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DAVID JONATHAN: „Akilah und die Legende von Bashir“
1. Auflage, November 2019, Periplaneta Berlin, Edition Periplaneta

© 2019 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin
www.periplaneta.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes,
gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Die Handlung und alle handelnden Personen sind erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen wäre rein zufällig.

Lektorat: Laura Alt
Satz & Layout: Thomas Manegold

print ISBN: 978-3-95996-168-4
epub ISBN: 978-3-95996-169-1

David Jonathan

Akilah

und die Legende

von Bashir

Roman


periplaneta

Geburt

„Guten Tag, ich bin …“

Damit fängt meine Geschichte an. Ich habe viele Namen bekommen: Bashir, Abdulrahman, Naif, Mouawiya. Ehrlich gesagt: Mir gefällt keiner davon. Aber niemand kann sich seinen Namen aussuchen, die Eltern bestimmen ihn.

Ich habe viele Eltern. Vielleicht genauso viele, wie ich Namen habe. Nein, das stimmt nicht. Ich habe eine Mutter und einen Vater wie alle anderen. Nur waren sie zur Zeit meiner Geburt Tausende Kilometer oder mehr voneinander entfernt. Das soll im Februar oder März 2011 gewesen sein, so genau weiß ich das nicht. Ich war damals 13 Jahre alt oder zehn, manche meinen 14, auf jeden Fall unter 17, da sind sich alle einig.

Mein Vater kam ein paar Monate zuvor nach Syrien. Ich weiß nicht viel von ihm, nicht einmal, was er genau dachte. Er suchte in Daraa nach Hinweisen auf Thomas Edward Lawrence, der dort vor hundert Jahren den Aufstand der Beduinen angeführt haben soll. Mein Vater hatte Geschichte studiert und schrieb seine Doktorarbeit über den berühmten Lawrence von Arabien, den er heimlich verehrte. Für mich hat mein Vater kein Gesicht und keinen Namen. Er reichte mich an meine Mutter weiter, die er aus dem Studium kannte. Sie hat mich in die Welt gesetzt, nicht einfach geboren, so wie Frauen seit Anbeginn ihre Kinder bekommen, sondern hineingeworfen ins Leben hat sie mich, ohne dass ich darauf vorbereitet war. Wie sollte sie ihren Jungen auch darauf vorbereiten, was später mit ihm passierte? Sie hat es nicht böse gemeint, sie wollte nur, dass es mich gibt.

Zurück zu meinem Vater. Bevor er mir begegnet ist, war er fasziniert von der ländlichen Gesellschaft in Daraa. In der umliegenden Region wurden vor allem Weizen und Gerste angebaut. Die Stadt hatte einen Markt und eine Moschee. Was für ein Treiben muss das gewesen sein. Ich vermute, mein Vater hat nichts davon verstanden, aber er liebte die Einfachheit, die er romantisch verklärte, und den persönlichen Handel bei einem Glas Tee, den er mit Freundschaft verwechselte. Er fühlte sich in eine alte Zeit versetzt, während um ihn herum die Gesellschaft schon im Verfall begriffen war. Die Menschen murrten, sie waren nicht mehr einverstanden mit der Regierung. In der Moschee redeten die Männer miteinander. Die Hälfte von ihnen hatte keine Arbeit. Große Trockenheit führte zu schlechten Ernten. Die Preise stiegen. Viele flüchteten vom Land in die Städte. Es gab nicht ausreichend zu essen und zu trinken. Die Menschen litten, sie forderten Veränderung. An den Wänden standen plötzlich Schriften.

„Nieder mit Baschar!“

Das war mutig. Mein Vater meinte, das sei dumm. Später habe ich Männer sagen hören: „Der Fremde hat uns verraten.“ Ich weiß nicht, ob sie damit meinen Vater meinten. Es könnte sein, denn er fürchtete, ein Konflikt würde alles zerstören, was er an dem Land und der Stadt liebte. Wie wir heute wissen, hatte er Recht. Trotzdem konnte es nicht so weitergehen. Die Menschen wollten doch nur leben.

Wegen der Schriften an den Wänden gab es jedenfalls Ärger. Natürlich, Baschar ließ sich das nicht gefallen. Ich kann ihn verstehen. Wenn du deinen Namen überall liest und weißt, dass wirklich du gemeint bist, verletzt dich das. Selbst wenn freundlich über dich geschrieben wird. Ich kann das vielleicht nicht richtig ausdrücken, aber ich habe es selbst erlebt. Also verstehe ich Baschar. Das ändert nichts daran, dass er falsch reagiert hat. Schließlich waren es seine Fehler, die die Menschen missmutig werden ließen. Da hätte er sie ihren Ärger ruhig an die Wände schreiben lassen sollen. Wem schadet es?

Offensichtlich glaubte Baschar, dass es ihm schaden würde. Möglicherweise war er auch nur gekränkt. Das verstehe ich. Dennoch hätte er sich vorher überlegen sollen, was passieren kann, wenn er statt auf Wände auf Menschen schreibt. Mit der Schrift der Gewalt. Es gab Prügel. Einige Männer hatten Platzwunden im Gesicht und Narben auf der Seele. Sie waren wütend. Das verstehe ich. Aber auch sie hätten es dabei bewenden lassen können. Soweit ich weiß, hat mein Vater zu ihnen gesprochen und gesagt, sie sollten Geduld bewahren. Da haben die Männer geantwortet: „Unsere Wunden sind frisch und unsere Familien leiden jetzt Hunger.“ Hinter seinem Rücken haben sie ihn ausgelacht, das weiß ich. Er hat sie einfach nicht verstanden. Ich habe mich immer gefragt, ob er zu meiner Mutter Kontakt aufgenommen hat, weil er einen Kampf verhindern wollte. Jedenfalls rief er sie kurz nach seinem Auftritt vor den Männern in der Moschee an. Nach allem, was ich weiß, war es ein kurzes Gespräch. Ich stelle es mir so vor:

„Hi, Linda. Ich bin’s, Gregory.“

Das hatte ich vergessen zu erwähnen: Meine Mutter heißt Linda Rodham und mein Vater Gregory Hurst. Zu ihrem Schutz habe ich diese Namen allerdings frei erfunden. Wie es in den Zeitungen heißt: „Die Namen wurden geändert, sie sind der Redaktion bekannt.“ Wenn sie es für richtig halten, können sie selbst an die Öffentlichkeit gehen, ich werde sie nicht verraten. Aber das nur nebenbei. Jedenfalls stelle ich mir ihr kurzes Gespräch folgendermaßen vor:

