coverpage

Über dieses Buch:

Von klein auf vergöttert Natascha ihren Vater – in ihrer Mutter Harriet sieht sie nur eine Rivalin im Kampf um dessen Liebe. Als er an Krebs erkrankt und bald darauf stirbt, bricht für die Dreizehnjährige eine Welt zusammen. Alle Bemühungen Harriets, in den nächsten Jahren zu ihrer Tochter durchzudringen, scheitern – auch den neuen Mann an Harriets Seite kann sie nicht akzeptieren. Als ihre Mutter ihre Verlobung bekannt gibt, hat Natascha das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren, und ein schicksalhaftes Ereignis droht ihre Familie für immer auseinander zu reißen. Verzweifelt kämpft Harriet ein letztes Mal um die Liebe ihrer Tochter, doch werden sie einander je wieder vertrauen können?

Mit großem Feingefühl legt dieser Roman das zerbrechliche Geflecht einer Mutter-Tochter-Beziehung offen und erzählt von einem gemeinsamen Neuanfang.

Über die Autorin:

Valerie Blumenthal wurde in der Nähe von London geboren. Bevor sie sich der Schriftstellerei widmete, war sie als Journalistin tätig und unterrichtete unter anderem Creative Writing in einem Hochsicherheitsgefängnis. Heute lebt sie in einem Dorf in der Grafschaft Oxfordshire.

Valerie Blumenthal veröffentlicht bei dotbooks ebenfalls:

Heute fängt das Morgen an

Die Welt in meinen Armen

***

eBook-Neuausgabe Juni 2019

Dieses Buch erschien bereits 2004 unter dem Titel Echo der Erinnerung bei RM Buch und Medien Vertrieb GmbH

Copyright © der englische Originalausgabe 1993 by Valerie Blumenthal

Die englische Originalausgabe erschien 1995 unter dem Titel Knowing Me bei Hodder and Stoughton, a division of Hodder Headline PLC London.

Copyright © der deutschen Ausgabe 2001 by RM Buch und Medien Vertrieb GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Andrew Mann Ltd.

Redaktion: Gisela Fichtl

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / Yurakrasil / Sara Winter / Helen Hotson / STILLFX / Charcompix

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ca)

ISBN 978-3-96148-694-6

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: info@dotbooks.de. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort Mit den Augen einer Tochter an: lesetipp@dotbooks.de (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

www.facebook.com/dotbooks

blog.dotbooks.de/

Valerie Blumenthal

Mit den Augen einer Tochter

Roman

Aus dem Englischen von Antoinette Gittinger

dotbooks.

Kapitel 1

»Ich bereue kein bisschen, was ich getan habe«, sagt das Mädchen herausfordernd. Sie fährt mit dem Finger über den Piercing-Stecker in ihrem linken Nasenflügel.

Der Mann sitzt einfach nur da, die Fingerspitzen leicht gegeneinander gepresst, und betrachtet sie unverwandt. Sie fühlt sich unbehaglich.

»Damit will ich sagen, dass ich noch nie mit ihr klargekommen bin. Sie respektiert mich nicht. Sie weiß, dass ich meinen Namen hasse. Alle nennen mich Gnat, sogar Elliot. Auch Daddy nannte mich so. Aber nein, meine Mutter besteht darauf, mich Natascha zu nennen. ›Das ist doch ein so hübscher Name, mein Liebes‹, säuselt sie dann. Dieses süßliche Gegurre, mir wird speiübel davon. Sie hält sich für großartig, alle finden sie super. Und genau das finde ich zum Kotzen.«

»Was ist deine früheste Kindheitserinnerung?«

»Meine früheste Kindheitserinnerung?« Die Frage überrascht sie. Einen Moment lang betrachtet sie ihn nachdenklich. »Sie sehen wirklich gut aus«, bemerkt sie, zieht einen Schmollmund und wippt mit dem Knie.

Der Psychiater betrachtet Gnat mit einem leichten Lächeln.

Unvermittelt vergräbt sie den Kopf in den Händen und wiegt sich aufgeregt vor und zurück. »Mein Gott, ich kann mich doch nicht erinnern. Wie sollte ich auch? Was hat das denn für einen Sinn, sich zu erinnern? Holen Sie mich hier raus«, schreit sie. »Ich will nicht mit einem Haufen bekloppter Kinder zusammengepfercht sein. Holen Sie mich raus, bitte.«

Sie fährt sich mit ihren knubbeligen Kinderfingern durch das grell gefärbte Haar. Ihre Nägel sind abgebissen. Als sie wieder hochblickt, ist ihr kleines Gesicht bleich und fahl wie ein glänzender Stein.

»Meine früheste Erinnerung«, murmelt sie tonlos, »besteht darin, dass meine Mutter meinen Daddy anbrüllt. Es war mitten in der Nacht, ich bin davon aufgewacht. Ich erinnere mich, dass er in mein Zimmer gekommen ist und mich in die Arme genommen hat. Sie hat ihre Schimpfkanonade draußen fortgesetzt.«

***

»Als ich entdeckte, dass mein Mann eine Affäre hatte, war Natascha drei«, berichtet die Frau und berührt ihren Mundwinkel, um die schmerzliche Zuckung zu verbergen.

»Können Sie einige der wichtigsten Ereignisse Ihres Erwachsenenlebens aufzählen?«, bittet der Psychiater sie, ohne auf ihre Bemerkung einzugehen. Alles zu seiner Zeit. Er ist schon etwas älter, und seine mit Falten durchzogene Stirn verrät Mitgefühl. Harriet ist froh, dass er kein junger Mann mehr ist. Trotzdem ist sie nervös und fühlt sich beklommen.

Sie sitzen sich an einem niedrigen Tisch gegenüber, dazwischen eine Grünpflanze mit glänzenden Blättern. Mit Tränen in den Augen schaut sie zum Fenster des Sprechzimmers hinaus. Sie sieht schnell dahineilende Beine und Taxis, die an allen möglichen und unmöglichen Stellen halten. Er zieht ein Kleenex aus einer Schachtel, die er immer in Reichweite hat, und gibt es ihr. Sie nimmt es und blickt wieder zum Fenster, so dass er ihr kantiges Profil und die hohen Wangenknochen betrachten kann.

»Ich verstehe nicht, dass sie so etwas tun konnte. Ich weiß nicht, was ich falsch gemacht, wo ich mich geirrt habe«, fährt sie fort.

