.com
Satz & Layout: Thomas Manegold

print ISBN: 978-3-95996-174-5
epub ISBN: 978-3-95996-175-2

Heidi Lehmann

BIENENJUNGE


Roman



periplaneta

Zerfall

Die Decke starrt mich an, ehe sie auf mich niederfällt und mein aufgewühltes Inneres zu einem Klumpen niederschrumpft, der glüht und wütet, aber seine Schreie werden im Nebenan nur lautlos hallen, in einer Frequenz, die bestenfalls Tiere, Kinder und Verrückte wahrnehmen können, die später mein Elend anstarren, ebenso machtlos etwas zu tun, wie ich selbst es bin.

1

Kleine Finger umklammerten Kais Hand.

„Papa, Papa! Frachtschiff! Dort, Frachtschiff!“ Cosmas’ Stimme überschlug sich. „Papa! Frachtschiff!“

Kai folgte dem Blick des Jungen. Zwei Schlepper holten einen Containerriesen in den Hafen. Er betrachtete die hoch aufgetürmten Quader auf der Ladefläche des Schiffes. In Kai formte sich ein Bild, Worte drängten sich ihm auf, wollten sich manifestieren. Er hielt inne, fand aber keine Zeit, seine Gedanken zu notieren. Cosmas zerrte wieder an ihm, es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich einen Weg durch den Sand zu bahnen und dem Kind zu folgen. Es war ruhig am Elbstrand, nur wenige Menschen spazierten am Wasser entlang. Kais Blick streifte die Hafenkräne, die in der Ferne ihre Köpfe zum Himmel streckten, weitere Schiffe fuhren ein, andere hinaus, eine Fähre zog an ihnen vorüber, verursachte Wellen, noch lange nachdem Kai sie aus den Augen verloren hatte. Er fühlte den Sand unter seinen Füßen, seine Schritte kamen ihm träge vor, er sehnte sich nach einer Pause.

„Cosmas?“ Der Junge reagierte nicht. „Was hältst du davon, hier am Wasser zu spielen?“ Wieder keine Reaktion. Kai stoppte und forderte ihn mit einer Berührung auf, in seine Augen zu schauen, dann wiederholte er: „Wenn du magst, kannst du hier am Wasser spielen.“

Cosmas löste sich von Kai, ohne etwas zu sagen. Seine Hände flatterten, ehe er dorthin lief, wo sich Wasser und Strand begegneten. Hastig ging er in die Hocke, um gleich darauf seine Finger in den durchweichten Sand zu bohren. Er formte eine Kugel und wiegte sie von einer Hand in die andere, wobei er auf seinen Zehenspitzen vor und zurück wippte. Kai beobachtete ihn aus der Ferne, blickte auf die Schiffe, hörte dem Geräusch des Windes zu, der durch die nackten Zweige fuhr, verfolgte die Schönwetterwolken, die schnell über den Himmel zogen, und wünschte, er könnte sich ein wenig die Füße vertreten, für sich sein und den Geruch der Freiheit, der hier hochkonzentriert in der Luft schwebte, tief in sich einsaugen und aufnehmen. Eigentlich sollte er mit Cosmas spielen, ihm Gesellschaft leisten, aber heute gelang es ihm nicht, auf den Jungen zuzugehen. Er holte das Notizbuch aus dem Rucksack, blätterte darin herum und versuchte, die Worte von vorhin einzufangen, doch gerade als er den Stift ansetzte, drängte sich Jorinde in seine Gedanken. Sie hatte erschöpft ausgesehen, mehr noch – sie hatte unzufrieden gewirkt, als sie morgens aus dem Haus gegangen war. Kai schob das Notizbuch wieder zurück in den Rucksack und beobachtete, wie Cosmas ein Loch grub, an dessen äußeren Rand er Steine platzierte. Das Wasser stand tief, aber ein vorbeifahrendes Fährschiff sorgte für Wellen, die nach oben schwappten und Cosmas’ Mulde mit Wasser befüllten. Der Junge schaute in Kais Richtung und lief dann auf ihn zu.

„Papa! Papa! Mitkommen!“, rief er.

Als er bei ihm ankam, packte er Kais Hand und umschloss sie fest. Kai spürte die Anspannung seines Kindes bis in die Zehenspitzen. Mit Nachdruck zog Cosmas ihn in Richtung Wasser, dorthin wo der Inhalt der Mulde das Sonnenlicht reflektierte.

„Hier, Papa! Hab Wanne gebaut!“ Cosmas deutete aufgeregt auf sein Werk. „Hier!“

Er zog noch fester an Kais Hand. Cosmas wartete. Erwartete eine Reaktion. Sein Blick haftete an seinem Vater.