„Hi, Linda. Ich bin’s, Gregory.“

„Was willst du? Ich habe dir gesagt, du sollst mich nicht mehr anrufen.“

„Hör mal! Ich dachte, wo wir uns länger nicht gesehen haben …“

„Das ändert gar nichts. Du hast mich sitzenlassen.“

„Ich bin für meine Forschung nach Syrien gereist.“

„Du hättest mich mitnehmen können, statt mir eine Karte vom Flughafen zu schicken.“

„Wärst du denn mitgekommen? Du hast deine Arbeit bei der Times.“

„Du hast mich nicht gefragt.“

„Ich wollte es dir nicht schwerer machen.“

„Feige warst du, das ist alles.“

„Dabei habe ich nur an dich gedacht.“

Warum ich mir die Liebe meiner Eltern tragisch vorstelle? Mein Vater hat mich verlassen. Ich glaube, das hat er nicht zum ersten Mal getan. Er muss schon viele Menschen verlassen haben, so leicht, wie er sich von mir lossagen konnte. Mein Vater muss ein Mensch mit Lebenserfahrung gewesen sein. Natürlich weiß ich es nicht genau. Ich reime mir das alles zusammen. Schließlich war ich nicht dabei. Immerhin muss es meinem Vater gelungen sein, der Frau, die er – jedenfalls in meiner Vorstellung – liebte, von mir zu erzählen.

„Einen Dreck hast du an mich gedacht, Gregory, sei wenigstens ehrlich!“

„Vor allem rufe ich dich an, weil ich dir eine Geschichte erzählen will.“

„Verarscht du mich jetzt auch noch, Gregory?“

Ja, meine Mutter ist nicht die feinste Dame. Aber die Frauen im Westen nehmen kein Blatt vor den Mund. Sie stehen ihren Mann und manchmal sprechen sie auch genau so. Mir ist aber gerade aufgefallen, dass mein Vater mich als Ausrede für seinen Anruf benutzt hat. Ich war nicht der Grund für sein Gespräch mit meiner Mutter. Hätte sie anders reagiert, wäre von mir überhaupt nicht die Rede gewesen. Das enttäuscht mich schon. Ich dachte, ich wäre wichtiger für ihn gewesen.

„Nein, Linda. Du weißt, das würde ich nicht wagen. Ich habe wirklich eine Geschichte beobachtet. Du magst doch Geschichten.“

„Ich lebe davon.“

„Dann wirst du diese Geschichte zu schätzen wissen. Du darfst sie weitererzählen, wenn du willst.“

„Schieß los. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit und die Verbindung ist schlecht.“

„Hast du von den Unruhen in Daraa gehört?“

„Ein lokaler Aufstand wegen Hunger und Durst. Das ist nicht neu.“

„Wenn du dabei wärst, würdest du anders darüber denken.“

„Komm zum Punkt.“

„Die Sache könnte sich zu einer Revolution ausweiten.“

„Darüber werde ich zu gegebener Zeit berichten.“

„Ich gebe dir einen Vorsprung.“

„Erwarte keine Dankbarkeit.“

„Vielleicht ein kleines Date, wenn ich zurück bin?“

„Nein.“

„Ein wenig Hoffnung auf ein kleines Date, wenn ich zurück bin?“

„Meinetwegen. Wenn deine Geschichte diese Hoffnung wert ist, du Jammerlappen.“

„Dankeschön.“

„Dafür will ich jetzt aber auch etwas bekommen.“

„Das bekommst du, Linda, das bekommst du.“

Nach allem, was ich von ihm gehört habe, stelle ich mir meinen Vater als unsicheren Mann vor. Er hat es nie gewagt, anderen zu widersprechen. Als der Hunger größer und der Durst unerträglich wurde, hat er nicht mehr versucht, den Kampf zu verhindern. Aber er hat auch nicht geholfen. Sie sagen über meinen Vater, er sei ein Mann des Wortes und nicht der Tat gewesen. Vielleicht hat er sie verraten, ich weiß es nicht. Jedenfalls beeilte er sich, seine Forschung zu beenden. Dabei scheint er mehr und mehr den Kontakt zu Menschen vermieden zu haben. Er suchte nach Dokumenten und trank seinen Tee meist allein. Dabei muss er die Kinder beobachtet haben, von denen er meiner Mutter wenig später berichtet hat.

„Ich bin schreibbereit. In weniger als fünf Minuten beginnt die Redaktionskonferenz.“

„So lange brauche ich nicht. Auch wenn ich gerne deine Stimme höre.“

„Komm auf den Punkt.“

„Neulich habe ich eine Gruppe Kinder beobachtet.“

„Früher hast du die übersehen.“

„Das konnte ich diesmal nicht, weil ich gesessen habe. Wir befanden uns auf Augenhöhe, sozusagen.“

„Ich meinte das sarkastisch.“

„Entschuldige, ist mir nicht aufgefallen. Jedenfalls hatten sie Farbe von irgendwoher, rote Farbe, und haben an eine Wand geschrieben.“

„Ihre Hausaufgaben?“

„Sarkasmus?“

„Was glaubst du denn?“

„Schon gut. Sie haben geschrieben: ‚Das Volk will den Sturz des Regimes.‘“

„Das sollen Kinder geschrieben haben?“

„Es ist der Slogan der arabischen Revolution.“

Als Historiker kannte sich mein Vater da aus. Das bezweifelte auch Mutter nicht. Aber sie war skeptisch und ihr fehlte Dramatik.

„Wenn das alles ist, musst du dir keine Hoffnung machen.“

„Warte, da war ein Junge. Vielleicht zwölf Jahre alt, erst zwölf Jahre alt. Der schien der Anführer zu sein. Jedenfalls tauchte er den Pinsel vor allen anderen in die Farbe und malte den Anfang der Parole an die Wand. Dann sah er den Kindern zu und gab ihnen Anweisungen. Als die Polizisten kamen, packten sie ihn gleich. Dann jagten sie die Davonlaufenden. Sie erwischten alle.“

„Moment“, fragte meine Mutter nach, „Polizisten haben die Kinder gefangen?“

„Nicht nur gefangen, sondern auch in das Gefängnis gebracht. Da sitzen sie übrigens seit zwei Tagen, obwohl inzwischen die ganze Stadt protestiert. Angeblich sind sie gefoltert worden.“

„Die Kinder?“

„Besonders der Junge, der ihr Anführer gewesen sein soll.“

Das war der Moment, in dem mich meine Mutter empfing. Sie hat mich sofort in ihr Herz geschlossen. Ich glaube, sie sah mich vor sich, hatte das Gefühl, mich in ihren Armen zu halten. Für sie ragte ich aus der Gruppe der Kinder hervor. Doch sie fühlte sich der Wahrheit verpflichtet. Deshalb wollte sie mich nicht besonders behandeln.

