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Ephraim Kishon

Die allerbesten Freunde

Satiren

LangenMüller

Ins Deutsche übertragen von
Friedrich Torberg und Ephraim Kishon

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www.langen-mueller-verlag.de

© für die Originalausgabe und das eBook: 2012 LangenMüller in der F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten
Schutzumschlag : www.atelier-sanna.com, München
Motiv: © iNNOCENt– fotolia.com
Satz: Ina Hesse
eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-7844-8139-5

Inhaltsverzeichnis

 

Wie rächt man sich an Verkehrspolizisten?

Verirrt in Jerusalem

Traktat über die Nächstenliebe

Strafmandat bleibt Strafmandat

Gottes Hand und Josseles Fuß

Mit Mazzes versehen

Gefährlicher Friede

Schnarcherei

Das Fleisch ist nicht immer schwach

Sulzbaum ist erledigt

Der Eskimo-Effekt

Rettungsloses Schweigen

Verschwörung der Fröhlichkeit

Wem die Teller schlagen

Werkstatt-Kabarett

Geteilte Rechnung

Praktische Winke für den Alltag

Ringelspiel

Mitbringsel

Gangsterfilm in Eigenproduktion

Das Einstein-Jossele-System

Ehrlich, aber nicht offen

Der Kuss des Veteranen

Wegweisung

Jüdisches Poker

Wie man Freunde gewinnt

Ein wirklich guter Freund

Eine gemütliche Zusammenkunft

Stille Post

Bewunderung à la Jossele

Auf Ölsuche

Zur Entlastung des Steuerzahlers

Rohmaterial für drei Geschichten

Freundschaftspreis

Gäste willkommen

Falsch geparkt ist halb gewonnen

Ideale Nummer

Wie rächt man sich an Verkehrspolizisten?

Wir saßen auf der Terrasse, schlürften unseren Espresso und warfen sehnsüchtige Blicke auf die Parkverbotstafeln entlang dem Gehsteig. Um diese dämmerige Abendstunde pflegten wir das »Espresso-Gambit« zu eröffnen, auch »Auto-Adoptivspiel« genannt. Aber noch wollte sich kein Verkehrspolizist zeigen. Es dauerte eine gute Stunde, ehe der erste Vertreter dieser liebenswerten Spezies auftauchte, schlank, rank, schlenkernden Schritts und gestutzten Schnurrbarts.

In fiebriger Anspannung warteten wir, bis er vor einem knallroten, zwischen zwei Parkverbotstafeln parkenden Sportwagen haltmachte und den Strafzettelblock aus seiner Brusttasche zog. Als er den Bleistift ansetzte, also genau im richtigen Augenblick, sprang Jossele auf und stürzte hinzu.

»Halt, halt!«, keuchte er. »Ich bin da nur für eine Minute hineingegangen … nur um rasch einen Espresso zu trinken …«

»Herr«, antwortete das Gesetz, »erzählen Sie das dem Verkehrsrichter.«

»Wenn ich doch aber wirklich nur für eine Minute.«

»Sie stören eine Amtshandlung, Herr!«

»Wirklich nur für einen raschen Espresso … Wie wär’s, und Sie drücken ausnahmsweise einmal ein Auge zu, Inspektor?«

Der Polizist füllte mit genießerischer Langsamkeit den Strafzettel aus, befestigte ihn am Scheibenwischer und sah Jossele durchdringend an.

»Können Sie lesen, Herr?«

»Gewiss.«

»Dann lesen Sie, was auf dieser Tafel steht!«

»Parken verboten von 0 bis 24 Uhr«, murmelte Jossele schuldbewusst. »Aber wegen einer lächerlichen Minute … wegen einer solchen Lappalie …«

»Noch eine einzige derartige Bemerkung, Herr, und ich bringe auch den Paragraph 17 in Anwendung, weil Sie zu weit vom Randstein geparkt haben.«

»Sehen Sie?«, rief Jossele. »Das ist der Grund, warum die Menschen Sie hassen.«

»Paragraph 17«, antwortete der Ordnungshüter, während er ein neues Strafmandat ausschrieb. »Und wenn Sie mich noch lange provozieren, verhafte ich Sie.«

»Warum?«

»Ich schulde Ihnen keine Erklärungen, Herr. Ihre Papiere!«

Jossele reichte sie ihm.