Er wartet geduldig, ohne ein Wort oder eine Geste des Trostes. Doch die Atmosphäre ist freundlich, sie spürt seine Freundlichkeit. Nachdem sie sich in die Winkel ihres kaleidoskopähnlichen Gedächtnisses versenkt und alles sondiert hat, wendet sie sich ihm erneut zu.

»Die wichtigsten Ereignisse meines Erwachsenenlebens«, wiederholt sie.

Sie denkt an ihren ersten Liebhaber, an den Schlaganfall ihres Vaters, ihre Heirat, die Geburt ihrer Tochter, an die Affäre ihres Mannes, ihre eigene, an den Tod ihres Mannes, an die Begegnung mit Elliot und jetzt dieser Schock mit Natascha. Es sind neun besonders wichtige Ereignisse, einmal abgesehen von den vielen anderen, die sie auch in ihrem Verhalten beeinflussten.

Ihr erster Liebhaber. Er selbst war vielleicht weniger von Bedeutung – sie aber hatte sich ihm vorbehaltlos mit Leib und Seele hingegeben. Beides hatte er mit Füßen getreten, sie in den Schmutz gezogen. Es war während ihres ersten Jahres in St. Martins. Sie war ein junges Mädchen mit noch unversehrtem Idealismus. Er stand kurz vor dem Juraexamen. Er äußerte sich abschätzig über ihre Kunst und ihre Ansichten, und sie war eifrig bemüht, ihm zu gefallen. Sie konnte es nicht fassen, dass ein so weltgewandter Mann sie überhaupt eines Blickes gewürdigt hatte.

Als er später neben ihr im Bett lag und eine Zigarette rauchte, versuchte sie, sich an ihn zu schmiegen. »Du bist der Erste, dem ich – alles gegeben habe«, gestand sie ihm.

Barsch erwiderte er: »Erzähl mir doch keine Märchen. Ich bin so geschmeidig in dich eingedrungen wie das Messer in die Butter. Du bist doch schon lange keine Jungfrau mehr.«

Der Schmerz über diese Ungerechtigkeit und Demütigung war verzehrend. Die Wahrheit war, dass es mit einem Tampon passiert war. Aus irgendwelchen Gründen hatte sie an ihrer Jungfräulichkeit festgehalten, vermutlich aus falschem Stolz: Rein technisch war sie wirklich keine Jungfrau mehr.

Später dachte sie voller Empörung daran zurück. Und was, wenn sie keine Jungfrau mehr gewesen wäre? Männer seines Schlages, mit dieser gefährlichen Mischung aus blendendem Aussehen, guter Erziehung und Intellektualität, entjungferten die Mädchen mit einlullenden Koseworten und dem Versprechen, behutsam zu sein – und ließen sie dann fallen.

Seine Verachtung machte sie zur Frau. Sie lernte, Männern zu misstrauen; sie griffen häufiger zu Lügen als Frauen, um ihre eigene Haut zu retten. Frauen konnten sehr biestig sein, aber Männer besaßen weniger Skrupel, ein dehnbares Gewissen und waren zudem im höchsten Maße egozentrisch. Sie wusste nicht, dass sie schön war, und entwickelte kein Selbstvertrauen in Bezug auf ihre Größe, ihre schlanke Figur, ihre kleinen, straffen Brüste oder ihr feines, mausfarbenes Haar, das sie meist zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Sie trug kurze Röcke, bewegte sich mit ihren langen Beinen geschmeidig und ihren Mund umspielte ein breites Lächeln, das sie nervös an- und ausknipste. Ihre schrägen Augen leuchteten so strahlend, dass alle sie anstarrten. Und sie fragte sich, was es da zu gaffen gab und was an ihr nicht stimmte.

Ihren ersten Liebhaber ließ sie fallen, bevor er sie fallen ließ. Jahre später, als sie bereits Ehefrau und Mutter war, sah sie ihn auf der Oxford Street wieder.

»Wie seltsam, dich hier zu treffen«, sagte sie, strich sich verwirrt eine Strähne aus dem Gesicht und wünschte, nicht mit Selfridges-Tüten beladen zu sein, die den Anschein erweckten, als habe sie nichts Besseres zu tun, als Shopping zu gehen.

»Ja, seltsam«, stimmte er ihr in seiner typisch lakonischen Art und mit einem flüchtigen Blick auf seine Armbanduhr zu. Dann musterte er ihre Einkaufstüten, die sie verlegen hinter sich zu verbergen suchte.

Sie hatte gehört, dass er ein erfolgreicher Rechtsanwalt war. »Wie geht's dir so?«, fragte sie.

»Danke, recht gut. Ich arbeite gerade an einem großen Fall.« Und wieder blickte er ostentativ auf seine Armbanduhr, als ob sie ihn davon abhalten würde.

»Das muss interessant sein.«

»Ja, so kann man das sehen.«

Mit keiner Silbe erkundigte er sich nach ihrem Wohlergehen. Er sah noch immer gut aus, hatte auch seine Gewohnheit, die Augenbraue hochzuziehen, beibehalten, und vor allem schaffte er es immer noch, ihr ein Gefühl der Minderwertigkeit zu vermitteln. Stotternd verabschiedete sie sich von ihm. Ob er wohl einen Gedanken an sie verschwendete? Als sie mit glühenden Wangen zum Auto ging, erinnerte sie sich, dass er immer Tagebuch geführt hatte, mit seiner kleinen, pingeligen Kritzelschrift. Sie überlegte, ob er ihre Begegnung darin festhalten würde und stellte sich den Eintrag vor: »Heute einer ehemaligen Freundin begegnet. Ihr Aussehen ein wahres désastre (er drückte sich gerne in affektiertem Französisch aus). Kann mich nicht mehr an ihren Namen erinnern. Glaube, sie war nicht besonders gut im Bett.«

Sie schalt sich für ihr linkisches Benehmen bei der Begegnung. Sie schämte sich ihrer mangelnden Grazie, ihrer Größe, ihres Bedürfnisses, von allen gemocht zu werden, sogar heute noch als reife Frau. Sie wünschte, sie hätte sich auf diese Begegnung vorbereiten können: Dann hätte sie sich ganz anders verhalten, hoheitsvoll, und er wäre beeindruckt gewesen und hätte sie um ihre Telefonnummer gebeten. Und sie hätte den Triumph genossen, ihn ein zweites Mal abblitzen zu lassen.

