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Das Buch

Im Eichenwald – dem geheimnisvollen Fleckchen Erde, zu dem man durch ein Erdloch, tief im Hardtwald versteckt, gelangen kann – leben die Eichnoks. Kleine, gnomenhafte Wesen, kaum größer als ein Fliegenpilz. Die zwei halbwüchsigen Schützlinge von Großmutter Serit, Arun und Gnork, haben schon viele Streiche ausgeheckt und damit ihr eigenes Völkchen gegen sich aufgebracht. Als sie die Blattlausherde des Großbürgers Rogat aus ihren Stallungen befreien, bringen sie das Fass zum Überlaufen. Zur Strafe müssen die Jugendlichen bei der strengen Kräuterweisen arbeiten, entwickeln dabei aber schnell ihre Talente in Kräuterkunde und Spurensuchen. Doch dann führt eine gemeine Intrige zu ihrer Verbannung aus dem Dorf. Der Kräuterweisen kommt dies gerade recht, denn seit einiger Zeit wird sie von seltsamen Träumen heimgesucht. Sie vermutet einen Zusammenhang zwischen diesen und dem mysteriösen Bannfluch, der die Eichnoks von großen Teilen des Waldes fernhält.

Entschlossen dieses Rätsel zu lösen, nutzt sie die Verbannung von Arun und Gnork und zieht heimlich mit ihnen los. Sie begeben sich auf ein Abenteuer voller Gefahren, Geheimnisse und Überraschungen …

Der Autor

Edgar E. Nimrod (*1965), geboren und aufgewachsen in Karlsruhe, lebt mit Frau und Tochter in Ettlingen. In seiner beruflichen Laufbahn verfasste der gelernte Bankkaufmann jahrelang Berichte zu unterschiedlichsten Fachthemen und sammelte so ganz eigene literarische Erfahrungen.

Als begeisterter Leser anspruchsvoller Fantasy- und Science-Fiction-Literatur kam ihm vor einigen Jahren die Idee zu der Romanreihe »Die Eichenwaldsaga«. »Der geheimnisvolle Bannfluch« ist das erste Buch der Reihe.

EDGAR E. NIMROD

Der Geheimnisvolle
Bannfluch

BUCH 1

FANTASYROMAN

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Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

Prolog

Die meisten Bewohner entlang des Oberrheins kennen sie nur zu gut. Die ausgedehnten Flächen des Hardtwalds. Diesen schönen Mischwald, den sie seit ihrer frühesten Kindheit zu schätzen gelernt haben. Sommers wie winters wird er bevölkert von jeder Menge Radlern und Wanderern, von Joggern und Hundebesitzern. Vielstimmiges Vogelgezwitscher, lautes Hundegebell, fröhliches Lachen und Kindergeschrei gehören in der Sommerhitze genauso zu ihm, wie die beschauliche Ruhe im Winter bei klirrender Kälte und Bäumen mit dicker Schneekapuze.

Was jedoch kaum jemand ahnt: Der Hardtwald birgt ein uraltes Geheimnis!

Nein, nein, so leicht kommt ihr ihm nicht auf die Spur. Ihr müsst schon mit offenen Augen und wachem Verstand unterwegs sein, um es zu ergründen. Vielleicht habt ihr ja Glück und entdeckt ihn dann, den verborgenen Zugang.

Ganz nahe beim ehemaligen Monumenthaus, der alten Jagdhütte des Großherzogs Karl von Baden, befindet er sich, versteckt unter dichtem Buschwerk. Ein gähnendes, dunkles Loch ist es, durch das ihr kriechen müsst. Endlos lange tastet ihr euch durch einen schmalen Gang, bis schließlich Licht das Ende des Weges ankündigt. Ihr rappelt euch auf und ...

Nichts von dem, was eure erstaunten Augen jetzt sehen, erinnert euch noch an den Hardtwald. Ihr steht in dichtem Unterholz, umgeben von riesigen, altehrwürdigen Bäumen, die einen nahezu undurchdringlichen Wald bilden – den Eichenwald.

Wo er sich befindet, fragt ihr? Vielleicht liegt er ganz in unserer Nähe. Vielleicht aber auch in einem anderen Land. Doch das spielt keine Rolle, denn eines kann ich euch versichern: Er ist real, genauso real wie ihr und ich. Und die Abenteuer, die sich im Eichenwald zutragen, sind es ebenso. Warum ich mir dessen so sicher bin? – Na, ratet mal!

Ich weiß, unserem beschaulichen, alten Hardtwald hättet ihr ein solches Geheimnis niemals zugetraut. Ihr werdet euch wundern, wenn ihr erfahrt, welche unglaubliche Geschichte sich erst vor Kurzem im Eichenwald zugetragen hat. Ist eure Neugierde geweckt? Dann lest weiter, und begebt euch auf eine abenteuerliche Reise ...

Jede Menge Ärger

Der Eichenwald wirkte trügerisch friedlich so früh am Morgen. In der Nacht hatte es noch einmal kräftig geschneit und die Bäume trugen dicke Kapuzen aus hart gefrorenem Schnee. Ihre bis zum Äußersten belasteten Äste knarrten bedrohlich und auf den glitzernden Eiskristallen am Boden und dem dichten Gestrüpp zwischen den Baumstämmen waren auf den ersten Blick keine frischen Spuren auszumachen. Denn bei diesem eisigen Wind suchten selbst die Räuber des Waldes Schutz in ihren Höhlen und Unterschlüpfen. Nichts schien sich zu rühren.

Doch wer genau hinsah, konnte zwei Paare kleiner Fußabdrücke erkennen, die sich wie feine Linien mitten durch das Unterholz zogen. Diese Spuren gehörten zu Arun und Gnork, zwei halbwüchsigen Eichnoks. Merkwürdige Geschöpfe, die schon lange vor den ersten Menschen, die sich in der Nähe des Eichenwaldes angesiedelt hatten, im undurchdringlichen Dickicht des Waldes lebten. Bei ihrer geringen Größe war es freilich kein Wunder, dass man ihre Spuren beinahe übersah. Bisher waren sie jedenfalls unentdeckt geblieben. Denn selbst Gnork, der für einen Dreizehnjährigen außergewöhnlich groß und kräftig gebaut war, maß vom Scheitel bis zur Sohle gerade dreizehneinhalb Zentimeter. Mit seinem blassen, runden Gesicht, den wachsamen Augen, der langen, schmalen Nase und dem ziemlich großen Mund war er ein typischer Eichnok. Seine fledermausähnlichen Ohren wedelten unruhig hin und her. Das war immer so, wenn er Hunger hatte. Und Hunger hatte Gnork zu jeder Zeit. Auch das zeichnete ihn als würdigen Vertreter seiner Gattung aus. Eichnoks aßen viel und gern. Entsprechend üppig war meist ihre Erscheinung.

