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Impressum

Umschlag- und Innenillustrationen von Sebastian Meyer, Wiesbaden
Umschlaggestaltung von Michael Kimmerle, Stuttgart

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© 2013, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-440-14401-5
eBook-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

1. Kapitel

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Es war ein ganz normaler Tag in der Stadt.

Autos wälzten sich an Baustellen vorbei durch die Straßen, Fahrräder klingelten. Menschen eilten mit Einkaufstüten über die Bürgersteige. Eine Gruppe von Schulkindern hüpfte spielend und lachend nach Hause. Und Geschäftsleute in schwarzen Anzügen gingen in der Mittagspause in schicke Restaurants.

In einem dieser Restaurants saß Müller, der Zoodirektor der Stadt, mit seinen drei Töchtern Amanda, Babette und Constanze. Sie hatten an einem runden Tisch mit blütenweißer Tischdecke unter einem glitzernden Kronleuchter Platz genommen. Im Hintergrund spielte leise Geigenmusik.

Amanda, die Älteste mit dem feuerroten Haar, suchte gerade in ihrer Tasche aus Krokodilleder nach einem kleinen Spiegel. Sie musste alle fünf Minuten ihren Lippenstift kontrollieren, sonst fühlte sie sich unsicher und hässlich. Babette, die weizenblonde Zweite, war immer noch in die Speisekarte vertieft. Sie konnte sich einfach nicht entscheiden und schwankte zwischen Froschschenkeln und Schnecken. Nachdenklich knabberte sie an ihrem Zeigefinger, der in einem Handschuh aus Zebrafell steckte.

Nur Constanze, die Jüngste, hatte weder Interesse an der Speisekarte noch an ihrem Äußeren. Sie nahm ihren Vater und ihre Schwestern kaum wahr. Ihr Blick war starr auf das große, in glitzerndes Geschenkpapier gewickelte Päckchen geheftet, das ihr Vater mitgebracht hatte und das nun neben dem Tisch stand. Unruhig wippte sie mit dem Fuß.

»Nun gib’s ihr schon, Papa«, murmelte Babette, ohne den Blick von der Karte zu heben. »Dann ist endlich Ruhe.«

Constanze streckte ihrer Schwester die Zunge raus, doch dann beugte sich ihr Vater zu dem Geschenk hinunter, nahm es hoch und reichte es ihr quer über den Tisch. »Also schön. Alles Liebe zum sechzehnten Geburtstag, mein Schatz!«

Constanze würdigte ihren Vater keines Blickes, sondern grabschte gierig nach dem Paket. Es war verdächtig leicht. Sie strich sich eine Strähne ihres autoreifenschwarzen Haars aus dem Gesicht und riss das Papier weg. Mit Herzklopfen öffnete sie den Deckel.

Ein schimmernder, elfenbeinfarbener Stoff floss ihr entgegen, so zart und leicht wie Rauch. Es war ein mit schillernden Perlen besticktes Abendkleid aus reiner Seide.

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Constanze krallte ihre Hände in das Kleid. Sie starrte ihren Vater wütend an.

Zoodirektor Müller schluckte. »Gefällt es dir nicht, Schatz?«

»Ein Kleid aus Seide? Ob es mir nicht gefällt? Da fragst du noch? Ich wollte einen Pelz! Und zwar einen Wolfspelz!«

»Ja, ich weiß, mein Schatz, aber das ist echte chinesische Seide! Sie ist viel wertvoller als –«

»Das ist mir egal! Amanda und Babette haben auch einen Pelz zu ihrem sechzehnten Geburtstag bekommen! Eisbär und Tiger! Und ich wollte Wolf!«

»Das stimmt, Papa«, meinte Amanda und konnte ihren Blick endlich von dem kleinen Spiegel in ihrer Hand losreißen. »Das ist ungerecht. Wieso kriegt Constanze keinen Pelzmantel?«