Nachdem sie mit ihm Schluss gemacht hatte, war sie ein Jahr lang allein geblieben, hatte sich selbst entdeckt: ihren Geist, ihren Körper und ihre Kunst. Sie nahm sich jede Kleinigkeit zu Herzen und glaubte alles, was man ihr sagte. Ihre Freunde versuchten, sie abzuschirmen, denn ihre Gutgläubigkeit brachte ihr viele Enttäuschungen ein. Damals wurde Astrid, eine Schwedin mit breitem skandinavischem Gesicht und krausem platinblondem Haar, die gerade einen Kurs bei Sotheby's absolvierte, ihre beste Freundin. Sie beschlossen, sich eine Wohnung in London zu teilen, damit war Harriets Einsamkeit beendet.

Der Schlaganfall ihres Vaters fiel in die Zeit, da sie von zu Hause auszog, das kleine Vororthaus hinter sich ließ, wo sie ihrem Vater das Leben erträglicher gemacht hatte: Das unaufhörliche Geplapper seiner Frau wurde durch den freundlichen, empfindsamen Ernst seiner Tochter, die sich zu seinem Vergnügen zu einer Schönheit mauserte, gemildert.

Das war das zweite wichtige Ereignis ihres Erwachsenenlebens. Ihre Mutter rief sie mit ihrer weichen, emotionslosen Stimme von der Klinik aus an. Eva, ein Modell aus ihrem Kurs für Modellzeichnen – sie erinnerte sich noch, ihre Kurven in Blau und Rot gemalt zu haben – holte sie ans Telefon. Sie wusste sofort, dass es sich nur um eine schlechte Nachricht handeln konnte. Denn ihre Mutter rief sie gewöhnlich am Donnerstagabend Punkt neunzehn Uhr im College an, um zu erfahren, ob sie am Wochenende zu Besuch käme.

»Du brauchst nicht zu kommen, Liebes. Er ist nicht bei Bewusstsein, dein Besuch hätte wenig Sinn«, erklärte sie Harriet, als ob sie sagen würde, sie brauche keinen Zucker im Supermarkt zu kaufen.

Harriet eilte die Charing Cross Road hinunter zur U-Bahn-Station. Es war Februar. In der Eile hatte sie ihren Mantel vergessen. Ihr Inneres, ihre Brust, ihr Kiefer, alles zitterte vor Angst und Kälte.

Daddy, Daddy, Daddy, war ihr einziger Gedanke, während sie auf ihrem unbequemen Sitz in der U-Bahn durch Hell und Dunkel raste. Die raue Unterlage scheuerte gegen ihre dünnen Schenkel. Ihr kurzer dunkelgrüner Rock war nach oben gerutscht, und man sah die Laufmaschen im Zickzack-Muster ihrer Strumpfhose. An ihren Händen klebte noch Farbe.

Er lag auf der Intensivstation der Hammersmith-Klinik. Abgesehen von den vielen Schläuchen, an die er angeschlossen war, sah er aus wie immer. Ja, er wirkte sogar rosiger als sonst, jünger. Er war jetzt 55, ein Anwalt, der sich in seiner Freizeit in der Aquarellmalerei versuchte. Ein Träumer. Natürlich saß ihre Mutter bereits am Krankenbett.

»Ich habe dir doch gesagt, du sollst nicht kommen, Liebes«, begrüßte sie die Tochter, die wie ein Gespenst auftauchte.

»Aber ich wollte kommen«, gab Harriet zurück und biss die Zähne zusammen, um nicht zu schreien.

Sie beugte sich über ihren Vater. »Daddy«, flüsterte sie ihm ins Ohr. Der behandelnde Arzt hatte Mitleid mit ihr. Er beobachtete sie, brachte es aber nicht übers Herz, ihr zu versichern, dass alles gut werden würde.

Sie besuchte ihren Vater täglich, legte ihre Besuchszeiten immer so, dass sie nicht mit ihrer Mutter zusammentraf. Sie zog sich einen Stuhl an sein Bett, hielt seine Hand und redete mit ihm. Nach ein paar Tagen öffnete er die Augen, und sie nahm an, er verstünde sie. Er war rasiert, gewaschen, duftete gut und trug ein frisches Nachthemd (er hatte immer Nachthemden Pyjamas vorgezogen). Doch seine milden, pedantisch anmutenden Ratschläge blieben aus. Von jeher hatte sie sich mit ihren kleinen Sorgen an ihn gewandt. Dann gingen sie jede einzelne systematisch durch, und am Ende hatte er ihr das Gefühl vermittelt, dass sie allesamt grundlos waren.

Die Monate vergingen. Körperlich war er jetzt so weit hergestellt, dass seine Frau und eine Krankenschwester, die täglich kam, die Pflege übernehmen konnten. Ob ihre Mutter die neue Aufgabe akzeptierte?, überlegte Harriet, bekam aber sofort Schuldgefühle und sagte nur: »Fantastisch, wie du das alles schaffst.«

»Ich habe ihm gelobt, in guten und in schlechten Zeiten zu ihm zu halten«, erwiderte die Mutter. Was eigentlich liebevoll hätte klingen können, klang stattdessen so geheimnisvoll, dass Harriet nicht wusste, was sie davon halten sollte.

Mit fast 21 Jahren lernte sie einen jungen Arzt kennen, den sie ein Jahr später heiratete.

Das war das dritte wichtige Ereignis ihres Erwachsenenlebens.

Harriet verstummt und wendet sich wieder dem fließenden Verkehr und den Beinen in der Welt hinter dem Fenster zu. Und was ist mit ihrem unwiderruflich veränderten Leben? Es ist an diesem Fremden mit den sanften Gesichtszügen, damit nach seinem Belieben zu verfahren, wenn er sie behutsam zwingt, die Vergangenheit heraufzubeschwören, um die Gegenwart zu entwirren.

Wieder greift sie nach einem Kleenex und putzt sich die Nase.

Ihr Mann Oliver ist ein Idealist mit starken Prinzipien, festen Ansichten und marineblauen Augen, die einen intensiv mustern. Als sie das erste Mal mit ihm schlief und er sie streichelte, stellte sie sich vor, wie seine Hände namenlose Patienten untersuchten. Harriet, eifersüchtig auf sie alle, auf seine forschenden, zärtlichen Finger, vollführte wahre Akrobatikakte im Bett und lebte all ihre Fantasien aus, damit er sich nicht langweilte. Er forderte sie auf, sich zu entspannen, er sei nicht nur sexuell an ihr interessiert, sondern liebe sie.