Der gleichaltrige Arun fiel schon rein äußerlich beträchtlich aus diesem Rahmen. Er reichte Gnork, seinem besten Freund, knapp bis über die Schultern und war von schlanker Gestalt. Seine Ohren waren auffällig klein, bei Weitem nicht so beweglich wie die seines Freundes und sein Teint war von einer kräftigen, dunklen Farbe.

Die beiden langweilten sich. Der Wind pfiff heute wirklich unglaublich kalt und drang wie unzählige kleine Nadelspitzen selbst durch ihre dicken Jacken. Sehr zu ihrem Ärger waren deshalb noch nicht einmal Eichhörnchen zu sehen, mit denen sie ihren Spaß haben konnten. Mit verdrießlichen Mienen hüpften sie von einem Bein auf das andere, um die Kälte aus ihren Füßen zu verscheuchen. Das konnte ein sterbenslangweiliger Tag werden, dabei hatte doch alles so vielversprechend angefangen. Der Weg vom Dorf zum Unterholz war durch den Neuschnee der Nacht sehr anstrengend gewesen. Arun grinste, als er an das aufgeregte Geschrei dachte, das ihre kleine Aktion gerade verursacht hatte. Der Umweg über Großbürger Rogats protziges Anwesen hatte ihnen zwar den Schweiß in Strömen aus den Poren getrieben, aber er hatte sich gelohnt.

Arun wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen: Gnork brummte unwillig vor sich hin. Seinem Freund fielen vor Müdigkeit fast die Augen zu und, wie nicht anders zu erwarten, plagte ihn ein gewaltiger Hunger. Immerhin hatte es heute Morgen kein Frühstück gegeben! Dazu waren sie viel zu zeitig aus dem Haus geschlichen. Bei Gnork schlug das unweigerlich auf die Stimmung, vor allem, wenn es wie jetzt nichts zu tun gab. Arun seufzte ergeben.

»Na gut! Lass uns zurückgehen und bei Bäcker Borke ein paar frische Eichelkekse holen. Ich glaube, heute passiert sowieso nichts Spannendes mehr!«

Obwohl sie häufig auf das Frühstück verzichteten, wenn sie sich morgens im Unterholz herumtrieben, freute auch er sich bei dieser elenden Kälte auf das warme, süße Gebäck.

»Endlich kommst du zur Vernunft!« Überraschend behände sprang Gnork auf und seine Laune besserte sich zusehends. »Heute hätte ich es nicht bis zum Mittagessen durchgehalten. Mir hängt der Magen jetzt schon bis auf den Boden. Also los, ab nach Hause! Immerhin hatten wir heute Morgen schon unseren Spaß!«

Und sie stapften eilig durch den Schnee davon.

Nach Hause hieß zur Hütte von Gnorks Großmutter Serit. Er lebte seit dem Tod seiner Eltern bei ihr. Ein Wiesel hatte sie bei der Suche nach Kräutern überrascht und getötet und ihn als Baby allein zurückgelassen.

Arun hingegen war ein Findelkind. Eines Tages war er, in ein glitzerndes Tuch gewickelt, als schreiendes Bündel am Rande des Dorfes unter einer alten Eiche gefunden worden. Obwohl sich viele Geschichten um seine Herkunft rankten, blieb sie bis heute rätselhaft. Viele Dorfbewohner betrachteten ihn daher und wegen seines ungewöhnlichen Äußeren mit Misstrauen. Besonders die Familie des Großbürgers Rogat machte keinen Hehl aus ihrer Abneigung. Aber auch die meisten Jungnoks hielten überwiegend Distanz zu Arun. Leider war tiefes Misstrauen allem Fremden gegenüber eine weit verbreitete Eigenschaft unter den Eichnoks. Zum Glück hatte er Gnork!

Für Gnorks Großmutter spielten Aruns Herkunft und Andersartigkeit ebenfalls keine Rolle. Sie hatte ihn sofort ins Herz geschlossen, als sie das hilflose Wesen zum ersten Mal gesehen und auf dem Arm gehalten hatte. Sie war viel zu gutmütig, um ihn auszustoßen. Vor allem aber hatte sie ein viel zu weiches Herz. Sie scherte sich nicht um Aruns Hautfarbe und die geringe Größe seiner Ohren. Ihr Motto lautete: »Wo zwei satt werden, werden es auch drei!« Also hatte sie ihn ohne zu zögern ebenfalls bei sich aufgenommen und die beiden Jungen wie Geschwister großgezogen.

Die Jungs waren ihr ans Herz gewachsen, doch mittlerweile machten sie ihr das Leben ziemlich schwer. Die ganze Zeit steckten sie die Köpfe zusammen und heckten irgendeinen haarsträubenden Unfug aus, der langsam aber sicher das ganze Dorf gegen sie aufbrachte.

Und dieses Mal hatten sie es wirklich übertrieben. Gut, dass die beiden, viel früher als erwartet, laut polternd zu Hause eintrafen. Normalerweise kamen sie immer erst zur Essenszeit zurück. Gnork zeichnete sich sonst nicht gerade durch Pünktlichkeit aus. Doch was die Mahlzeiten anging, konnte man gewöhnlich die Uhr nach ihm stellen.

Seit einer guten Stunde wusste die Großmutter, dass sie mit ihnen einen Mistkäfer zu striegeln hatte, wie er größer nicht sein konnte!

Eines nach dem anderen, überlegte sie kühl. Erst mussten noch einige Dinge im Haushalt erledigt werden, und die ließen sich besser ohne vorheriges Donnerwetter bewerkstelligen. Wer zu früh nach Hause kommt, muss eben auch damit leben, unangenehme Arbeiten zu übernehmen.

Betont fröhlich rief Großmutter den Ankömmlingen zu: »Schön, dass ihr mir beim Tischdecken und dem Abwasch von meinem Frühstück helfen wollt! Bis ich auf die Beine kam, wart ihr schon entwischt. Welch rührende Hilfsbereitschaft. Damit habe ich nicht gerechnet. Ihr seid eben wahre Goldstücke.«

Hausarbeit! Betreten schaute Arun Gnork an. Daran hatten die beiden vor Hunger und Kälte nicht gedacht. Dass Großmutter sie Goldstücke nannte, ließ nichts Gutes erahnen.