»Ja!«, rief Constanze. »Wieso kriege ich keinen Pelzmantel?«

Zoodirektor Müller wurde plötzlich ganz heiß in seinem schwarzen Anzug. Er hatte geahnt, dass es schwierig werden würde. Aber so schwierig? Er betupfte seine Stirn mit einem Taschentuch. »Hör mal, mein Schatz: Ich wollte dir ja den Wolfspelz schenken! Aber der Wolf ist aus meinem Zoo geflohen, das weißt du doch, du hast es selbst gesehen!«

»Ja, und du bist hinterher, Papa, das habe ich auch gesehen!«, fauchte Constanze. »Und dann? Was ist dann passiert?«

Müller schluckte. »Ich ... also, ich weiß nicht, wie ich dir das erklären soll, mein Goldstück. Ich habe den Wolf durch die halbe Stadt verfolgt. Aber dann habe ich ihn irgendwie ... na ja ... aus den Augen verloren.« Das war nicht ganz die Wahrheit. Die Wahrheit war, dass Müller vergessen hatte, was geschehen war. Er hatte den Wolf verfolgt ... und dann war er plötzlich auf einem Schrottplatz in seinem Jeep aufgewacht. Was dazwischen geschehen war, war auf seltsame Weise aus Müllers Gedächtnis gelöscht. Doch davon wollte er seinen Töchtern lieber nichts erzählen.

Noch ganz benebelt und durcheinander war er zurück in den Zoo gefahren. Und da war dann auch noch der Gorilla abgehauen, dessen Pelz er sich eigentlich als Ersatzgeschenk für Constanze ausgesucht hatte.

Seitdem fühlte Müller sich wie bei einem schweren Schnupfen: Sein Kopf war wie in Watte gepackt, sein Blick war seltsam benebelt und einmal am Tag brach ihm der Schweiß aus. Manchmal zuckten merkwürdige Bilder durch seinen Kopf. Bilder von unterirdischen Gängen und Riesenschlangen. Aber das waren hoffentlich nur seltsame Träume.

Constanze hatte wenig Interesse an den Erklärungen ihres Vaters. Wütend schlug sie auf den Tisch, dass die Gläser klirrten und einige Gäste sich zu ihnen umdrehten und tuschelten. Aber das war Constanze egal. »Das ist fies! Du hast Amanda und Babette viel lieber als mich!«

»Aber das stimmt doch nicht, mein Herz! Sieh mal, diese Seide ist aus China und ...«

»Ich will deine bescheuerte Seide nicht! Ich will, dass du ein wildes Tier für mich erschießt und mir einen Pelz daraus machst, wie du es für Amanda und Babette auch gemacht hast! Und zwar einen Wolf!«

Babette blickte endlich aus ihrer Karte auf. Constanze hoffte, dass ihre Schwester sie unterstützen würde. Aber Babette sagte nur: »Ich glaube, ich weiß es jetzt: Ich nehme die Froschschenkel und die Schnecken!«

»Du blöde Kuh!«, kreischte Constanze und sprang auf. Das Rotweinglas ihres Vaters kippte um, und der blutrote Wein floss auf die elfenbeinfarbene Seide. Aber das doofe Kleid war Constanze ganz egal. Ihr Vater sollte ruhig sehen, dass sie sich nicht so einfach abspeisen ließ.

Wütend marschierte sie Richtung Ausgang, als es plötzlich anfing zu regnen.

Allerdings nicht draußen auf der Straße, sondern mitten im Restaurant.

Es regnete aus der Decke. Das Wasser sprühte aus kleinen Düsen und durchnässte innerhalb von Sekunden den hellen Teppich, die Damasttischdecken, das weinbespritzte Seidenkleid und die Vor-, Haupt- und Nachspeisen der Gäste. Und natürlich die Gäste selbst.

Die Leute kreischten und sprangen auf.