Anfangs war er gegenüber ihren Unsicherheiten tolerant und half ihr, sich anzunehmen. Während er bei Guys arbeitete, unterrichtete sie Kunst in einer Privatschule. Sie lebten in einer Wohnung in Bloomsbury. Es machte ihr Spaß, für ihren Mann zu kochen. Jede Kartoffel oder Karotte schälte sie mit hingebungsvoller Zärtlichkeit. Sie mochte die Ehe und die damit verbundene Häuslichkeit. Wenn er den Schlüssel ins Schloss steckte, rannte sie voll freudiger Erwartung zur Tür. Sie freute sich daran, wie ihre Habseligkeiten zusammengewürfelt waren. Auf dem Frisiertisch in ihrem Schlafzimmer lag seine Haarbürste mit einzelnen dunklen Haaren neben der ihren. Doch abends wuchs seine Müdigkeit, und sie konnte seine Erschöpfung nicht mehr mit ansehen. Häufig läutete mitten in der Nacht das Telefon, und er schlich sich, bleich und ernüchtert, davon. Manchmal war er in einer Woche hundert Stunden oder mehr abwesend.

»Das ist doch unmenschlich«, protestierte Harriet einmal am Ende einer Schicht. »Es ist gefährlich für die Patienten und unmenschlich dir gegenüber.«

Für uns, für unsere Ehe, dachte sie im Stillen, denn sie hatte nichts mehr von ihm.

Dann zogen sie um nach Windsor, wo Harriet eine neue Stelle als Zeichenlehrerin antrat und Oliver Juniorpartner in einem Arztzentrum wurde. Einmal pro Woche hielt er am Royal Berkshire Hospital Sprechstunden für Schwangere ab. Scherzhaft nannte er dies den Tag der Dickbäuchigen. Er kannte eine Unmenge von Medizinerwitzen und Anekdoten. Nun, da er einen gewissen Status erreicht hatte und sich ein paar extra Stunden Schlaf pro Woche gönnen konnte, war er wieder zufrieden.

Es war eine Zeit der Fülle. Harriet war glücklich. Sie erinnert sich, wie sie nach dem Dinner auf dem Boden saß, und Oliver sich über ihren Fuß legte. Wenn er sprach, spürte sie seine Stimme in ihren Zehen vibrieren. Wenn sie mit ihm zusammen war, wurde sie heiter. Ihre Unruhe war überwunden, die Leere ausgefüllt. Seine Anwesenheit beruhigte sie, und sie wusste, er würde sie nicht fallen lassen. Sie würde sich ihm hingeben, und ihr Geschenk würde nicht zurückgewiesen, sondern geschätzt. Auch ihr Vater hatte sie vor seinem Schlaganfall so geschätzt.

Heute weiß sie, dass sie als Kind in der Entwicklung ihrer Persönlichkeit von anderen allzu abhängig war.

»Was geschah dann?«, fragt der Psychiater gegen Ende ihrer Sitzung.

»Natascha kam auf die Welt.«

***

Acht Tage. Sie ist jetzt seit acht Tagen hier. Die Glocke läutete gerade zum Tee – einem miserablen Tee. Gnat hasst diesen Tee – dünn und mit Milch. Die dreieckigen Brotschnittchen, die sich am Rand einrollen und hart und trocken schmecken, werden mit einer öligen Pflanzenmargarine bestrichen. Sie mag nur salzige Butter, in rauen Mengen. Jason versucht immer, sich neben sie zu setzen, aber seine Froschaugen und aufgedunsenen Wangen verursachen ihr Gänsehaut. Ständig versucht er, sie mit seinen feuchten Wurstfingern zu betatschen und sabbert an ihren Brüsten. Mit zehn, zu der Zeit, als ihr Vater im Sterben lag, entwickelten sich ihre Brüste und wurden schnell zu einem üppigen Busen. Ihr wäre lieber, sie wären so winzig wie die ihrer Mutter. Mit vierzehn Jahren bildeten ihre vollen Brüste einen deutlichen Kontrast zu ihrem übrigen schlanken kindlichen Körper. Harriet trägt keinen Büstenhalter.

Sie hasst ihre Mutter; sie trägt die Schuld an der Notwendigkeit einer Therapie, erklärt sie Dr. Middleton nach dem Tee, zu Beginn der Sitzung. Obwohl sie ihre Brüste genauso hasst wie ihre Mutter, streckt sie sie ihm provozierend entgegen – wie Männer es mögen.

Er streicht sich nachdenklich übers Kinn.

Sie lehnt sich in ihrem Stuhl zurück, fühlt sich albern und verdeckt die Augen mit ihrem Haar, bis sie ihn nicht mehr sehen kann. Bei der Erinnerung an ihren Traum kommen ihr die Tränen. Ihre Wangen röten sich, sind heiß und tränennass.

»Warum weinst du, Gnat?«

»Letzte Nacht habe ich von Daddy geträumt. Er war am Leben und hat mich umarmt. Ich habe auf seinem Schoss gesessen. Und dann hat sich sein Gesicht in das von Großvater verwandelt; es war auf einer Seite schief, und er konnte nicht mit mir reden.«

Ihre Augen sind voller Traurigkeit, ihr Mund klappt auf und wieder zu, ohne dass sie einen Laut von sich gibt. Es läuft ihr kalt den Rücken hinunter, wenn sie daran denkt.

»Ist es der Großvater mütterlicher- oder väterlicherseits?«

»Mütterlicherseits.«

»Stehst du ihm nahe?«

»Wie kann man einem Mann nahe stehen, der wie ein Zombie dasitzt? Er hatte einen Schlaganfall.«

»Kannst du dich erinnern, wie er früher war?«

»Er war schon so, als ich auf die Welt kam. Er ist sehr alt. Meine Mutter erzählt oft, wie er früher war. Es ist wirklich traurig. Ich frage mich, was in seinem Kopf vorgeht, wenn er einfach so dasitzt. Manchmal musste ich sie begleiten, wenn sie ihre Eltern besuchte. Aber jetzt gehe ich nicht mehr hin, ich kann meine Großmutter nicht ausstehen. Ständig zitiert sie den lieben Gott. Offenbar stammt sie aus einer anderen Zeit. Vermutlich hat sie meinen Großvater zum Wahnsinn getrieben. Aber vielleicht ist er gar nicht krank und tut nur so, um nicht mit ihr reden zu müssen. Vielleicht amüsiert er sich innerlich über alles und streckt allen die Zunge raus.«

Dr. Middleton schweigt, die Finger auf die ihm eigene Weise verschränkt. Sie fummelt an ihrem Piercing-Stecker herum. Schweigen verursacht ihr immer Unbehagen.