Großmutter nickte zufrieden, als sie sah, dass die Jungs ihren Ärger hinunterschluckten und sich ohne Gegenwehr in ihr Schicksal fügten.

Wenn sie jetzt glauben, gut Wetter machen zu können, liegen sie gründlich daneben, dachte sie und atmete tief durch.

Arun und Gnork würden ihr blaues Wunder erleben.

Der Tag blieb grau und eisig, und die Kälte biss jedem, der sich nach draußen wagte, gnadenlos ins Gesicht. Allein schon aus diesem Grund herrschte in Oma Grimas Hütte nicht die beste Stimmung. Der alte Wenk kaute griesgrämig auf seinem trockenen Stück Fladen herum. Er hatte schlechte Laune. Das kam so gut wie nie vor und war deshalb umso bemerkenswerter.

Nicht genug mit dem Ärger wegen Großbürger Rogats Blattlausherde, dem ursächlichen Anlass seines Besuches bei der Kräuterweisen. Nun trieb ihn die alte Besserwisserin auch noch mit ihrem Lieblingsthema wieder einmal an den Rand der Verzweiflung. Zu allem Elend konnte er seinem Unmut nicht wirklich Luft machen. Der Grund dafür lag in Wenks Größe. Er überragte die meisten Dorfbewohner um mindestens eine Handlänge und brachte es damit auf stolze fünfzehn Zentimeter.

Oma Grimas Hütte allerdings gehörte zu den bescheidensten Behausungen aller Eichnoks. Sie lag ein gutes Stück außerhalb des Dorfes und duckte sich zwischen zwei knorrigen Wurzeln einer alten Eiche. Das war nicht ungewöhnlich, die Kräuterweise hatte jedoch darauf verzichtet, Teile von Stamm und Wurzelwerk auszuhöhlen und als Wohn- und Stauraum mitzubenutzen. So war alles besonders niedrig und eng, und der Ratsvorsitzende, dieses Amt hatte der alte Wenk seit mehr als dreißig Jahren inne, verspürte den immer unwiderstehlicheren Drang, sich zu strecken. Ja – er brauchte jetzt sofort Bewegung, wenn er nicht vor Zorn aus der Haut fahren wollte. Nicht einmal vernünftig auf und ab gehen konnte er!

Seine sonst so verschmitzten Augen schauten immer missmutiger unter den langen grauen Haaren hervor und die Lippen waren nur noch schmale Striche. Keine Spur mehr von dem sonst so gutmütigen Lächeln. Der alte Wenk hatte richtig schlechte Laune!

»Grima, du weißt genau, ich werde das nicht zulassen!«, knurrte er nur mühsam beherrscht und ballte die Fäuste. »Das Risiko ist viel zu groß! Ich will nicht, dass jemand zu Schaden kommt! Erst recht nicht wegen einer solchen Nichtigkeit! Also bitte, kein Wort mehr darüber!«

»Red keinen Unsinn!« Die Hände resolut in die Hüften gestemmt, sah ihn Oma Grima herausfordernd an. Sie war mindestens zwei Köpfe kleiner als der Ratsvorsitzende. Doch trotz ihrer körperlichen Unterlegenheit war sie eine Respekt einflößende Erscheinung mit kleinen, stechenden Augen in einem von tiefen Falten durchzogenen, schmalen Gesicht. Oma Grimas Gestalt war eine einzige Kampfansage an das Alter, von Gebrechlichkeit keine Spur. Obwohl sie erheblich älter als der Ratsvorsitzende war, konnte man ihre Energie deutlich spüren. Wer sie wie ein altersgebeugtes Mütterchen behandelte, erlebte postwendend eine unliebsame Überraschung.

»Du benimmst dich so kindisch wie all diese Großmäuler im Dorf!« Die Kräuterweise verzog geringschätzig den Mund. »Und außerdem: Seit Jahrzehnten war niemand mehr dort! Woher willst du also wissen, dass es gefährlich ist? Das sind doch nur Ammenmärchen aus alten Tagen! Wer kennt schon die Wahrheit? Den alten Quellen zufolge gibt es eben nur dort solche Mengen an Flaumfedern und weichen Daunen, wie wir sie für den neuen Ratsumhang brauchen!« Ihre Augen sprühten vor Begeisterung.

»Nein! Nein! Nein!« Wenk hämmerte wütend mit den Fäusten auf die Tischplatte. Dann sprang er mit einer heftigen Bewegung auf. »Genug ...!«, weiter kam er nicht. Ein lautes Krachen, dann wurde ihm schwarz vor Augen und ein dumpfer Schmerz durchfuhr ihn.

Oma Grimas Hütte war nicht nur sehr niedrig, sondern auch noch vollgestopft mit Tiegeln, Töpfen und anderen Gerätschaften auf unzähligen Regalen an den Wänden. Nicht zum ersten Mal hatte Wenk sich heftig den Schädel daran gestoßen. Oma Grima bewahrte hier Kräuter und all die anderen nützlichen Dinge auf, die sie zur Behandlung großer und kleiner Beschwerden der Dorfbewohner benötigte. In all den Jahren war sie als Kräuterweise zu einer geachteten, aber auch gefürchteten Institution geworden. Niemand wagte es, ihren Diagnosen zu widersprechen. Auch wenn angesichts eines grauenvoll riechenden Kräutersuds Bauchschmerz oder Zahnweh urplötzlich verschwanden oder nachließen, musste man den angebotenen Becher austrinken. Niemand wollte einen ihrer berüchtigten Wutanfälle auslösen, den offener Widerspruch unweigerlich nach sich zog. Daher ging man nur zu Oma Grima, wenn es unvermeidlich war, und nicht etwa, um ein Schwätzchen zu halten. Das war ihr nur recht.

Wenk verkniff sich eine Bemerkung. Er wusste, die störrische Alte wartete nur darauf. Den Gefallen tu’ ich ihr ganz sicher nicht, dachte er, während er die Zähne zusammenbiss, still vor sich hinfluchte und den Schmerz unterdrückte. Und wehe, sie macht sich über mich lustig!