»Feuer!«, schrie jemand. »Das ist der Feueralarm! Alle raus hier!«

Augenblicklich brach Panik aus. Frauen hielten sich ihre Handtaschen über die Köpfe und begannen zu rennen. Männer versteckten sich unter ihren Anzugjacken und rannten hinterher. Ein schwarz-weiß gekleideter Kellner versuchte, für Ruhe zu sorgen, doch er wurde einfach über den Haufen gerannt. Die Köche in ihren fettbespritzten Schürzen stürzten durch die große Schwingtür und hatten ihre Kochlöffel noch in der Hand. Alle schrien und trampelten durch das sprühende Wasser.

Eine Minute später war das Restaurant wie leergefegt. Alle Gäste, Kellner und Köche standen draußen auf der Straße und riefen durcheinander. Zoodirektor Müller versuchte zunächst, seine drei Töchter zu beruhigen, die außer sich waren vor Empörung. Als das nicht funktionierte, wandte er sich an einen der durchnässten Kellner und brüllte ihn an, was ihm denn einfiele und wie er es wagen könne und das sei ja wohl eine Unverschämtheit.

Gemeinsam warteten sie auf die Feuerwehr. Irgendwo im Restaurant musste ein Feuer ausgebrochen sein, warum sonst hätte die Sprinkleranlage angehen sollen?

Alle waren sehr aufgebracht und so damit beschäftigt, sich zu beschweren und wüste Drohungen auszusprechen, dass niemandem auffiel, dass es gar keinen Rauch gab. Es roch auch nicht nach Feuer. Genau genommen hatte niemand auch nur die allerkleinste Flamme gesehen.

Was ebenfalls niemand bemerkte, war der kleine, smaragdgrüne, flirrende Fleck, der plötzlich durch das Restaurant flog.

2. Kapitel

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Der grüne Fleck zischte mitten durch das sprühende Wasser mal in diese, mal in jene Ecke. Er suchte das ganze Restaurant ab. Dann flog das winzige Etwas durch die Durchreiche in die Küche, in der alles in weiß und Edelstahl blitzte. Auch hier regnete es. Das Wasser zischte in den heißen Pfannen und Töpfen.

Am Ende der Küche stand ein Fenster offen. Dahinter war ein kleiner, schmutziger Innenhof voller stinkender Mülltonnen. Wie ein Mini-Hubschrauber blieb der grüne Fleck mitten in der Luft stehen und piepste: »Der Laden ist leer, kommt alle her!«

Eine Sekunde später sprang ein grauer, zotteliger Wolf durch das offene Fenster und landete unsicher auf dem nassen, glatten Boden. Augenblicklich wurde er von der Vielzahl an Gerüchen in der Küche überwältigt.

»Platz da!«, rief eine schnurrende, aber kraftvolle Stimme. Mit einem eleganten Satz und ohne den Rahmen zu berühren, schnellte eine samtschwarze Pantherdame durch das Fenster. Ihre bernsteinfarbenen Augen musterten die fremde Umgebung. »Brrr ... Wasser! Ich hasse Wasser!«

»Ich dachte, Katzen lieben Sauberkeit«, spottete Hamlet freundschaftlich.

Ein Kreischen ließ sie herumfahren. Im Fenster hockte jetzt ein Pavian mit buntem Gesicht, hüpfte unruhig auf und ab und fletschte die Zähne. »Shiva, Hamlet, ihr steht im Weg rum! Nun macht schon!«

Eilig machten Hamlet und Shiva, die Pantherdame, Platz für Ludwig. Der Affe sprang geschickt über die Tische, auf denen das Essen zubereitet wurde. Dann erschien ein riesiger, schwarzer Berg aus Fell und ledriger Haut in der Fensteröffnung. Er war so groß, dass plötzlich gar kein Licht mehr in die Küche fiel. »Oh, Mann, Hammi, da passe ich gar nicht durch!«, stöhnte der Gorilla.