Kai versuchte ein Lächeln, ehe er sagte: „Eine Wanne.“

„Blatt! Will Blatt haben“, sagte Cosmas, während er das Wasserloch fixierte.

„Du möchtest ein Blatt? Wozu?“

„Soll Schiff sein! Schiff! Schiff! Soll Schiff sein!“

Kai schaute hinter sich zu den Bäumen – noch trug kaum einer Laub. In der Nähe entdeckte er aber eine Hecke, an deren Zweigen bereits kleine Blätter trieben. Er berührte die Hand seines Sohnes.

„Warte hier, ich hol ein Blatt für dich.“

Kurz blickte er zu Cosmas und schließlich wieder dorthin, wo sich die Sträucher befanden. Zwanzig Meter, vielleicht dreißig, nicht mehr sollten es sein, dann hätte er das Ziel erreicht. Weg vom Strand, einmal über den Fahrradweg, einmal über den Fußweg und dahinter die Hecke. Aber er war sich nicht sicher, ob er den Jungen alleinlassen konnte.

„Blatt! Will Blatt haben!“, forderte Cosmas.

Kai musste schnell handeln, wenn er nicht riskieren wollte, dass sich sein Sohn aufregte. Er kehrte ihm den Rücken zu, verließ mit schnellen Schritten den Strand, eilte über den Rad- und Fußweg hin zum Gestrüpp, wobei er sich gedrängt fühlte. Die Blätter waren von Nahem sehr viel größer, als er sie vom Strand aus wahrgenommen hatte. Kai pflückte einige davon, sie fühlten sich weich an. Die zarte grüne Pflanzenhaut war beinahe durchsichtig. Er hob den Blick, doch als er nach Cosmas Ausschau hielt, konnte er ihn nicht sehen. Hektisch schaute er nach rechts, dann nach links. Die Füße trugen ihn wie von allein zum Strand zurück, die Zeit blieb stehen, Kai stockte der Atem. Er lief und lief und rief nach Cosmas.

Als er den Jungen ein wenig weiter flussaufwärts entdeckte – er war gerade dabei, Steine zu sammeln –, wusste Kai nicht mehr, wie man richtig atmete. Er lief auf Cosmas zu und ging neben ihm in die Hocke.

„Du hast mir einen Schrecken eingejagt! Warum bist du nicht dort geblieben?“ Die Worte kamen schnell heraus, während Kai zu der Stelle zeigte, wo sich die Mulde befand. „Wir hatten doch abgemacht, dass du auf mich wartest.“

Cosmas antwortete nicht auf seine Frage, stattdessen schaute er auf den Gegenstand in seiner Hand. „Hab Stein gefunden. Stein. Guter Stein.“

Kai drängte mit Anstrengung die aufkommende Wut in sich zurück, legte seine Hand unter Cosmas’ Kinn und schob seinen Kopf hoch. Er sah dem Kind in die Augen.

„Cosmas … Wir hatten abgemacht, dass du dort auf mich wartest.“

Wieder deutete er zur Mulde. Cosmas schüttelte den Kopf und hörte nicht mehr damit auf. Als Kai seine Hand zurückzog, nahm das Schütteln abrupt ein Ende.

„Guck mal, ich hab Blätter mitgebracht. Willst du die im Wasser schwimmen lassen?“, fragte Kai.

Da Cosmas nichts erwiderte, nahm er ihn an der Hand und setzte sich in Bewegung. Gute hundert Meter vor der Einbuchtung im Sand, sah Kai, dass sich ein Hund ebenfalls auf den Weg dorthin machte. Kaum hatte das Tier sein Ziel erreicht, schnüffelte es in der Mulde herum und schleckte Wasser. Cosmas erstarrte, seine Hand spannte sich an.

„Hunde sind nicht böse“, versuchte Kai, ihn zu beruhigen. „Er wird dir nichts tun, Cosmas. Komm, wir begrüßen ihn.“

Cosmas bewegte sich nicht von der Stelle. Kai ging vor ihm in die Hocke und versuchte, seinen Blick einzufangen, doch Cosmas’ Augen jagten von da nach dort.

„Komm schon. Wir gehen zu deiner Wanne“, sagte Kai. „Ich passe auf, dass dir nichts passiert.“

Cosmas ließ sich nicht überreden. Kai versuchte wieder, seinen Blick festzuhalten, sah Tränen in seinen Augen glänzen. Er fühlte Cosmas’ Panik unmittelbar, wollte ihm seine Angst nehmen, ihn fortbringen, weil eine unangenehme Ahnung in ihm hochkroch.