Oma Grima musste sich ein Lachen verkneifen. Genau genommen schätzte sie den alten Wenk. Ihm gegenüber hätte sie das aber niemals zugegeben. So weit ging ihre Bewunderung auch wieder nicht. Zumal der Ratsvorsitzende in mancherlei Hinsicht ähnlich abergläubisch war wie alle anderen Dorfbewohner. Besonders, wenn es um die dunkle Ruine ging.

»Kindsköpfe! … Große Kindsköpfe!«, murmelte sie und dachte dabei an die Vorfälle, die heute früh zu einem mittleren Aufruhr im Dorf geführt hatten. »Was für ein Glück, dass ich ein ganzes Stück außerhalb wohne. Als gäbe es nichts Bedeutenderes im Leben der Eichnoks als ein paar entlaufene Riesenblattläuse, auf deren Zucht unser Großbürger so übermäßig stolz ist! Da kann sich Rogat, der Wichtigtuer, wieder einmal so richtig aufblasen!«

Oma Grima schüttelte den Kopf. Dieser Vorfall bescherte ihr zwar unverhoffte Unterstützung, doch im Moment war es ihr wichtiger, ein vernünftiges Ergebnis mit dem Ratsvorsitzenden zu erzielen. Bisher kam sie kein Stückchen voran und das machte sie wütend. Die Kräuterweise konnte es nicht ausstehen, wenn jemand nicht ihrer Meinung war, das führte nur zu unnötigen Komplikationen!

Mitleid heuchelnd tätschelte sie Wenk den Arm. »Tut mir leid, dass dir meine Hütte immer wieder solche Unannehmlichkeiten bereitet. Setz dich hin. Ich mach uns erst einmal einen frischen Kräutertee.«

Während Arun und Gnork den Abwasch erledigten, saß Großmutter am Tisch und schaute den beiden eine Weile schweigend zu, dann räusperte sie sich.

»Gestern Abend war die Blattlausherde von Großbürger Rogat noch friedlich in ihren Stallungen. Heute früh, kurz nachdem ihr weg wart, gab es dort ein Riesengeschrei.« Sie machte eine bedeutungsvolle Pause. »Das Gatter stand weit offen; die Läuse hatten das Weite gesucht und es sich in den umliegenden Büschen gemütlich gemacht. Rogat und seine beiden Söhne sind bestimmt immer noch dabei, alle wieder einzufangen. Heute gibt es sicher keinen Blattlaussirup zu melken. Der Großbürger rechnet mit einem bedeutenden Ernteausfall und schwört Stein und Bein, dass er am Abend das Gatter nochmals kontrolliert hatte.« Kopfschüttelnd fügte sie hinzu: »Das ist alles sehr seltsam. Findet ihr nicht?«

Arun wurde es ganz flau im Magen. Sie wusste doch nicht etwa ...? Aus den Augenwinkeln sah er, dass auch Gnork kreidebleich geworden war.

»Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie froh ich darüber bin, zwei brave Jungs wie euch zu Hause zu haben. Jungs, die kein Wässerchen trüben können! Etwas beunruhigt war ich natürlich schon, als ich im Morgengrauen zwei Schatten in Richtung von Rogats Haus davonschleichen sah. Aber ich sagte mir – nein, das können unmöglich Arun und Gnork sein. So etwas machen die beiden nicht!«

Zum Waldschrat! Das hörte sich gar nicht gut an. Arun lief es jetzt heiß und kalt den Rücken hinunter. In diesem Moment wusste er, ihr Streich war aufgeflogen. Großmutter ließ sie zwar noch ein wenig zappeln, aber – woher auch immer – sie wusste offensichtlich über alles Bescheid!

Gnork stand da wie gelähmt, mit zusammengekniffenem Mund, entsetztem Blick und einem tropfenden Teller in der Hand.

»Warum trocknest du denn nicht weiter ab, liebster Gnork, du größtes aller Goldstücke? Du hast ja schließlich nichts zu befürchten. Oder ...?« Großmutters Stimme klang jetzt messerscharf: »Und du auch nicht, Arun! Ihr habt doch nicht etwa irgendetwas mit diesem ärgerlichen Vorfall zu tun?«

In der kleinen Hütte herrschte plötzlich eine Stimmung wie kurz vor einem heftigen Gewittersturm. Dieser Gewittersturm brach genau in diesem Moment los.

»Glaubt ihr denn, ihr könnt euch alles erlauben? Bei euren bisherigen Streichen habe ich beide Augen zugedrückt. Aber das hier geht entschieden zu weit! Heute habt ihr das Fass zum Überlaufen gebracht!«

Zornig warf Großmutter Gnorks Feldmesser auf den Tisch: »Hier, du Schlauberger! Wenn ihr schon etwas anstellt, lasst nicht auch noch Dinge dort liegen, auf denen groß und breit euer Name steht. Mit Wenks Hilfe konnte ich gerade noch verhindern, dass wegen eurer idiotischen Aktion eine Ratsversammlung einberufen wurde. Aber glaubt bloß nicht, dass ihr ungeschoren davonkommt! Was habt ihr euch nur dabei gedacht? Ich habe Rogat und seiner Frau Sioga in die Hand versprechen müssen, dass ihr angemessen bestraft werdet.«

In der kurzen Pause, in der Großmutter Atem holte, um sich etwas zu beruhigen, herrschte entsetztes Schweigen, und Arun schlug das Herz bis zum Hals.

»Zuerst dachte ich, ihr könntet ihnen beim Einfangen und später bei der Pflege der Blattläuse helfen. Ich glaube aber, das ist keine gute Idee. Haltet euch die nächsten Wochen besser vom Großbürgerhaus fern. Die kriegen dort alle schon einen Ausschlag, wenn sie nur eure Namen hören.« Sie verzog gequält die Mundwinkel.

Viele der Eichnoks konnten Rogat und Sioga mit ihrem überheblichen Getue nicht ausstehen. Die beiden bildeten sich zu viel auf ihren Titel ein. Großbürger! Diese Ehrenbezeichnung stand dem reichsten Dorfbewohner zu und beinhaltete keine tatsächliche Macht. Doch die beiden taten immer sehr wichtig und nutzten in den Ratsversammlungen jede Gelegenheit, ihre ureigensten Interessen durchzusetzen. Dabei half ihnen leider oftmals der Umstand, dass die meisten Eichnoks auf die Arbeit in ihren Plantagen mit den großen Pilz- und Kräuterkulturen angewiesen waren. Zumindest diejenigen, die nicht wie Bäckermeister Borke oder Gewandschneider Albo ihrem eigenen Gewerbe nachgingen. Kurzum, die ganze Sippschaft war im Dorf nicht sonderlich beliebt. Das änderte aber nichts daran, dass diesmal sogar der alte Wenk der Meinung gewesen war, dass die Jungs mit ihrem letzten Streich erheblich überzogen hatten!