„Wie viele Kinder waren es insgesamt?“

„Ich habe 15 gezählt.“

„Die alle festgenommen wurden?“

„Nicht ein Einziges konnte entkommen.“

„Was machen die Eltern?“

„Sie versammeln sich und warten vor dem Gefängnis. Einige schließen sich den Protesten an.“

„Es kommt also zu Unruhen.“

„Die aufgestaute Wut bricht sich Bahn.“

„Was ist mit dem Jungen, diesem Anführer? Sind seine Eltern auch dabei?“

„Nein, er hat keine Eltern oder sie lassen sich nicht blicken.“

„Wie heißt er?“

„Weiß ich nicht, niemand ruft seinen Namen.“

„Komm schon, wie soll ich ihn nennen?“

Es ist das vornehmste Recht der Eltern, den Namen ihres Kindes zu bestimmen. Meine Eltern sind keine Ausnahme, sie haben sich wirklich viele Gedanken um meinen Namen gemacht.

„Ich weiß seinen Namen nicht, er wurde nicht genannt.“

„Denk nach, Gregory. Du willst mich doch nicht mit einer halben Geschichte hängen lassen.“

„Bashir, glaube ich, jemand hat ihn Bashir gerufen. Bashir Abazed.“

„Na also, geht doch.“

„Was ist jetzt mit unserem Date?“

„Du darfst dir Hoffnung machen.“

Eine Hoffnung, die nicht erfüllt wurde. Soweit ich weiß, haben sich meine Eltern nie wieder gesehen. Vielleicht war das sogar ihr letztes Gespräch. Ich habe sie nie zusammen erlebt. Jedenfalls war meine Mutter jetzt schwanger mit mir. Eine komplizierte Schwangerschaft, während der sie sich viele Gedanken um mich machte. In ihrer ersten Geschichte über die Kinder von Daraa komme ich nicht vor. Ich war noch nicht ausgereift in ihr. Sie schrieb damals, als der Aufstand sich zu einem längeren Konflikt entwickelte, über den Schriftzug, mit dem alles begonnen hatte, sehr allgemein. Kein Wort von mir. Sie nannte überhaupt keine Namen.

Damals begleitete ich meinen Vater durch den Ort. Aus dem Gefängnis waren wir längst entlassen worden. Eine Geste des guten Willens, die den Aufstand beenden sollte. Noch so eine Hoffnung, die in diesen Tagen enttäuscht wurde. Mein Vater versuchte, an Wissen zu retten, was zu retten war. Er sprach mit Männern, die durch ihre Großväter von Lawrence gehört hatten, und sichtete Dokumente. Ihm ist es zu verdanken, dass viele Unterlagen heute noch existieren. Dabei lernte ich ihn besser kennen. So unsicher er war, setzte er sich doch oft durch, wenn es um seinen Helden ging. Wer sich ihm in den Weg stellte, wurde in einer bunten Mischung aus verschiedenen Sprachen angeschrien. Das hat sich bewährt, denn weil jeder nur ein paar Brocken verstand, hielten viele ihn für einen verrückten Gelehrten, dem man besser nicht in die Quere kommt. Aufgrund dieses Missverständnisses bekam mein Vater meist seinen Willen. Ich bin dankbar für die Zeit, die ich mit ihm verbringen durfte, auch wenn seine Arbeit ihn vollkommen in Anspruch nahm. Wir sprachen nicht miteinander, aber ich konnte bei ihm sein und spürte, dass er immer wieder an mich dachte. Die Kinder, die mit Pinsel und Farbe die Wand beschrieben hatten, ließen ihn nicht los. Vielleicht hielt er sie für ebenso mutig wie Lawrence von Arabien. Es waren schöne Tage, die nur uns gehörten. Doch sie endeten abrupt, als das Militär in Daraa eintraf. Mein Vater wurde ausgewiesen und musste innerhalb von drei Tagen Syrien verlassen. Ich war fortan auf mich allein gestellt.

Aber ich hatte noch meine Mutter. Sie ließ mich nicht im Stich. Während ich durch die Stadt irrte und nicht wusste, wohin ich gehörte, kümmerte sie sich liebevoll um mich. Ich wuchs in ihr heran, als ein Gedanke zunächst, eine Idee. Sie sprach viel über mich, erkundigte sich bei Reportern, Botschaftspersonal und anderen westlichen Menschen, die in Syrien verblieben waren, nach mir. Als fürsorgliche Mutter legte sie ein Album mit allen möglichen Informationen über mich an. Dennoch fühlte ich mich in dieser Zeit einsam. Ich gehörte nirgends dazu. Die Männer trafen sich in der Moschee, Frauen und Kinder blieben zu Hause. Ich streifte umher. Selbst die Soldaten beachteten mich nicht. Ich hätte an die Wände schreiben können und es wäre von keinem bemerkt worden. Aber ich tat es nicht. Es war sinnlos geworden. Alle wussten, was die Leute dachten, und die Antwort war das Militär. Die Meinungen waren ausgetauscht. Nächster Halt: Gewalt.

Ich irrte. Es gehörte mehr dazu. Der erste Schlag, der erste Schuss, das eine Ereignis, das jedes Bedenken zerstreut. Es lag in der Luft, die Aufregung war allerorts spürbar. Kleinere Gerangel passierten täglich. Doch alle hielten sich weitgehend zurück. Es war ein Bemühen, ein Kraftakt. Die Stimmung war zerrissen zwischen dem Wunsch, endlich loszuschlagen, und der Angst davor. Ich lebte für einen Moment in einer Zwischenzeit, in der es schon wüst zuging, aber ohne besondere Gefahr. Das Leben auf den Straßen war eine Mischung aus Routine und Aufbegehren.

Meine Mutter schrieb schließlich ihren Artikel. Es war ein guter Artikel. Er hat alles hinterfragt, was mein Vater gesagt hatte. Sie muss stundenlang telefoniert haben. Ich weiß nicht, ob ein Dolmetscher dabei war oder die Antworten in Englisch kamen. Jedenfalls kein Wort von mir. Vielleicht war sie noch nicht so weit. Sie beschrieb Kinder, die den Slogan der arabischen Revolution an die Wand sprühten und dafür ins Gefängnis geworfen wurden. Der Bericht meiner Mutter endete mit der Feststellung: „Niemand möchte seine Kinder in einem Gefängnis sehen, schon gar nicht unschuldig. Deshalb gingen die Eltern auf die Straße, viele andere Menschen schlossen sich ihrem Protest an. Als sie vor den Mauern von der Polizei gestoppt wurden, hörten die Eltern ihre Kinder hinter den vergitterten Fenstern rufen. Ohnmächtig riefen sie Parolen und warfen Steine. So begann der erste große Aufstand in Syrien.“

Als die Menschen in Daraa den Artikel meiner Mutter ein paar Wochen nach seinem Erscheinen in die Hand bekamen, lasen sie, dass der Aufstand schon begonnen hatte. „Warum wissen wir davon nichts?“, fragten sie sich. Die bisherigen Scharmützel fühlten sich für sie nicht wie ein Aufstand an. Aber wenn es in der Zeitung stand, gar in einem westlichen Blatt, dann musste es stimmen. Vielleicht waren sie an einem falschen Ort in der Stadt. Schon mehrmals hatten sie in der Entfernung Krawalle gehört. Das konnte nur der Aufstand sein, den sie gerade versäumten. Also nahmen sie die Waffen, die sie schon lange versteckt hatten, gingen auf die Straße und töteten einige Soldaten, die gerade vorbeikamen.