„Wir gehen zurück, okay?“ Kai spürte, wie seine Stimme zitterte. „Wir gehen zum Auto.“

Cosmas reagierte nicht, weshalb Kai ihn an der Hand hinter sich herzog. Erst leistete der Junge Widerstand, aber bald gab er nach und folgte seinem Vater. Nur wenige Schritte hatten sie getan, als Kai ein Geräusch hörte. Etwas kam auf sie zu, aber er konnte nicht zuordnen, worum es sich handelte. Als er sich umdrehte, erkannte er den Hund, der auf ihn und seinen Sohn zulief. Cosmas stieß einen schrillen Laut aus, legte die Hände auf die Ohren, obwohl nichts in der Nähe war, das sein Gehör beeinflusst hätte, einzig seine Schreie, die bald in ein Brüllen übergingen, überfluteten den Elbstrand, übertönten den Schiffsverkehr sowie das Knacken der nackten Äste im Wind. Kai überlegte, wie er Cosmas beruhigen könnte. Der Junge schlug um sich. Noch hatte sie der Hund nicht erreicht, Kai sah, wie er innehielt. Die Rufe des Hundebesitzers drangen zu Kai durch. Das Tier machte einen Haken und lief zu ihm zurück, doch Cosmas fiel die Abwesenheit des Hundes nicht auf. Er schrie immer lauter, gefangen in seinen Gefühlen, mit verkrampftem Gesicht und fliegenden Fäusten. Kai machte einen Schritt auf ihn zu. Sein Impuls war, sich Cosmas anzunähern, ihm seine Furcht zu nehmen, aber er spürte Widerstand in sich, der wie eine unsichtbare Wand zwischen ihm und seinem Sohn lag. Etwas blockierte ihn, aber er war nicht in der Lage zuzuordnen, worum es sich handelte. So stand er regungslos vor dem Kind, das weiterhin wütete, und spürte die Augen von Passanten im Rücken, was ihn nervös machte. Mit großer Mühe schaffte er es, einen weiteren Schritt auf seinen Sohn zuzugehen. Dabei redete Kai beruhigend auf seinen Sohn ein, der ihn nicht verstand, weil er die Situation nicht begriff, nicht begreifen konnte. Es kam ihm vor, als befände er sich in einem Traum. Gleich würde er Cosmas’ Schulter berühren. Ja, jetzt berührte er sie und gleich darauf zog er seinen Sohn an sich, schlang die Arme um den erhitzten Leib. Fäuste trommelten auf Kais Körper. Er ließ es zu, hielt den Jungen fest, ertrug die Schläge, weil er keine andere Lösung wusste. Erst Minuten später beruhigte sich Cosmas.

Auf dem Rückweg wiegte der Junge einen Stein in seiner Hand, der einem Hühnerei ähnelte. Obwohl er kalt und schwer war, wirkte er seltsam zerbrechlich auf Kai.

2

Kai hörte ihren flachen Atem, spürte ihre Anwesenheit. Bevor er sich zu ihr ins Bett gelegt hatte, war er im Arbeitszimmer gewesen und hatte an seinem Roman geschrieben. Er hätte ihr gern erzählt, wie sein Tag gewesen war, genauso, wie er gern von ihr erfahren hätte, was sie erlebt hatte. Während Kai an die Decke starrte, fragte er sich, ob er noch einmal aufstehen solle, um Kaffee zu trinken. Er schaute zu Jorinde, die sich im Schlaf drehte. Ihr Gesicht wandte sich ihm zu, die Haare fielen locker in alle Richtungen. Ihre Augen, ihr Mund, alles an ihr wirkte weich. Sie sah schön aus mit wirrem Haar und entspannten Zügen. Der Arm leicht angewinkelt, die nackte Haut. Die Decke war nach unten gerutscht, weshalb Kai ihren unbedeckten Busen sehen konnte. Er wollte ihre Haut berühren, ließ sein Verlangen zu, die Wärme, die in ihm aufstieg. Aber er wollte Jorinde nicht wecken, weshalb er das Schlafzimmer verließ und sich einen Espresso zubereitete. Er dachte an den Vorfall mit dem Hund an der Elbe und dass er Jorinde nicht einmal davon erzählt hatte, weil keine Zeit dazu gewesen war. Er holte sein Notizbuch und notierte die übriggebliebenen Bilder vom Strand, die fragmentarisch in seinem Kopf herumgeisterten. Cosmas’ Schreie und sein Toben kamen ihm wieder in den Sinn, ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. Er trank den letzten Schluck Espresso und kochte sich noch einen. Diesmal süßte er ihn mit braunem Zucker, ehe er vorsichtig daran nippte.

