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Ariane Sommer

Roman Libbertz

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Roman

 

 

ARS VIVENDI

 

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (Erste Auflage September 2015)

 

© 2015 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Dieses Buch wurde vermittelt von der Literaturagentur

kick.management GmbH, Köln und Berlin.

 

Lektorat: Dr. Felicitas Igel

Umschlaggestaltung: FYFF GmbH, Nürnberg unter Verwendung eines Bildes von © Space Images/gettyimages

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

Printed in Germany

 

eISBN 978-3-86913-605-9

 

Inhalt

 

1. Er

2. Sie

3. Er

4. Sie

5. Er

6. Sie

7. Er

8. Sie

9. Er

10. Sie

11. Er

12. Sie

13. Er

14. Sie

15. Er

16. Sie

17. Er

18. Sie

19. Er

20. Sie

21. Er

22. Sie

23. Er

24. Sie

25. Er

26. Sie

27. Er

28. Sie

29. Er

30. Sie

31. Er

32. Sie

33. Er

34. Sie

35. Er

36. Sie

37. Er

38. Sie

39. Er

40. Sie

41. Er

42. Sie

43. Er

44. Sie

45. Er

46. Sie

47. Er

48. Sie

49. Er

50. Sie

51. Er

52. Sie

53. Er

54. Sie

55. Er

56. Sie

57. Er

58. Sie

59. Er

60. Sie

61. Er

62. Sie

63. Er

64. Sie

65. Er

66. Sie

67. Er

68. Sie

69. Er

70. Sie

71. Er

72. Sie

73. Er

74. Sie

75. Er

76. Sie

77. Er

78. Sie

79. Er

80. Sie

81. Er

82. Sie

83. Er

84. Sie

85. Er

86. Sie

87. Er

88. Sie

89. Er

90. Sie

91. Er

92. Sie

93. Er

94. Sie

95. Er

96. Sie

97. Er

98. Sie

99. Er

100. Sie

101. Er

102. Sie

103. Er

104. Sie

105. Er

106. Sie

107. Er

108. Sie

109. Er

110. Sie

111. Er

112. Sie

113. Er

114. Sie

Dank

Die Autoren

 

Für Euch, meine Lieben, Klaus, Hannelore und Fabian.

Für Clay, den Mann, den ich liebe.

 

 

für dich,

sarah,

mein mensch,

für dich,

uschi,

und dich,

lutz.

 

»Liebe ist der Wunsch, etwas zu geben, nicht zu erhalten.«

B.B.

 

Er

 

Augen auf. Durch einen kleinen Spalt zwischen den Vorhängen begrüßt mich die Welt. Alleine liege ich in meinem Bett. Wozu sein Glück bei anderen suchen? Glück kommt in kleinen Dosen: Du freust dich, du lachst, und dann fallen deine Mundwinkel wieder zu Boden.

Hamburg, meine Heimatstadt, 6:30 Uhr. Jetzt aber hoch, Zähne putzen, den doppelten Espresso in Unterhose zu mir nehmen, duschen und anziehen. Raus in den Alltag. Zeit zum Geldverdienen.

 

Sie

 

An manchen Tagen fühle ich mich wie ein Vogel, dem die Flügel versagen, der mit unglaublicher Geschwindigkeit auf die Erde zurast. In Nächten wie der vergangenen fühlt sich Fallen an wie Fliegen, zumindest kurz. Das erste Licht des Morgens streift seine geschlossenen Lider, sein verschwitztes Haar. Zeit zu gehen. Sachte ziehe ich die Decke über seine nackten Schultern und sammle auf Zehenspitzen meine Sachen ein. Während ich mein Kleid überziehe, verhallen die Liebesschwüre der Nacht in meinem Kopf, ebenso wie sein Name. Ich habe, wofür ich gekommen bin, und verlasse die Wohnung, ohne mich umzudrehen.

 

Er

 

Du musst nicht der Beste sein, sei einfach glücklich. Mit vierzehn Jahren habe ich mir diesen Satz in Großbuchstaben an die Wand meines Kinderzimmers geschrieben, und trotzdem bin ich immer der Erste in der Firma.

Vor mir mein mit Chrom eingefasster Schreibtisch in der Mitte meines 47 Quadratmeter großen Büros, und meine Anzugärmel darauf. Mein signiertes Stierkampfplakat der spanischen Torerolegende José Tomás, meine gläserne Vitrine mit unzähligen abgegriffenen Bildbänden und die deckenhohen Glasscheiben, die mich von der Legebatterie der Zulieferer trennen.

