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Habert, Bader-Iskraut, Neumann, Völk (Hrsg.):
„Kiezpoeten – Slam Poetry aus Berlin“
1. Auflage, September 2019, Periplaneta Berlin, Edition MundWerk

© 2019 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin
www.periplaneta.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Korrektorat: Laura Alt
Cover: Jonas Samson Völk, Jesko Habert
Satz & Layout: Thomas Manegold

print ISBN: 978-3-95996-155-4
epub ISBN: 978-3-95996-156-1

Habert, Bader-Iskraut, Neumann, Völk (Hrsg.)

KIEZPOETEN

Slam Poetry aus Berlin






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Prolog

Die Straßen Berlins mögen nicht immer die saubersten sein. Irgendjemand lässt immer seinen halb-defekten Kühlschrank an der Straßenecke stehen und an den Bauzäunen hängen abblätternde Plakate vom letzten großen Konzert. Neben den Mülltonnen steht die allgegenwärtige Kleinstspende in Form von Flaschenpfand.

Und trotzdem findet hier das Leben der Stadt statt. In den sommerlichen Kiezen, wo die Spätis Stühle auf den Gehsteig stellen, und auf den Wegen zwischen U-Bahn und Supermarkt. Mit einem Coffee to go auf der Suche nach dem richtigen Weg. Aus den Bahnwaggons von U- und S-Bahn auf das regennasse Straßenpflaster starrend, eng gepresst an fremde Körper im Personennahverkehr. Genügend Gründe, um auf die Straße zu gehen, gibt es ja schließlich immer.

Die Kiezpoeten.

Körper & Personennahverkehr

Hey sexy

Luise Komma Klar

Die Menschen verkümmern, wir gehen vor die Hunde.

Zum Beispiel du.

Lass dich mal anschauen.

Siehst nicht gut aus.

Also die Ästhetik passt schon, das mein’ ich gar nicht. Du bist ein schöner Mensch, aber da sind Stress und Angst und Druck und Frust in deinen Augen.

In all euren Augen.

Alle kaputt, ausgelaugt, ausgebrannt, total am Ende, fertig, gefühlskalt, wenn nicht sogar emotional verkrüppelt, erschöpft und leer.

Uns fehlt die Liebe!

Und ich mein’ nicht die von anderen, von Partnern, Freunden, Familie und so.

Nee, Zuneigung von außen braucht immer eine Basis.

Ein Fundament, einen Kern aus Liebe und Akzeptanz von innen, so wie der flüssige Käse im Chili-Cheese-Nugget, ohne den er nur eine traurige, knusprige, leere Hülle wäre.

Von Selbstliebe rede ich.

Das war das Wort.

Von einer speziellen Seite der Selbstliebe heute, weil es sonst ein viel zu weites Feld für eine Handvoll Seiten wäre:

Von der Autoerotik.

Weil ist voll wichtig, sich selbst zu lieben, auch körperlich.

So wie sich viele Leute keine Beziehung ohne Sex wünschen, wünsche zumindest ich mir keine Beziehung ohne Sex mit mir selbst.

Und ich hab mich gefragt: „Wie haben die Leute eigentlich sonst so Sex mit sich selbst?“, und habe angefangen, mit Menschen über Masturbation zu sprechen.

Mit Fremden auf der Straße, in der Bahn, bei Sitzblockaden, in der Kneipe und in der Kloschlange im Kitty – also ich hab nicht mit ihnen über Masturbation an diesen Orten gesprochen, sondern an diesen Orten mit ihnen über Masturbation gesprochen. Und siehe da, die meisten Menschen masturbieren so lieblos und hektisch, wie sie auch einen Ketchupfleck aus dem Fusselteppich rubbeln.

Wenn jemand anders mit dir so achtlos Sex hätte, wärst du sauer, oder? Oder?

Macht man sich bewusst, dass es darum geht, sich selbst, also einem wichtigen, geliebten Menschen, einen Gefallen zu tun, oder ist es eine unterkühlte Geste wie ein langgezogenes Händeschütteln, ein: „Ach, du bist ja auch noch da!“, ein plumpes Abbauen von Druck?