»Herr! Ihre Krankenkasse interessiert mich nicht! Wo ist Ihr Führerschein?«

»Ich habe keinen.«

»Sie haben keinen? Paragraph 23. Haben Sie einen Zulassungsschein? Eine Steuerkarte? Eine Unfallversicherung?«

»Nein.«

»Nein?«

»Nein. Ich habe ja auch keinen Wagen.«

Stille. Lastende, lähmende Stille.

»Sie haben … keinen … Wagen?« Das Auge des Gesetzes zwinkerte nervös. »Ja, aber … wem gehört dann dieses rote Cabriolet?«

»Wie soll ich das wissen?«, replizierte Jossele, nun schon ein wenig verärgert. »Ich bin ja nur für einen raschen Espresso hier ins Café gegangen. Das ist alles, und das versuche ich Ihnen die ganze Zeit zu erklären. Aber Sie hören ja nicht zu …«

Das Amtsorgan erbleichte. Sein Kinnladen bewegte sich lautlos, wenn auch rhythmisch. Langsam zog er das zweite Strafmandat hinter dem Scheibenwischer hervor und zerriß es in kleine Teilchen, einen Ausdruck unendlicher Trauer in seinem Gesicht. Dann verschwand er in der Dunkelheit.

Alles in allem: ein vergnüglicher Abend.

Verirrt in Jerusalem

Sehr viele Dinge können in Israel sehr leicht gefunden werden, aber die Straßen sind nicht darunter. Es gibt Straßen, die überhaupt keinen Namen haben, und wenn sie einen haben, dann gibt es keine Tafel, die ihn nennt. Mein Freund Jossele pflegt den Weg zu seinem Haus ungefähr folgendermaßen zu beschreiben:

»Sie gehen vom Mograbi Square in die Richtung zum Strand, bis Sie auf einen Mann in einer Lederjacke stoßen, der sein Motorrad repariert und die Regierung verflucht. Dort biegen Sie links ein und zählen bis zum 22. Olivenbaum. An diesem Punkt wird Ihnen ein fürchterlicher Gestank auffallen. Halten Sie sich rechts und folgen Sie der Steinmauer bis zum Katzenkadaver. Dann biegen Sie wieder rechts ein und gehen bis zur jugoslawischen Bücherei gegenüber dem Kino, wo ich auf Sie warten werde, denn von dort an wird der Weg etwas kompliziert.«

So ungefähr erging es mir bei einem Besuch in Jerusalem, den ich unglücklicherweise zu einem Zeitpunkt durchführte, als die neue Stadtverwaltung gerade beschlossen hatte, die Straßen im Hinblick auf den biblischen Charakter der Stadt umzubenennen.

Ein guter Freund von mir, ein gewisser Elusivi, hatte mich nach Jerusalem eingeladen, und zwar zur Eröffnungsfeier seiner neuen Wohnung. Elusivi lebt bereits seit fünfundfünfzig Jahren im Land. Jetzt, mit Hilfe eines beträchtlichen Bankkredits, ist ihm endlich die Übersiedlung aus seiner primitiven Holzhütte in eine hübsche 11/2-Zimmer-Wohnung im modernsten Wohnviertel Jerusalems geglückt, das noch aus der Türkenzeit stammt. Elusivi gab mir die genaue Adresse: Geliebtes-Weib-Straße 5a. Es war das frühere Haus Nr. 113 in der Julius-Finkelstein-Straße, schräg gegenüber dem rituellen Bad auf dem Boulevard-der-gesegneten-Weinfrucht, vormals Weg-allen-Fleisches.

Ich habe meinen Freund Elusivi sehr gern und packte sofort meine Sachen, um seiner Einladung zu folgen. In Jerusalem angekommen, erkundigte ich mich bei einer der Schlangen an der Omnibusstation nach der Geliebtes-Weib-Straße.