Großmutter fuhr deshalb sehr ernst fort: »Dann kam mir ein ganz anderer Gedanke. Der stimmte am Ende auch Rogat etwas versöhnlicher. Doch darüber sprechen wir später. Das Essen ist fertig!«

Als Arun und Gnork keine Anstalten machten sich zu rühren, fauchte sie die beiden an: »Los, deckt gefälligst den Tisch und zwar ein bisschen plötzlich! Nachtisch gibt es heute natürlich keinen. Eine Belohnung habt ihr euch wirklich nicht verdient.« Sie schlug mit der Hand auf den Tisch: »Bewegt euch!«

Mit einem Schlag wurde Arun alles klar. Deshalb hatte Frau Borke vorhin so überaus freundlich gegrinst ... Das alles verhieß nichts Gutes. Vielleicht hatten sie dieses Mal wirklich übertrieben.

Am Tisch herrschte bedrücktes Schweigen. Gnork saß wie ein Häufchen Elend in sich zusammengesunken auf seinem Stuhl. Ausgerechnet das Feldmesser musste er bei Rogat verlieren! Arun schüttelte resigniert den Kopf. Gnork hatte noch nicht einmal bemerkt, dass er das Messer verloren hatte. So dämlich konnte man doch gar nicht sein!

Passend zur Stimmung gab es einen dicken Waldkräutereintopf. Den konnte keiner der beiden ausstehen. Wobei im Moment wohl auch Baumpilzpfanne mit Löwenzahnwurzelsalat nicht auf Zustimmung gestoßen wäre, obwohl das ihr Leibgericht war.

Endlich zog Großmutter ihnen die Teller weg und baute sich mit verschränkten Armen vor ihnen auf.

»So, und jetzt zu eurer Strafe. Wie ich schon sagte, ist es besser für euch, in nächster Zeit nicht in der Nähe des Großbürgerhauses aufzutauchen. Andere Bewohner des Dorfes haben hingegen nichts gegen eure tatkräftige Unterstützung einzuwenden.«

Gespannt schauten sich Arun und Gnork an. Bisher klang alles gar nicht so schlimm. Vermutlich mussten sie Bäckermeister Borke in der Backstube zur Hand gehen. Vielleicht fiel dabei sogar ja das ein oder andere Eichelgebäck für sie ab. Oder sie sollten bei Gewandschneider Albo Federn und Gräser sortieren. Damit konnte man eine Menge Spaß haben. Ob Meister Albo das auch so sah, war jedoch eine andere Sache. Bei diesem Gedanken schlich sich Arun schon wieder ein Grinsen ins Gesicht, was er jedoch sofort bereute.

»Dir wird das Lachen gleich vergehen!«, blaffte Großmutter ihn an. »Ich glaube, ihr habt den Ernst eurer Lage immer noch nicht begriffen!« Mit zusammengekniffenen Augen musterte sie Arun: »Ich kann mir schon denken, warum du gegrinst hast. Ich habe aber von Strafe gesprochen, nicht von Belohnung.«

Der scharfe Tonfall ließ ihn zusammenzucken. Liebe Güte, so aufgebracht hatte er Großmutter wirklich noch nie erlebt.

»Oh nein, so leicht, wie ihr vielleicht geglaubt habt, kommt ihr diesmal nicht davon!« Ihre Augen glitten vom einen zum anderen. Nervös rutschte Arun auf seinem Stuhl herum, bis Großmutter schließlich mit der Sprache herausrückte. »Ihr werdet in den nächsten drei Wochen Oma Grima beim Kräutersammeln und bei allen anderen Arbeiten, die dabei anfallen, helfen. Zeit genug habt ihr ja dafür. Schließlich sind noch Schneeferien. Eis schlittern oder andere Vergnügungen könnt ihr euch natürlich abschminken.« Mit ungläubiger Miene hörte Arun Großmutter Serit hinzufügen: »Der alte Wenk hat euch bereits für morgen früh um sieben Uhr bei Oma Grima angekündigt. Und glaubt mir, sie duldet keine Verspätungen! Zum Abendbrot dürft ihr dann wieder nach Hause kommen.«

Inzwischen hatte sich der alte Wenk etwas beruhigt und Oma Grima fand, dass man nun wieder vernünftig mit ihm reden konnte.

»Dir ist doch auch klar, dass kein Ratsvorsitzender je ohne festlichen Ratsumhang geehrt wurde. Der alte war schon bei deiner Amtseinführung in einem jämmerlichen, inakzeptablen Zustand. Erst recht bei einem Anlass wie deinem neunundneunzigsten Geburtstag solltest du standesgemäße Kleidung tragen.« Sie schmunzelte selbstgefällig. »Damit bist du nach mir der älteste lebende Eichnok.«

Diese Schmeichelei verpuffte wirkungslos. Nach wie vor fixierte der Ratsvorsitzende die Kräuterweise mit entschlossenem Blick und schwieg weiterhin eisern. Sie ließ sich davon allerdings nicht aus dem Konzept bringen.

»Freu dich doch einfach darüber, dass man dir so viel Sympathie entgegenbringt. Kleiderfragen überlässt du am besten anderen, … zum Beispiel mir!«

»Was gibt es denn an dem alten Ratsumhang auszusetzen?« Der alte Wenk kochte vor Ärger, er konnte Oma Grimas Selbstherrlichkeit nicht ertragen. »Wie meine Vorgänger war auch ich bisher mit dem Umhang zufrieden. Einen neuen Umhang anzufertigen, halte ich für mehr als überflüssig. Erst recht, wenn damit ein unkalkulierbares Risiko verbunden ist. Solange ich in diesem Dorf etwas zu verantworten habe, kommt kein Eichnok in die Nähe der dunklen Ruine! Seit Generationen achten wir den Bannfluch, den unsere Vorfahren darauf gelegt haben. Und das bleibt auch unter mir als Ratsvorsitzendem so. Das ist mein letztes Wort!« Nun wurde auch Oma Grima ungehalten.