»Es gibt Fotos, wo Großvater meine Mutter auf einem Dreirad schiebt. Auf einem anderen sind sie zusammen am Strand, er mit hochgekrempelter Hose. Auf einem Foto überreicht er ihr an einem Sprechtag einen Preis. Er war Mitglied des Schulbeirats oder so etwas Ähnliches.«

In ihrer Erinnerung sieht sie ihre Mutter als junges Mädchen, mit eigenen Gefühlen und Ängsten. Sie liebt ihren Vater, wie Gnat den ihren, und muss erleben, wie er sprachlos dasitzt.

»Ich hasse sie.«

»Das hast du bereits erwähnt.«

Seit acht Tagen verabreicht man ihr keine Beruhigungsmittel mehr. Sie schreit nicht mehr, wehrt sich nicht mehr, ist nicht mehr schockiert über die Eigenheiten bestimmter Insassen. Inzwischen ist sie sich ihres Aufenthalts an diesem Ort bewusst. Nachts zwischen zwei Träumen dämmert ihr die Erkenntnis, dass nichts sie mehr überraschen oder schockieren könnte.

Die Wochenenden kommen und gehen. Eltern besuchen ihre Kinder oder nehmen sie mit nach Hause. Ganz normale Eltern mit unergründlichem Gesichtsausdruck. Die Kinder hängen im Freizeitraum herum, tun so, als ob sie nicht herumhängen würden, sondern in den Fernseher starren oder lesen, greifen nach ihren Walkmans oder streiten miteinander. Allerdings nur zum Spaß, denn mit einem Ohr und einem Auge sind sie bei der Tür, beim Fenster, lauschen auf das Auto, das draußen vorfährt. Man merkt es genau, wenn die Zankerei ernst ist. Richtige Streitereien entflammen von einer Sekunde zur anderen. Sie sind heftig und wollen verletzen. Gnat ist von der Schule einiges gewohnt, aber so etwas wie hier hat sie noch nie erlebt.

Es ist Sommer, die Türen zum Garten sind geöffnet. Neben dem Haus liegt ein Tennisplatz. Offensichtlich gab es früher auch einen Teich, aber er wurde zugeschüttet, nachdem eines Tages ein Junge darin ertrunken war. Eine Terrasse umgibt das ganze Haus, den Rasen säumen Blumenbeete. Wer hat daran Freude? Am zweiten Tag riss jemand der Hälfte der Blumen den Kopf ab. Eine Klapsmühle eben. Der Garten blickt auf einen Friedhof und von der Terrasse aus kann man weiße Grabsteine erkennen. In der Ferne sieht man einen bewaldeten Hügel, in ihrer Vorstellung ein Berg hinter einem Meer von Grabsteinen. Manchmal blickt sie so lange auf den in einem Vorort liegenden Surrey-Hügel, bis er sich verwandelt und sie Seeluft einatmet, das Meer rauschen hört und Möwen über sich kreisen sieht. Vor Urzeiten war sie mit ihrem Vater am Strand entlang gegangen, und sie paddelten in einem Schlauchboot über kabbelige Wellen, von Möwen verfolgt, die auf den Wellen hin und her schaukelten.

In ihrem zweiten Traum gestern Nacht befand er sich mit einem Patienten im Sprechzimmer und stellte gerade am Schreibtisch ein Rezept aus. »Aber du bist doch tot«, sagte sie, ohne die Frau auf dem Drehstuhl zu beachten, die ihr den Rücken zukehrte. Ihr Vater nahm keine Notiz von ihr, und sie zog ihn mehrmals am Ärmel. »Liebst du mich noch? Sag's mir, sag's mir.« Sein Arm fiel ihm ab, und er löste sich in Flüssigkeit auf. Die Frau auf dem Stuhl war ihre Mutter, und sie aßen zusammen zu Mittag, allerdings im Speisesaal in Turner's End. Gnats Fuß schmerzte. Als sie hinunterblickte, entdeckte sie, dass er in getrocknetem Schlamm steckte. Ihr Vater lag mit dem Rücken auf dem Boden, und ihr großer Zeh zielte durch den Schlamm auf sein Auge. Sie klammerte sich an Harriet und rief: »Ich habe einen schrecklichen Traum«, wachte aber nicht auf. Als sie schließlich doch aufwachte, war das Laken um ihren linken Fuß gewickelt und die Bettdecke zu Boden gerutscht.

Anschließend lag sie stundenlang wach, wagte es nicht, wieder einzuschlafen. Sie fand Trost in den Geräuschen, die die anderen im Schlafsaal verursachten, und in dem Lichtstreifen unter und über der Tür. Sie spürte noch immer die Anwesenheit ihrer Mutter. In Wirklichkeit hatte sie sich nie an sie geklammert.

»Gnat, erinnere dich an ein typisches Familienwochenende, als dein Vater noch lebte.«

Sie ist erschöpft. Noch nie fühlte sie sich so matt, ihre Wut wird dadurch allmählich verdrängt. Das Nachdenken macht sie noch müder und noch trauriger. Ihr regenbogenfarbiges Haar wirkt jetzt ausgewaschen, hellbraun wie das ihrer Mutter, aber füllig und lockig. Ihre Wangen sind nicht mehr gerundet, ihre Schultern hängen herab. Unmöglich, ihr die angestaute Wut, die Aggressionen und Aufsässigkeit anzumerken. Maria sagt, sie würde sie später zurechtmachen. Sie ist in ihrem Schlafsaal und hat das Gesicht einer Heiligen, die Maria heißt. Mit Engelsgeduld stellt sie wunderbaren Schmuck aus Muscheln und Steinen her. Auch sie besitzt eine gespaltene Persönlichkeit. Manchmal ist sie Hohe Priesterin, manchmal Hure. Sie ist siebzehn und neigt zur Selbstverstümmelung. Sie weiß nicht, wann sie hier herauskommen, wohin sie gehen wird, wann sie zu alt für Turner's End Heim für Jugendliche ist.