Das war der Beginn des ersten großen Aufstandes in Syrien. Er ging an mir vorbei. Ich sah nur die Folgen. Im Häuserkampf wurden die Schriften aus den Fassaden gesprengt. Mit jedem Schuss gab es einen Grund mehr, weiterzukämpfen. Ich ging hinter dem Artikel meiner Mutter in Deckung, denn immerhin hatte sie mich nicht erwähnt. Von den anderen Kindern war nie wieder die Rede, sie blieben verschwunden. Doch ich hielt die Stellung, wenn ich so sagen darf, wartete auf meinen Vater, hoffte auf meine Mutter. Lange hörte ich nichts.

Zwischen den Fronten gibt es keine Freunde. Ich war auf mich allein gestellt und sah die Stadt zerfallen. Daraa, wie es Lawrence vielleicht noch gekannt hatte, löste sich auf. Der Krieg erschuf einen Trümmerort, kein Tag glich dem nächsten. Ich lehnte mich gegen eine einzelne Wand und wollte nie wieder aufstehen.

Da erreichte mich eine Nachricht von meiner Mutter. Endlich hatte sie mich geboren und gab der Welt meine Existenz bekannt. Natürlich in einem Artikel. Doch der handelte diesmal nur von mir. Was hatte diesen Sinneswandel bewirkt? Ich schätze, die Zeit war einfach da. Die Idee von mir war lange genug in meiner Mutter gereift. Jetzt fand sie die richtigen Worte für mich. In ihren Augen war ich ein Anführer, ein Held. Anstatt einer Fahne schwenkte ich einen Pinsel, auch wenn die anderen Kinder nach meiner Anweisung die Parole auf eine Wand sprühten. Was machte es schon, dass ich gar keinen Pinsel gebraucht hatte? Meine Mutter hatte ein unfehlbares Gespür für Dramatik und der Pinsel gab ihrem Bild von mir eine romantische Note. Ich sah mich selbst auf den Trümmern von Daraa stehen und der Pinsel war meine Fackel.

Der Artikel brachte mich in die Welt und da es mich nun einmal geben musste, weil wahr ist, was in einer Zeitung steht, machten sich die Aufständischen und die Soldaten auf die Suche nach mir. Die einen wollten den Grund und die anderen das Symbol des Kampfes für ihre jeweilige Sache sichern. Doch so sehr sie auch suchten, sie fanden mich nicht. Stattdessen zerrten sie viele andere Jungen herbei und glaubten, mich darin zu sehen. Es gab viele Helden in dieser Zeit. Ich hielt mich heraus. Was ich am allerwenigsten brauchte, war Aufmerksamkeit von einem zerstrittenen Land. Wie sehr sehnte ich mich nach meinem Vater und seiner naiven Suche in der Vergangenheit. Das war mein Inbegriff einer heilen Welt. Eine Welt, in der es möglich war, nach Dingen zu suchen, die niemand brauchte. Dann begriff ich, dass genau das gerade mit mir geschah: Sie suchten nach mir. Aber wer waren „sie“ und was wollten sie von mir? Ich bekam Angst, denn wenn sie mich fänden, könnte ich mich nicht vor ihnen schützen. Dafür wusste ich viel zu wenig.

Das war der Tag, an dem ich mich selbst auf die Suche machte. Ich setzte mich zu den Männern und hörte die Frauen klagen. Ich setzte mich zu den Soldaten und hörte sie von ihren Familien erzählen. Damit mich niemand erkannte, ging ich nur in der Dunkelheit zu den Menschen und setzte mir eine Mütze tief ins Gesicht. Es funktionierte, weil keiner genau hinsah. Bald gewöhnten sie sich an mich und auf beiden Seiten war ich einer von ihnen.

Die Soldaten wollten so schnell wie möglich nach Hause. Ich verstand sie wie die Männer auf der anderen Seite, die wieder an ihre Arbeit und in die Moschee gehen wollten.

„Wir lieben die Felder und wir lieben unsere Tiere, wir wollen in Frieden leben und Zeit mit unseren Familien verbringen“, sagte einer der Alten, dessen verwittertes Gesicht ich immer noch vor mir sehe.

Es war ein altes Land und die modernen Zeiten kamen langsam. Ich fühlte mich fremd unter diesen Menschen. Sie dachten so natürlich, so freundlich und handelten so grausam gegen jeden, auch gegen sich selbst. Das Schlimmste war: Sie glaubten – an ihre Familie, ihr Volk, ihre Nation, ihren Gott. Es lag ein tiefes Bewusstsein in ihnen für Herkunft und Schicksal. Doch diesen Glauben richteten sie gegeneinander. Sie beteten zur selben Stunde, riefen Allah an und dann töteten sie sich. Ich hörte ihnen zu, aber sie konnten es nicht erklären.

„Unser Volk musste immer kämpfen“, erinnerten die Alten. „Wir bezwingen die raue Natur, die Krankheiten der Städte, den Hunger und den Durst. Es ist nur ein weiterer Kampf, den wir jetzt führen, ein Leiden mehr, das wir ertragen.“

Gleichmut. Dieser unsagbare Gleichmut. Gegenüber dem eigenen Leid und dem Leid anderer.

„Alles ist gegeben, wir müssen es aushalten.“

Die alten Männer erzählten Geschichten von Gleichmut. Wie einer, den sie kannten, der Dürre getrotzt hatte. Wie einer nach und nach seine Kinder verloren hatte.

„Was hat er gemacht?“, fragten die Zuhörer.

„Weiter“, war die einfache Antwort.

Ich hielt es schon in der dritten Nacht nicht mehr aus, zu ihnen zu gehen.