Mit anderen Menschen macht man so abgedrehte Scheiße im Bett!

Es gibt so viele Leute, die sich ihren Partnern zuliebe in luftundurchlässige Latexklamotten reinwursteln, obwohl sie es selbst vielleicht nicht mal mögen und darin schwitzen wie Sau.

Und vor sich selbst haben sie nicht mal genug Respekt, um vorher saubere Unterwäsche anzuziehen.

Oder zu duschen.

Kein Knutschen, keine Worte der Bestätigung, ich hab mich jedenfalls noch nie sagen hören, wie super ich das mache und wie toll sich das anfühlt.

Hab mich auch nie vorher extra hübsch gemacht und war nie aufgeregt, außer beim ersten Mal vielleicht.

Aber sonst: Kein schickes Essen, keine Kerzen, keine Rückenmassagen – wie auch – und immer denk ich dabei an andere.

Ich möchte das Selbstbewusstsein haben, morgens in den Spiegel zu schauen, mir zuzuzwinkern und zu sagen:

„Dich nehm ich heute Abend so richtig hart ran.

Du bist die, die ich will.

Die, an die ich den ganzen Tag denke und die mich nachts wachliegen lässt.

Du bist für mich die eine, mit der ich den Rest meines Lebens verbringen will.

Ich will morgens da sein, wenn ich aufwache, und bei mir sein, wenn ich einschlafe.

Ich will alles mit mir teilen und immer gut auf mich Acht geben.

Ich will mir zuhören und für mich sorgen, wenn es mir schlecht geht.

Ich will mich achten und respektieren, in Gesundheit und Krankheit, in guten wie in schlechten Tagen.

Ich will mir Frühstück ans Bett bringen, mir die Haare beim Kotzen halten und mir sagen, dass ich toll aussehe, auch wenn ich angeschwollen und fiebrig und schwitzig und verkatert und total ekelhaft bin.

Ich will mir treu sein.

Ich werde mich immer lieben und mich in den Arm nehmen, wenn ich es brauche.“

Und dann besorg ich es mir so richtig.

Das wär doch mal ’ne morgendliche Motivationsansprache im Bad, statt dem üblichen unhöflichen Scheiß. Also ich weiß nicht, wie das bei euch läuft, aber bei mir ist es meistens ein barsches:

„Du da! Kein Schnaps vor der Arbeit, kein Scheiß mit Kollegen, reiß dich zusammen und versuch, nicht so ein Arschloch zu sein … und geh duschen, Alter!“

Aber so sollte das nicht laufen! Nur weil man immer da ist, kann man nicht einfach so mit sich umgehen. Weder beim Sex noch beim Zusammenleben. Nur weil ich nicht vor mir weglaufen kann, kann ich mich noch lange nicht wie Scheiße behandeln.

Sonst läuft das irgendwann wie in einer miesen Beziehung oder bei einem richtig schlechten Date:

Du willst dich betrunken machen, wirst dabei aber selber viel zu blau bei dem Versuch dich Schönzutrinken und später, wenn du besoffen noch ein bisschen fummeln willst, schlägst du deine Hand weg, rufst lallend: „Fass mich nicht an!“, pennst ein und schnarchst dann so laut, dass du kein Auge zubekommst.

Und wenn du so neben dir liegst und dich anguckst, wie du mit offenem Mund und Bierfahne sägst, dann fühlst du dich enttäuscht. Und benutzt. Und irgendwie unwohl. Und du denkst: „So sollte das nicht enden. Nicht bei dir.“ Bei niemandem!

Deswegen: Schreibt eure eigene Lovestory. Richtig kitschig. Merkt ja keiner.

Überrascht euch selbst, wie auch immer das gehen soll.

Schenkt euch eine romantische Reise und redet über all eure Geheimnisse.

Heiratet euch selbst und ladet alle eure Freunde ein, die dann genervt gucken, wenn ihr ganz viel heult.