»Na schön!«, keifte sie aufgebracht. »Wenn du nach wie vor bei deiner kindischen Haltung bleiben willst, dann geh mir aus den Augen! Verschwinde aus meiner Hütte, und zwar sofort! Ich habe keine Lust, eine Menge Arbeit in ein Fest für einen sturen Holzbock wie dich zu investieren. Wenn du vernünftig geworden bist, kannst du wieder kommen!«

Mit hochrotem Gesicht stand der alte Ratsvorsitzende auf. »Genug! Wen glaubst du eigentlich, hier vor dir zu haben? Ich bin nicht einer deiner Patienten, der sich schlotternd vor Angst alles von dir gefallen lässt. Nein, Grima, mit mir treibst du diese Spielchen nicht! Du hast vorhin selbst gesagt, dass ICH der Ratsvorsitzende bin. Du hast mir ein Mindestmaß an Respekt zu erweisen. Ich erwarte von dir, dass du dich für diese Frechheit entschuldigst!« Jedes Wort überdeutlich betonend, fügte er hinzu: »Bevor du nicht zur Vernunft kommst, verbiete ich DIR, dich weiter in die Festvorbereitungen einzumischen. Und damit basta!«

Der alte Wenk riss wutschnaubend die Tür auf, rauschte zornig aus der Hütte und schlug mit lautem Krachen die Tür hinter sich zu.

Verblüfft starrte Oma Grima die Tür an, durch die der Ratsvorsitzende wenige Augenblicke zuvor geschossen war.

»Wenn dieser Trottel meint, ohne mich zurechtzukommen, bitte! Soll er es nur versuchen!« Sie kochte vor Zorn. So etwas war ihr noch nicht untergekommen. Wenk schrie sie in ihrer Hütte an. Gut, vielleicht war sie tatsächlich etwas zu hart mit ihm umgegangen. Diesen Gedanken schob sie allerdings schnell wieder beiseite. Selbstkritik war nicht ihre Stärke.

»Und der Gipfel der Frechheit ist ja, dass ich mich auch noch entschuldigen soll!« Fassungslos schnappte sie nach Luft. »So etwas habe ich bisher nicht nötig gehabt, und ich werde auf meine alten Tage bestimmt nicht damit anfangen. Pah! Was glaubt der denn, wer er ist, und vor allem, wen er vor sich hat? Ratsvorsitzender – schön und gut, aber was ist das schon gegen meinen Einfluss bei den Eichnoks? Ich sorge schließlich für die Gesundheit aller!« Selbstgefällig stolzierte Oma Grima durch ihre Hütte. »Zuerst bittet er mich, die Aktivitäten für seinen Geburtstag in die Hand zu nehmen, damit nicht alles im Chaos versinkt, und dann glaubt er, mich einfach ausbremsen zu können? Von dem lasse ich mir doch nicht das Fest kaputt machen!«

Grima hatte bereits insgeheim den neuen Ratsumhang – ohne Federn versteht sich – bei Gewandschneider Albo in Auftrag gegeben. Davon wusste der alte Wenk natürlich nichts. Sie grinste hämisch, als sie sich vorstellte, wie er reagieren würde, wenn der eitle Kleidermacher bei ihm zum Maßnehmen auftauchte. Schadenfroh knurrte sie: »Der wird platzen vor Wut!«

Was konnte er schon dagegen tun? Den Umhang abbestellen? Das würde er sich nicht trauen. Doch so sehr sie diese Vorstellung auch amüsierte, im Moment war es nicht ihre größte Sorge. Sie musste darüber nachdenken, wie sie die Sache mit den Federn angehen sollte. Erfahrene Waldläufer anzusprechen, war selbst ihr, der Kräuterweisen, zu riskant. Ohne Wenks Unterstützung brachte das nur Unruhe und lästige Rückfragen ins Dorf und daran hatte Oma Grima keinerlei Interesse.

Nein, das Ganze musste viel unauffälliger erledigt werden. Unschlüssig vor sich hin murmelnd, umkreiste sie mit immer schnelleren Schritten ihren Tisch. Das half ihr, die wirren Gedanken in ihrem Kopf zu ordnen.

Warum nur hatte sie sich bis vor Kurzem nicht im Geringsten für die dunkle Ruine interessiert? Erst als diese eigenartige Geschichte passiert war, hatte sie damit begonnen.

Oma Grima verzog unwillig den Mund. Immerhin wusste sie seitdem ganz sicher, dass es in der Nähe der dunklen Ruine die schönsten und weichsten Federn gab. Sie hatte vorhin natürlich etwas übertrieben, als sie dem Ratsvorsitzenden von alten Quellen erzählt hatte. Genau genommen war ihre Quelle erst wenige Wochen alt ...

Sie rieb sich die Augen, ohne ihren Marsch um den Tisch zu unterbrechen. – Egal. Jetzt mussten es eben genau diese Federn sein, denn zu einer wichtigen Stellung gehörte auch ein entsprechendes Auftreten – also ein angemessener Umhang.

Letzten Endes lief alles immer wieder auf die dunkle Ruine hinaus. Grima trat auf der Stelle und kam dabei keinen Schritt vorwärts. Wenn sich der alte Wenk doch nur nicht so stur anstellen würde. Wobei – sie musste zugeben, dieser Bannfluch der dunklen Ruine war doch eine seltsame Geschichte …

Der Bannfluch war vor langer Zeit gegen das riesige Waldgebiet um die alten Gemäuerreste herum ausgesprochen worden. Ein Verbot, an das sich alle – sie selbst eingeschlossen – vorbehaltlos gehalten hatten, ohne auch nur den Grund dafür zu kennen, geschweige denn, ihn zu hinterfragen. Somit blieb der größte Teil des Eichenwaldes für die Eichnoks unzugänglich, und das mit höchst bedauerlichen Folgen.

Oma Grimas Ururgroßmutter hatte ihr, als sie selbst noch ein kleines Mädchen gewesen war, von der Zeit erzählt, als die dunkle Ruine ganz selbstverständlich zum Alltag ihres Volkes gehört hatte. Heimlich hatte sie Grima beiseite genommen und ihr flüsternd erzählt:

»Weißt du, Kind, dort wachsen Kräuter, die meine Mittelchen und Tränke noch viel wirkungsvoller werden lassen.«

Doch selbst sie, die damals eine berühmte Kräuterweise war, hatte nicht im Traum daran gedacht, sich erneut dorthin zu wagen. Jedes Mal, wenn die kleine Grima in kindlicher Neugier mehr darüber wissen wollte, war ihr die Ururgroßmutter eine Antwort schuldig geblieben. Die Ursache für dieses seltsame Verhalten hatte sie nie ergründen können.