»Welche Straße?«, fragte die Schlange zurück.

»Geliebtes Weib«, antwortete ich.

Die Schlange erklärte unisono, dass sie eine Straße dieses Namens nicht kenne und dass dies auch gar kein Wunder sei, weil in der letzten Zeit fast alle Straßennamen geändert worden wären.

»Das macht nichts«, tröstete ich die Schlange. »Zufällig weiß ich, dass diese Straße früher Julius-Finkelstein-Straße hieß.«

An dieser Stelle muss ich bemerken, dass es ein volkstümlicher israelischer Zeitvertreib ist, sich nach Straßen zu erkundigen. Das Spiel enthält die verschiedenartigsten Spannungselemente, die es immer wieder sehr anregend machen. Vor allem kann man nie genau wissen, wer die in Rede stehende Straße eigentlich kennt, der Gefragte oder der Frager.

Nehmen wir einen alltäglichen Fall – ein Mann geht auf Sie zu und fragt:

»Wo ist die Goldsteinstraße?«

»Goldsteinstraße? Welche Nummer?«

»67. Dritter Stock.«

»Goldsteinstraße … Goldsteinstraße … Sehen Sie die breite Querstraße dort? Ja? Also – die Goldsteinstraße ist die erste links.«

»Nicht die zweite?«

»Warum soll es die zweite sein?«

»Ich dachte, es wäre die zweite.«

»Wenn es die zweite wäre, hätte ich Ihnen gesagt, dass es die zweite ist. Aber es ist die erste.«

»Wieso wissen Sie das?«

»Was meinen Sie – wieso ich das weiß?«

»Ich meine: Wohnen Sie vielleicht in dieser Straße?«

»Ein guter Freund von mir wohnt dort.«

»Bobby Großmann?«

»Nein. Ein Ingenieur.«

»Woher wissen Sie, dass Bobby Großmann kein Ingenieur ist?«

»Entschuldigen Sie – ich kenne Herrn Großmann gar nicht.«

»Natürlich kennen Sie ihn nicht. Die erste Straße nach links ist nämlich der Birnbaumboulevard, nicht die Goldsteinstraße.«

»Ja, das stimmt. Da haben Sie allerdings recht. Aber welche ist dann die Goldsteinstraße?«

»Goldsteinstraße … Goldsteinstraße …« Der Fremde, der Sie um Auskunft gefragt hat, zermartert sichtlich sein Hirn. »Gehen Sie geradeaus, biegen Sie in die erste Straße rechts ein, und dann ist es die dritte Querstraße links.«

»Danke vielmals«, antworten Sie gerührt. »Verzeihen Sie die Mühe, die ich Ihnen gemacht habe.«

»Nicht der Rede wert«, antwortet freundlich der Mann, der von Ihnen wissen wollte, wo die Goldsteinstraße ist.

Sie selbst haben inzwischen grüßend den Hut gelüpft und sich auf den Weg in die Goldsteinstraße gemacht: geradeaus, dann rechts, dann die dritte Straße links. Ein wenig keuchend ersteigen Sie den dritten Stock des Hauses Nr. 67. Und erst wenn Sie an der Tür läuten, fragen Sie sich verdutzt, was Sie hier eigentlich suchen.

Nun, so weit war es mit mir noch nicht. Ich wusste immerhin noch, dass die Geliebtes-Weib-Straße früher Julius-Finkelstein-Straße geheißen hatte.

»Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?«, fragte ein Mann, der mit einem Koffer in der Schlange stand. »Die Julius-Finkelstein-Straße kreuzt die Keuchhustenstraße, die aber jetzt einen anderen Namen hat.«

»Welchen Bus nehme ich dorthin?«

»Nummer 37.«

Ich nahm den Bus Nr. 37. Nach etwa halbstündiger Fahrtdauer fragte ich den Fahrer:

»Steige ich jetzt aus?«

»Warten Sie, bis ich stehenbleibe!«, brüllte der Fahrer mich an. »Immer diese Eile, immer diese Eile.«

Nachdem ich ausgestiegen war, fiel mir ein, dass ich dem Fahrer gar nicht gesagt hatte, wo ich aussteigen wollte. Das war peinlich, und die Straße war menschenleer. Zum Glück tauchte ein städtischer Müllmann auf und versicherte mir nachdrücklich, dass die Keuchhustenstraße, die seit neuestem Einsame-Witwen-Straße hieß, gleich über die nächste Ecke links zu erreichen sei, dann zweimal nach rechts, dann noch einmal rechts, und dann wäre es die dritte Straße links.