Um halb sechs riss Cosmas Kai aus dem Schlaf. Er ließ ihn unter seine Decke schlüpfen, in der Hoffnung, dass der Junge noch ein wenig ruhig sein würde. Kurze Zeit klappte es. Cosmas rollte sich neben ihm ein, doch dann kam Unruhe in ihm auf. Er begann zu zappeln, dann boxte er Kai, kletterte auf ihn, nahm fast das ganze Bett ein, ständig in körperlichem Kontakt. Kai wollte nicht, dass Jorinde aufwachte, deshalb quälte er sich aus dem Bett und unterstützte Cosmas beim Anziehen und Zähneputzen.

Drei Stunden später tauchte Jorinde auf. Kai hatte bereits den Frühstückstisch gedeckt, aber noch nicht gegessen. Cosmas saß auf dem Sofa und sortierte Buntstifte. Kai füllte Wasser in einen Topf, um für sich und Jorinde ein Frühstücksei zu kochen.

„Hast du gut geschlafen?“, fragte er, während er sich zu ihr an den Tisch setzte.

„Hab ich. Warum hast du mich nicht geweckt?“

Unter ihren Augen zeichneten sich Ringe ab.

„Es reicht, wenn einer von uns beiden früh aufsteht.“

Sie erwiderte nichts, stattdessen strich sie Butter auf eine Brötchenhälfte. Kai beobachtete sie dabei, wie sie die Marmelade verteilte. Keine Stelle blieb unbefleckt. Sie aß zögerlich, biss nur kleine Stücke ab, als wäre sie mit den Gedanken woanders, legte das Brötchen gleich darauf auf dem Teller ab, um hastig ihre Hand über die Stirn bis hinter das Ohr gleiten zu lassen, als wollte sie Strähnen aus ihrem Gesicht entfernen, die es nicht gab, denn ihre Haare waren am Hinterkopf zu einem Knoten gebunden. Kai dachte, dass sie völlig anders aussah als in der Nacht mit verstrubbelten Haaren. Perfekt. Alles saß perfekt. Früher hatte Jorinde ihr Haar offen getragen – wie ihr Herz, das ihm jetzt abgeschottet vorkam. Er hätte gern Zugang zu ihr gefunden, doch in letzter Zeit kam es ihm vor, als wäre es leichter, mit Cosmas ins Gespräch zu kommen als mit ihr. Kaum hatte er an ihn gedacht, setzte Cosmas sich auf seinen Schoß, drängte sich an ih und hielt ihn davon ab zu essen. Cosmas holte sich ein Brötchen aus dem Korb, um es im nächsten Moment wieder hineinfallen zu lassen. Ein anderes wurde herausgeholt.

„Such dir eines aus und nimm es dann“, sagte Kai ruhig.

Cosmas hörte nicht, nahm das Nächste, nachdem er das Vorherige begutachtet und offensichtlich nicht als genehm befunden hatte.

„Cosmas!“, rief Jorinde.

Der Junge reagierte wieder nicht, sondern lächelte in sich hinein.

„Cosmas! Das geht so nicht!“, wiederholte Jorinde.

Kai nahm die Aufregung in ihrer Stimme wahr. „Lass ihn.“

Kai wusste, dass es die falschen Worte für Jorinde waren, aber es handelte sich um die richtigen für Cosmas. Jorinde blickte zu ihm. Ihre Augen vor Schreck geweitet, versuchte sie, ihre Gefühle zu überspielen, indem sie ein Lächeln hervorbrachte, das Kai wie eine Maske vorkam. Wie gern hätte er den strengen Dutt an ihrem Hinterkopf gelöst, ihr Haar geküsst, sie umschlungen, um unbeholfen mit ihr zum Sofa zu stolpern. Doch Kai wusste, dass selbst wenn Cosmas nicht hier gewesen wäre, das bloße Öffnen der straffen Frisur es nicht geschafft hätte, Jorindes Verkrampfung zu lösen, die sie seit Cosmas’ Geburt begleitete.

„Du lässt ihm alles durchgehen.“ Jorinde sprach in einem zischenden Flüsterton. „Wie soll er so lernen, was sich gehört?“

Kai seufzte. Es war sinnlos, zu versuchen, Cosmas Dinge beizubringen, die sich gehörten. Auch ihm machten die vielen Auseinandersetzungen zu schaffen, auch er wusste oftmals nicht weiter. Kurz nach dem Aufstehen hatte Cosmas zu wüten begonnen. Rastlos war er von da nach dort gelaufen, mit einem Apfel in der Hand. Weil er hungrig gewesen war, hatte er keine Beschäftigung für sich gefunden, hatte Kai in den Ohren gelegen, ihm dieses und jenes erzählt – Dinge, die ihn beschäftigten, wirr zum Teil und unlogisch, dann wieder von Wissen zeugend. Kein Wort hatte Kai dazwischen setzen können. Kein Durchkommen. Nichts. Es hatte lange gedauert, ehe er den Jungen davon überzeugen konnte, sich mit den Stiften zu beschäftigen.