Hamlet blickte zu ihm hoch. »Klar doch, Barni. Du musst nur ... ähm ... die Luft anhalten!«

Barnabas hockte sich in den Fensterrahmen. Seine Arme und Beine waren schon drinnen, der Rest noch draußen. Er hielt die Luft an, aber das brachte gar nichts.

»Kaum zu glauben, dass wir verwandt sein sollen«, meinte Ludwig, der Pavian, und stieß sein kreischendes Lachen aus. »Du Riesenfettkloß!«

»Pah!«, machte Barnabas. »Das sind alles Muskeln!« Er hielt sich fest und zog mit aller Kraft. Sein Gesicht war vor Anstrengung verzerrt. Das Fenster knirschte und knackte, und plötzlich splitterte das Holz des Rahmens und brach aus der Wand. Der Gorilla stürzte mitsamt kaputtem Fenster in die Küche. Ächzend rappelte er sich auf und zupfte ein paar Holzsplitter aus seinem struppigen Fell. »Siehst du: alles Muskeln!«

Shiva wandte sich kopfschüttelnd ab. »Keine Eleganz im Körper, diese Primaten ...«

Doch dann wuselte Tulpenblüte, das Stinktier, heran und sprang Barnabas auf den pelzigen Rücken. »Super, Barni!«, fiepte sie.

»Du warst auch super«, gab Barnabas das Lob zurück. »Wie du diesen Feuer... Feuerdingsda eingeschaltet hast – klasse!«

»Feueralarm«, kam ihm Shiva zu Hilfe.

»Meine ich ja.«

»War ganz leicht«, meinte Tulpe. »Die Menschen haben mich gar nicht bemerkt. Die waren so beschäftigt, ich konnte einfach zwischen ihren Beinen hindurchlaufen und auf den roten Knopf da hinten drücken. Und dann fing’s auch schon an zu regnen. Regen im Haus! Verrückt, was die sich alles einfallen lassen, oder? Und dann rennen sie auch noch vor ihrer eigenen Erfindung davon.«

»Doch eines ist wohl sonnenklar: Die Menschen sind bald wieder da!«, piepste Spy, der Kolibri.

»Spy hat recht«, sagte Hamlet entschlossen. »Wir sind nicht zum Spaß hier! Viel Zeit bleibt uns nicht. Also, los jetzt!«

Das ließen sich die Tiere nicht zweimal sagen. Schließlich hatten sie eine Mission zu erfüllen: Futter beschaffen! Sofort kam Bewegung in die Truppe.

Shiva sprang über die nassen Fliesen und fand einen Stapel mit Tischdecken. Sie breitete eine davon mit ihren Pfoten auf dem Boden aus. Dann schnellte sie auf einen Tisch, auf dem jede Menge rohes Fleisch lag. Shiva schubste die Fleischbrocken runter, so dass sie genau auf das Tuch fielen. Tulpe half ihr dabei, so gut sie konnte.

Barnabas und Ludwig hatten es leichter. Die beiden Affen hatten riesige Säcke mitgebracht, die sie auf dem Weg hierher in den Straßen gefunden hatte, und füllten diese mit Obst, Gemüse und allem, was sonst noch da war.

»Mann, diesmal haben wir aber wirklich einen guten Laden erwischt!«, grunzte Barnabas begeistert. »Guck mal, was die alles haben, nur die leckersten Sachen!«

»Da muss ich dir recht geben.« Ludwig schnupperte an einem kleinen Pilz und knabberte ein wenig daran, bevor er ihn mitsamt einem ganzen Korb voller Pilze in seinen Sack warf. Dafür verschmähte er ein paar merkwürdig riechende, grüne Früchte, die er nicht kannte.

Barnabas war weniger wählerisch. Er schob einfach alles, was auf den Edelstahltischen lag, mit einer einzigen Armbewegung in den Sack. Ein paar Bananen fielen daneben. Schnell schob er sich eine davon in den Mund, ohne sie zu schälen. Und dann schnell noch eine. Und noch eine. Und noch eine.