Allein aus diesem Grund – Wenks Bedenken hin oder her – entschied Oma Grima, dass es an der Zeit war, das Rätsel um die dunkle Ruine zu lüften. Die Eichnoks sollten endlich wieder über ihren Tellerrand hinausblicken und Zugang zu allen Waldgebieten erhalten. Außerdem sah der Ratsvorsitzende in dem alten Umhang wirklich aus wie ein gerupfter Vogel: einfach lächerlich! Dagegen musste dringend etwas unternommen werden.

Zudem sprach sicherlich auch nichts dagegen, neue und wirkungsvollere Kräuter zu entdecken, um damit die ein oder andere Arznei zu verbessern. Je länger sie darüber nachdachte, desto reizvoller erschien ihr diese Möglichkeit. Während sie sich ihre Gedanken machte, umkreiste sie stets ihren Tisch, Runde um Runde.

Doch plötzlich blieb sie stehen und ihre Miene hellte sich ein wenig auf. »Wurde aber auch Zeit«, ächzte sie erleichtert, »so langsam geht mir die Puste aus!« Sie hatte die Idee, wie sie vielleicht an die Federn kommen konnte, ohne die falschen Leute mit einzubeziehen. Ganz wohl war ihr bei der Sache freilich nicht, doch ihr linkes Ohr juckte. Und das war schon immer ein untrügliches Zeichen dafür, dass etwas Bedeutendes für die Eichnoks erledigt werden musste. Ihr Gefühl hatte sie in diesen Fällen bislang nie getrogen. Doch jetzt war nicht die richtige Zeit, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Erst musste sie Vorbereitungen für morgen treffen. Dann würden Arun und Gnork ihre Strafe antreten. Das bedeutete Abwechslung in jeder Hinsicht: Einerseits konnte sie ihre müden Knochen etwas ausruhen und die beiden die mühselige Kräutersammelei und andere unangenehme Arbeiten erledigen lassen. Andererseits handelte es sich um gewitzte Kerlchen, eine wohltuende Ausnahme bei den lebensfrohen, aber meist einfältigen Eichnoks …

Gedankenversunken stand sie noch eine geraume Zeit regungslos da. Dann gab sich die Kräuterweise einen Ruck und begann mit den Vorbereitungen. Den ganzen Nachmittag suchte sie Körbe, Gerätschaften und eine Menge anderer Dinge zusammen, die sie beim Kräutersammeln brauchen würde. Urlaub sollten die beiden schließlich nicht bei ihr machen.

Nun war es heraus!

Große Bestürzung stand nach Großmutters Ankündigung in den Gesichtern der beiden Jungs geschrieben. Eine Katastrophe! Oma Grima! Ausgerechnet diese alte Hexe! Schlimmer hätte es nicht kommen können. Nicht nur, dass Arun und Gnork sich damit jeden Freizeitspaß für die nächsten Wochen abschreiben konnten. Jetzt mussten sie auch noch der unheimlichen Kräuterweisen helfen, die im ganzen Dorf berüchtigt war. Zwar hatten die beiden bisher noch nie mit ihr zu tun gehabt – zum Glück waren Zahnschmerz und Bauchweh niemals so schlimm gewesen, dass ein Besuch bei ihr nötig gewesen wäre – doch selbst Großmutter, die nun wirklich niemanden fürchtete, hielt sie wohl für ein wenig ... sonderbar. Sie sprach nur ungern über Oma Grima und wechselte im Zweifel so schnell es ging das Thema.

»Jetzt geht mir aus den Augen, damit ich mich nicht weiter aufregen muss!«, knurrte sie die Jungs an. »Am besten ab in eure Zimmer und ruht euch für morgen aus. Nur damit eines klar ist: Heute geht ihr nicht mehr aus dem Haus!«

Wie zwei geprügelte Hunde schlichen Arun und Gnork aus der Küche und die Treppe hinauf.

»Und was jetzt?«, jammerte Gnork. »Was zum Waldschrat sollen wir denn jetzt tun?«

Arun zuckte mit den Schultern. Auch er hatte nicht die leiseste Ahnung. Aufmunternd legte er seinem Freund die Hand auf den Arm und versuchte tapfer zu lächeln.

»Sie wird uns schon nicht fressen, die alte Hexe. Komm, wir gehen auf mein Zimmer und spielen ein paar Runden ›Das Wiesel geht um‹.«

Gnork folgte ihm mit bedrückter Miene. Sie begannen das Spiel, doch schon nach wenigen Minuten gaben sie auf, denn sie waren nur halbherzig bei der Sache. Arun gingen vor dem morgigen Tag eine Menge beunruhigender Gedanken durch den Kopf und er machte sich das erste Mal in seinem Leben richtige Sorgen.

Schweigsam und vor sich hinbrütend verbrachte schließlich jeder den Rest des Tages in seinem eigenen Zimmer. In dieser Nacht fanden die beiden lange keinen Schlaf.

Offene Fragen

Arun und Gnork standen schon eine halbe Stunde vor der vereinbarten Zeit bei Oma Grimas Hütte, solchen Respekt hatten sie vor der alten Kräuterweisen. »Auf keinen Fall zu spät kommen!« Das hatte ihnen Großmutter mehrfach eingeschärft. Die Begrüßung durch Oma Grima fiel kurz und knapp, aber nicht unfreundlich aus. Sie erklärte den Freunden, was sie von ihnen erwartete. Sie verteilte die Aufgaben und die dafür notwendigen Gerätschaften. Dann gingen sie ohne weitere Verzögerungen los.

Seit fast vier Stunden schleppte Gnork einen großen Korb auf dem Rücken. Arun hatte die Aufgabe, die Kräuter nach Anweisung von Oma Grima mit speziellen Messern zu schneiden und in den verschiedenen Fächern des Korbes zu verstauen, während die seltsame Alte sichtlich vergnügt hinter den beiden hertrottete und ab und zu ihre Befehle gab.

»Stopp!«, rief sie unvermittelt. »Zeit für eine Pause und etwas zu essen.«

Erleichtert sank Arun am Fuße einer kleineren Eiche zu Boden. Endlich! Er hatte schon gedacht, die Kräuterweise wollte sie verhungern lassen. Gnork setzte sich mit einem leisen Stöhnen neben ihn.