Und, um Himmels willen, kauft euch doch einmal vor dem Masturbieren hübsche Unterwäsche oder ein freshes neues Spielzeug. Und denkt an die Verhütung.

Gebt euch ein bisschen Mühe mit euch selbst, auch wenn ihr wisst, dass ihr nirgendwo hingeht.

Candy Crush mit Menschen

Lisa Maria Olszakiewiecz

Zu meinem 30sten Geburtstag bekam ich Dildos, Alkohol und ein Boyfriend-Kissen. Deutlicher hätten meine Freunde mir nicht sagen können, dass sie die Hoffnung für mich aufgegeben haben. Vielleicht haben sie Recht und ich habe meine Chance verpasst. Vielleicht war meine Gelegenheit auf eine kinderreiche Ehe der Schultag, als wir in der Klasse 4b unseren ersten Aufklärungsfilm sahen. Ich kann mich sehr gut daran erinnern. Vor allem an das mehrstimmige Kichern, das jedes Mal durch vor den Mund gepresste Hände drang, wenn der Sprecher „Penis“ oder „Scheide“ sagte. Wenn ich auf jedes Kichern einen Korn gekippt hätte, wäre das der erste Vollrausch meines Lebens geworden und dann hätte ich mit Pascal Kinalzky die Akteure im Aufklärungsfilm nachgestellt, bis seine Eltern den Unterhalt für ein weiteres Kind nicht mehr hätten zahlen können. Für meine Familienplanung wäre das vielleicht besser gewesen. Besser als der Countdown in meinem Kleinhirn, der die Sekunden bis zur Pensionierung meiner Eierstöcke zählt.

Tick. Tack.

Ich verstehe nicht, warum mich der Gedanke so beschäftigt. Ich kann nicht behaupten, dass ich dringend Kinder will. Ich weiß auch, dass ich keinen Mann brauche, um mich wie eine vollständige Frau zu fühlen. Ich trage ein F-Körbchen: Viel mehr Frau kann man da nicht dranmachen. Andererseits habe ich Angst davor, dass die Physik diese F-Körbchen bald auf die Knie zwingt, dass meine optischen Reize verwelken und meine inneren Werte nicht gut genug sind, um jemanden in mich verliebt zu machen.

Dabei bewegt mein Wunsch nach Liebe sich irgendwo zwischen Motörhead und James Blunt. Einerseits will ich Rockstar sein, mich betrinken und mit meinen Groupies rumhuren. Andererseits will ich jemanden, der mir morgens sagt, dass ich schön bin, und mich abends in den Schlaf löffelt.

Ich habe dich auf Tinder gematcht, weil meine Bahn zu spät und meine Leben bei Candy Crush alle waren. „Keine neuen Personen in deiner Umgebung“, sagte mein Display. Ich hatte Friedrichshain leergetindert und außerdem Kreuzberg, Lichtenberg, Charlottenburg und ja – sogar Spandau. Tick. Tack. Dieses Match ist mein letztes Leben in diesem Datingpool. Deswegen bin ich hier, um dich zu treffen. Mein Ausschnitt ist größer als mein Selbstvertrauen, meine Unterwäsche abgetragener als meine Erwartungshaltung. Aber sheesh – du siehst aus wie ein Endgegner für kussfesten Lippenstift. Wenn es in dieser Welt noch Gerechtigkeit gibt, müsstest du für dieses Aussehen mit unfassbarer Dummheit bezahlen. Oder mit Humorlosigkeit. In den nächsten zwei Stunden lache ich wie ein Huhn auf Speed. Nicht dass jeder deiner Sätze ein Brüller wäre. Ich würde sogar lachen, wenn du „Leberwurst“ sagen würdest. Aber wenn ich lache, lächelst du auch und diese Lachfältchen an deinen Augenwinkeln verursachen ein tropisches Klima zwischen meinen Schenkeln. Und dann treffen sich unterm Tisch unsere Knie und darüber unsere Blicke. Die Luft zwischen uns ist gespannt wie ein Kleid über dem Arsch von Kim Kardashian. Ohne zu fragen, zahlst du die Rechnung und ich fühle mich gekauft.