Ich zog noch bei einigen anderen Passanten Erkundigungen ein und sammelte innerhalb weniger Minuten vierzig bis fünfundvierzig »links«, ungefähr ebenso viele »rechts« und zwanzig »geradeaus«. Angesichts der rasch einsetzenden Dunkelheit war das eine ganz hübsche Leistung.

Nach einigen Irrgängen erreichte ich eine Straße, die dem geometrischen Mittel der Auskünfte entsprach. Das Unglück war, dass ihr Name sich nirgends feststellen ließ. Es gab keine Straßentafeln, und die rasch vorübereilenden Passanten wollten sich nicht festlegen. Auf gut Glück läutete ich an einer ebenerdig gelegenen Wohnungstür und fragte den Mann, der mir öffnete, ob er zufällig den Namen dieser Straße kenne. Der antwortete, dass es irgendein hebräischer Name sei, den er aber nicht verstehe, da er nur Englisch spreche. Seine kleine Tochter hingegen, eine Sabra, wüsste jemanden, der den Namen dieser Straße einmal aufgeschrieben hätte und nur im Augenblick leider nicht zu Hause wäre.

Bekümmert verließ ich das Haus. Gerade sauste ein Wagen der Feuerwehr vorüber, verlangsamte sein Tempo, und der Fahrer brüllte mir die Frage zu, ob er sich hier in der Meines-Bruders-Hüter-Straße befände, der früheren Ignaz-Fuchs-Straße? Ich brüllte ihm ein saftiges »links« zurück. Dann hielt mich ein Briefträger auf und fragte, wie er wohl am besten in die Zwirn-und-Nadelöhr-Straße käme, deren Name vor kurzem in Samson-schlägt-die-Philister-Straße geändert worden sei, aber auch dieser Name hätte sich als zu lang erwiesen.

Ich gab ihm eine detaillierte Auskunft und fragte meinerseits nach der Geliebtes-Weib-Straße. Der Postbote gratulierte mir überschwenglich.

»Sie haben Glück«, sagte er. »Das weiß ich zufällig wirklich. Es ist die zweite Straße rechts, aber sie heißt jetzt Wunschtraumstraße.«

Meine Freude, als ich die Wunschtraumstraße tatsächlich fand, war unbeschreiblich. Das Haus 5a fand ich allerdings nicht. Überhaupt fand ich keine einzige Hausnummer. Ich fand einen zittrigen Patriarchen, der zwar auch nicht wusste, wo 5a war, mir aber den dankenswerten Hinweis gab, dass die Nummer einfach »5« heißen könnte, weil die Mapai-Partei überall den Buchstaben a hingepinselt hätte.

Es ging auf Mitternacht, und ich befand mich noch immer auf der Jagd nach Hausnummern. Endlich entdeckte ich hoch oben an der Mauer einer Mietskaserne eine Tafel, konnte sie aber nicht lesen. Ich hielt den eben wieder vorbeisausenden Löschwagen an, borgte mir eine Leiter und stieg hinauf. Die Tafel trug die Aufschrift »182-351-561 k. g.«, und das half mir nur wenig.