Bei den Soldaten war es nicht besser. Sie verrichteten ihre Gebete, aber sie glaubten nicht. Oder sie glaubten vielmehr an das, was man ihnen sagte. In ihrem Herzen war keine Heimat oder vielmehr waren die Kameraden ihre Heimat, mit denen sie hierhin und dorthin marschierten. Sie gingen ihrem Handwerk nach, ohne zu lieben, ohne zu hassen. Mit Rohheit begegneten die Soldaten dem Tod. Ich saß bei ihnen und sah die Zukunft in Trümmern.

„Gebt uns Frauen, gebt uns Wein, das könnte unser letzter Tag auf Erden sein“, sangen die Soldaten.

Gerne würde ich mir meine Nächte bei den Männern romantisch vorstellen. Gespräche und Geschichten am Lagerfeuer, wehmütige Gesänge. Doch es war dunkel, jeder Lichtschein hätte unweigerlich Schüsse auf sich gezogen. Sie unterhielten sich im Flüsterton, manchmal verstand ich kaum, was gesagt wurde. Es war gefährlich. Die eine oder andere Kugel pfiff mir über den Kopf. Ich sah zwei der Männer sterben. Immer wieder sprachen die Männer von mir. Die Soldaten mit Angst, die Alten mit Hoffnung. Wenn an einer Wand eine neue Parole auftauchte, sagten sie, das sei Bashir gewesen, so nannten mich alle. Vielleicht, weil es ähnlich klang wie Baschar und doch einen Gegensatz offenbarte. Ich war Bashir und Bashir stand gegen Baschar.

„Ein Strich mit seinem Pinsel genügt“, raunten die Männer, „und die Parole erscheint auf der Wand. Das ist der Grund, weshalb ihn niemand zu Gesicht bekommt.“

Es kam ihnen nicht in den Sinn, ich könnte bei ihnen sein und zuhören. Dann ging ich fort. Ich wollte nicht länger Teil von all dem sein. ‚Von was?‘, dachte ich.

Wer sind „sie“ und worum geht es hier? Das waren meine zwei Fragen. Ich kannte niemanden, der sie mir beantworten konnte. Deshalb machte ich mich auf den Weg. Wohin? Ich wusste es nicht und das war für mich auch keine Frage. Mein Leben würde mich dorthin führen, wohin es mich eben führte. Mochte es Zufall sein oder auch nicht.

Eines hatte ich schon gelernt: Die Menschen haben große Worte für alle Dinge, die sie nicht erklären können. Eines davon ist „Zufall“, eine Metapher für den Umstand, dass es nicht genügend Informationen gibt, um sich ein Bild zu machen, wie es zu bestimmten Entwicklungen kommt – oder wir nicht in der Lage sind, einen komplexen Sachverhalt ausreichend zu begreifen. Aber das spielte keine Rolle. Für mich waren Worte sowieso nur Schubladen zum Aufbewahren gewisser Vorstellungen, unter denen jeder etwas anderes versteht. Weil wir mit manchen Menschen glauben das Wissen zu teilen, was in welche Schublade gehört, haben wir das Gefühl, uns zu verständigen.

Ich verstand nichts. Und ich hatte auch keine Worte für das, was um mich herum geschah. Doch sobald ich Daraa hinter mir ließ, war das nicht mehr wichtig. Ich wanderte durch das Land und die Menschen veränderten sich. Der Kampf hatte keine Bedeutung, er wurde in den Städten ausgetragen.

Zuerst empfand ich Frieden, dann Langeweile und schließlich Einsamkeit. Tagelang wanderte ich durch eine Landschaft, die sich kaum veränderte. Sie war staubig und kahl, mit ein paar Hügeln durchsetzt. Weite und Stille riefen in mir ein Hochgefühl von Freiheit hervor. Ich schritt aus und war am Abend erschöpft. Wunderbare Müdigkeit ließ mich tief schlafen. Ausgeruht ging ich am nächsten Tag über einen felsigen Weg. Nichts störte die Ruhe. Selbst Zeit und Ort hatten in der Wildnis keine Bedeutung. Ich folgte uralten Pfaden und wusste nicht, wohin sie mich führen würden.

Wie sich herausstellte, führten sie mich in einem großen Bogen zurück nach Daraa. Bevor ich das erkannte, stieß ich jedoch auf Bauern, die ihre trockenen Felder und durstenden Olivenhaine bewirtschafteten. Sie sprachen darüber, dass immer mehr Menschen in die Gegend kämen.

„Sie flüchten vor der Trockenheit aus dem Norden.“

Es regne kaum, jedes Jahr weniger, sagten die Bauern, bei ihnen gehe es noch.

„Wir kommen schon durch. Aber noch mehr Menschen kann das Land unmöglich ernähren.“

Sie machten sich Sorgen und sie waren wütend. Weil sie das Land liebten und sahen, wie es verdorrte. Ich ging mit ihnen in ihre Häuser. Sie lebten einfach, aber es fehlte ihnen an nichts. Von Kämpfen hatten sie gehört, fanden jedoch, das gehe sie nichts an. Auseinandersetzungen oder gar Veränderungen waren gefährlich, weil sie den Rhythmus durcheinanderbrachten, den das Land brauchte, um Getreide, Gemüse und Obst hervorzubringen, damit Mensch und Tier ernährt werden konnten. Die Bauern verrichteten ihre Arbeit und ihre Gebete, darüber hinaus gab es nichts. Das Land forderte ihre ganze Aufmerksamkeit und Kraft. Manchmal saßen sie zusammen und manchmal feierten sie ihre Feste, das waren die Ausnahmen von der Regelmäßigkeit des Alltags.

„Wenn die Welt stehenbleibt, müssen die Tiere immer noch versorgt werden“, sagten sie.

Danach lebten Frauen und Männer. Ihre Gewissheit und ihren Glauben an das, was sie taten, fand ich beneidenswert. Beides gab ihnen Ruhe. Sie fragten nicht, ob es noch mehr auf der Welt gäbe, als das, was sie kannten und hatten. Es war ein Leben ohne jeden Horizont, den Blick starr auf den Boden gerichtet. Gerade deswegen waren die Bauern sehr selbstbewusst. Auf ihrem Land machte ihnen niemand etwas vor. Sie fürchteten sich nie vor dem nächsten Tag. Nur Neues, das Veränderungen mit sich brachte, fanden sie ungeheuerlich. Wenn es nach ihnen ginge, bliebe das Leben eine ewig gleiche Mühsal, die den Jahreszeiten und dem Wetter folgt. Ihre Geschichten handelten von Entbehrungen und Hungersnöten, vom Bündnis mit der Natur und dem Lohn ununterbrochen harter Arbeit. Sie schienen glücklich dabei und wollten nicht wissen, was hinter ihren Feldern lag.