 

Drei Dinge über Werbeagenturen:

Du buckelst dich krumm. Du bist oben und lässt nur noch andere für dich buckeln. Du wechselst im richtigen Augenblick die Agentur oder wirst einfach entlassen.

 

Irgendwann waren da meine zwei guten Einfälle. Jetzt bin ich hier und auch Audi, dein Auto ist von mir. Nicht gerade genial, das weiß ich selbst, aber simpel, einigermaßen einprägsam oder einfach egal, denn es hat gegriffen.

Nebenher synchronisiere ich jede zweite, dritte Woche Werbespots für große Industrieunternehmen. Sechs Jahre sind es nun schon fast, die ich als sogenannter Kreativer bei Planservice Ideas arbeite. Gewünscht habe ich mir das alles allerdings nie. Gut, ich muss mir kein Bein mehr ausreißen, um mich teuer zu kleiden, einen roten Mercedes 280er SL zu fahren oder eine 160-Quadratmeter-Wohnung zu unterhalten. Doch Geld, so habe ich feststellen müssen, erfüllt zwar so einige nie geträumte Träume, aber lässt dich rasend schnell zu bequem werden, deine wirklichen Sehnsüchte zu stillen.

Das silberne Apple-Laptop fährt hoch. Ich kaue am Nagel meines Zeigefingers, eine Angewohnheit, die ich mir nicht abgewöhnen kann. Wie das Wichsen.

E-Mail-Eingang: 76 Spammails. Spam, komisches Wort, ursprünglich die Dosenfleischmarke der Amis während des Zweiten Weltkriegs, heute Geschütze im Konsumkrieg. Nein, ich brauche mit meinen 31 Jahren kein Viagra. Löschen. Nein, mein Penis ist nicht zu klein, 18,5 Zentimeter, um genau zu sein. Löschen. Nein, ich will jetzt keinen Sexchat mit Chantal aus meiner Nähe. Ich habe keinen Bock auf Sex. Löschen. Mein Blackberry vibriert.

Das Meeting für die neue LaMain-Kampagne ist in drei Stunden.

 

Sie

 

Auf der Straße vertreibt die Sonne die letzten Splitter der Nacht aus meinen Augen. Für jetzt. Obwohl ich seit Tagen nicht geschlafen habe, fühle ich mich so beschwingt, als hätte die Erdanziehung keine Macht mehr über mich und ich könnte einfach mit einer weit ausgreifenden Bewegung der Arme abheben. Die Fensterläden eines der rostfarbenen Häuser neben mir werden aufgestoßen, und ein kleines Mädchen blinzelt verschlafen in die Außenwelt, reibt sich fröstelnd die Arme, der Mai zeigt sich morgens noch von seiner kühlen Seite.

Eine einsame Vespa knattert an mir vorbei, als ich den Tiber überquere, und im dunklen Wasser leuchtet golden der Petersdom. Kurz stelle ich mir vor hineinzuspringen, Gott zu besuchen, er ist bestimmt schon wach, so laut, wie ich ihn gerufen habe letzte Nacht.

Meine Absätze knallen auf den Asphalt, schlagen im Takt mit dem Herzschlag der Ewigen. In jedem Ort pocht unterschwellig ein Gedanke, ein Gefühl. In New York ist es Erfolg, in Shanghai Veränderung, in Paris die Liebe, und hier in Rom ist es Sex. Mit den Fingerkuppen streiche ich über die Hülle der Leica M9 in meiner Handtasche. Die Technologie ist nicht ganz so ausgefeilt wie die der Japaner, aber sie liegt gut in der Hand, und sie ist intimer, leiser als die Nikon mit ihrem klick, klick, klick.

Fotografie ist Schattenkomposition. Vielleicht fühle ich mich deswegen zur Kamera hingezogen. Still wie eine Spinne, die in ihrem Netz hockt und auf Insekten wartet, öffnet sie ihr Auge, schnappt im Bruchteil einer Sekunde zu und zieht sich dann wieder zurück in den ihr eigenen Zustand der Blindheit.

In Gedanken spiele ich mit meiner Beute, sein Lächeln gehört jetzt mir. Ich werde es den anderen Stücken meiner Sammlung hinzufügen, bis ich den perfekten Mann geschaffen habe.

An einem Zeitungskiosk in der Via Giuseppe Zanardelli kaufe ich Postkarten und schlendere anschließend auf die Piazza Navona, fast frei von Touristen, der frühe Morgen die einzige Tageszeit, an der sie erträglich ist, und ich kann das Wasser in Berninis Vierströmebrunnen plätschern hören.