Im nächsten Moment stehen wir vor deiner Haustür. Im übernächsten in deinem Schlafzimmer und wo eben noch Erregung war, breitet sich nun allgemeine Awkwardness aus, die sich in der Mitte des Raums zu einem riesigen Elefanten formt, auf dessen Flanken in pinker Schrift die Buchstaben „Sex“ blinken. Auf der Suche nach etwas Unverfänglichem bestaune ich deinen Kleiderschrank. „Oh, ist das Eiche?“, frage ich.

„Buche, glaub ich“, sagst du.

Und ich sage: „Ach so.“

Der Raum ist zu klein. Und das liegt nicht an dir oder an mir, sondern daran, dass hier zwei Menschen intim werden wollen, die sich noch nicht gut genug kennen, um Intimität überhaupt eine Chance zu geben. Du fängst an, dich auszuziehen, und ich frage mich, wann genau wir den Moment für unseren ersten Kuss verpasst haben und wie merkwürdig es wäre, ihn jetzt nachzuholen. Ausgerechnet jetzt holt mich der wohl gruseligste Satz aus dem Aufklärungsfilm wieder ein.

Der Mann dringt mit seinem Penis in die Scheide der Frau ein. Näher können zwei Menschen nicht beieinander sein.

Menschen, die Aufklärungsfilme machen, scheinen sich wirklich nur theoretisch mit Sex zu beschäftigen. Denn je tiefer deine Zunge in meinen Mund eindringt, umso weiter entferne ich mich gedanklich zu meiner Jogginghose, die zu Hause auf mich wartet. Denn im Moment würde ich eher mein letztes Leben im Dating Candy Crush opfern, als mit dir in diesem Intimitätstheater fünf Akte schlecht zu spielen. Deswegen greife ich zum letzten Strohhalm, der mich noch aus dieser Situation retten kann. Ich unterbreche den Kuss, nehme dein Gesicht in beide Hände, sehe dir tief in die Augen und sage:

„Ich liebe dich! Bitte verlass mich nie wieder.“

Du springst rückwärts aus dem Bett in die hinterste Ecke des Schlafzimmers und du starrst mich an wie eine Katze, die gerade ins Planschbecken geworfen wurde.

„Ähm … sorry, das geht mir zu schnell. Über so langfrsitige Sachen muss man doch nachdenken“, stammelst du und reibst mit der Hand das Delphin-Tattoo auf deinem Arm, das nicht gerade aussieht, als hättest du gut drüber nachgedacht. „Schade“, denke ich mir, „wirklich schade.“ Mein Name auf deiner Haut würde aus dieser Schmiererei noch ein Kunstwerk machen. Aber scheinbar verstehst du nichts von Kunst und noch weniger von mir. Deshalb muss ich kein schlechtes Gewissen haben, wenn ich jetzt gehe.

Zu Hause kippe ich zwei bis drei Korn und kuschele mich in mein Boyfriend-Kissen. Mein Handy brummt. Du schreibst:

„Sorry, dass es so blöd gelaufen ist. Vielleicht können wir die Tage noch mal einen Kaffee trinken?“

Ich lösche den Text, deine Nummer aus meinem Handy und dich aus meinem Kopf. Dann lösche ich Tinder und installiere Zalando, weil Zalando niemals sagt:

„Keine neuen Kleidungsstücke in deiner Umgebung.“

Ich will nicht für den Rest meines Lebens an einen bestimmten Menschen gebunden sein. Ich will keine gemeinsamen Ansagen auf Anrufbeantwortern, Familienurlaube oder Pärchenhandschuhe. Manchmal möchte ich ein bisschen Motörhead und manchmal ein bisschen James Blunt. Aber vor allem möchte ich mich noch nicht entscheiden müssen. Denn das muss ich gar nicht. Ich habe zu meinem 30sten Geburtstag Dildos, Alkohol und ein Boyfriend-Kissen geschenkt bekommen. Das reicht zum Überleben.