»Meine Mutter nannte mich einmal eine Hure«, sinniert Gnat, während Maria von sich erzählt und dabei in aller Ruhe ihr weizenblondes Haar zu einem Zopf flicht.

Ein typisches Familienwochenende, als ihr Vater noch lebte. Ihre Kindheit verlief ganz normal, war im Rückblick sogar als glücklich zu bezeichnen. Doch ihrer Mutter gegenüber verhielt sie sich ambivalent. Die schrille Periode ging schnell vorüber. Dunkel erinnert sie sich an eine Zeit der Spannung, in der ihre Mutter unnahbar war – aber auch das ging vorbei. Ihre Mutter war schön und zerstreut, tanzte auf vielen Hochzeiten. Und sie weigerte sich, sie Gnat zu nennen.

»Ich bin Gnat, und ich will, dass du mich so nennst«, protestierte das kleine Mädchen wütend.

Ihr Vater zog sie gerne auf, tadelte sie selten und half ihr bei ihren Hausaufgaben. Er ging mit ihr schwimmen und brachte ihr das Kraulen bei, was er sehr gut beherrschte. Er war nicht sehr groß – kleiner als Harriet –, aber seine Brust war muskulös und dunkel behaart. Ihm zuliebe war sie in der Schule gut, lernte sogar Cello.

Sie wohnten in einem großzügigen Haus in Windsor, aus der Zeit Eduards VII., fünf Minuten vom Fluss entfernt. Ihre Mutter hatte die Türen aus Kiefernholz im Naturzustand belassen, aber im Esszimmer und im Zimmer von Gnat die Wände bemalen lassen.

»Wie sah deines aus?«

»Pirat, unser Hund, jagte Schmetterlingen hinterher.«

»Hast du dieses Motiv gewählt?«

»Nein, sie. Als ich aus der Schule kam, war die Wand so bemalt.«

»Hast du dich darüber gefreut?«

»Ja, ich liebte Pirat. Leider wurde er überfahren, es war grauenhaft.« Ihre Stimme hebt sich.

»Wie alt warst du, als sie die Wand bemalt hat?«

»Ich weiß nicht.« Sie denkt immer noch an den Hund.

»Ungefähr.«

»Sieben oder acht.«

»Sollte es eine Überraschung sein?«

Gnat sieht ihn an und sagt leise: »Ja. Es hat mir gefallen.«

»Hast du ihr das gesagt?«

»Ich weiß nicht. Wie soll ich das wissen? Es sind immerhin einige Jahre vergangen.«

»Aber wenn jemand etwas Nettes tut, etwas so Liebevolles, zeigt man doch seine Dankbarkeit, oder?«

Sie zuckt die Achseln. Aber sie erinnert sich an den herumtollenden Hund, an die pastellfarbenen Schmetterlinge und die Quellwolken, erinnert sich, wie sie ihre Mutter umarmte.

»Ich habe sie umarmt«, murmelt sie mürrisch und reibt sich den Hals, der sich anfühlt wie in einer Eisenklammer.

Auf dem Dachboden stand eine Kiste mit alten Kleidern, die sie gerne ihrem Vater vorführte. Der Dachboden war ihr Versteck, und er klopfte an, bevor er eintrat. Das wurde zu einem Spiel zwischen ihnen.

»Darf ich eintreten; Miss Edwards?«

»Sie dürfen, Doktor Edwards.«

Neben Dimple war er ihr bester Freund. Er drängte sie nie, sondern wartete, dass sie ihm von sich aus erzählte, was sie bewegte. Ihre Mutter war das genaue Gegenteil. Doch gelegentlich verspürte Gnat das Verlangen, sich ihr anzuvertrauen, sie die Dinge zu fragen, die sie ihren Vater nicht fragen konnte. Aber die Schranke, die sie errichtet hatte, war zu stark, um sie einzureißen.

Das Haus in Windsor ist sehr hell: der große Frühstücksraum mit den Zeichnungen, die sie in der Schule angefertigt hatte und die an einer Korkwand befestigt waren; die Diele, wo sie und Dimple in der dunklen Täfelung nach einer Gleittür suchten, die sie zu einem Schatz führen würde; das Badezimmer mit dem Wäscheständer, der erst aus der Badewanne gehoben werden musste, bevor man ein Bad nehmen konnte, und der Leine, an der die weißen Unterhosen ihres Vaters und die rüschenbesetzten Schlüpfer ihrer Mutter sowie Gnats einfarbige graue hingen.

In ihrem Zimmer. war eine Eisenbahn aufgebaut, und sie und ihr Vater bauten Tunnel nach Vorlagen aus Büchern, zum Beispiel Äsops Fabeln. Sie bastelte immer etwas zusammen, bewahrte irgendwelche Reste auf, mit denen sie sich stundenlang beschäftigte. Einmal bastelte sie ein Pferd aus Draht und Pappmaschee. Ihr Vater stellte es voller Stolz auf den Schreibtisch in seinem Sprechzimmer, aber im Lauf der Jahre löste es sich auf und roch aus irgendeinem Grund nach Fisch. Als sie nach London zogen, nahm sie es in einer Schachtel mit.

Sie stellt sich den Garten vor, sieht ihren Vater den Rasen mähen, während Pirat vor ihm herumtollt. Aus dem Haus dringen köstliche Essensdüfte, und sie rennt hinein, um zu probieren und den Teig für einen Obstkuchen zu rollen.

Dimple wohnte in derselben Straße. Eigentlich hieß sie Laura, aber sie mochte ihren Namen genauso wenig wie Gnat ihren. Wenn sie über Nacht bei der Freundin blieb, veranstalteten sie mitternächtliche Gelage, erzählten sich Gespenstergeschichten, leuchteten mit einer Taschenlampe durch den dunklen Raum und machten Schattenspiele mit den Fingern, so dass an den Wänden dunkle Silhouetten erschienen. In der Schule durften sie nicht nebeneinander sitzen, weil die Lehrer befürchteten, sie würden zu viel schwätzen.