An einem der gerade erst aufgestellten Tische vor dem Barocco setze ich mich und bestelle Caffè Corretto con Grappa, ein Schokoladen-Cornetto dazu, und reihe die Postkarten vor mir auf. Donnerstag ist Muttertag, und wie jeden Donnerstag schreibe ich an meine Mütter in Shanghai, Buenos Aires, Berlin und Paris.

Meine neueste Mutter, Elisabetta Masina, werde ich nach dem Frühstück besuchen. Es gibt immer ein Altenheim, das sich über freiwillige Helfer freut.

Klappernd stellt der Kellner das Espresso-Grappa-Gemisch vor mir ab. Es brennt in meiner Kehle, ein Gefühl, das ich mag, weil es mich ins Jetzt zwingt.

Heute Mittag das Telefonat mit meinem Galeristen Frank Adler in New York. Wann die Prints für die Ausstellung fertig sind. Wann er die Motive zu sehen bekommt. Ich weiß es nicht. Seit Monaten bin ich auf der Suche, fotografiere wie besessen, aber nichts ist dabei, das gut genug ist, und die Zeit wird knapp.

Letzte Nacht gab es einen Moment, in dem es sich angefühlt hat, als bewegte ich mich am Rand von etwas, als wäre ich einer Enthüllung nahe. Aber als ich dann versucht habe, genauer hinzusehen, und die Kamera wieder ansetzte, war es weg. Ich weiß, dass Frank fluchen wird, wenn er auflegt, und mein Hochgefühl fängt langsam an, sich aufzulösen. Versager, Versager, Versager, spricht es in einer Endlosschleife in meinem Kopf.

Das Cornetto ist inzwischen auf ein Häufchen Krumen und Fetzen zusammengeschrumpft, und ich schubse es in Richtung einer ramponiert aussehenden Taube, die sich erschreckt und davonfliegt. Durch meine Sonnenbrille starre ich die Menschen um mich herum an. Bin ich die Einzige mit einem Geheimnis? Welche Dunkelheit verbirgt sich hinter ihren Augen?

Das iPhone brummt. Bjorn, der schöne, traurige Schwede aus Paris, dessen himmelgrauen Regen-auf-der-Seine-Blick ich in meine letzte Serie S’Oublier gesetzt hatte. Ich traf ihn bei einem Spaziergang auf dem Friedhof. Père Lachaise, Oscar Wildes Grab. Am selben Abend: Umarmung, Schwitzen, Erlösung. Als er in mich eindrang, stellte ich mir nordschwedische Bäume vor, gewaltige urzeitliche Ungetüme, welche die Erde mit ihren Wurzeln spalten, und ich schrie.

Vive la France – und danke, Oscar.

Wann ich wieder nach Paris komme?, blinken mich die elek­tronischen Schriftzeichen fragend an. Nicht absehbar, ich drücke »Send«. Paris war gestern, Rom ist heute, und wer weiß, was morgen ist.

Meine Faust schließt sich um die gezackte Schneide des Messers, das vor mir liegt, und lässt los, bevor die Haut nachgibt. Ich muss in den nächsten Tagen noch oft auf den Auslöser drücken. Ein aufdringliches »Bella bionda!« lässt mich aufschrecken, eine Gruppe italienischer Studenten läuft lachend an mir vorbei.

Demonstrativ versenke ich meinen Blick in die trüben Espressoreste meiner Tasse, mir ist nicht danach. Aufgeregtes Geschnatter auf Deutsch und Englisch übertönt das Murmeln des Springbrunnens, das Oval der Piazza füllt sich mit Rucksackträgern, die sich gegenseitig mit immer gleichem Grinsen vor unterschiedlichen alten Gemäuern ablichten, um zu beweisen, dass sie hier gewesen sind. Bin ich so anders als sie? Ich nutze die Messerklinge als Spiegel, ziehe mir die Lippen rot nach, wische mit Spucke auf dem Zipfel einer Serviette die verlaufene Wimperntusche unter meinen Augen weg und werfe ein paar Euros auf den Tisch.

 

Er

 

Wie immer habe ich gar nichts. Das Wunderbare an Werbung und Text ist aber: Jede noch so große Aufgabe kann in Sekunden erledigt sein. Auf dem Weg quer durch das mit mehr als vierzig Angestellten übervolle, durch kleine weiße Stellwände aufgeteilte Großraumbüro in Richtung Toilette spüre ich die ehrfürchtigen Blicke der Zulieferer. Süßlicher Schweißgeruch dringt an meine Nase. Klotür, englisch abgekürzt 4u2p, auf. Ich ziehe den Wasserhahn nach oben und klatsche mir kaltes Wasser ins Gesicht. Mir muss etwas einfallen, und das schnell.