Das dauernde Strecken und die Bückerei strengten ganz schön an. Vor allem musste man zuerst den Schnee abschütteln, um die tauglichen Blätter zu erkennen. Außerdem waren die Stängel und Wurzeln der meisten Kräuter durch die Kälte ziemlich zäh und hart geworden. Es bedurfte schon einiger Kraft und scharfer Werkzeuge, sie abzuschneiden. Durch die dicken Handschuhe hatten sie außerdem kein richtiges Gefühl in den Fingern und das machte das Ganze nicht gerade einfacher – ganz im Gegenteil.

Arun taten bereits jetzt alle Knochen weh. Wie sollte das bloß weitergehen? Doch zumindest für den Augenblick konnten sie etwas ausruhen. Auf das Mittagessen war er schon sehr gespannt, denn Oma Grima hatte nichts weiter bei sich als einen großen Wassersack aus Rindengeflecht, der mit Harz abgedichtet war.

»Gnork, reich mir mal den Korb rüber«, befahl sie knapp.

Die Kräuterweise griff in eines der unteren Fächer und zog drei große, unscheinbare Fladen hervor. Zwei davon reichte sie an Gnork und Arun weiter, die sie skeptisch und enttäuscht entgegennahmen. Irgendwie hatten sie etwas Üppigeres erwartet. Den dritten Fladen behielt Oma Grima selbst und biss auch sofort ein mächtiges Stück davon ab. Während sie genüsslich kaute, bemerkte sie die Blicke der beiden.

»Wenn ihr nichts wollt, dürft ihr mir die Wurzelfladen gern zurückgeben. Etwas anderes gibt es nicht. Am besten, ihr gewöhnt euch schnell daran. Die Fladen bekommt ihr jeden Mittag. Sie sind sehr nahrhaft und zudem gesund.«

Genauso sahen sie aus und das nahm ihnen jeglichen Reiz. Doch was blieb ihnen schon übrig? Allemal besser als nichts. Hungrig begannen sie zu essen. Erstaunt dachte Arun nach dem ersten Bissen, dass diese Fladen ja gar nicht mal so übel schmeckten.

Als er zu Gnork schielte, stellte er fest, dass auch er seinen Fladen mit zunehmendem Appetit verspeiste. Das Wasser brachte angenehme Frische, ohne zu kalt zu sein. Im Gegensatz zum Boden, der nicht zu einem längeren Aufenthalt einlud. Dieser Meinung war wohl auch Oma Grima, denn schon drängte sie wieder zum Aufbruch.

»Los, Jungs. Es geht weiter. Wir können nicht ewig herumtrödeln.« Während sie sprach, war sie bereits wieder auf den Beinen. »Achtet neben den Kräutern auch auf Wiesel und Eichhörnchen. Die gibt es hier recht häufig. Normalerweise lassen sie mich in Ruhe. Die wissen, dass ein Zusammentreffen mit mir üblicherweise nur Ärger bedeutet. Aber euch kennen sie noch nicht. Vielleicht macht sie das etwas unvorsichtiger.«

Oma Grima wirkte sichtlich zufrieden, als Arun und Gnork nach ihrer Bemerkung nicht sonderlich erschraken. Warum auch? Sie hatten schon so oft Wiesel und Eichhörnchen aufgescheucht und durchs Dickicht gejagt. Außerdem trugen sie für den Notfall immer ihre Messer bei sich. Großmutter durfte von diesen Spielchen natürlich nichts wissen. Sie wäre sonst ganz außer sich geraten, denn ungefährlich waren ihre Aktionen nicht. Aber das hatte Arun und Gnork noch nie gestört.

Nach weiteren fünf Stunden Kräutersammeln erreichten sie müde und abgekämpft Oma Grimas Hütte. Es war schon dunkel und ein empfindlich kalter Wind ließ sie trotz der Anstrengungen vor Kälte zittern. Die Kräuterweise öffnete die Tür.

»Bevor ich euch nach Hause schicke, bekommt ihr noch einen stärkenden Kräutertrank.«

Zögernd schaute Arun zu Gnork und sagte: »Wir möchten lieber gleich zurück zu Großmutter. Nicht, dass sie sich Sorgen macht. Also, dann bis morgen.«

Der eigentliche Grund, warum die beiden schnellstmöglich aufbrechen wollten, war jedoch der Ruf, der Oma Grimas Tränken vorauseilte und ihnen jede Lust auf den Genuss verdarb. Doch Arun hatte die Rechnung ohne die Kräuterweise gemacht. Ganz offensichtlich war sie nicht gewillt Widerspruch hinzunehmen.

Ziemlich aufgebracht schnauzte sie die beiden an: »Das war keine Bitte, junge Herren, ihr geht erst dann, wenn ich es euch erlaube! Habt ihr mich verstanden? Im Übrigen weiß ich, dass eure Großmutter nichts dagegen einzuwenden hat.«

Erschrocken nickten die zwei.

»Jetzt, wo ich so angenehme Hilfe und Unterstützung habe, wäre es doch sehr bedauerlich, wenn ihr durch Krankheit ausfallen würdet«, ergänzte Oma Grima freundlicher. »Also: Marsch in die Hütte und keine Widerrede mehr!«

Mit einem resignierenden Seufzen traten sie ein und setzten sich an den Tisch, während die Kräuterweise sich bereits am Herd zu schaffen machte.

»Ich kann wohl meinen Augen nicht mehr trauen! Da sitzen tatsächlich zwei junge Burschen am Tisch und erwarten, dass sie von einer gebrechlichen, alten Frau bedient werden. Auf die Beine mit euch! Wo glaubt ihr denn, kommen Wasser und Geschirr her? Gnork, du bist der Stärkere, nimm den großen Topf vom Haken und fülle ihn mit Schnee. Arun, du suchst Becher und Teller aus dem Schrank zusammen. Und alles ein bisschen plötzlich, wenn ich bitten darf.«

Nach einer Viertelstunde saßen alle drei am Tisch vor dampfenden Bechern und kauten an Wurzelfladen. Tatsächlich breitete sich durch den Trank eine wohlige Wärme in Arun aus. Ganz so scheußlich wie erwartet, schmeckte das Gebräu ja doch nicht. Dennoch würde er es nicht als Delikatesse bezeichnen.

»So«, brummte Oma Grima, nachdem die beiden ausgetrunken und den Abwasch erledigt hatten. »Jetzt könnt ihr meinetwegen gehen. Ich erwarte euch morgen früh pünktlich um sieben Uhr hier.«