Das andere kam aber zu ihnen. Zuerst die Flüchtlinge aus dem Norden und später die Soldaten. Die Bauern nahmen es anfangs mit Gleichmut auf. Als sie dann begriffen, dass sich das andere bei ihnen festzusetzen begann und ihnen das Land streitig machte, begannen sie mit demselben Gleichmut zu kämpfen.

Da war ich nicht mehr bei ihnen. Ich flüchtete vor den Kämpfen, aber auch ich wurde eingeholt. Es erschienen neue Artikel über mich. Die Idee von einem Jungen, der mit seinem Graffiti den Bürgerkrieg ausgelöst hatte, verbreitete sich. Ich hieß jetzt Naif. Das wirkt arabisch, wird aber in einigen Sprachen „naiv“ ausgesprochen, was so viel wie leichtgläubig, arglos, leicht verführbar oder unwissend bedeutet. Ich lernte das erst später, obwohl ich den Namen von Anfang an nicht mochte. Sie erfanden mich immer wieder neu – und ich hatte noch keine Antworten auf meine Fragen: Wer sind „sie“ und worum geht es hier?

Als ich wieder in Daraa war, bei den Soldaten und den Männern, begriff ich, dass ich dort vergebens suchte. Beide Seiten kämpften, weil es jemanden gab, der es ihnen befahl. Auf beiden Seiten gab es dafür überzeugende Gründe und wohlklingende Parolen. Beide Seiten glaubten, für eine gerechtere Welt und im Namen Allahs zu töten. Im Grunde wussten beide Seiten nicht, wofür sie ihr Leben ließen, obwohl sie meinten, es zu wissen, und die Sache für gut befanden. Es fielen Worte wie „Freiheit“ und „Gerechtigkeit“, die große, aber unbestimmte Vorstellungen hervorriefen. Das verwirrte mich. Warum kämpften Männer für Worte?

Dann hörte ich eines Tages einen Jungen sagen, der nicht älter als zwanzig Jahre war: „Ich kämpfe für Bashir.“

Es dauerte, bis ich verstand, dass er mich damit meinte.

„Er hat uns gelehrt, was ein Einziger mit der Macht der Worte bewirkt.“

Die Männer ließen ihn reden, dann fragten sie: „Kanntest du Bashir?“

Der Junge antwortete: „Wir sind auf dieselbe Schule gegangen, aber ich habe ihn nur einmal gesehen, bevor er die Parole auf die Wand geschrieben hat.“

Die Männer nickten ihm anerkennend zu. Ich flüchtete und versteckte mich zwischen Trümmern. Kurz darauf begannen heftige Gefechte. Sie dauerten zwei Tage und zwei Nächte, in denen ich auf Steinen schlief. Es war wie in einem Traum. Der Lärm der Schüsse wurde mir so vertraut, dass sie zu einer Musik für mich wurden.

„Spiel mir das Lied vom Tod“, dachte ich und kicherte über meinen kleinen Scherz. Vielleicht war das unangebracht, aber was ist schon angebracht, wenn Menschen sich gegenseitig umbringen?

Flucht

Daraa

Plötzlich ist Stille. Es liegt ein lautloser Dunst über der Straße, der fast unmerklich auf und ab wabert, als würde die Stadt atmen. Sonst gibt es keine Bewegung, kein Geräusch. Ich steige aus den Trümmern über gesprengte Steine, rutsche auf dem Schutt und suche meinen Weg durch allerlei Unrat. Kein Mensch ist zu sehen, keine Stimme zu hören. Die Sonne geht gerade auf, es beginnt ein neuer Tag.

Ich stehe in der zerstörten Stadt und blicke nach oben. Das weiche Licht des Morgens fällt durch den Dunst. Ich verfolge die Strahlen mit meinen Augen und finde sogar die Ruinen schön. Sie wirken wie das fahle Gerippe eines gefallenen Riesen, der endlich Frieden gefunden hat.

Vorsichtig gehe ich in Richtung Moschee, weil ich dort die Männer vermute. Auf meinem Weg schaue ich durch die Häuser. Die Stadt ist durchsichtig geworden. Sie wirkt wie ein lichter Wald voller abgestorbener, umgeknickter Bäume. Das ist eine eigentümliche Schönheit, aus der Landschaft herausgebrochen von einem ungeschickten Bildhauer. Es ist, als bewege ich mich in einem alten Modell von Daraa, das im Lauf der Jahre zerbrochen ist.

Von weitem schon sehe ich die Moschee. Sie ist unversehrt. Wahrscheinlich hat sich keiner getraut, auf sie zu schießen. Für alle Fälle. Selbst im Krieg scheinen manche Vorstellungen bestehen zu bleiben. Nein, nicht Vorstellungen, Ängste, wenn ich genau überlege.

Wo ich gerade zu mir von Angst spreche: Da vorne liegt ein Bündel auf meinem Weg, braun, mit hellem Staub überzogen. Ich bleibe erschrocken stehen. Kann das ein Toter sein? Ich will keinen Toten sehen, fürchte mich vor dem erstarrten Nichts. Trotzdem gehe ich weiter, weil ich muss. Mit klopfendem Herzen nähere ich mich dem Bündel, halte Abstand und sehe doch hin. Ich erkenne ein Gesicht, Hände, die Umrisse eines Körpers. Bleibe stehen. Angst und Neugier halten sich die Waage. Ich knie mich auf die Erde, betrachte das Bündel mit Widerwillen. Die Konturen lösen sich vor meinen Augen auf. Gesicht und Hände verschwinden, der Körper fällt in sich zusammen. Übrig bleibt ein ausgefranster Sack mit irgendwelchen Habseligkeiten, der auf der Flucht liegengelassen wurde. Vielleicht war er zu schwer oder hinderlich. Ich stoße ihn mit dem Fuß an und verpasse ihm eine Delle, ohne dass er sich ansonsten bewegt. Am liebsten würde ich ihn aus dem Weg kicken, aber zum Spielen habe ich keine Zeit. Ich muss die Moschee erreichen, bevor die Kämpfe wieder aufbranden.

Meine Schritte werden jetzt schneller. Der Schreck verleiht mir Flügel. Noch hundert Meter, noch fünfzig. Ich kann schon die Tür erkennen. Keiner schießt auf mich und niemand hält mich auf. Endlich wieder unter Menschen, den Geschichten der alten Männer zuhören und in der Gefahr nicht allein sein. Meine Füße beginnen zu laufen. Nur schnell, schnell in Sicherheit sein. Da stolpere ich und stürze zu Boden.