 

Drei Dinge über Ideen:

Sie kommen nie zur richtigen Zeit. Sie sind nie so großartig, wie du im ersten Moment denkst. Jemand hat sie immer schon vor dir gehabt.

 

Als ich mein Gesicht im Spiegel betrachte, sehe ich plötzlich einen dunklen Schatten neben mir und zucke zusammen. Erst jetzt erkenne ich sein bärtiges Gesicht. Es ist Obi-Wan Kenobi, der weißhaarige Jedi-Ritter aus dem Science-Fiction-Märchen Star Wars mit seinem beigen Leinengewand und der braunen Kutte. Er ist einfach aufgetaucht. Aus dem Nichts. Das geht schon seit Jahren so.

»So sehen wir uns wieder, Tom«, sagt er.

»Was willst du hier? Ich kann jetzt nicht. Ich habe tausend Sachen im Kopf. Ich muss mich konzentrieren. Ich muss was liefern.«

»Du bist wie dein Vater.«

»Du weißt, dass mein Vater tot ist.«

»Ich weiß, mein Junge, aber sag mir, womit hast du die Zeit verschwendet? Zeit ist so ein kostbares Gut.«

»So ein Mädchen vorgestern.«

»Bewegte es dich?«

»Natürlich nicht. Du bist mir gerade keine Hilfe. Ich muss verdammt noch mal nachdenken.«

»Du brauchst nicht mehr zu denken. Es liegt bereits vor dir.«

Wie erschienen, so verschwindet Ben Kenobi wieder. Auch das macht er immer so.

Okay, erster Versuch: LaMain produziert Mode für Teenager. Ich bin schon lange kein Jugendlicher mehr. LaMain, das muss sein! Nein, oh Gott!

Zweiter Versuch: LaMain, da pass ich rein. Nein, zu unsexy!

Dritter Versuch: Ich denke an die achtzehnjährige Gaby von vorletzter Nacht. Wenige Worte, ein Nicken, der Champagner brachte sie in Stimmung. Ich machte ihr Komplimente, ihre Finger spielten mit meinem Yazbukey-Ring, und das weiße Top betonte ihre silikonisierten Brüste. Ich zwang ihr einen weiteren Drink auf, und noch einen. Dann kamen wir endlich in ihrer Wohnung an. Sie taumelte ein wenig und kickte ihre roten Stöckelschuhe achtlos gegen die Wand. Ihre schwarz lackierten Zehennägel erregten mich. Ich schmiss sie auf die Couch. LaMain, so megasexy kann Mode sein! Perfekt, geht doch.

Hände abtrocknen. Für einen weiteren Moment betrachte ich mich im Spiegel. Die schwarzen Haare, die graugrünen Augen, die Augenringe, die schmale Nase, meine Nasenlöcher. Halt! Ist der Abstand zwischen meinen Nasenflügeln etwa geschrumpft? Kann das sein? Was ist, wenn sie vollständig zuwachsen? Wäre ich bereits tot, wenn sie mich nicht gerettet hätten, als ich mich irgendwann verschluckt habe? Wie würden andere Menschen auf mich reagieren, wenn ich derart entstellt wäre? Scheißhysteriepeitschende Fantasie!

Ich zerknülle das Papierhandtuch, versenke es im Mülleimer und verlasse die Toilette in Richtung Konferenzsaal.

Natürlich bin ich bereits zu spät. Das frisch verlegte Parkett knarrt unter meinen schwarzen Lederschuhen, als ich den lichtdurchfluteten Raum betrete. Wie erwartet haben sie bereits ohne mich angefangen. Zehn Männer an einem langen weißen Tisch, alle im Anzug. Zwei mit grauen Haaren, die Auftraggeber. In unserer heutigen Gesellschaft haben die Statussymbole der Achtzigerjahre immer noch nicht ausgedient, Maßanzüge, Rolex, nur der damals gut genährte Bauch ist mittlerweile dem durchtrainierten gewichen. Ich setze mich auf den freien Platz und versuche mich hart daran, dem zehnfachen Blabla mit interessiertem Gesicht zu begegnen. Jeder will sich auf beste Art positionieren, profilieren, sein Ego zeigen und, abgesehen vom Kunden, der Inhaber des größten Schwanzes sein. Business as usual. Endlich bin ich an der Reihe.