Am Sonntag ritten sie, Dimple und deren jüngerer Bruder im Windsor Great Park aus, in einer geordneten Reihe mit anderen Kindern – dazwischen dieser seltsam selbstbewusste Erwachsene auf einem größeren Pferd, dem er die Sporen gab. Aber das Pferd war störrisch wie ein Esel, bäumte sich entweder auf, ging durch oder bockte.

Manchmal veranstalteten ihre Eltern mit ihr ein Picknick am Fluss. Es gab eine Zeit, da bestand sie darauf, ihre silbernen Partyschuhe zu tragen. Behutsam schritt sie mit ihnen durch das hohe Gras, damit sie keinen Schaden nahmen. Sie erinnert sich, wie aufgeregt sie war, wenn sie die geheimnisvollen Lunchpakete auspackte, in denen sich unter anderem so extravagante Dinge wie ein Sandwich mit Ei und Majonäse befanden. Pirat wartete mit gespitzten Ohren darauf, dass sie ihm etwas abgab. Er schwamm im Fluss, wich den Booten aus; sein Kopf war wie geschleckt, und er paddelte wie wild. Dann arbeitete er sich ans Ufer und schüttelte sich. Sie wichen lachend und kreischend vor ihm zurück. »Nein, nein.« Es war alles so normal. Wer hätte damals gedacht, dass sie hier enden würde?

An einem Wochenende, als sie nach einem Picknick durch die Stadt schlenderten, entdeckte sie in einem Souvenirgeschäft ein eulenähnliches Geschöpf. Es war winzig und hatte hervorstehende Augen. Es bestand aus Draht und weißem synthetischem Fell und kostete fünfzig Pence. Sie war fasziniert davon. Also ging ihr Vater hinein, um es zu kaufen.

»Das ist besser für deine Zähne als Eis«, sagte er mit gestrenger Doktorstimme. Eis erbettelte Gnat von der Mutter.

Diese Eule besitzt sie immer noch. Sie ist ihr Maskottchen, das sie überallhin mitnimmt. Beim Schlafengehen hält sie sie in der Hand, obwohl sie hauptsächlich aus Draht besteht, was sich nicht sehr angenehm anfühlt. Der Pelz ist inzwischen vergilbt. Ihre Mutter hat ihr die Eule geschickt und ihr lediglich einen Zettel umgebunden, auf dem stand: Liebe Grüße, Mami. Erst warf sie den Zettel weg, dann holte sie ihn wieder aus dem Papierkorb und steckte ihn zwischen ihre Sachen.

Sie erinnert sich an einen Urlaub in Cornwall. Sie ging in St. Ives den Kai entlang und ließ einen Kieselstein auf die Glatze eines Passanten unterhalb von ihr fallen, um den Aufprall zu testen. Der Kiesel landete mitten auf der hübschen Tonsur. Als sich der Passant umdrehte, entdeckte sie, dass er einen Nasenschutz trug, was sie zum Lachen reizte. Er lief hinter ihr her und rief: »Ich krieg dich!« Sie rannte los, um die Mutter einzuholen.

»Meine Tochter würde so etwas nie tun«, verteidigte Harriet sie gegenüber dem Fremden.

Aber als sie allein waren, versetzte sie Gnat eine Ohrfeige. Zwischen zusammengepressten Zähnen murmelte sie: »Daddy haut mich nie.«

Daraufhin brach Harriet in Tränen aus. Da die Mutter ihr aber geholfen hatte, als es darauf ankam, beschloss sie, ihr zu vergeben. Also ging sie zu ihr und schenkte ihr ihre schwarze Lieblingspastellzeichnung mit Obstmotiv.

Als sie etwa sieben Jahre alt war, spürte sie eine Veränderung an den Eltern, vor allem an der Mutter, die jetzt unnahbar wirkte. Auch das Haus war plötzlich anders. Aber auch diese Zeit ging vorüber, und es herrschte erneut Harmonie. Die Eltern turtelten wie frisch Verliebte. Wenn sie ausgingen, beobachtete Gnat, die von einem Babysitter gehütet wurde, vom Fenster aus, wie die Mutter im Schein der Straßenlampe den Vater verliebt anlächelte.

Ihre Erinnerung ist angefüllt von Gerüchen, Geräuschen und Gefühlen, die sie aber nicht einordnen kann. Sie gleiten an ihr vorbei, lassen sie wehmütig und grübelnd zurück, wie eine Mutter, deren Kind tot geboren wurde. Ihr Körper fühlt sich wie gerädert an, und sie hat nur noch einen Wunsch – zu schlafen. Aber sie hat Angst davor, fürchtet die Träume.

Kapitel 2

Sonne durchflutet das Zimmer.

»Soll ich die Jalousie herunterlassen?«, fragt der Psychiater Harriet.

»Nein, danke. Ich mag die Sonne.«

Heute, eine Woche nach ihrer ersten Sitzung, ist sie gefasster, ihr Schmerz gemildert. Wieder ist sie sofort von der Atmosphäre des Raums eingenommen, die ihr unwillkürlich Worte und unerwünschte Gedanken entlockt.

»Ich war ständig müde«, schildert sie ihr drittes Ehejahr. »Aber irgendwie war Olivers Müdigkeit immer gerechtfertigter als meine. Ich glaube nicht, dass er merkte, dass ich auch müde war, so sehr war er mit seiner eigenen Erschöpfung beschäftigt.«

Unterrichten und Dekorieren, Bügeln und Kochen. Und immer wieder die Akrobatik im Bett, weil sie Angst hatte, ihr Mann könne ihrer überdrüssig werden. Seine Liebkosungen waren eher oberflächlich, mechanisch. Seine Lippen streiften leicht die ihren, bevor sie sich ins Kissen gruben. Einst hatte er sie mit seinen Küssen verschlungen.

Sie versuchte, heiter zu wirken, ihre Unsicherheit und Erschöpfung zu verbergen, während er sich seiner Müdigkeit wegen zurückzog. Seine Augen waren dunkel umrandet. Was war aus ihren langen Unterhaltungen und dem Meinungsaustausch geworden? Sie saßen jetzt ordentlich auf Stühlen statt auf dem Fußboden, und sie versuchte, sich ihre Bestürzung über seine Reserviertheit und eine gewisse Kühle, die sie als Teil seines Wesens anerkennen musste, nicht anmerken zu lassen. Vertieft in die Zeitung, konnte er plötzlich die Stirn runzeln, und ihr blieb das Wort im Halse stecken. Dieses abweisende Stirnrunzeln schüchterte sie ein.