„Lass uns nicht vor ihm über diese Dinge reden“, bat Kai. „Es tut ihm nicht gut, wenn wir in der dritten Person über ihn sprechen. Er befindet sich neben uns. Sprich ihn doch direkt an.“

„Direkt ansprechen?“ Jorinde lachte bitter. „Wenn das so einfach wäre.“

Ihr Widerstreben ergriff auch Kai. Sie sagte die Wahrheit und es schmerzte ihn, dass Jorinde ihr Elend nicht zurückhalten konnte, dass sie es nicht schaffte, darüber hinwegzusehen. Inzwischen hatte Cosmas sich für ein Brötchen entschieden und schleckte daran. Jorinde blickte angewidert in seine Richtung. Kai sagte nichts und sah ihm dabei zu, wie er über die Kruste des Brötchens leckte, immer und immer wieder. Es sah aus, als würde es ihm weniger um den Geschmack gehen oder das Brötchen an sich, sondern als täte die Oberfläche ihm gut. Nach Minuten biss er vom Brötchen ab, stopfte es sich in den Mund, legte nur einen kleinen Rest davon beiseite und kaute, so gut es ging, während er versuchte, sich ein nächstes Brötchen zu holen.

„Nein.“

Kai sprach mit Nachdruck, doch Cosmas beeindruckte seine Mahnung nicht.

„Ach was, erst heißt es, ich soll ihn lassen und dann …“ Jorinde unterbrach sich und blickte verächtlich in Kais Richtung.

Er ließ sich nicht provozieren und wollte auch nicht darauf antworten, weil er selbst wusste, wie dumm es war, erst nachgiebig zu sein und dann Grenzen setzen zu wollen. Er hatte Jorindes Genugtuung verdient, obwohl ihm die Kühle, die in ihren Augen lag, einen Stich versetzte. Den Blick auf Cosmas gerichtet, nahm er den Korb vom Tisch und stellte ihn in einen Küchenschrank. Cosmas stolperte hinterher, gab dann aber auf und setzte sich auf Jorindes Schoß.

„Wann kommt Sarah mit ihrer Tochter?“, fragte Kai.

„Am späten Nachmittag.“ Sie blickte von ihrem Frühstücksei auf. „So gegen fünf, halb sechs. Meine Mutter wollte mit Cosmas zum Spielplatz. Wir könnten noch einen Spaziergang machen, ehe Sarah und die Kleine kommen.“

Cosmas rüttelte an Jorindes Arm, sie versuchte weiterzureden, aber er hielt sie davon ab.

„Dann lass uns das machen“, erwiderte Kai.

Es fiel ihm schwer zu sprechen, da Cosmas’ Unruhe auf ihn übergriff. Kais Konzentration verflüchtigte sich, er fühlte, wie er die Kontrolle über die Situation verlor. Cosmas drängte sich an Jorinde. Kai merkte, wie seine Frau innerlich japste, sich nicht zu wehren wusste oder es nicht wollte. Er ging um den Tisch herum auf Jorinde und Cosmas zu. Er berührte Cosmas an der Schulter, der seine Hand sofort abstreifte.

„Cosmas! Hör damit auf!“, rief er, auch wenn ihm klar war, dass er darauf keine Reaktion erhalten würde. Und trotzdem ließ es sein Ärger nicht zu, einfach still zu sein. „Hör auf!“, wiederholte er.

Er sah seinen Sohn wüten, um seine Frau herumtanzen, sie piksen. „Komm, wir spielen zusammen mit den Bausteinen“, versuchte es Kai jetzt mit ruhiger Stimme.

Jorinde schloss die Augen, rührte und wehrte sich nicht, sondern saß auf ihrem Stuhl und ließ alles mit sich passieren. Nur mit Worten ohne Nachdruck versuchte sie es: „Lass das. Hör sofort auf damit, Cosmas.“

Kai gelang es nicht, ihr Wimmern zuzuordnen. Er wollte die Situation retten, er wollte, dass die Minuten, die sich zu Stunden ausdehnten, in sich zusammenfielen und Jorinde freigaben. Auch ihn.

„Oder wir kämpfen“, sagte Kai. „Was hältst du davon, wenn wir kämpfen?“ Er erschrak über seine Stimme, sie klang höher als sonst. Dennoch redete er weiter: „Wir gehen raus in den Park und holen uns Zweige. Dann kämpfen wir. Es wird dir gefallen. Komm, wir gehen.“

Kai nahm Cosmas’ Hand und versuchte, ihn mit sich zu ziehen, doch der Junge riss sich los, zerrte an Jorindes Arm.