Meine Knie und meine Hände schmerzen. Im Mund habe ich Staub. Einen Moment bleibe ich mit geschlossenen Augen liegen und lasse den Schmerz pochen. Ich fühle eine seltsame Zufriedenheit, als würde ich endlich Ruhe finden. Die Stille um mich herum ist so absolut, dass ich meinen eigenen Herzschlag höre. Der Rhythmus beruhigt mich, nein, er betäubt mich. Ich will einfach liegenbleiben, für immer und immer. Doch ich habe Angst, entdeckt zu werden. So öffne ich meine Augen.

Ich sehe den Boden unscharf. Tränen müssen erst den Staub fortspülen. Ich wische sie an meinem Ärmel ab. Dann hebe ich langsam meinen Kopf. Zuerst sehe ich Stoff, einen ganzen Berg Stoff. Dunkler Stoff, der unangenehm riecht. Ich will mich erheben, aber stechende Schmerzen in Knien und Händen halten mich zurück. Ich kauere neben dem Stoffhaufen und atme vorsichtig durch den Mund. So verharr ich einen langgezogenen Augenblick. Dann stehe ich stöhnend auf. Dabei verheddere ich mich in dem Stoff neben mir und stolperte zurück auf den Boden.

Allah möge mir meine Flüche verzeihen. Mich durchfährt ein ungeheurer Schmerz, als sich ein spitzer Stein in mein Knie bohrt. Wütend springe ich auf und gebe dem Stoffhaufen einen wuchtigen Tritt. Er müsste quer über die Straße fliegen. Tut er aber nicht. Stattdessen spüre ich eine weiche Masse, die meinem Fuß Widerstand bietet. Gleichzeitig rollt der Stoffhaufen auf die Seite – und entblößt ein Gesicht, das mich aus leblosen Augen anstarrt. Ich erschrecke nicht, ich gerate in Panik, als ich den Toten erkenne. Es ist der Junge, der gesagt hat: „Ich kämpfe für Bashir.“

Er ist im Tod hässlich geworden. Seine Augen quellen aus dem eingefallenen Fleisch hervor und sein Mund steht offen. Der Junge scheint voller Qual nach dem Leben zu rufen. Vergebens. Es hat ihn verlassen und übrig geblieben ist ein ärgerlicher Haufen, der im Weg liegt.

Ich bringe es nicht über mich, ihn länger zu betrachten oder ihn von der Straße zu ziehen. Jemand wird sich darum kümmern, beruhige ich mich, kehre ihm den Rücken und gehe. Dann drehe ich mich noch einmal um.

‚Sieht er mir hinterher, verfolgt er mich mit seinen Augen?‘, frage ich mich. ‚Ist er böse auf mich, weil ich ihn getreten habe?‘

Er liegt unbeweglich auf der staubigen Erde. Nichts findet mehr seine Beachtung.

Doch dann höre ich ihn mit seiner Stimme sagen: „Ich bin für Bashir gestorben.“

„Nein, nicht!“, rufe ich. „Ich habe das nie von dir verlangt.“

Der Anblick des Jungen lässt mich nicht mehr los. Hat er wirklich für mich gekämpft, ist er für mich gestorben? Nein, nein, ich habe mir das eingebildet, ich wollte das nicht.

„Aber du hast die Parole an die Wand geschrieben“, höre ich wieder die Stimme in mir.

„Das war doch nur ein Streich, ein Spiel!“, schreie ich verzweifelt.

„Dann sieh, was daraus geworden ist“, sagt die Stimme.

Ich laufe davon, doch ich kann sie nicht abschütteln.

In der Moschee finde ich Ruhe, denn es ist laut. Die Männer beklagen ihre Toten und feiern sie als Märtyrer. Nebenbei schmieden die Ältesten schon neue Pläne. Geht es noch um den täglichen Bedarf an Nahrung und um die Ideale der Revolution oder geht es nur um den Krieg?

Von dem Jungen sage ich nichts. Sie werden ihn irgendwann finden. Vielmehr lenke ich mich ab, indem ich fasziniert ihren Ritualen zusehe. Jeder Handgriff ist gelernt, jedes Wort überliefert. Glaube wurde Handlung, die sich wieder zu Glaube wandelte. Auf die gleiche Weise funktionierte meine Schrift an der Wand. Deshalb wollte der Junge für mich kämpfen. Ich kann ihn nicht vergessen.

Später versammeln sich die Männer zum Essen. Dabei reden sie untereinander in kleinen Gruppen. Keiner will allein sein. Durch den Raum schallt ein beinahe fröhliches Geplauder, das aber nicht über die Anspannung hinwegzutäuschen vermag, die niemand ablegen kann. Die Gewehre stehen griffbereit an der Seite, vor den Fenstern beobachten Wachen die Straßen in alle Richtungen. Drinnen zelebrieren die Männer das Leben, wie sie es verstehen. Jetzt, wo es unsicher und für viele kurz geworden ist, empfinden sie es als besonders wertvoll. Deshalb nutzen sie die Pause für derbe Witze und raue Sprüche. Aber sie wenden sich auch an die Ältesten und bitten um Rat in verschiedenen Fragen. Die Männer ordnen ihre persönlichen Angelegenheiten und bereiten sich auf die Verheißungen des Jenseits vor. Sie sind schon nicht mehr ganz von dieser Welt.

Ich will darüber sprechen, dass meinetwegen ein Junge gestorben ist, aber ich kann es nicht. Meine Bestürzung kommt mir lächerlich vor, wenn ich daran denke, wie viele Menschen jeder einzelne dieser Männer wahrscheinlich getötet hat. Also schweige ich und verdränge meine Trauer.

Soll ich ihnen den Jungen bringen? Ich kann nicht vergessen, sehe das Stoffbündel mit den leblosen Augen.

„Ich bin für Bashir gestorben.“

Nein, nein, das habe ich nicht gewollt. Vergib mir. Die Schrift an der Wand, das war doch nur Spaß, weil ich Künstler werden will und Graffiti schreiben wie die Sprayer in New York. Aber hier ist Daraa. Das hätte ich bedenken müssen. Bei uns haben Worte eine gefährliche Bedeutung. Ich sah nur die Kunst und war stolz auf meine Schrift. Andere haben die Linien gelesen und eine Parole erkannt, der sie folgen konnten.

„Ich kämpfe für Bashir.“

Das war nicht meine Absicht, aber vielleicht bin ich trotzdem verantwortlich. Ich habe nur die Schönheit der Schrift gesehen und nicht die Gefühlswallung, die sie auslöst.

Manchmal frage ich mich allerdings, ob ich wirklich auf diese Wand geschrieben habe. Ich erinnere mich nicht und alles, was ich darüber weiß, erfuhr ich zuerst aus den Erinnerungen meines Vaters und den Artikeln meiner Mutter. Seltsam, dass andere mich so viel besser zu kennen scheinen als ich selbst. Warum sonst wollte dieser Junge mir unbedingt folgen? Hat er mich an jener Wand gesehen, hat er meine Worte gelesen? Ich beschließe, mich auf die Suche nach meiner Vergangenheit zu machen, auch wenn ich große Angst vor dem Krieg da draußen habe.