Ich stehe auf, schlendere so langsam wie möglich zum Chalkboard, Retro ist ja gerade wieder angesagt, schnappe mir eine rote Kreide und schreibe meinen Satz. Nur von Atemgeräuschen durchbrochene Stille. Dann nicken die beiden Grauhaarigen zufrieden, ich schüttle ihnen die Hände und bin für heute befreit. Nie wollte ich den größten Schwanz haben, aber immer den schönsten.

Mit meinen Rossetti-Schuhen auf dem Schreibtisch genehmige ich mir wenig später noch einen Espresso lungo mit extra Milch und zünde mir eine Zigarette an. Vor Kurzem habe ich zu einer Marke gewechselt, die keine Zusatzstoffe oder Brandbeschleuniger enthält. Aufgrund der großen Aussagekraft über den Charakter will die Wahl der Kaffee- oder Zigarettenmarke heutzutage gut überlegt sein. Ich rauche Natural American Spirit, meide Starbucks, greife manchmal zu Afri-Zigaretten, mag die Balzac Coffee Company und habe tatsächlich zu viel Zeit, mich ernsthaft mit diesem Scheiß auseinanderzusetzen. Mein Magen brummt. Ich sehe nach draußen. Es regnet gegen die Scheiben. Ich mag den Regen.

»Komm, wir gehen zum Italiener an der Ecke, was essen.«

»Okay, aber nur, wenn das keinen Haken hat.«

Bernd, dessen Eintreten ich gedankenversunken nicht bemerkt habe, lächelt. Bernd Osterkamp, der Mittvierziger mit der Vorderglatze, den Sommersprossen und der Nickelbrille, der hinter vorgehaltener Hand »Werber von der schmächtigen Gestalt« genannt wird, ist der Creative Director der Firma und mein Chef. Auf dem kurzen Fußmarsch über die mit frischen Graffiti übersäte Leverkusenstraße beginnt er, wie gewohnt, ohne Punkt und Komma auf mich einzureden. Ich stelle währenddessen in Gedanken meinen Einkaufszettel zusammen. Den YSL-Gürtel mit Comicschrift-Schnalle, Tomaten, Mozzarella, Rotwein und Zigaretten. Wird Zuhören und gleichzeitig Denken auch Multitasking genannt?

In der komplett in Rotbraun gehaltenen L’Osteria, einer Untermarke der Vapiano-Gruppe, ergattern wir einen der letzten freien Tische und lassen uns von einer mehr als lethargischen Kellnerin eine Flasche Rosé Champagner bringen. Anschließend stoßen wir, er freudig, ich mit gespielter Freude, an. Ich hasse Champagner, nicht nur, weil ich davon jedes Mal Sodbrennen bekomme, sondern weil der überteuerte Traubensprudel einfach proletenhaft ist. Da meine Idee aber, wie er sich ausdrückt, »so unglaublich gezündet« hat, meint er, es sei angebracht. Markenfetischismus, sich produzieren und Übertreibungen waren schon immer seins. Da fällt mir ein, ich muss noch meinen Mercedes aus der Reparatur holen.

Bernd stürzt das erste Glas wie Wasser und fragt mich: »Und was machen die Frauen so?«

»Immer noch der alte voyeuristische Bock, wie?«, weiche ich aus.

Er lacht. Was hätte ich auch zu antworten? Dass es mir schon lange nicht mehr um schnellen Sex geht, weil das immer nur Selbstbewusstseinspolitur ist, dass ich mir manchmal wirklich wünsche, Nina wäre noch da, dass ich mich alleine bestens fühle und mich trotzdem jederzeit wieder fallen lassen würde, es aber scheinbar niemanden mehr für mich gibt? Oder dass jeder vögeln kann, es nur Fortpflanzungstrieb ist, ich aber kein Tier mehr sein will?

Die Bläschen in meinem Champagnerglas blubbern nur noch spärlich. Ich nehme einen Schluck. Dann beugt sich Bernd ein Stück über den Tisch.

»Okay, Tom«, sagt er. Tom bin ich, eigentlich Thomas, und jetzt kommt der Haken. In gewohnt hastigen Worten breitet Bernd wieder einmal eine geschäftsbedrohende Zwangslage vor mir aus, an deren Ende es ihm, wie so oft, gelingt, mir ein Ja aus den Rippen zu leiern. Ich bin gezwungen, morgen nach Rom zu fliegen, da ein ach so wichtiger Kunde eine ach so riesengroße Kampagne vorhat und ach so viel Wert auf meine Talente gelegt wird. Im Klartext: Ich muss bei einem Abendessen morgen Abend ein Arschloch auslecken. Ach, was für eine Scheiße, aber Chef ist Chef. Wir verlassen das Lokal durch eine Tür, über der Kein Ausgang steht. Wir haben nichts gegessen.