„Mama mitkommen! Mitkommen!“, forderte Cosmas.

„Ich will jetzt nicht. Lass mich. Kannst du nicht ein Mal hören?“, erwiderte Jorinde kraftlos.

Cosmas ließ kurz von Jorinde ab, setzte das Spiel aber gleich wieder fort.

„Cosmas.“ Kai ging in die Hocke, zwang seinen Sohn dazu, ihm in die Augen zu schauen, indem er seine Hand unter dessen Kinn platzierte und den Kopf zu ihm drehte. „Magst du kämpfen? Mit mir.“

Er kam sich kläglich vor, wie er dahockte und versuchte, alles zum Ausgleich zu bringen.

Einige Sekunden sah Cosmas ihm in die Augen, dann sagte er: „Kämpfen.“

Kai beobachtete den kleinen Körper, der sich von Jorinde entfernte. Kai konnte wieder frei atmen. Er blickte zu Jorinde – sie schnappte nach Luft.

3

Schwäne drängten ans Ufer und ließen sich von einer älteren Frau mit trockenen Brotstücken füttern. Ihre Schnäbel brachten Kai durcheinander. Der Kontrast des schwarzen Dreiecks an der Schnabelspitze und des kräftigen Oranges rundherum, ebenso wie das schneeweiße Gefieder, die erhabene Ausstrahlung, die nach Respekt verlangte, und die Augen, deren Schärfe ihm einerseits Angst einjagte, andererseits aber Neugier in ihm weckte. Dennoch zog er es vor, diesen Tieren nicht zu nahe zu kommen.

Jorinde neben ihm zappelte. Ihre Unruhe ging unmittelbar auf ihn über. Er spürte, dass sie nichts an diesem Ort hielt. Ihre Rastlosigkeit zeigte ihm, dass jede weitere Minute, die sie hier verbrachten, sie wahnsinnig machte.

Zu Hause war es Cosmas, der Aufregung verbreitete, kaum aber befand er sich außer Reichweite, spannte Jorinde sich an. Kai kam es vor, als müsste immer irgendeine Form von Hektik in ihrer Familie vorhanden sein. Er fragte sich, ob seine eigene Unruhe schon vor Cosmas’ Geburt vorhanden gewesen war. Ihn irritierte, dass es ihm nicht gelang, diese Frage klar zu beantworten. Er schaute zu Jorinde.

„Wollen wir weiter zur Außenalster?“

„Ja, dort ist es ruhiger.“

Ihre Stimme klang kühl, ihr Blick verlor sich irgendwo im Wasser. Kai fühlte sich abgewiesen. Sie ließen die Binnenalster hinter sich, überquerten die Straße und liefen weiter, bis sie das Grün der Wiesen sahen und Segelschiffe. Wie auf elastischem Grund fühlte sich Kai, als sänke er mit jedem seiner Schritte ein und hinterließe einen Abdruck, der noch Jahrtausende später sichtbar sein würde. An seiner Seite Jorinde. Er ohne Worte, sie ohne Worte. Kai sehnte sich danach, wie früher ihre Hand zu nehmen, doch etwas in ihm blockierte. Ein diffuses Angstgefühl hinderte ihn daran, Jorindes Nähe zu suchen, sie zu berühren, was zeitgleich Wachsamkeit in ihm erzeugte, sobald der Gedanke in sein Bewusstsein trat. Innerlich sank er zusammen. Cosmas fehlte ihm, trotz aller Anstrengung, die mit seiner Anwesenheit verbunden war. Wäre er hier, dann hätte Kai seine Gedanken und Gefühle verdrängen, einfach weitermachen können, er wäre dieser Stille nicht ausgeliefert gewesen. Ohne den Jungen an seiner Seite musste er sich seinen Gefühlen stellen. Das Verlangen,
Jorindes Hand zu nehmen, verstärkte sich. Er wollte anhalten, sie an sich ziehen, seine Arme um sie schlingen – mitten auf dem Gehweg – doch er glaubte, dass sie ihn zurückweisen würde.

Seit Kurzem trug Jorinde fast ausschließlich Oberteile mit Rollkragen. Einerseits wirkte sie darin reif, gleichzeitig kam sie Kai zurückgezogen vor, lauernd. Ähnlich wie die Schwäne mit ihren langen Hälsen und den scharfen Schnäbeln. Er stellte sich vor, wie Jorinde in sein Fleisch hackte, immer und immer wieder. Er stellte sich vor, wie sie ihn zerstörte, ihre Fingernägel in seine Haut bohrte, bis sie an sein Inneres gelangte, um dort weiterzumachen. Kaputt. Immer weiter. Kaputt.