Ich höre noch eine Weile den Männern zu, aber von ihnen erfahre ich nichts Neues. Sie erzählen sich nur von ihren Taten und unterdrücken ihre Angst. Also verlasse ich die Moschee und begebe mich auf die Suche nach der Wand.

‚Vielleicht‘, so denke ich mir, ‚erkenne ich meine Handschrift, dann weiß ich zumindest, ob die Worte tatsächlich von mir sind, die den Jungen in den Tod getrieben haben.‘

Dabei hoffe ich inständig, dass ich es nicht war. Als ich hinaustrete, sehe ich, dass sich die Straße belebt. Weil gerade nicht gekämpft wird, gehen die Menschen ihren Geschäften nach. Sie huschen durch die verwüstete Stadt, ihre Blicke streifen ständig umher auf der Suche nach der nächsten Gefahr. Die Gestalten wirken verschrumpelt und klein, gebückt, wie sie laufen. Einen Moment bleibe ich stehen, nehme die Bewegung in mich auf.

‚Woher kommen die Menschen?‘, frage ich mich, da ihre Häuser zerstört sind.

Plötzlich bemerke ich, dass der Junge verschwunden ist. Er liegt nicht mehr auf der Erde, dort wo ich ihn gefunden habe. Aufgeregt laufe ich zu der Stelle. Kann es sein, dass er noch lebt und fortgegangen ist? Im Staub sehe ich den Abdruck, den sein Körper hinterlassen hat und einige Fußspuren. Das können unmöglich nur meine sein. Außerdem fallen mir zwei tiefe Rillen auf, die von Rädern zu stammen scheinen. Ich folge ihnen und hoffe inständig, dass der Junge verletzt in ein Krankenhaus transportiert wird.

„Bitte, lass ihn am Leben sein, lass ihn einfach noch leben!“, sage ich laut, sodass ich meine Stimme selbst höre.

Mit wem rede ich, an wen sende ich diese Bitte? Ich bin verwirrt. Glaube ich ernsthaft, dass mir irgendjemand zuhört? Vielleicht ist die Zwiesprache ein Reflex, ähnlich dem Pfeifen in der Dunkelheit. Ein Gefühl von Gemeinsamkeit, wenn ich allein bin. Oder ich wende mich an eine Art Schicksal, um das Leben in meinem Sinn zu beeinflussen. An einen Gott sogar? Nein, ich habe keine Vorstellung von einer übernatürlichen Macht. Aber mit dem rede ich dann?

Ich stelle diese Frage zurück, als ich vor mir zwei Männer sehe, die einen Holzkarren schieben. Mir scheint, sie könnten den Jungen mitgenommen haben, um ihn zu versorgen. So folge ich ihnen in einigem Abstand. Sie gehen nicht allzu schnell, aber in gleichmäßigem Tempo. Seltsam ist nur, dass sie den Weg einschlagen, der aus der Stadt hinausführt. Andererseits könnte dort ein geschützter Verbandsplatz sein. Ich hoffe es wirklich sehr für den Jungen.

Mit der Zeit schließen sich mehr und mehr Menschen dem Zug des Wagens an.

„Sie wollen ihre verwundeten Angehörigen und Freunde pflegen“, sage ich mir wieder und wieder.

Natürlich ahne ich längst, dass ich mich belüge, aber ich will es nicht wissen – noch nicht. So folge ich dem Wagen und ignoriere die einsetzenden Klagerufe, so gut es mir möglich ist.

Meine Verleugnung der Tatsache, dass der Junge gestorben ist, endet an einer Grube, in die er mit unzähligen anderen Leichen hineingelegt wird. Die Totengräber bemühen sich um einen gewissen Respekt, indem sie die Körper nicht werfen und mit so viel Würde behandeln, wie es ihnen im Angesicht der Masse an Leichen möglich ist. Am Rand der Grube klagen die Menschen und beten für die Verstorbenen. Dann beginnen die Totengräber, das Loch zuzuschütten. Ich bleibe, bis die erste Erde das Gesicht des Jungen bedeckt. Damit ist er für mich endgültig von dieser Welt gegangen und ich wende mich ab. Traurig zwar, aber in der Gewissheit, den Tod als eine Bürde der Lebenden akzeptieren zu können. Ich weiß nicht, wer er war, ich weiß nur, wer er für mich war.

Nach dem Begräbnis mache ich mich wieder auf die Suche nach der Wand, die ich beschriftet haben soll. Je mehr ich darüber nachdenke, desto unwahrscheinlicher kommt es mir vor, dass ausgerechnet ich eine politische Parole geschrieben habe. Ich bin der unpolitischste Mensch, der sich denken lässt. Bevor der ganze Schlamassel begann, ging ich wohl in die Schule. Jedenfalls wird das in einem Artikel über mich behauptet, kurz bevor der Junge erschossen wurde. Noch einer dieser Berichte, die mehr über mich wissen, als ich selbst. Wenn ich dem glauben darf, war ich ein mittelmäßiger Schüler, mehr an den freien Nachmittagen interessiert als am Lernen. Ich hatte keine Interessen und keine besonderen Ideen. Ab liebsten hing ich mit meinen Freunden in der Stadt herum und verbrachte meine Zeit damit, mir sinnlose Sprüche auszudenken. Das führte den Journalisten natürlich direkt zu dem Spruch auf der Wand. Angeblich hat einer meiner Freunde mir die Sprühdose in die Hand gedrückt und gesagt: „Du bist dran, Mouawiya, schreib.“ Ohne viel zu überlegen, hätte ich daraufhin die Parole in wenigen Sekunden an die Wand gesprüht.

Bin ich das? Ein unüberlegter, unpolitischer, uninteressierter Junge, der aus Blödheit zufällig einen Krieg auslöst, bei dem Tausende Menschen sterben?

Die Menschen um mich herum sind geduckt und leise. Der Krieg reduziert sie auf ihre Urbedürfnisse: Essen, Trinken, Schlafen, Verstecken – mit anderen Worten: sich am Leben zu erhalten. Für bessere Zeiten oder die Möglichkeit zur Flucht.

Das Land zu verlassen scheint ein Ausweg. Doch ist das Land mit seiner Natur, seiner Geschichte und Kultur nicht die Seele der Menschen? Aber die Seele ist krank und die Menschen spüren, dass sie keine Heimat mehr haben. Deshalb gehen sie geduckt und leise, weil das nicht länger ihr Land ist.