Ein mitleidiger Spätheimkehrer informierte mich, dass das letzte Haus in dieser Straße die Nummer 198 trug. »Sie brauchen also nichts anderes zu tun, als von hier aus weiterzugehen und bis Nummer 5 zurückzuzählen, und Sie brauchen sich auch gar nicht zu schämen, dass Sie das tun, denn ich tue es manchmal selbst, wenn ich wissen will, in welchem Haus ich wohne.«

Ich folgte seinem Rat, zählte von 198 rückwärts und läutete hoffnungsvoll an der Tür des Hauses, vor dem ich jetzt stand. Eine alte Dame öffnete. »Nein, hier ist Nummer 202«, sagte sie. Auf meine Frage, ob es sich nicht vielleicht doch um das Haus Nummer 5 handle, erklärte sie mir geduldig, dass dies unmöglich der Fall sein könne, weil es in dieser ganzen Straße überhaupt keine ungeraden Hausnummern gäbe. Das Stadtplanungsamt hätte versehentlich auf beiden Seiten der Straße nur gerade Nummern angebracht, so dass jetzt alle Nummern doppelt vorkämen, bis auf zwei, die Nummern 32 und 66, die sich am andern Ende der Stadt befänden, in der früheren Julius-Finkelstein- und jetzigen Keuchhustenstraße.

»Um Himmels willen«, stöhnte ich. »Das ist ja die Straße, die ich suche. Ich war überzeugt, dass ich hier bereits in der Keuchhustenstraße bin.«

»Nein, nein.« Die alte Dame schüttelte energisch den Kopf. »Diese Straße wird morgen in Dilemmastraße umbenannt. Heute heißt sie noch Dillenkopfstraße.«

»Merkwürdig. Warum haben mir alle Leute gesagt, dass es die Wunschtraumstraße ist?«

»Was hätten sie denn anderes machen sollen? Vielleicht mit Ihnen streiten?«

Und damit verschwand die Hexe.

Abermals sauste der Löschwagen vorbei, die Sirenen zu höchster Lautstärke aufgedreht, hielt am Ende der Straße an und richtete seine Wasserstrahlen gegen ein Haus. Aus purer Neugier ging ich näher und wurde von einem der Feuerwehrleute prompt gefragt, ob das die rituelle Badeanstalt in der Meines-Bruders-Hüter-Straße 107 sei, denn dort brenne es.

»Nein«, antwortete ich. »Was Sie da löschen, ist das Haus mit der rechtsseitigen Nummer 102 auf der ehemaligen Dilemmastraße.«

Die Feuerwehrleute ließen einige derbe Flüche hören, zogen Leitern und Schläuche ein und fuhren davon.

Ich schleppte mich weiter durch die Nacht.

Vor meinem geistigen Auge, müde wie es war, erschien das vorwurfsvolle Gesicht Elusivis. Zorn und Verzweiflung begannen in mir hochzusteigen. Wütend packte ich den Kerl, der jetzt auf mich zukam, an den Schultern und brüllte ihn an:

»Wo ist die Geliebtes-Weib-Straße, du Stinktier? Wo?!«

»Allah akbar«, antwortete der Legionär.

So geriet ich in arabische Gefangenschaft. Die Waffenstillstandskommission leitete sofort die nötigen Schritte ein.

Traktat über die Nächstenliebe

Es gab einmal Zeiten, da wurde ich noch gefragt, wie es mir geht. Ich pflegte mit gewinnendem Lächeln zu antworten: Danke, es geht mir ausgezeichnet, mein neues Buch verkauft sich wie warme Semmeln, mein Golfspiel wird immer besser, und gestern habe ich 50 Pfund im Toto gewonnen. Aber statt mich daraufhin zu lieben, reagieren die Leute mit einem brummigen Soso, und ich sollte aufhören, wie ein Besessener hinter dem Geld herzujagen.

Mit anderen Worten: Sie wollen nichts mit mir zu tun haben. Besonders in der letzten Zeit. Genauer gesagt, in den letzten vierzig Jahren.

Schön, sagte ich mir, wenn ich schon keine Freunde gewinnen kann, will ich wenigstens Bekannte gewinnen, ein paar belanglose Gesprächspartner für ein nichtssagendes Geplauder.

»Ich darf mich wirklich nicht beklagen«, beginne ich den unverbindlichen Gedankenaustausch. »Gestern habe ich mein Opernlibretto fertiggestellt, und nächste Woche fliege ich mit meiner Familie nach Tahiti.«

»Übertreiben Sie’s nicht«, antworten die Belanglosen eisig. »Auch Sie werden nicht jünger.«