„Wir hätten uns den Weg mit S- und U-Bahn sparen sollen“, sagte er, um seine Gedanken woandershin zu lenken. „An der Elbe wären wir schneller gewesen, jetzt haben wir kaum noch Zeit, ehe Sarah mit der Kleinen kommt. Wie heißt sie noch mal?“

„Emma.“

Kai brauchte sich nicht anzustrengen, um den Unmut in Jorindes Gesicht zu erkennen. Sie versuchte nicht einmal, ihre Gefühle zu verbergen.

„Ich dachte, du freust dich auf den Besuch“, bohrte Kai weiter.

„Das tue ich auch. Sehr sogar. Wie kommst du darauf, dass es anders sein könnte?“

„Du guckst so sauer.“ Kai blickte einer Möwe hinterher, die auf das Wasser zusteuerte.

„Weil du von der Elbe sprichst, obwohl wir gerade bei der Alster sind. An der Elbe können wir immer sein.“

Sie hatte auf ihre Art recht.

Vielleicht zog es Jorinde auch deshalb immer wieder zur Außenalster, weil sie und Kai sich damals, nachdem sie sich zum ersten Mal auf einer Party begegnet waren, hier verabredet hatten.

„Es ist aber ein weiter Weg für einen kleinen Spaziergang, findest du nicht?“

„Ich mag die Umgebung.“ Jorinde sah ihm noch immer nicht in die Augen. „Außerdem frage ich mich, warum du das nicht schon vorhin angesprochen hast.“

Kai erwiderte nichts. Trotz ihrer gemeinsamen Vergangenheit hier mochte er die Umgebung rund um die Alster nicht. Der Jungfernstieg kotzte ihn an. Fast ausschließlich Touristen und Nobelläden, die er niemals betreten wollte. Konnte. Jorinde und er gehörten nicht zu den Reichen, sie würden niemals Teil des Ganzen sein. Insgeheim wünschte sich Jorinde offensichtlich Dinge, die ihr für immer vorenthalten sein würden. Kai ärgerte sich darüber. Er selbst hatte kein Bedürfnis danach, im Geld zu schwimmen, alles, was er wollte, war, glücklich zu sein. Seiner Familie eine Basis zu bieten, dafür zu sorgen, dass sie zu essen hatten, ein Dach über dem Kopf, dass sich Cosmas gut entwickelte und ein selbständiger junger Mann aus ihm würde, dass Jorinde wieder lachen konnte, ohne angespannt zu sein. Genau das wünschte er sich.

Kai blickte zu den Segelschiffen. Jogger liefen an ihm und Jorinde vorbei, Spaziergänger, die sich unterhielten, gemeinsam lachten. Er und seine Frau schwiegen wieder, die unsichtbare Barriere zwischen ihnen nagte an Kai. Er war froh, dass es schließlich Jorinde war, die das Gespräch weiterführte, auch wenn ihm andere Worte lieber gewesen wären.

„Du hast mich vor ihm bloßgestellt.“

Kai brauchte einen Moment, um zu erfassen, worauf Jorinde hinauswollte.

„Du meinst Cosmas?“

„Ja.“

„Wegen der Brötchen etwa?“

Sie schaute ihn eisig an.

„Also wirklich Jorinde. Bloßgestellt. Das kann doch nicht dein Ernst sein.“ Kai hörte seine eigene Stimme wie von außen. Mit jedem Wort lauter werdend.

„Du lässt ihm alles durchgehen. Er wird nie selbständig im Leben stehen können, wenn du ihn nicht an Regeln gewöhnst.“ Auch Jorinde sprach lauter als vorhin. Und schärfer.

„Es gibt gefühlt tausend Baustellen, die Cosmas zu bearbeiten hat. Meinst du wirklich, die wichtigste davon ist, ihn dazu zu bringen, nicht alle Brötchen im Korb anzufassen?“

Kai merkte, wie er sich in Rage redete. Ihm war dieses Gespräch zuwider. Sie verbrachten kostbare Zeit zusammen, Jorinde und er. Minuten, die nicht wiederkommen würden und die sie jetzt vergeudeten, weil einer von ihnen recht haben wollte. Im Grunde dachte Kai ähnlich wie Jorinde. Regeln waren wichtig für Cosmas, aber er empfand es als dringender, im jeweiligen Moment zu schauen, was genau der Junge benötigte. Warum sich mit Brötchen aufhalten, wenn es viel offensichtlichere Schwierigkeiten gab? Jeden Augenblick, in dem man Cosmas aus den Augen ließ, gab es Probleme. Und dann die Sprache, die er so schwer entwickelte, oder die Windel, die er nachts noch immer trug, obwohl er schon sechs Jahre alt war. Wie oft machte er auch tagsüber noch in die Hose. Wie oft stürzte er wegen mangelnden Körpergefühls. Wie sehr litt er unter Alpträumen, fuhr nachts aus dem Schlaf und fand keine Ruhe. Wie schwer fiel es ihm, Kontakt mit Gleichaltrigen aufzubauen. Die einzige Möglichkeit fand er darin, das zu zerstören, was andere Kinder mühsam aufgebaut hatten.