»Was hast du gerade gesagt?«, fragte er dann plötzlich, und blickte angespannt von seiner Zeitung auf.

»Nichts«, antwortete sie, und er vertiefte sich sofort wieder in seine Lektüre.

Er bemerkte nicht, dass sie ihn traurig beobachtete. Er war freundlich, konnte aber »Theater« nicht leiden. So jedenfalls nannte er es. Er hatte tagsüber genug davon und verbrauchte seine Energie bis auf die letzte Reserve. Nie wurde er laut oder verlor die Fassung. Sie dagegen wurde laut, und wenn er sich dann zurückzog, brachte sie das noch mehr auf. Sie wünschte sich, ruhig bleiben zu können. Sie glaubte, dass er sie verurteilte, fürchtete, seine Achtung zu verlieren, und sehnte sich nach seiner Anerkennung.

Mit der Zeit, als er ihr vertrauter wurde, bekümmerte seine Zurückhaltung sie weniger, denn schließlich war diese selten auf sie bezogen oder von ihr bewirkt. Sie versuchte, den Dingen weniger Bedeutung beizumessen. Dass er das Essen nachsalzte, bedeutete nicht, dass er ihre Kochkünste nicht schätzte. Dass er weniger heftig reagierte als sie, oder nicht so zärtlich war wie einst, bedeutete nicht, dass sie ihn körperlich kalt ließ. Und sie entdeckte, dass er keine Ausnahme bildete, sondern genauso egoistisch war wie andere Männer, stärker engagiert für seine Arbeit, seine Berufung als für sie. Seine Patienten nahmen ihn genauso in Beschlag wie später seine Tochter; und sie hätte reif genug sein müssen, um damit umzugehen, statt ein solches Theater zu machen.

Harriet steckte all ihre Energie ins Haus. Ihre anfängliche Begeisterung wich träger Zufriedenheit. Sie versuchte, beides nicht miteinander zu vergleichen. Sie gingen jetzt häufiger zu viert aus, manchmal mit Astrid und ihrem Mann. Dann unterhielten sie sich über den Mittleren Osten, Irland, Drogen, Theater ... und Harriet beobachtete ihren Mann immer wieder, während er sprach. Sie kannte all seine Gesten, jeden Ausdruck und zwang ihn, in ihre Richtung zu blicken, ihr irgendwie kundzutun, dass er sich ihrer Anwesenheit bewusst war. Tat er es, erfüllte es sie mit Freude. Er unterstützte sie immer bei ihrer Arbeit und zeigte ehrliches Interesse daran, wollte sehen, was sie getan hatte. Jede Zeichnung, jedes Bild, Vorskizzen und Collagen zeigte sie ihm. Manchmal blätterte er ihren Skizzenblock durch. Seine Bemerkungen waren immer wohl durchdacht und konstruktiv, und sein Interesse ermutigte sie. Wie konnte sie sich mit Fragen nach seiner Arbeit revanchieren? Er erklärte, es spiele keine Rolle: Er habe keine Lust, sich mit ihr über Prostata, eingeklemmte Nerven oder psychosomatische Rückenbeschwerden zu unterhalten. Sie aber wäre gern stärker eingebunden gewesen, hätte sich ihm dann ebenbürtiger gefühlt.

Im Sommer ruderten sie auf dem Fluss. Harriet trug ein knappes rotes Kleid und einen großen Strohhut. Oliver strich ihr behutsam über ihren knochigen Rücken, auf dem es keine Träger eines Büstenhalters gab.

»Du bist so hübsch!«

Sie sonnte sich in seinem Kompliment und erinnerte sich an das Gefühl bei ihrer ersten Begegnung, das Gefühl, alles meistern zu können.

Eines Abends brachte er einen Welpen mit nach Hause, einen schlaksigen, langohrigen Mischling mit dichtem Fell. »Er hat mich an dich erinnert«, neckte er sie. »Schlaksig und hoch aufgeschossen.«

»Wirklich sehr romantisch von dir!«

Sie nannten den Hund Pirat, und dass er die Kissen zerriss, trug sie mit Fassung.

»Du wirst eine wunderbare Mutter«, sagte ihr Mann zärtlich und strich sanft über ihren gewölbten Leib.

Dann wurde Natascha geboren. Harriet war 26, als das Baby im Frühherbst zur Welt kam.

»Was haben Sie während Ihrer Schwangerschaft empfunden?«, fragt der Psychiater.

»Oh, ich habe mich gefreut und war sehr glücklich.«

»Warum?«

»Warum?«, wiederholt sie verwundert.

»Ja, weshalb haben Sie sich gefreut und warum waren Sie glücklich?«

»Weil ... nun, ich habe mir ja ein Baby gewünscht.«

»Gut.«

Sie starrt ihn verdutzt an. »Reicht das denn nicht?«

»Sie haben mir keinen Grund genannt, Ihre Bemerkung nicht begründet.«

»Aber es ist doch ganz natürlich, sich ein Baby zu wünschen, oder?«

»Für einige Frauen ja. Andere haben keinen Kinderwunsch und entscheiden sich ganz bewusst dafür, kinderlos zu bleiben. Und wieder andere sind ambivalent, bekommen aber aus allen möglichen Gründen Kinder – aus Schuldgefühlen, weil es sich so gehört, oder weil sie glauben, dadurch könne eine Ehe gekittet werden ...«

»Oh, das alles trifft auf mich nicht zu.« Sie lächelt erleichtert in der Annahme, dass damit seine Fragen beantwortet sind.

Aber er beharrt: »Warum also waren Sie glücklich über die Schwangerschaft?«

Harriets Miene verrät ihre Verwirrung. Ihr Blick wandert von der glänzenden Pflanze auf dem Tisch zum Fenster, dann zurück zu ihm, um schließlich auf ihren Händen zu verweilen, die sich einst danach sehnten, ein Baby zu halten.

»Ich mag Babys, ich mag Kinder. Ich wünschte mir ein Kind, das ich umarmen und aufwachsen sehen kann und mit dem ich mich gut verstehe. Ich wollte von Oliver ein Kind. Es sollte unsere Beziehung krönen, unsere Liebe zueinander bezeugen, wenn Sie so wollen.«

Das musste ihm jetzt doch genügen, denkt sie. Aber auf seinem Nasenrücken hatten sich zwei Falten gebildet.