„Ja, genauso sehe ich das, Kai“, erwiderte Jorinde nach kurzem Schweigen. „In diesem Moment war es wichtig, ihn zurückzuhalten. Für mich. Aber du hast es nicht begriffen.“

Der Vorwurf erschreckte Kai. Dann aber dämmerte ihm, dass sich Jorinde möglicherweise nicht ernst genommen fühlte. Vielleicht dachte sie, er würde Cosmas ihr vorziehen oder seine Gefühle ernster nehmen als ihre. Aber Cosmas war das Kind. Sie die Mutter. Ging es nicht darum, für alle den richtigen Umgang zu finden? Warum Begriff Jorinde das nicht? Wollte sie in Cosmas noch immer etwas sehen, was nicht vorhanden war? Den perfekten Jungen, keinen entwicklungsverzögerten und verhaltensauffälligen?

„Ich bin mir nicht sicher, ob ein Gespräch in der Form sinnvoll ist.“ Kai sah ihr nicht in die Augen.

„Welche Form wünschst du dir?“, fragte Jorinde. Kai spürte, wie sich der Graben zwischen ihnen ausweitete. Seine Frau sprach weiter: „Ist dir diese Unterhaltung zu wenig harmonisch?“

Sie wollte sich also reiben, einen Kampf ausfechten. Kai aber hatte keine Lust auf Streit, weil er ahnte, dass sie sich wieder nur im Kreis bewegen würden. Ellenlange, hitzige Gespräche, die sie nicht weiterbrachten, hatten sie in den letzten Monaten zu oft geführt.

„Es muss zwischen uns nicht immer harmonisch ablaufen.“ Kai blieb stehen und schaute aufs Wasser, dann hin zu Jorinde, die jetzt ebenfalls in den See starrte. Sie drehte sich zu ihm um und blickte in seine Augen.

„Bist du dir sicher?“

Diese Seite an Jorinde war neu für Kai. Sie forderte ihn heraus.

„Absolut.“ Er zögerte, ehe er weitersprach. „Was ich mir wünsche …“

Jorinde sah woandershin.

Kai unterbrach sich. „Was beschäftigt dich?“, fragte er.

Sie zuckte nur mit den Schultern.

„Du bist unglücklich“, stellte Kai fest.

Jetzt schnellte ihm ihr Blick hart entgegen, zeitgleich wirkte sie zerbrechlich. „Du auch.“

Kai schüttele den Kopf. „Nein, bin ich nicht. Ich freue mich darüber, einen so tollen Sohn zu haben. Es ist schwierig mit ihm. Er macht es uns nicht leicht, aber dennoch ist er ein kleines Wunder.“

Jorinde verlagerte ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen. „Ich liebe Cosmas. Ich liebe ihn von ganzem Herzen und dennoch verabscheue ich ihn.“

Die letzten Worte flüsterte sie.

Ein mulmiges Gefühl erfüllte Kai. „Wollen wir weitergehen?“, lenkte er das Gespräch in eine andere Richtung.

Jorinde blickte auf ihre Armbanduhr. „Ich denke, das wird nichts mit unserem Spaziergang. Wir müssen zurück. Ich hab noch nicht mal die Betten bezogen.“

Kai fühlte Wut in sich aufsteigen. „Wir sind extra mit der Bahn hierher gefahren, weil du es wolltest. Lass uns weitergehen.“

Er konnte es nicht fassen. In Jorindes Augen lag Panik, aber Kai wollte nicht darauf eingehen. Es war ihr Wunsch gewesen, hierher zu kommen, dann sollte sie diese verdammte Runde auch mit ihm gehen. Er verstand sie nicht. Sie war ein einziger Widerspruch. Sie wollte etwas, dann aber lief ihr die Zeit davon und sie verlangte danach, ihre Pläne zu ändern, je nachdem, wie es in ihren Kram passte. Aber fand er sie nicht genau deshalb anziehend? Jorinde war wie Glas, einerseits hart und glatt, andererseits durchscheinend und zerbrechlich. Und Kai würde sich an ihr schneiden, immer und immer wieder.